Schlagwort: Prävention

  • Wie sind die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden?

    Wie sind die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden?

    Dr. Ingo Ilja Michels
    Prof. Dr. Heino Stöver ©B. Bieber Frankfurt UAS

    Einleitung

    Nach dem Bruch der Ampelregierung im November 2024 und vor den Neuwahlen am 23. Februar 2025 ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen: Wie sind die Koalitionsvereinbarungen zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden? Was ist erreicht worden, was nicht und warum nicht? Abschließend geht es in diesem Beitrag auch darum, was eine zukünftige Regierung zu beachten hat.

    Die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik konzentrierten sich auf die folgenden Zielsetzungen:

    „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet. Das Gesetz evaluieren wir nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen. Modelle zum Drugchecking und Maßnahmen der Schadensminderung ermöglichen und bauen wir aus.

    Bei der Alkohol- und Nikotinprävention setzen wir auf verstärkte Aufklärung mit besonderem Fokus auf Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen. Wir verschärfen die Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis. Wir messen Regelungen immer wieder an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und richten daran Maßnahmen zum Gesundheitsschutz aus.“

    (Koalitionsvertrag 2021-2025 „Mehr Fortschritt wagen“ vom 7. Dezember 2021, S. 68)

    Die intendierten Maßnahmen in Bezug auf illegale Drogen stützen sich auf viele internationale und nationale Vorschläge zur Aufhebung der Drogenprohibition, insbesondere am Beispiel Cannabis. Viele Staaten bewerten mittlerweile die politische Fokussierung auf das polizeilich umzusetzende Drogenverbot als nicht mehr zeitgemäß – und vor allem nicht effektiv und effizient – und haben Neuregulierungen geschaffen. Dies hat zu einer Erosion des internationalen Drogenverbots (Barop 2023) mit vielen nationalen Sonderregelungen jenseits der internationalen Suchtstoffkontrollübereinkommen geführt (EMCDDA 2002/2023; FES 2015; akzept 2022).

    Auch in Deutschland bestand eine langjährige Opposition gegenüber Drogenverboten, besonders gegenüber dem Verbot von Cannabis. Vor dem Hintergrund, dass der Cannabiskonsum in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, haben alle Parteien im Bundestag (bis auf die Fraktionen CDU/CSU und AfD) seit einigen Jahren drogenpolitische Veränderungen in Richtung Entkriminalisierung und sogar Legalisierung gefordert (Stöver/Michels 2024). Als schließlich die SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im November 2021 die Regierungsverantwortung übernahmen, haben sie im Koalitionsvertrag eine Legalisierung im Umgang mit Cannabis beschlossen.

    Der bloße Konsum von Betäubungsmitteln ist in Deutschland nicht strafbewehrt; strafbar sind jedoch der Erwerb und der Besitz von Drogen, die der Konsumhandlung in der Regel vorausgehen. Der Gesetzgeber hat nun auf der Basis der Koalitionsvereinbarungen zwar Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) herausgenommen (allerdings nur bis zu einer Menge von 25 Gramm bzw. 50 Gramm zum Eigenkonsum), aber alle anderen psychoaktiven Substanzen, die in den internationalen Suchtstoffabkommen als „gesundheitsgefährdend“ und „therapeutisch ohne Nutzen“ eingestuft werden, unterliegen weiterhin dem BtMG oder sind nur in sehr wenigen und streng kontrollierten Fällen zu wissenschaftlichen Zwecken erlaubt (wie etwa neuerdings einige Psychedelika). Diese Gefährlichkeitseinschätzung hat nichts mit wissenschaftlicher Evidenz zu tun (vgl. hierzu neuere Forschungen zur Risikoabschätzung von psychoaktiven Substanzen; Nutt et al. 2010; Bonnet et al. 2021 und 2022).

    Eine künftige Reform der Drogenpolitik muss sich also gerade auf die Menschen fokussieren, die andere verbotene Substanzen als Cannabis konsumieren. Bei ihnen sind die gesundheitlichen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Folgen der Prohibition besonders deutlich. Das Verbot der Drogen schädigt die Menschen mehr als der Konsum der Drogen selbst. Wir konstatieren ein Problem der Drogenpolitik und nicht des Drogenkonsums an sich. Wenn auch in den letzten Jahren vermehrt der Blick auf das Schädigungspotenzial der prohibitiven Drogenpolitik gerichtet worden ist, so ist dieser zumeist nur angewendet worden auf Cannabis – u. a., weil die Zahl der Cannabiskonsumierenden mittlerweile eine Rekordhöhe erreicht hat und Cannabiskonsum aus unserer Kultur nicht mehr wegzudenken ist. Aus unserer Sicht brauchen Heroin-, Kokain- und Crackkonsumierende ebenfalls einen Rahmen, der ihnen keine weiteren Probleme außerhalb des Drogenkonsums selbst bringt.

    Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen – was ist erreicht worden?

    1. Kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften

    Das Konsumcannabisgesetz wurde am 21. Februar 2024 im federführenden Gesundheitsausschuss beraten und mehrheitlich verabschiedet. Es wurde dann vom Plenum mit Mehrheit der Ampelkoalition am 23. Februar 2024 beschlossen und trat am 1. April 2024 in Kraft. Seit dem 1. Juli 2024 können Anbauvereinigungen gegründet werden. Damit sind der Eigenanbau von Cannabis und die Cannabisabgabe über Anbauvereinigungen legalisiert worden, der Besitz von 25 Gramm in der Öffentlichkeit und von 50 Gramm zuhause ist straffrei gestellt worden. Noch wissen wir nicht, wie die Umsetzung gegen z. T. massive Widerstände von Ländern und den Oppositionsparteien im Bundestag, aber auch nach wie vor von Ärzte- und Richterverbänden, von Staatsanwaltschaften und selbst von Kleingartenverbänden, gelingt.

    In der Anfangsphase der Koalition beabsichtigte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Cannabislegalisierung (Abgabe in lizenzierten Fachgeschäften etc.; BMG 2022). Nachdem dies aus europarechtlichen Gründen nicht möglich schien, hat man das ursprüngliche Gesetzesvorhaben in zwei „Säulen“ aufgeteilt, wovon nur die „Säule 1“, also die Abgabe über Anbauvereinigungen bzw. Eigenanbau, übriggeblieben ist. Die „Säule 2“ sah vor, dass Cannabis in Modellprojekten in lizenzierten Fachgeschäften abgegeben werden sollte – dies wurde jedoch nicht umgesetzt.

    Die wissenschaftlich begleitete Abgabe von Cannabis in lizenzierten Fachgeschäften ist jetzt über eine Verordnung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft möglich geworden (Konsumcannabis-Wissenschafts-Zuständigkeitsverordnung, KCanWV, vom 10. Dezember 2024). Die Verordnung, die der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), im Dezember 2024 unterzeichnet hat, regelt, dass die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) künftig als Behörde Forschungsanträge im Bereich Konsumcannabis und Nutzhanf prüfen und genehmigen wird.

    Wissenschaftliche Einrichtungen und Unternehmen können Anträge für entsprechende Projekte bei der BLE einreichen – und haben dies bereits getan (Stand: 28.01.2025). Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL 2024) teilte ausdrücklich mit, dass die nun erlassene KCanWV der BLE ermöglicht, im Zusammenhang mit Cannabis stehende Forschungsanträge zu prüfen und die genehmigten Projekte zu überwachen. Zuvor lag diese Aufgabe beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Das BfArM bleibt laut BEL zuständige Behörde für Forschung mit medizinischem Cannabis.

    Forschung an und mit Konsumcannabis ist ab jetzt wieder möglich, aber erlaubnispflichtig, teilte das Ministerium mit. Forschungsanträge über einen fünfjährigen Zeitraum sind bereits eingereicht worden aus Frankfurt (geplant: vier Fachgeschäfte) und Hannover (geplant: drei Fachgeschäfte) (siehe Institut für Suchtforschung ISFF). Bremen, Berlin u. a. bereiten dies vor.

    Auch wenn diese Anträge durch die BEL genehmigt werden, ist eine weitere Reform in Bezug auf Cannabis vor der Beendigung dieser fünfjährig geplanten Forschungsprojekte nicht zu erwarten. Im Gegenteil: CDU und CSU haben in ihr Wahlprogramm aufgenommen, das Konsumcannabisgesetz der Ampelkoalition wieder abzuschaffen (vgl. Süddeutsche Zeitung, 29.12.2024) – was dann aus den möglicherweise schon eingerichteten lizenzierten Fachgeschäften wird, bleibt unklar.

    Fazit: Das Koalitionsvorhaben, Cannabis in lizenzierten Geschäften zu Genusszwecken an Erwachsene abzugeben, ist nur unzureichend umgesetzt worden. Geblieben sind – bis jetzt – die Legalisierung des Eigenanbaus und die Abgabe innerhalb von Anbauvereinigungen. Weitere Reformschritte sind in weite Ferne gerückt. Trotzdem muss die Cannabis-Teillegalisierung als erster, aber sehr wichtiger Schritt zur Entkriminalisierung des Konsums, Erwerbs und Besitzes von psychoaktiven Substanzen gesehen werden (Michels, Stöver 2024).

    Eine dringend notwendige grundsätzliche Reform der Prohibitionslogik im Umgang mit psychoaktiven Substanzen war nicht beabsichtigt und wird von den Verbänden der Drogenhilfe weiter eingefordert werden müssen.

    2. Modelle zum Drug-Checking und Maßnahmen der Schadensminderung sollen ermöglicht und ausgebaut werden

    Länder wie die Niederlande, Schweiz u. a. zeigen es: Die diskrete Analyse von Drogensubstanzen auf gefährliche Zusammensetzungen hin kann helfen, die Risiken des Drogenkonsums deutlich zu verringern. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (seit Juli 2024 „Europäische Drogenagentur“ bzw. „European Drug Agency“, EUDA) empfiehlt deshalb die Umsetzung solcher Analysemöglichkeiten – diskret, anonym und effektiv – zum Schutz der Konsument:innen. Am 19. Juli 2023 wurde mit der Implementierung des § 10b in das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ein bundesgesetzlicher Rahmen für die Umsetzung von Drug-Checking für alle Bundesländer geschaffen.

    Wie bei der Legalisierung von Drogenkonsumräumen müssen die Bundesländer für die Umsetzung von Drug-Checking Rechtsverordnungen erlassen, und dies ist bis Januar 2025 nur in einem Bundesland passiert, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern (Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport, Pressemitteilung vom 04.06.2024). Der Stadtstaat Berlin und das Bundesland Thüringen haben bereits vorher Modellprojekte zum Drug-Checking gestartet, unabhängig von den Initiativen auf Bundesebene (vgl. Fonfara et al. 2024; Hirschfeld et al. 2024). Flächendeckend sollten von öffentlichen Stellen, z. B. von Gesundheitsämtern, Apotheken oder Landschaftsverbänden, Angebote zur Qualitäts- und Risikokontrolle von Drogensubstanzen geschaffen werden, deren Ergebnisse von Drogengebraucher:innen eingesehen werden können (Verbraucherschutz).

    Die Ergebnisse der Modellprojekte in Thüringen und Berlin sind positiv. Die Evaluation des Berliner Projekts hält fest: „Die Ergebnisse zeigen, dass das Berliner Drug-Checking-Modellprojekt effektiv dazu beiträgt, Gesundheitsrisiken zu reduzieren und einen bewussteren Umgang mit psychoaktiven Substanzen zu fördern. Die hohen Akzeptanzwerte und die positiven Wirkungseffekte unterstreichen die Wirksamkeit des Angebots.“ (Evaluationsbericht 2024)

    Mit der Implementierung des neuen § 10b des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) eröffnet der Gesetzgeber den Bundesländern nicht nur die Möglichkeit, sondern verpflichtet sie auch dazu, Drug-Checking-Angebote rechtlich abzusichern und zu fördern. Es ist nun an den Landesregierungen, ihrer gesetzlichen Pflicht nachzukommen. Die Wirksamkeit von Drug-Checking zur Vorbeugung von konsumassoziierten Gefahren ist belegt und die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind geschaffen. Jetzt ist es an der Zeit, diese Möglichkeit zu nutzen und die Gesundheit und Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt zu stellen. Die Implementierung von Drug-Checking ist nicht nur ein rechtlicher Imperativ, sondern auch ein Ausdruck eines modernen, humanen und evidenzbasierten Ansatzes in der Drogenpolitik (Hirschfeld et al. 2024).

    Als weiteren Schritt zur Schadensminimierung lässt sich noch die Bundesförderung der Take-Home-Naloxonvergabe einordnen. Zur Bewältigung des opioidbedingten Drogennotfalls (Überdosis) und zur Senkung der Mortalität unter Opioidkonsument:innen soll Naloxon, ein bewährtes Mittel zur Behandlung des Drogennotfalls, flächendeckend als Take-Home- Rezept verfügbar gemacht werden – für Menschen mit riskantem Opiatkonsum. Das BMG-geförderte bundesweite Modellprojekt NALtrain (https://www.naloxontraining.de/) hat dazu Materialien erstellt, Trainings organisiert etc. Tatsächlich gibt es aber nach wie vor keine flächendeckende Versorgung mit Naloxon, wobei eine große Hürde die Verschreibungspflicht und die mangelnde Kooperation mit Ärztinnen und Ärzten darstellt (Fleißner et al. 2024; Fleißer, Stöver, Schäffer 2023; Wodarz 2024).

    Darüber hinaus setzte sich der Drogenbeauftragte der Bundesregierung für die medikamentengestützte Behandlung Opioidabhängiger ein. Allerdings bleiben die Erfolge begrenzt. Weiterhin bleibt es bei einer großen Abnahme der Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die überhaupt eine solche Behandlung anbieten.

    Der Drogenbeauftragte hat weitere Missstände der Drogenpolitik aufgezeigt und Verbesserungen angeregt, z. B.:

    • Forderung „Weg mit dem Begleiteten Trinken!“
    • Diskussion um die Heraufsetzung des Zugangs zu Alkohol auf 18 Jahre
    • Regulierung der Zugänglichkeit zu Lachgaskartuschen
    • Diskussion um den Einbezug einer schadensminimierenden Strategie in die Tabakkontrollpolitik
    • Umgang mit Crack-Konsumierenden
    • und vieles mehr

    Gesetzliche Veränderungen, strukturelle Verbesserungen, v. a. im Bereich der Schadensminimierung, sind daraus nicht erwachsen.

    3. Alkohol- und Nikotinprävention: verstärkte Aufklärung mit besonderem Fokus auf Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen

    Tabak und Alkohol sind legal und in unserer Kultur verankert. Das Abhängigkeitspotenzial dieser Volksdrogen ist gleichwohl hoch und sie führen zu enormen gesundheitlichen und sozialen Schäden. Allein an den Folgen des Alkohols sterben pro Jahr etwa 74.000 Menschen, an den Folgen des Tabakkonsums 110.000. Beide Substanzen zählen zu den Hauptrisikofaktoren bei Krebs und anderen tödlichen Erkrankungen. Die volkswirtschaftlichen Schäden summieren sich auf Milliardensummen. Im Vergleich mit anderen Ländern tut Deutschland wenig, um die zerstörerischen Folgen für Individuen und Gesellschaft zu reduzieren. Im Gegenteil: Alkohol ist omnipräsent in der Gesellschaft. Bei der Zahl der Zigarettenautomaten – in anderen Ländern längst verschwunden – sind wir Weltmeister. 340.000 Automaten animieren im öffentlichen Raum zum Zigarettenkauf. Bei der Tabakkontrolle liegen wir laut Tabakatlas des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) auf einem der letzten Plätze in Europa. Beim Alkohol-Pro-Kopf-Verbrauch sind wir auf den vorderen Rängen.

    Wir könnten Menschen Unterstützung anbieten, die das Rauchen einschränken oder Gesundheitsrisiken verringern möchten, ohne aufzuhören – mit Maßnahmen, die zu ihrem Lebensstil passen. So führt zum Beispiel nach aktuellen Studien die E-Zigarette bei einem Teil der Raucher:innen zur Verringerung oder Aufgabe des Tabakkonsums. Zugleich zieht sie kaum neue Konsumierende an, animiert also nicht zum Rauchen. In einem wissenschaftlich fundierten Diskussionsprozess gilt es nun, Chancen und Risiken der E-Zigarette abzuwägen, um dann klare Botschaften an (potenzielle) Konsumenten zu senden (Steimle, Grabski, Stöver 2024).

    Die Elefanten im Raum der Drogenpolitik und Drogenhilfe bleiben also Alkohol, Tabak und Medikamente. Für all diese Substanzen mit massiven Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit der Konsumierenden, ihrer Kinder und anderer Angehörige sowie ihres sozialen Umfeldes insgesamt hat die Ampelkoalition nicht einmal wichtige, evidenzbasierte Maßnahmen der Verhältnisprävention im Koalitionsvertrag formuliert, so weit weg ist man davon, die verursachten Gesundheitsprobleme zu adressieren – von den entstandenen volkswirtschaftlichen Schäden ganz zu schweigen!

    Spürbare Maßnahmen zur Verbesserung der Alkohol- und Nikotinprävention sind in der letzten Legislaturperiode nicht erfolgt.

    4. Verschärfung der Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis

    Auch zu dieser letzten Zielsetzung der Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung ist eigentlich nichts passiert. Das Gesundheitsministerium hat eine eigens beauftragte Studie zum Thema „Werbeverbot für Alkohol“ weder veröffentlicht, noch ist es deren Erkenntnissen gefolgt. Die Studie empfahl ein komplettes Werbeverbot (vgl. Manthey et al. 2024; vgl. tageschau.de, 08.01.2025). Dabei hatte die Regierung in ihrer Vereinbarung doch gerade explizit angekündigt, wissenschaftliche Erkenntnisse zu prüfen: „Wir messen Regelungen immer wieder an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und richten daran Maßnahmen zum Gesundheitsschutz aus.“

    Wichtige, evidenzbasierte Änderungen in der Alkoholpolitik sind in den letzten Jahren nicht erfolgt: Die letzten entscheidenden Gesetzesänderungen gab es in der Zeit der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder. Damals wurde die Promillegrenze im Straßenverkehr von 0,8 auf 0,5 gesenkt sowie die Alkopop-Steuer eingeführt (tageschau.de vom 08.01.2025.

    Was muss eine neue Bundesregierung im Bereich Drogenpolitik tun, um Suchtgefährdungen entgegenzuwirken? Was muss sie tun, damit Menschen mit Abhängigkeitsstörungen früher beraten und behandelt werden?

    Hier seien nur einige Bereiche benannt, die für eine verbesserte Aufklärung und Kontaktaufnahme sowie für eine bessere Beratung und Behandlung von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen wichtige Voraussetzungen bilden.

    1. Umstrukturierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zum Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit

    Im Koalitionsvertrag ist festgelegt: „Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht in einem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit auf, in dem die Aktivitäten im Public-Health Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Gesundheitskommunikation des Bundes angesiedelt sind. Das RKI soll in seiner wissenschaftlichen Arbeit weisungsungebunden sein.“ (S. 65)

    Das bedeutet, dass auch die Maßnahmen im Schwerpunkt der Drogen- und Suchtprävention der BZgA auf ihre Wirksamkeit überprüft und neue Konzepte zum Ausbau der Risikokompetenzförderung erprobt werden sollten. Beispielhaft sei hier auf den österreichischen risflecting®-Ansatz verwiesen (Koller 2015; https://risflecting.eu/).

    Die BZgA hat eine Reihe von guten wissenschaftlichen Analysen publiziert und gute Präventionsprogramme entwickelt (wie HaLT, drugcom, Kenn Dein Limit. etc.), aber diese waren häufig nicht ausgerichtet auf risikoreiche Lebensbedingungen, sondern mittelschichtsorientiert, sodass in der Prävention des Cannabis- oder Tabakkonsums nicht die konsumentschlossenen Menschen erreicht wurden und Glaubwürdigkeitslücken existierten. Das sollte untersucht werden, um die Maßnahmen stärker auf die Vermittlung von Risikokompetenzen auszurichten und weniger auf die Verhinderung des Konsums. Diesen Prozess sollte der Drogenbeauftragte in enger Abstimmung mit dem Fachreferat Drogen und Sucht des BMG begleiten.

    Überprüft werden sollte auch die Mitfinanzierung von Kampagnen im Bereich der Alkoholprävention durch die private Krankenversicherung (PKV), die damit auch versucht hat, die Entwicklung einer Bürgerversicherung zu behindern.

    2. Suchtprävention und Suchthilfe stärken!

    Laut einer aktuellen Studie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) können etwa drei Viertel der Suchtberatungsstellen nicht kostendeckend arbeiten. Stellen werden abgebaut, Beratungs- und Betreuungszeiten gekürzt – das alles führt zu Wartezeiten, Abweisungen etc. Frühzeitige Hilfen, besonders bei Störungen mit hohem Chronifizierungspotenzial, sind ebenso notwendig wie verlässliche und nachhaltige Hilfen im kommunalen Suchthilfeverbund. Welche fatalen Folgen würde ein weiteres Zusammensparen der kommunalen Drogenhilfe haben!

    Ein gut ausgebautes Hilfesystem rettet Leben! Die Suchthilfe braucht ein stabiles Fundament und muss angesichts jüngster Entwicklungen ausgebaut werden – unabhängig von Konjunkturen und Haushaltslagen. Es gibt den Vorschlag, Suchtberatung mit Prävention, psychosoziale Begleitung bei Substitution sowie Therapie und Selbsthilfeunterstützung für Konsument:innen und begleitende Angehörige als Pflichtaufgabe für die Kommunen zu erklären und stabil zu finanzieren. Die Krankenkassen sind angemessen zu beteiligen. Die Begleitung ist unbürokratisch und niedrigschwellig zu finanzieren. Den besonderen Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme des Bundesteilhabegesetzes durch Konsument:innen mit Hilfebedarf ist mit niedrigschwelligen Hilfeplanverfahren, ggfs. Fallpauschalen, zu begegnen (DHS 2023).

    3. Bündelung der Steuerungskapazitäten der Drogenpolitik

    Das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen mit beschränkten Ressourcen und geringen Befugnissen kann so nicht länger aufrechterhalten werden! Benötigt wird eine Bündelung der Kompetenzen innerhalb einer arbeitsfähigen, interministeriell und interdisziplinär besetzten Organisation, zu deren Mitgliedern Vertreter:innen des Bundes, der Länder und Kommunen, der Verbände der Selbsthilfe sowie der Forschung und Wissenschaft gehören. Denn: Sucht- und Drogenprobleme sind ein zu großes Feld der Gesundheitspolitik (8,2 Millionen Menschen in Deutschland sind abhängig von Substanzen, Medien oder Glücksspiel etc.; 13 Millionen Menschen konsumieren Substanzen missbräuchlich), als dass man sie verstreut über mehrere Ministerien oder nur pflichtschuldig auf Minimalniveau (nur notwendige Anpassungen an EU-Vorgaben etc.) bearbeiten kann. Selbst die zuständigen Regulierungsbehörden kommen mit der Geschwindigkeit, den Dynamiken und Herausforderungen des illegalen und legalen Drogenmarktes nicht zurecht. Jüngstes Beispiel ist die Einweg-E-Zigarette, die v. a. unter jungen Menschen immer größere Verbreitung findet, weil fast jede/r Rapper:in in den Social Media ein eigenes Label mit kinder- und jugendaffiner Werbung hat. Auch eine Lachgas-Regulierung lässt auf sich warten.

    Zusammenfassung

    Die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung sind aus unterschiedlichen Gründen nur zu einem geringen Teil umgesetzt worden. Im Wesentlichen waren sie unscharf formuliert, so dass einiges nicht operationalisierbar/messbar war. Zum Teil standen rechtliche Hürden einer Umsetzung im Weg. Die in den Koalitionsvereinbarungen formulierten Zielsetzungen spiegelten auch nur einen kleinen Teil der notwendigen Entwicklungsschritte der Drogenpolitik wider. Diese Selektivität der Zielsetzungen im Kontext dringend benötigter Reformen zeigt auch, dass diese Ziele nicht wissenschaftlich fundiert, praxisorientiert oder aus fachpolitischen Diskursen generiert worden sind, sondern sie sind jenseits und unabhängig davon formuliert worden.

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

    Hinweis: LEAP Deutschland (Law Enforcement Against Prohibition Deutschland e. V.) hat die Wahlprogramme der Parteien, die nach den vorliegenden Einschätzungen in den nächsten Bundestag einziehen können, in Bezug auf die Aussagen zur Drogenpolitik untersucht. Die Ergebnisse finden Sie HIER.

    Angaben zu den Autoren und Kontakt:

    Dr. Ingo Ilja Michels: Soziologe, Experte für HIV/AIDS-Prävention und Suchtbehandlung; Internationaler wissenschaftlicher Koordinator des DAAD-Programmes „SOLID – Soziale Arbeit und Stärkung von Nichtregierungsorganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit zur Behandlung von Drogenanhängigkeit“ an der Frankfurt University of Applied Sciences; früherer Leiter des Büros der Bundesdrogenbeauftragten im Bundesministerium für Gesundheit in Berlin; jetzt: Bonn, Deutschland
    E-Mail: ingoiljamichels(at)gmail.com

    Prof. Dr. Heino Stöver: Frankfurt University of Applied Sciences, geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung (ISFF), Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit; u. a. Berater der Weltgesundheitsorganisation WHO und des United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) für das Programm „Gesundheit im Strafvollzug“ (Health in Prisons Programme)
    E-Mail: Heino.stoever(at)fb4.fra-uas.de

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  • Digitale Aufklärungsarbeit: Suchtforschung und Suchthilfe nahbar machen

    Digitale Aufklärungsarbeit: Suchtforschung und Suchthilfe nahbar machen

    Stefanie Bötsch

    Die mediale Aufbereitung des Konsums psychoaktiver Substanzen prägt für einen Großteil der Allgemeinbevölkerung das Bild von konsumierenden Menschen und Sucht. Vor allem der Konsum illegalisierter Substanzen wird häufig in Verbindung mit Kriminalität, sozialen Schwierigkeiten und gesundheitlichen Problemen dargestellt (Hughes et al. 2011) und trägt somit einen beachtlichen Teil zur Stigmatisierung konsumierender Menschen bei.

    Um dem Stigmatisierungsprozess entgegenzuwirken, können auf der einen Seite Journalist:innen mit Fachwissen, das durch Interviews oder Hintergrundgespräche vermittelt wird, bei ihrer Recherche unterstützt werden. Auf der anderen Seite hat die professionelle Suchthilfe die Möglichkeit, selbst mit attraktiven und zielgruppengerechten Angeboten die breite Aufklärung in die Hand zu nehmen und somit vollständig den Einfluss auf die Inhalte zu behalten. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, eignen sich hier vor allem digitale Angebote. Allerdings bringt die digitale Aufklärungsarbeit über psychoaktive Substanzen einige Hürden mit sich, die berücksichtigt werden müssen. In diesem Artikel werden diese Herausforderungen beleuchtet und praxisnahe Einblicke anhand des Psychoaktiv-Podcasts gegeben.

    Das bietet der Psychoaktiv-Podcast

    Der Psychoaktiv-Podcast wird seit 2020 von der Suchttherapeutin und Sozialarbeiterin Stefanie Bötsch produziert. In Substanzkundefolgen werden unterschiedliche psychoaktive Substanzen porträtiert, während in den anderen Folgen Themen aus den Bereichen Substanzgebrauchsstörung, Drogenpolitik, Safer Use oder Suchttherapie behandelt werden. Regelmäßig sind auch Expert:innen aus Forschung und Praxis zu Gast und berichten über ihr jeweiliges Fachgebiet. Ziel des Podcasts ist es, nicht nur wissenschaftsbasierte Inhalte rund um psychoaktive Substanzen einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, sondern auch die professionelle Suchthilfe nahbarer zu machen, um Menschen den Weg in die Suchtberatung bei Bedarf zu erleichtern.

    Der Podcast erreicht aktuell ca. 100.000 Menschen im Monat. Die Zuhörerschaft besteht sowohl aus Konsumierenden und Angehörigen als auch aus Fachpersonal. Begleitend werden Beiträge auf Social Media (Instagram und TikTok) erstellt.

    Digitale Angebote nicht nur für Jugendliche!

    Wenn in der Suchthilfe ein Angebot geplant wird, ist eine der ersten Fragen, welche Zielgruppe man überhaupt erreichen möchte. Vor allem bei digitalen Angeboten stehen häufig Jugendliche und junge Erwachsene im Fokus. Für die Plattform TikTok ergibt das sicherlich Sinn. Bei der ARD/ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2023 gaben 41 Prozent der 14- bis 29-Jährigen an, TikTok mindestens einmal pro Woche zu nutzen, während nur noch 18 Prozent der 30- bis 49-Jährigen TikTok wöchentlich nutzen. Auf Instagram sind jedoch auch Altersgruppen über 30 häufiger vertreten. Zwar sind die Jungen die größte Gruppe, 79 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nutzen die Plattform wöchentlich, aber auch 46 Prozent der 30- bis 49-Jährigen sind mindestens ein Mal die Woche auf Instagram aktiv (Koch, 2023).

    Vor allem bei Podcasts lohnt sich die Überlegung, bewusst auch eine ältere Zielgruppe anzusprechen. 45,9 Prozent der 14- bis 29-Jährigen hören Podcasts und sind damit auch hier die Altersgruppe, die am stärksten vertreten ist. Allerdings zeigt die Studie „Online-Audio-Monitor (OAM) 2023“ bei dieser Altersgruppe einen absteigenden Trend, während bei den Altersgruppen 30 bis 49 Jahre und 50+ seit 2021 eine steigende Tendenz zu beobachten ist, wie in Abbildung 1 zu sehen ist (mindline media GmbH, 2023).

    Abb. 1: Regelmäßige Nutzung von Podcasts und Radiosendungen zum Nachhören. Eigene Darstellung nach mindline media GmbH (2023)

    Auch in der Altersverteilung der Hörer des Psychoaktiv-Podcasts lässt sich erkennen, dass über die Hälfte zwischen 35 und 54 Jahre alt ist. Den geringsten Anteil machen die 18- bis 24-Jährigen und die Altersgruppe über 65 Jahren aus (s. Abb. 2). Jetzt könnte sich die Annahme aufdrängen, dass dies daraus resultiert, dass der Podcast auch vermehrt von Fachpersonal gehört wird. Es ist zwar nicht möglich, diese Annahme komplett zu widerlegen, anhand von privaten Rückmeldungen aus der Zuhörerschaft wird jedoch deutlich, dass die stark vertretene Altersgruppe 35 bis 54 Jahre auf jeden Fall nicht nur von Fachpersonal ausgefüllt wird.

    Abb. 2: Altersverteilung im Psychoaktiv-Podcast vom 04.07.2023 bis 04.07.2024. Eigene Darstellung

    Hürden bei der digitalen Wissenschaftskommunikation

    Bei Aufklärungsarbeit zu psychoaktiven Substanzen und Sucht auf Instagram, TikTok oder auch YouTube kommt es häufig zu dem Problem, dass diese Plattformen Beiträge zu diesen Themen entweder in ihrer Reichweite drosseln oder entfernen. Ferner, und für die klassische Aufklärungsarbeit nicht ganz so wichtig, können diese Themen auch von Monetarisierungsprogrammen ausgeschlossen werden. Aus diesem Vorgehen der Plattformen ziehen die Creators (die Ersteller:innen der Inhalte) unterschiedliche Konsequenzen. Um die Themen trotzdem ansprechen zu können, werden entweder andere Begriffe verwendet (sehr bekanntes Beispiel ist der Begriff „Brokkoli“ anstatt Cannabis) oder drogenspezifische Stichworte z. B. durch einen Piep-Ton ersetzt. So wird es für Algorithmen schwieriger, die Inhalte zu erkennen, und die Inhalte können sich verbreiten.

    Ein Beispiel aus der Praxis: Auf der TikTok-Seite des Psychoaktiv-Podcasts werden seit acht Wochen Kurzvideos erstellt. In dieser Zeit werden drei Videos von TikTok gesperrt, und der Kanal wird mit Warnungen versehen (ab zwei Warnungen wird das komplette Profil gelöscht). Weitere zwei Videos werden von der Reichweite her erheblich gedrosselt. Auf Widerspruch der Produzentin werden all diese Maßnahmen zurückgenommen, und eine Löschung des Kontos kann verhindert werden. TikTok zeigt sich zumindest sehr transparent dahingehend, welche Konsequenzen bei Verstoß gegen die Community Richtlinien angewendet werden, und bietet eine niedrigschwellige Möglichkeit des Widerspruchs. Trotz des aktiven Vorgehens von Seiten TikToks gegen den Inhalt auf der Psychoaktiv-Seite haben einige Videos eine hohe bis virale Reichweite erreicht.

    An dieser Stelle zeigt sich der große Vorteil von Podcasts, wenn es um die Wissenschaftskommunikation rund um psychoaktive Substanzen geht. Podcasts werden über einen RSS-Link auf unterschiedliche Podcast-Plattformen verteilt. Die Macht einzelner Plattformen ist dadurch deutlich reduziert, da diese bei Podcasts keine Monopolstellung einnehmen. Zwar nutzen die unterschiedlichen Plattformen auch Algorithmen, z. B., um ihre Charts zu generieren, doch es scheint, dass inhaltliche Einschränkungen nur sehr begrenzt angewendet werden. Auf Anfrage von Seiten des Psychoaktiv-Podcasts bei Spotify gibt die Plattform an, keine inhaltsbezogene Reichweitendrosselung vorzunehmen.

    Chancen und Risiken einer digitalen Community

    Wenn ein Podcast, ein Instagram- oder TikTok-Account oder ein YouTube-Kanal wächst, steigt in der Regel auch die Interaktion mit den Nutzer:innen. Dann bietet es sich an, eine Brücke zu einem professionellen Hilfeangebot zu bauen, seien es digitale Kurzinterventionen, Motivationsarbeit, Onlineberatung oder Ähnliches. Auch kann es sein, dass die Community anfängt, sich untereinander zu unterstützen, und somit eine digitale Selbsthilfe rund um das Format entsteht.

    Die Kehrseite der Medaille kann jedoch darin bestehen, dass es zu konsum- und drogenverherrlichendem Verhalten, Werbung für den Kauf illegalisierter Substanzen oder abwertenden Kommentaren gegenüber konsumierenden Menschen kommen kann. Vor allem, wenn ein Beitrag viral geht, kann es in kurzer Zeit zu einer hohen Anzahl an Kommentaren kommen, die kontrolliert und sortiert werden müssen. Für ein erfolgreiches Community-Management gilt es dementsprechend, vorab zu planen, wie mit unterschiedlichen Situationen umgegangen werden kann und welche eigenen Community-Regeln man bei den Kommentaren anwenden möchte.

    Da Podcasts auf zahlreichen Plattformen publiziert werden und Interaktionsmöglichkeiten nur eingeschränkt und auch nicht auf jeder Plattform vorhanden sind, verschiebt sich die Interaktion mit der Zuhörerschaft in der Regel auf andere begleitende Plattformen wie z. B. Instagram. Dies erschwert es, mit dem Endkonsumenten/der Endkonsumentin in Kontakt zu treten, und kann eine Hürde für die Bildung einer interaktiven Community darstellen. Allerdings sind dann auch die Risiken deutlich geringer.

    Fazit

    Digitale Aufklärungsarbeit birgt viele Chancen – sei es die Reduktion von Stigmatisierung, die Werbung für die Suchthilfe oder die Möglichkeit, für unterschiedliche Altersgruppe passende Formate zu entwickeln. Trotz allem braucht vor allem die Aufklärung zu psychoaktiven Substanzen viel Fingerspitzengefühl, um gegen Algorithmen anzukommen, die darauf abzielen, Inhalte, die vermeintlich gegen Community-Richtlinien verstoßen, abzustrafen.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Stefanie Bötsch
    M.A. Suchttherapie und Sozialmanagement
    Produzentin des Podcasts „Psychoaktiv“
    Stefanie Bötsch | Der Podcast für Suchtprävention
    info@stefanieboetsch.de

    Quellen:
  • Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

    Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

    Mathias Speich

    Public Health gilt in vielen Bereichen der modernen Arbeit im Gesundheitswesen als „der“ Lösungsansatz. Doch woher kommt dieser Gedanke und warum ist er auch für die Suchthilfe entscheidend? Ist dieser Ansatz wirklich neu? Um es vorwegzunehmen: nicht neu, aber interessant. Und er erklärt, warum aktuelle Entwicklungen die Qualität der Suchthilfe und Suchtprävention gefährden könnten. Natürlich kann in einem relativ kurzen Artikel wie diesem kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen. Aber vielleicht macht er ein wenig neugierig und lädt zum Diskutieren ein: über das Thema öffentliches Gesundheitswesen, die Sichtweise der Weltgesundheitsorganisation, bestehende Strukturen und die sich daraus ergebenden Chancen.

    Perspektivwechsel

    Die Suchthilfe und Suchtprävention in Deutschland ist in vielen Bereichen, vermutlich ohne ihr Wissen, ein schönes Beispiel dafür, wie der Grundgedanke von Public Health in den Praxisalltag des Sozial- und Gesundheitssystems Einzug gehalten hat. Die Suchthilfe mit all ihren Facetten ist ein Tätigkeitsfeld, welches seit Jahren die „öffentliche Gesundheit“ prägt. Viele Faktoren, die Public Health ausmachen, werden hier gelebt. Vereinfacht dargestellt versucht der Public Health-Ansatz, den Erhalt der Gesundheit in den Vordergrund zu rücken, wohingegen die Medizin das Erkennen und die Behandlung einer Krankheit in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt.

    Dies ist ein relativ einfacher Perspektivwechsel, der aber einige Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Public Health bezieht sich dabei auf die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese hat bereits im Jahr 1948 ihre Sichtweise auf das Thema Gesundheit deutlich erweitert. Damals und auch mit Blick auf die verheerende Geschichte musste man anerkennen, dass es neben den medizinischen und biologischen Faktoren deutlich mehr Einflüsse gibt, die zum Erhalt der Gesundheit und zum Entstehen von Erkrankungen beitragen. Umweltbedingungen, die soziale Lebenswelt, der Lebensstil und die Zugänge zu einem funktionierenden Gesundheitssystem gehören beispielsweise primär dazu.

    Es blieb nicht bei der Definition der WHO, denn die daraus gefolgerten Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und Gesundheit führten im Jahr 1986 zur Ottawa-Charta. Darin wird Gesundheitsförderung als Prozess definiert, der Menschen befähigt, ihre Gesundheit zu verbessern und mehr Kontrolle darüber zu erlangen. In der Charta wird deutlich, dass Gesundheit ganzheitlich zu betrachten ist. Sie entsteht in einem partizipativen Prozess zwischen den Menschen und dem Sozial- und Gesundheitssystem. Politik hat den Auftrag, diesen Raum zu gestalten, wozu viele professionelle und interdisziplinäre Ansätze benötigt werden. Dabei werden individuelle, aber auch soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt. Deutschland hat sich den Zielen der Ottawa-Charta angeschlossen (vgl. Kaba-Schönstein, 2018), und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) versuchte, diese bis Ende 2023 auch umzusetzen (vgl. Deutscher Bundestag, 2021). Die Formulierung von Gesundheitszielen, eine interdisziplinäre Gesundheitsförderung, Aktionspläne der Länder und Kommunen sowie Forschung und die Evaluation von Maßnahmen beruhen auf dieser Charta und ließen Hoffnung aufkommen. Viele Professionen konnten seitdem aus ihrer Perspektive das Thema Gesundheit erforschen, Erkenntnisse gewinnen und das Gesundheitssystem stetig weiterentwickeln.

    Ein Baustein von vielen

    Die WHO setzte mit ihrem erweiterten Blickwinkel deutlich früher an, als eine einzelne Profession das gekonnt hätte. Sie „beschränkte“ sich dabei nicht mehr auf die Behandlung einzelner Erkrankungen und ihrer Symptome. Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Das Erkennen und Behandeln von Erkrankungen ist eine große Wissenschaft und genießt zu Recht höchste Anerkennung. Im gesamten Gesundheitswesen ist die Medizin aber ein Baustein von vielen. Es zeigte sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz deutlich effektiver war. Wenn im Fachbereich Public Health von Gesundheit gesprochen wird, geht es um die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen und Professionen auf Augenhöhe. Die Suchthilfe praktiziert dies in vielen Bereichen schon seit Jahrzehnten. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Fachbereiche Soziale Arbeit, Pflege, Pädagogik, Therapie, Medizin, aber auch Pharmakologie erwähnt, die gut ineinandergreifen. Über viele Jahre hinweg wurde unter Beteiligung einer Reihe von Professionen (und vor allem durch die Partizipation der Betroffenen) ein vielseitiges professionelles und ehrenamtliches Hilfesystem aufgebaut und stetig weiterentwickelt. Natürlich ist dies weiterhin deutlich ausbaufähig, und allein der Blick auf die aktuelle Zahl der Drogentoten und die sich stark verändernden Konsumgewohnheiten zeigt, dass sich dieses System in einem dauerhaften Wandel befindet und befinden muss. Ohne dieses interdisziplinäre Hilfesystem würden viele Veränderungen viel zu spät erkannt.

    Erhalt von Lebensqualität

    Der Perspektivwechsel stellt nicht nur die Gesundheit in den Vordergrund, sondern definiert auch neue Ziele. Eines davon ist der Erhalt und im besten Falle auch die Steigerung der Lebensqualität trotz bzw. mit einer bestehenden Erkrankung. Der Suchthilfe ist dieser „akzeptierende“ Gedanke durchaus bekannt. Trotz einer Diagnose geht das Leben in den meisten Fällen glücklicherweise weiter, aber wie geht man mit dieser Einschränkung um? Ab wann gilt ein Mensch als „krank“, ab wann als „gesund“? Circa 40 Prozent (vgl. Stiftung Gesundheitswissen, 2022) aller Deutschen leben mit einer chronischen Erkrankung, die wenigsten von ihnen werden sich im Alltag als dauerhaft „krank“ bezeichnen. Vor allem Leser:innen mit „mehr Lebenserfahrung“ werden dies gut nachvollziehen können. Das subjektive Empfinden bei vielen Erkrankungen ist, dass diese zwar als störend und unangenehm wahrgenommen werden, viele Menschen es aber schaffen, dies im Alltag zu kompensieren. Vor allem die Stärkung der positiven Faktoren reduziert die Wahrnehmung der Beeinträchtigung deutlich. Dies ist selbstverständlich immer abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung. Aber auch bei schwerstkranken Menschen trägt jede einzelne Minute, in der die Erkrankung ihre Dominanz verliert, positiv zur subjektiven Lebensqualität bei. Deutlich sollte werden: Es gibt einen gestaltbaren Raum zwischen „krank“ oder „gesund“. Wie ein Mensch seine gesundheitliche Situation erlebt, ist sehr individuell und temporär bedingt.

    Da die Lebensqualität subjektiv wahrgenommen wird, liegt es an den betroffenen Menschen selbst, diese auch zu definieren. Selbst wenn eine Person sehr schwer erkrankt ist, bestimmt sie das Ziel, die Geschwindigkeit und die damit verbundenen Hilfen. Der Ansatz von Public Health besteht darin, die vielen Einflussfaktoren zu identifizieren und mit den Betroffenen selbst Strategien zu entwickeln, das Positive zu stärken und die negativen Auswirkungen zu reduzieren. In der Suchthilfe wird dies seit Jahren unter dem Begriff Akzeptanzorientierung und Harm Reduction praktiziert, gleichzeitig bleibt die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung bestehen. Das entlastet die betroffenen Menschen und eröffnet neue Möglichkeiten. Denn gleichzeitig können nun auch die Beratungs- und therapeutischen Angebote der Suchthilfe versuchen, mit den Betroffenen gemeinsam die Konsumanlässe zu reduzieren. Drohender Wohnungsverlust, Schulden, bestehende Strafverfahren, Konflikte in der Familie – es gibt viele Auslöser für einen unkontrollierten Konsum. Vom Erkennen eines Problems bis zur Lösung und deren Aufrechterhaltung (vgl. Transtheoretisches Modell der Veränderung, TTM) ist es ein weiter Weg. Hier zeigt sich, wie wichtig dieser interdisziplinäre Gedanke ist.

    Prävention und Salutogenese

    Betrachtet man Public Health allgemein in Bezug auf die Gesellschaft, so steht natürlich die Vermeidung von Erkrankungen, die Förderung und letztendlich der Erhalt der Gesundheit im Fokus. Das gilt besonders für Suchterkrankungen. Sie haben eine enorm hohe Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Alkohol, Nikotin und andere psychoaktive Substanzen lösen nachweislich schwere Erkrankungen aus. Dazu gehören beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Krebs, psychische Störungen u.v.a. Die Liste ist lang, die Fallzahlen sind hoch, und für die Suchthilfe ist es keine neue Erkenntnis.

    Für die Prävention stellt sich die Frage, wie die vielen Formen potenzieller Schädigungen vermieden werden können. Ein einfacher Hinweis auf den Verzicht ist in einer Konsumgesellschaft bei Weitem nicht ausreichend. Dem Konzept der Salutogenese (vgl. Faltermaier, 2023) entsprechend richtet der Public Health-Ansatz auch hier den Fokus auf den Erhalt der Gesundheit und nicht auf eine der vielen potenziell möglichen schweren Erkrankung, die in einen Zeitraum von vielen Jahren auftreten können. Aus der Perspektive vieler Kinder und Jugendlicher ist eine Gefahr in ferner Zukunft kaum greifbar. Neue Präventionsansätze gehen deshalb gezielt auf Zielgruppen zu und versuchen, mit ihnen gemeinsam Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um beispielweise mit Stressoren besser umgehen zu können. Anstatt sich auf zukünftige Risiken zu konzentrieren, werden Ressourcen und Stärken von Individuen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt gestellt. Das Ziel ist u. a., das Kohärenzgefühl und die Selbstwirksamkeit junger Menschen zu stärken, damit eine Suchterkrankung und die sich daraus ergebenden sozialen und gesundheitlichen Folgeschäden nach Möglichkeit vermieden werden. Moderne Präventionsprojekte wie beispielweise MOVE, FreD und HaLT basieren fast alle auf diesem Ansatz.

    Unterschiedliche Präventionsansätze für unterschiedliche Zielgruppen

    Neben der Verschiebung der Perspektive wurden auch die Zielgruppen präziser gefasst. Klaus Hurrelmann unterteilte schon vor vielen Jahren in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Heute wird bevorzugt von universeller, selektiver und indizierter Prävention gesprochen. Wie werden Zielgruppen angesprochen, in welchem Alter, mit welchen Hintergrund, wann und wo? Wir wissen, dass schlecht gemachte Informationskampagnen auch Schaden anrichten können. Vor allem bei der Primärprävention besteht ein schmaler Grat zwischen Informationskampagne und Neugierig-Machen. Nicht ohne Grund gibt es mittlerweile Suchtpräventionsfachkräfte, die mit pädagogischen Interventionen und Sozialer Arbeit Zielgruppen und Risikofaktoren identifizieren und geeignete Maßnahmen bereitstellen. Dabei ist bei vielen erfolgreichen Projekten ein Methodenmix z. B. aus den Bereichen der Pädagogik, Sozialen Arbeit und der Psychologie entstanden.

    Nicht nur die Verhaltensprävention wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich präzisiert, auch wurde der Bereich der Verhältnisprävention gestärkt. Die soziale Umwelt hat einen massiven Effekt auf die Entstehung einer Suchterkrankung. Die Steuererhöhung bei den Alkopops und der erschwerte Zugang zu Nikotin zeigten deutliche Effekte, auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Möglichkeiten, hier mit wenigen Veränderungen viel zu bewegen, sind enorm. Dabei geht es nicht um Prohibition, was gerne unterstellt wird, sondern um den gezielten Schutz von vulnerablen Gruppen. Die sinkenden Fallzahlen bei Alkohol- und Nikotinkonsum bei Kindern und Jugendlichen machen Hoffnung (vgl. Alkoholsurvey der BZgA 2022 und Drogenaffinitätsstudie der BZgA 2023). Gleiche Effekte über gezielte Verhaltensprävention zu erreichen, wäre mit den bestehenden Ressourcen praktisch unmöglich.

    Aktuelle Entwicklungen führen in die Vergangenheit

    Umso spannender wurde es Ende 2023, als aus dem BMG ein erster Arbeitsentwurf zur Errichtung eines Bundesinstituts mit Schwerpunkt Prävention auftauchte. Durch den Koalitionsvertrag war bekannt, dass Veränderungen kommen würden. Hier wurde das neue Institut als „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ bezeichnet, mit direktem Bezug zu Aktivitäten im Public Health-Bereich (vgl. „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 65). Dieser Prozess war im Vorfeld relativ still verlaufen, und grundsätzlich gab es gegen mehr Prävention und Public Health in Deutschland keine Einwände. Die durch das BMG schließlich erfolgte Namensgebung „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) überraschte jedoch und ließ Zweifel aufkommen, denn der Schwerpunkt wurde nun auf eine einzige Profession gelegt. Der Widerspruch zum oben beschriebenen Gesundheitsbegriff und Präventionsansatz liegt schon im Titel. Dennoch sparte man bei der öffentlichen Ankündigung nicht mit Schlagwörtern wie „Public Health“, „interdisziplinär“ und „Primärprävention“. Dem Beauftragten für die Errichtung des „Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ wurde zudem die Leitung der BZgA übertragen (vgl. Interview mit Dr. Johannes Nießen auf KONTUREN online). Es ist anzunehmen, dass dies deutliche Auswirkungen auf die bisherige mehrdimensionale Sichtweise von Gesundheit haben wird.

    Die Fachöffentlichkeit reagierte darauf mit einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Lauterbach, den fachübergreifend über 150 Organisationen und Professionen aus Praxis, Wissenschaft und Forschung unterzeichneten. Darin begrüßen sie die Gründung eines zentralen Instituts für öffentliche Gesundheit ausdrücklich, fordern aber eine andere Strategie, „eine ganzheitliche, krankheitsübergreifende, an einem dynamischen Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden ausgerichtete Strategie, die […] eine Institution befähigt, in dynamischen, komplexen Systemen zu denken und zu handeln und die sich daher nicht auf medizinische Sachverhalte beschränkten darf.“ (Götz & Rosenbrock, 2023, S. 3) Die bisherige Reaktion des BMG ist überschaubar.

    Eigentlich könnte man mit guten Gewissen auf die Suchthilfe als Vorbild verweisen. Das bio-psycho-soziale Modell wird in der Praxis seit vielen Jahren professionsübergreifend gelebt. Als problematisch stellt sich aber die Vielzahl der Kostenträger im deutschen Gesundheitssystem und der Suchthilfe mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten und Qualitätskriterien heraus. Dazu gehört auch die zunehmende Fokussierung auf evidenzbasierte Medizin (EbM). Während EbM in der medizinischen Behandlung und Forschung als Gold-Standard gehandelt wird, greift sie bei der Bewertung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Gesundheit zu kurz, da pädagogische und therapeutische Interventionen nur sehr aufwendig quantitativ zu messen sind. Statistisch ist dies zwar möglich, aber um wirklich (hoch) signifikante Aussagen treffen zu können, ist der Forschungsaufwand um ein Vielfaches höher. Das beinhaltet die Gefahr, dass Projekte oder neue Arbeitsansätze allein aufgrund des deutlich höheren Aufwandes bei der Evaluation bei der notwendigen Förderung oder anschließenden Refinanzierung weniger Beachtung finden. In Erinnerung sollte aber auch gebracht werden, dass die sehr gute Methode der evidenzbasierten Medizin in der Form vermutlich nie für diesen breiten professionsübergreifenden Einsatz vorgesehen war.

    Die Suchthilfe hat aber mit dem Deutschen Kerndatensatz (KDS) ein interessantes Evaluationstool als Ass im Ärmel. Dieser wird aktuell angepasst und könnte vor allem aus dem Blickwinkel von Public Health viele Potenziale beinhalten. Optimierungsbedarf besteht aktuell noch in der Unterscheidung der einzelnen Arbeitsgebiete. So wird im KDS primär von Behandlung und Betreuung gesprochen, obwohl die ambulante Suchthilfe mit großem Abstand die meisten Fallzahlen in der Beratung (vgl. Schwarzkopf et al., 2023, Abbildung 1., S. 9) vorweist (ca. 68 Prozent; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18). Diagnosen, die in der stationären Suchthilfe und Therapie eine zentrale Rolle spielen, sind in der ambulanten Beratung weniger relevant (ca. 5 Prozent aller Mitarbeitenden der ambulanten Suchthilfe verfügen über eine entsprechende Qualifikation; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18) und in der Suchtprävention kaum von Bedeutung. Zurzeit wird noch wenig deutlich, dass je nach Setting der Kontakt zu den Klient:innen zwischen Tagen und Jahren beträgt. Auch ist der KDS bisher wenig dynamisch in der Erfassung von Beratungs- und Behandlungsverläufen. Die zunehmende Digitalisierung der Suchthilfe und auch die Möglichkeiten der Verarbeitung beinhaltet große Potenziale. Mit dem KDS steht ein flächendeckendes gutes Instrument zur Verfügung, welches nur an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden muss.

    Im Sinne von Public Health und der Ottawa-Charta sollte zukünftig aber ein sehr großes Interesse darin bestehen, die geleistete Arbeit professionsübergreifend zu begleiten und zu bewerten. Immerhin geht es hier um die Entwicklung von passenden kurz-, mittel- und langfristigen bio-psycho-sozialen Angeboten für die betroffenen Menschen. Die Datengrundlage dient an entscheidenden Stellen als Argument in Verhandlungen zu Förderung und Forschung, und natürlich werden hier Impulse für die Verwaltung und Politik gesetzt (siehe Ottawa-Charta). Ganz direkt geht es auch um Definitionshoheiten und um die Verteilung von knappen Ressourcen (vgl. Notruf Suchtberatung, 2019).

    Doch bei aller – konstruktiv gemeinter – Kritik: Es sind Feinheiten, die es zukünftig zu optimieren gilt. Die Suchthilfe ist mit der Deutschen Suchthilfestatistik und vielen evaluierten Projekten in der Lage, schon jetzt die Betroffenen und die Wirksamkeit der Hilfen wissenschaftlich evaluiert sichtbar zu machen (vgl. Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS)). Damit sind die Suchthilfe und Suchtprävention vielen anderen Bereichen im Sozial- und Gesundheitswesen weit voraus.

    Fazit

    Abschließend: Der Public Health-Ansatz hatte sich in den letzten Jahrzenten bewusst oder unbewusst als gute, konstruktive Perspektive im Gesundheitssystem, der Suchthilfe und Suchtprävention herausgestellt. Die interdisziplinäre Sichtweise und der Perspektivwechsel eröffneten im Praxisalltag neue Ideen, die unterschiedlichen Positionen und Professionen ergänzen sich gegenseitig. Dass das in der Suchthilfe und Suchtprävention nicht immer nur ein „harmonieorientierter“ Diskurs war und ist, weiß jeder/jede, der/die schon länger in dem Bereich tätig ist. Veränderung ist auch hier ein Prozess. Dennoch, es zählt das Ergebnis: Die Lebensqualität von vielen betroffenen Menschen hat sich verbessert, die Suchtprävention hat sich deutlich weiterentwickelt und erreicht in höherem Maße und präziser ihre Zielgruppen. Das gute Netzwerk der ehrenamtlichen und professionellen Suchthilfe ist in der Lage, schnell auf Veränderungen in der Suchtmittelszene zu reagieren. Das BMG kann man nur ermutigen, nicht nur über Public Health zu reden, sondern es vor dem Hintergrund der vielen nationalen und internationalen positiven Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im Sinne der WHO konsequenter umzusetzen.

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung des Verfassers wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

    Kontakt:

    Mathias Speich
    Der Paritätische NRW
    Marienstraße 12
    33332 Gütersloh
    Speich(at)paritaet-nrw.org

    Angaben zum Autor:

    Mathias Speich: Master of Public Health, Dipl.-Sozial- und Umweltpädagoge. Seit über 20 Jahren aktiv in der Suchthilfe und Suchtprävention. Fachreferent der Suchthilfe und der Hilfen nach § 67 SGB XII des Paritätischen NRW. Mitglied im Arbeitsausschuss Drogen und Sucht NRW, im Beirat der Suchtkooperation NRW, im Fachausschuss Gefährdetenhilfe und aktiv in vielen weiteren kleinen und großen engagierten Gremien der Suchthilfe, landes- und bundesweit.

    Literatur:
  • Apps zu Substanzkonsum, Glücksspiel und psychosozialer Gesundheit

    Apps zu Substanzkonsum, Glücksspiel und psychosozialer Gesundheit

    Das Smartphone haben die meisten Menschen ständig dabei – ein Umstand, der zur Förderung der Gesundheit genutzt werden kann. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Apps, die bei Problemen mit Substanzkonsum und exzessiven Verhaltensweisen sowie im Bereich psychosoziale Gesundheit Hilfe und Unterstützung anbieten. Zwei Apps zur Rauchstopp-Unterstützung wurden bereits in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA-Verzeichnis) des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen.

    KONTUREN online hat das Angebot an sucht- und Mental Health-bezogenen Apps in den Blick genommen und einige Anbieter gebeten, ihre Apps anhand eines standardisierten Fragebogens vorzustellen. Die vorliegende Übersicht stellt selbstverständlich nur einen kleinen Ausschnitt eines schnell wachsenden Angebotes dar, und nicht alle angeschriebenen Anbieter haben geantwortet. Mit den vielfältigen Steckbriefen möchten wir einen Impuls geben, sich dieses Feld an Hilfemöglichkeiten zu erschließen und neue, effektive Wege der Prävention und Behandlung zu erkunden.

    Über folgende Apps können Sie sich hier informieren:

    • SUBSTANZKONSUM: MINDZONE-App „sauberdrauf!“, Elma-App, CariTapp, coobi care
    • GLÜCKSSPIEL: PlayOff
    • PRÄVENTION / PSYCHISCHE GESUNDHEIT: blu:app, ready4life, „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe“-App, belinu
    • RAUCHEN: NichtraucherHelden, Smoke Free – Rauchen aufhören

    SUBSTANZKONSUM

    MINDZONE-App „sauberdrauf!“

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Verfügbar bei Google Play für Android oder im App-Store für Betriebssystem iOS bzw. iPhone. Weitere Infos unter: https://mindzone.info/aktuelles/update-mindzone-app-sauberdrauf/

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Speziell: Themenbereich Freizeitdrogen bzw. Partydrogen und Suchtrisiken
    Allgemein: Prävention und Gesundheitsförderung im Partysetting

    3. An wen richtet sich die App?
    An drogenaffine, konsuminteressierte Partygängerinnen und Partygänger im Alter zwischen 14 und 30 Jahren sowie an informations- und ratsuchende Angehörige und Bezugspersonen von Betroffenen. Die Mindzone-App richtet sich zudem an Fachkräfte aus dem Sucht- und Jugendhilfebereich.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App ist quasi eine mobile Version der Mindzone-Homepage: https://mindzone.info/. Diese kann direkt auf dem Smartphone installiert werden und ist dann mobil abrufbar ohne Browser-Zugriff.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Umfassende Informations-Plattform rund ums Thema Partydrogen (Substanzinfos A-Z), aktuelle Substanzwarnungen, Pillen-Finder, Drogennotfall-Infos, Online-Beratung über Kontaktformular, kostenfreie Bestellung von Info-Materialien

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Ja, der Pillen-Finder, er ist das am häufigsten genutzte Tool: umfangreiche Datenbank mit Suchfilter-Funktion gibt eine Übersicht zu besonders hochdosierten bzw. gesundheitsschädlichen Ecstasy-Pillen (z. B. unerwartete Wirkstoffe, gefährliche Streckmittel), siehe auch unter https://mindzone.info/aktuelle-infos/pillenwarnungen/

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nein, es gibt keine Zugangsvoraussetzungen oder Beschränkungen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Es handelt sich um eine Gratis-App.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde vom App-Entwickler vmapit.de aus Mannheim in Form eines Sponsorings komplett kostenlos für Mindzone entwickelt. Siehe auch weiterführende Infos zum Sponsoring-Angebot unter: https://www.vmapit.de/1000-apps-fuer-1000-vereine

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Ja, im Rahmen der Mindzone-Evaluation 2023 durch das IFT Institut für Therapieforschung, München, wurde u. a. auch die App evaluiert, siehe Auszug aus IFT-Evaluationsbericht, S. 42 f.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App selbst ist nicht in anderen Sprachen verfügbar. Aber auf der Mindzone-Homepage ist direkt auf Startseite (oben rechts) ein mehrsprachiger Google-Translator installiert: https://mindzone.info Die mobile Web-Version der Mindzone-Homepage inklusive Google-Translator ist auch problemlos über die App abrufbar.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Im September 2016 wurde die Mindzone-App erstmals veröffentlicht und ist seitdem als Gratis-App erhältlich. Im Jahr 2023 (nachdem die Mindzone-Evaluationsergebnisse feststanden) wurde die Funktionalität der App verbessert, das System wurde upgedatet und die App anwenderfreundlicher gestaltet, z. B.: übersichtlichere Struktur, mittels automatisierter Push-Nachrichten erhalten Nutzerinnen und Nutzer aktuelle Substanzwarnungen, neue Live-Chat-Funktion (ist allerdings wegen fehlender Personalressourcen momentan nicht aktiv), direkte Verlinkungen zu Social-Media-Profilen von Mindzone auf Instagram, Facebook und X, neue Feedback-Funktion, Anfahrt bzw. Wegbeschreibung über Google-Maps, neues App-Weiterempfehlungs-Tool.

    Die Fragen beantwortete Sonia Nunes, Fachliche Projektleitung, Projekt MINDZONE, München.

    Elma-App

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Elma steht für Elternsein motiviert und abstinent. Die Elma-App kann im Google Play Store und im Apple App Store heruntergeladen werden. Zur Aktivierung benötigen die Nutzer:innen einen Code, dieser kann unter elma@zi-mannheim.de angefordert werden.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Die App richtet sich an suchterkrankte Mütter und Väter sowie werdende Eltern mit einer Abhängigkeitserkrankung und unterstützt diese bei der Erlangung und Aufrechterhaltung einer stabilen Abstinenz sowie bei der Stärkung der Erziehungskompetenzen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich an die Betroffenen. Der Angehörigenbereich kann gemeinsam mit den Kindern genutzt werden. Hier erhalten sie auf eine kindgerechte Art Informationen zur elterlichen Erkrankung.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Es werden die Themenbereiche Abhängigkeitserkrankung und Kindererziehung behandelt. Alle Themenbereiche sind gegliedert in einen „Werde Experte“-Teil und einen „Werde aktiv“-Teil. Im „Werde Experte“-Teil erhalten die Nutzer:innen Informationen zu den jeweiligen Themenbereichen, der „Werde aktiv“-Teil dient zur Reflexion über die eigene Situation mit vielen Mitmachmöglichkeiten. Die Inhalte sind multimedial und mehrsprachig aufbereitet.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die Elma-App enthält
    – eine Tagebuchfunktion zum Monitoring von Abstinenz, Stimmung, Stimmung in der Familie und Schlaf sowie
    – einen Erfolge- und einen Zielebereich, in dem sich die Nutzer:innen eigene Ziele oder Erfolgsmeilensteine setzen können.
    Außerdem kann ein individueller Notfallplan für Suchtdruck- und Rückfallsituationen erstellt werden.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Alle Textbausteine sind auch als Audios in der App integriert. Die Elma-App ist mehrsprachig gestaltet.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Die Elma-App ist kostenfrei unbegrenzt lange nutzbar. Es muss für die Nutzung ein Aktivierungscode unter elma@zi-mannheim.de angefordert werden.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App ist kostenlos ohne Rezept nutzbar.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit entwickelt, das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ist Herausgeber der App. Webadresse unseres Projekts: https://www.elma-app.de/

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Die Elma-App-Einführung wird in einer Begleitstudie aktuell evaluiert, sowohl unter den Nutzer:innen als auch unter den Fachkräften.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Ja, in Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch, Ukrainisch, Italienisch, Spanisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Alle Eingaben der Nutzer:innen werden nur lokal auf deren Endgerät gespeichert, es erfolgt keine Speicherung auf einem zentralen Server.

    Die Fragen beantwortete Prof. (apl.) Dr. Anne Koopmann, Oberärztin der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

    CariTapp

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die App ist grundsätzlich im Google Play Store und im Apple App Store verfügbar. Aktuell ist es so, dass wir die App von einem ursprünglich semiprivaten Account auf einen offiziellen Caritas-Account überführen wollen. Deshalb wird die App vorübergehend nicht im Apple App Store erhältlich sein.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich
    Die App kommt beim Thema Sucht zum Einsatz. Sie ist zur Begleitung einer Suchttherapie oder Suchtberatung entwickelt worden.

    3. An wen richtet sich die App?
    An Menschen mit Abhängigkeitserkrankung, die sich im besten Fall in einem Beratungs- oder Behandlungsprozess befinden, und an Berater:innen und Behandler:innen.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die CariTapp unterstützt und erleichtert den Therapieprozess und hilft dabei, motiviert zu bleiben, um sein Suchtverhalten nachhaltig zu verändern. Die Leistungen und Funktionen sind sehr umfangreich. Die Wichtigsten wären: Motivation, Selbstbeobachtung, Rückfallvermeidung, Arbeit an den Therapiezielen und viele mehr … Auf unserer Website gibt es ein Erklärvideo: https://www.caritas-suchtambulanz-junge-muenchen.de/de/caritapp Um es anschauen zu können, muss man die Marketing-Cookies akzeptieren.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Tracken von Stimmung, Verlangen und Konsum. Vereinbarungen und Therapieziele inkl. Zwischenzielen formulieren und ergänzen. Es steht eine Fotobox zur Verfügung, in der man sich wichtige Bilder abspeichern kann. Dazu kann man verschiedene Ordner anlegen, z. B. „Privat“ oder „Therapie“ etc. Außerdem bietet die App: ein Quiz, einen Notfallbutton, Frühwarnsignale, einen Zugang zur Onlineberatung.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Nein

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nein

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Kostenlos

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke der Erzdiözese München und Freising.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Ja, mit positivem Ergebnis. Das Ergebnis ist während eines Hackerangriffs verloren gegangen.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Nein

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Es war die allererste App zur Therapiebegleitung auf dem Markt. Die Fachambulanz für junge Suchtkranke hat die App on top zum Alltagsgeschäft realisiert.

    Die Fragen beantwortete Ralf Hermannstädter, Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke, München. 

    coobi care

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Im Rahmen einer Testphase erhältlich ab Ende August 2024. App Store & Google Play Store (Für einen Zugangscode kontaktieren Sie bitte julian@coobi.health.)

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    coobi care bietet eine digitale Unterstützung für die Nachsorge von Abhängigkeitserkrankungen nach einer Entwöhnungstherapie. Die erste Version richtet sich an Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit. In den nächsten Monaten wird die App auch für Nutzer:innen mit anderen substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen, problematischem Konsum und Verhaltenssüchten angepasst.

    3. An wen richtet sich die App?
    – Betroffene Personen ≥18 Jahre in der Nachsorge
    – Nachsorge-Gruppenleiter:innen können mit Zustimmung der Betroffenen coobi care-Daten erhalten (mehr unter „Dashboard für Therapeut:innen“)

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App soll in Synergie mit Nachsorge-Gruppengesprächen einen wertvollen Beitrag zur langfristigen Aufrechterhaltung der Abstinenz und zur Rückfallprävention leisten.
    Die App unterstützt folgende Kernaufgaben der Nachsorge: kontinuierliche Unterstützung direkt nach der Rehabilitation, Aufrechterhaltung der Abstinenzmotivation, Förderung der Eigenaktivität, Erkennen von Krisensituationen und Bereitstellung geeigneter Konfliktlösungsstrategien bei drohenden oder aktiven Krisen, Förderung sozialer Kontakte, Einbeziehung von Bezugspersonen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Chatfunktion für die Nachsorgegruppe: Chat mit Nachsorgegruppe zur Verbesserung der Compliance und sozialen Integration durch selbsthilfeähnliche Kommunikation zwischen den Nachsorgegesprächen.
    • Module: Nutzer:innen haben Zugang zu einer Reihe von kurzen Modulen, die verschiedene nachsorgebezogene Themen abdecken. Die Module beinhalten Übungen, Videos und Texte zu Themen wie z. B. Suizidalität, Umgang mit Rückfällen, Emotionen, Selbstsicherheitstraining.
    • Craving-Bereich: Im Falle eines akuten Cravings können Nutzer:innen schnelle Unterstützung durch Reflexion und Bewältigungsstrategien im Craving-Bereich finden.
    • Motivation: Zur Aufrechterhaltung der Motivation bietet die App Streaks zu Abstinenz, tägliche Übungen und Reflexion.
    • Zielsetzung: Nutzer:innen werden angehalten, sich erreichbare tägliche Ziele zu setzen, und können Langzeitziele erarbeiten und verfolgen.
    • Abend Check-Out: Abends können Nutzer:innen ihren Tag hinsichtlich der Aspekte Abstinenz, Craving, Trigger, Stimmung und Tagesziel reflektieren.
    • Trends: In diesem Bereich können Nutzer:innen ausgewertete Daten der abendlichen Check-Ins und Wearable-Messungen einsehen und analysieren. Dadurch gibt coobi care einen Überblick über Parameter wie Schlaf, Aktivität, Stimmung, Stress und Craving. Über dieses Biofeedback kann coobi care die Eigenaktivität der Nutzer:innen fördern und sie dabei unterstützen, Problembereiche und Trigger zu erkennen und Krisensituationen bewusst wahrzunehmen.
    • Werkzeugkasten: Nutzer:innen können im Werkzeugkasten freigeschaltete Übungen, Konfliktlösungsstrategien für unterschiedliche Problembereiche und favorisierte Inhalte schnell zugänglich finden.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?

    • Die App wird in einem Paket mit einem Garmin Wearable angeboten.
    • Dashboard für Therapeut:innen: Damit coobi care auch in den Nachsorgegesprächen einen Mehrwert leisten kann, werden wir die gesammelten Daten bei Zustimmung der Nutzer:innen in regelmäßigen Berichten für Therapeut:innen zugänglich machen. Durch Einblicke in Daten zu Schlaf, App-Nutzung, Aktivität, Stress, Craving und selbstberichteten Rückfällen können Therapeut:innen Anomalien und Problembereiche erkennen und in kritischen Situationen intervenieren.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?

    • ≥18 Jahre alt
    • Teilnahme an der Nachsorge (für Selbstzahler:innen ist dies keine Zugangsvoraussetzung)
    • Nachsorgedauer ist sechs Monate, mit Verlängerung zwölf Monate. coobi care wird für diesen Zeitraum begleitend angeboten. Nach Beendigung der Nachsorge kann coobi care von Selbstzahler:innen weiter genutzt werden.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Wir befinden uns derzeit in einer kostenlosen Testphase. Um Zugang zur App zu erhalten oder die App mit Ihrer Nachsorgegruppe zu testen, wenden Sie sich bitte an Julian@coobi.health. In Zukunft streben wir an, coobi care über ein digitales Nachsorgekonzept von der DRV erstatten zu lassen. Damit könnten alle nachsorgeberechtigten Rehabilitand:innen dieses Nachsorgekonzept wählen. Wir wollen in den nächsten Monaten auch ein Angebot für Selbstzahler:innen schaffen. Der Preis steht noch nicht fest.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Stigma Health GmbH – ein junges Start-up-Unternehmen mit Sitz in Berlin, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, mitfühlende und zugängliche Lösungen anzubieten, die die komplexen Herausforderungen, mit denen Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen konfrontiert sind, wirklich verstehen und berücksichtigen und eine unterstützende und integrative Gemeinschaft fördern. Das Team vereint Fachwissen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Informatik und Wirtschaft.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    coobi care befindet sich gerade in einer ersten Testphase. Nach Zustimmung der DRV wollen wir coobi care in einem Modellprojekt erproben. Wir konnten für das Modellprojekt bereits einige wichtige Kliniken gewinnen und sind nun auf der Suche nach weiteren Kollaborationspartnern. Falls Sie als Nachsorgeeinrichtung, Rehabilitationsklinik, Entzugsklinik oder Forschungsinstitut Interesse an einer Teilnahme am Modellprojekt oder einer anderen Zusammenarbeit haben, wenden Sie sich bitte an Julian@coobi.health.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Deutsch & Englisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Datenschutz: Das Datenschutzkonzept von coobi care basiert auf vollständiger Anonymität. Der Zugang zur App erfolgt über einen Code. Eine E-Mail-Adresse oder Telefonnummer wird nicht benötigt. coobi care sammelt keinerlei persönliche Daten. Die Identität der Nutzer ist coobi also nicht bekannt, und alle erhobenen Daten sind immer anonym. Um den Zugriff durch Dritte zu verhindern, wird der Nutzer vor dem Öffnen der Anwendung biometrisch authentifiziert. Die Übertragung aller Daten erfolgt über eine gesicherte Verbindung (SSL-Verbindung), so dass die Daten vor dem Zugriff Unbefugter geschützt sind. Der Gruppenchat wird vollständig mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verschlüsselt.

     Die Fragen beantwortete Dr. Julian Kruse, Co-Founder & CMedO.


    GLÜCKSSPIEL

    PlayOff

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    PlayOff ist eine von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) entwickelte App, die für alle iOS- und Android-Geräte im Google Play Store und Apple App Store kostenlos heruntergeladen werden kann.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    PlayOff ist eine Selbsthilfe-App vor allem für Betroffene eines problematischen Glücksspielverhaltens. Sie kann darüber hinaus von allen Nutzer:innen von Glücksspielen genutzt werden, die ihr Spielverhalten kontrollieren, reduzieren oder beenden möchten.

    3. An wen richtet sich die App?
    PlayOff richtet sich an Nutzer:innen von Glücksspielen aller Altersgruppen, die ihr Spielen entweder komplett beenden möchten oder versuchen möchten, kontrolliert und in einem persönlich festgelegten Ausmaß weiterzuspielen. Die App kann auch begleitend zu einer Beratung oder Therapie eingesetzt werden (die Tagebucheinträge und damit die Angaben zum Glücksspielverhalten können als PDF exportiert werden) und ist damit auch für Profis interessant.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    PlayOff basiert auf verhaltenstherapeutischen Methoden und bietet zahlreiche Features wie eine Tagebuchfunktion, einen Wochenplan und eine Auswertung des eigenen Spielverhaltens. Diese Features können bei der Kontrolle und Reflexion des Spielverhaltens wie auch bei der Bewältigung von Glücksspielproblemen helfen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Erfassen des aktuellen Glücksspielverhaltens
    • Erfassen persönlicher Gründe fürs Glücksspielen
    • Individuelle Zielsetzung, das Spielen aufzugeben, zu reduzieren oder in einem festgelegten Rahmen fortzuführen
    • Auswahl von Lebensbereichen, auf die sich die Nutzer:innen als Alternative zum Glücksspielen verstärkt konzentrieren möchten
    • Wochenplan zum Gestalten der glücksspielfreien Zeit und zum Festlegen der Spielzeit bei kontrolliertem Konsum
    • Tagebuch zum Erfassen von Aktivitäten, darunter die für Glücksspiele aufgewendete Zeit, das verspielte Geld und die Situation, in der die Entscheidung zum Spielen getroffen wurde

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?

    • Aktivitätsvorschläge für eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung
    • In-App-Alerts zum aktuellen Spielverhalten und Erfolg bei der Zielerreichung
    • Risikoprofil zur Auswertung der Umstände, die häufig zu ungeplantem Glücksspielen führen
    • Wertvolle Hinweise, wie das ungeplante Spielen künftig verhindert werden kann
    • Wechselnde Tipps zur Änderung des eigenen Glücksspielverhaltens und für eine zufriedenstellende Gestaltung des Alltags
    • Weitere Informationen und Hilfemöglichkeiten bei Problemen durch übermäßiges Glücksspielen

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine Zugangsvoraussetzungen, die App ist kostenfrei und ohne Anmeldung nutzbar. Die Nutzungsdauer ist nicht limitiert, Nutzer:innen können sich von PlayOff dauerhaft begleiten lassen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    PlayOff ist kostenlos und rezeptfrei erhältlich.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    PlayOff wurde von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) entwickelt. Die LSG ist die zentrale Schnittstelle für alle an der Prävention, Suchthilfe, Suchtforschung und Beratung bei Glücksspielsucht beteiligten Organisationen und Akteure. Beteiligt an der LSG sind die Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen BAS Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), das IFT Institut für Therapieforschung und der Betreiberverein der Freien Wohlfahrtspflege Landesarbeitsgemeinschaft Bayern für die Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern e. V. Die LSG wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention finanziert, ist nicht weisungsgebunden und arbeitet fachlich unabhängig.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    2017/2018 hat die Geschäftsstelle der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) die Nutzer:innen der Selbsthilfe-App PlayOff befragt und zusätzliche Daten aus einem (anonymen) Datentracking gemeinsam mit dem IFT Institut für Therapieforschung ausgewertet. Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse, dass die App zwar nur von einem Teil der Personen, die sie sich herunterladen, langfristig und regelmäßig genutzt wird, dass sie von diesen jedoch als hilfreiches Instrument zur Bearbeitung des Spielverhaltens bewertet und gut angenommen wird. Vor allem die Tagebuchfunktion der App ist hier hervorzuheben. Auch die in die App eingetragenen Daten weisen darauf hin, dass die Nutzer:innen während der Verwendung von PlayOff ihren Geldeinsatz und ihre Spieldauer reduzieren. Zum vollständigen Evaluationsbericht geht es hier.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    PlayOff kann in der aktuellen Version auf Deutsch oder Türkisch verwendet werden.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    2019 wurde PlayOff mit dem Sozialpreis der Bayerischen Landesstiftung ausgezeichnet.
    Die App wird Ende 2024 neu aufgesetzt und dabei einerseits vereinfacht und andererseits um weitere Funktionen ergänzt. So können künftig neben dem Spielen auch das Verlangen zu spielen und damit einhergehend Bewältigungsstrategien bei „Spieldruck“ erfasst und ausgewertet werden. Außerdem fließen erledigte therapeutische „Hausaufgaben“ und ein zuverlässiges Führen des Tagebuchs in einen neuen Erfolgsmesser ein. Das Kapitel Risikoprofil/Auswertung wird erweitert und neu strukturiert. Außerdem wird die App direkt mit einem Zugang zu der Online-Beratungsplattform der LSG PlayChange und mit einem persönlich gestaltbaren „Notfallpass“ bei Spieldruck ausgerüstet.

    Die Fragen beantwortete Lisa Mehrbrodt, Fachstellenbetreuung und Projektentwicklung, Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern, München.


    PRÄVENTION / PSYCHISCHE GESUNDHEIT

    blu:app

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die „blu:app“ ist auf allen gängigen Smartphones über den Google Play Store oder Apple App Store kostenlos erhältlich. Auch während der Nutzung entstehen keine Zusatzkosten. Die blu:app ist ein Produkt von blu:prevent. Als Teil des Blauen Kreuzes e.V. in Deutschland und durch Förderungen sowie Spendengelder können wir die Plattform kostenfrei zur Verfügung stellen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    3. An wen richtet sich die App?
    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die blu:app richtet sich an alle Personen, die sich informieren und eine Meinung zum Thema Konsum bilden möchten. Das Ziel der integrierten Plattform blu:base ist, ein an das Kommunikations- und Nutzerverhalten der Gen Z angepasstes Portal für Hilfsangebote primär der Suchtprävention zu etablieren. Dabei werden sowohl Informationen als auch der Erstkontakt mit dem Hilfesystem niedrigschwellig bereitgestellt.

    Die App bietet vollen Zugang zur Plattform blu:base, die viele Infos rund um die Themen Cannabis, Alkohol, Mental Health, Fitness, Sexualität, Mobbing etc. beinhaltet. Durch den intelligenten Chatbot gelangen Nutzer:innen schnell zu den für sie jeweils relevanten Beiträgen! Zudem findet man schnell und einfach digitale und lokale Hilfsangebote. Einfach die Postleitzahl eingeben und das passende Angebot in der Nähe finden. Außerdem bietet die blu:app Zugang zu den beiden digitalen Tools blu:interact und fred_online.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Um über die App blu:interact und fred_online zu nutzen, benötigt man einen Kenncode, der die Verbindung zwischen den Anwendungen herstellt. Dieser wird während der durch eine Fachkraft geführten Präventionseinheit über die Moderatorenansicht von blu:interact / fred_online angezeigt. Die Nutzung der blu:base hingegen funktioniert ohne Anmeldung.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die blu:app wird gemeinsam mit den Angeboten blu:base und blu:interact / fred_online stets weiterentwickelt und optimiert. Die Entwicklung und Verwaltung der blu:app liegt bei blu:prevent. Die technische Umsetzung/Programmierung erfolgt durch externe Partner.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Zur Wirksamkeit der App liegen noch keine Daten vor. Eine Prüfung der Wirksamkeit ist jedoch für das nächste Frühjahr angedacht.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App ist im Moment ausschließlich in deutscher Sprache verfügbar. Für die Zukunft ist eine Übersetzung der Seite in mehrere Sprachen jedoch nicht ausgeschlossen.

    Die Fragen beantwortete Benjamin Becker, Leitung blu:prevent.

    ready4life

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Bezugsquelle des ready4life-App: App Store (Apple); Google Play Store (Android) – ebenso wird ready4life seit dem 01.08.2024 auch zielgruppengerecht auf Instagram (ready4life.ch) begleitet.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Förderung der Lebenskompetenzen und Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber Suchtmitteln. Adressierte Themen (Wording in der App „Module“) sind: Stress, Sozialkompetenz, Bewegung, Tabak & Nikotin, Cannabis, Alkohol, Social Media & Gaming

    3. An wen richtet sich die App?
    An alle Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    ready4life ist ein Smartphone-App-basiertes Programm zur Prävention des Suchtmittelkonsums und zur Förderung von Lebenskompetenzen für Jugendliche in der Schweiz, Österreich und Liechtenstein. Auf Basis einer am Smartphone durchgeführten Befragung erstellt die App ein individualisiertes Kompetenzprofil, aus dem für die Teilnehmenden hervorgeht, in welchen Bereichen sie über ausreichend Ressourcen verfügen und in welchen ein Coaching- oder Beratungsbedarf besteht.
    Aus den sieben Modulen Stress, Sozialkompetenz, Tabak & Nikotin, Alkohol, Social Media & Gaming, Bewegung sowie Cannabis können die Teilnehmenden basierend auf ihrem Profil zwei Module auswählen und erhalten zu diesen ein Coaching durch ein automatisiertes Dialogsystem, einen sogenannten Chatbot. Nach Beendigung der ersten beiden Module können alle weiteren adressierten Module bearbeitet werden.  Der virtuelle Coach motiviert die Teilnehmenden zum Aufbau von Lebenskompetenzen und zu einem sensiblen Umgang mit Suchtmitteln, gibt regelmäßig Feedback und informiert in Dialogen, innerhalb von Contests mit anderen Teilnehmenden (Bilderupload und Voting) und interaktiven Challenges (Umsetzen eines Verhaltensziels).
    In einem separaten Chat innerhalb der App beantworten Expert:innen persönliche Fragen zum jeweiligen Modul (Ask the Expert). Um das Präventionsangebot noch attraktiver zu machen, werden am Ende vom Schuljahr tolle Preise verlost (je mehr Credits gesammelt werden, desto höher die Gewinnchance).

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    s.o. Im Folgenden werden noch die einzelnen Features aufgelistet, welche die App neben dem eigentlichen Coaching via Chatbot bietet:

    • Alkoholtagebuch führen: Getränke in einer gamifizierten Trinkbar auswählen und protokollieren, jede Woche gibt es Feedback von der App zum Trinkverhalten. Ziel: Trinkverhalten sichtbar machen und dadurch reflektieren
    • Bewegungstagebuch führen: Schrittzähler kann verbunden werden, Einträge können manuell gesetzt werden, es können Ziele aufgestellt werden etc. Ziel: Bewegung bewusst eintragen und reflektieren/ Bewegung ggf. erhöhen
    • Social Media-Tagebuch: Dauer, Plattform und Gefühl nach Mediennutzung kann eingetragen werden. Ziel: bewusst Medienkonsum eintragen und feststellen/ beobachten, wie man sich danach gefühlt hat
    • Ask the Expert: User können ihre individuellen Fragen an eine Fachperson stellen.
    • User-Lifehacks: User können Strategien von anderen als top oder flop bewerten (top: sie werden bei ihnen als Inspiration im Profil gesammelt, flop: Strategie verschwindet). User kann selbst auch Strategien hochladen. Beispiel-Frage: „Was motiviert dich, weniger zu kiffen oder sogar mit dem Kiffen aufzuhören? Lade ein Bild hoch.“
    • Cannabis Control: Es werden zu gewünschten Zeiten Tipps geschickt, wie man sich am besten auf einen Cannabisstopp vorbereitet.
    • Alkoholfrei werden
    • „Mein Feedback“: Hier sehen die User ihre Ampelfarbe zu den ausgewählten Modulen und wie sich ihre Ressourcen im Laufe des Coachings verbessern.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Hinter der App steht ein qualitativ hochwertiges Netzwerk, das sowohl bei der Weiterentwicklung als auch bei Ask the Expert involviert ist. Ebenso bietet ready4life viele Themen zum Bearbeiten an und bietet somit ganzheitliche Prävention innerhalb einer App. Ziel: Erhöhung des Interesses und der Relevanz von Gesundheitsthemen bei Jugendlichen durch Identifikation und Wahlfreiheit. Indem eine Vielzahl von Gesundheitsthemen abgedeckt wird, wird deutlich, dass Gesundheit durch viele Faktoren beeinflusst wird. Dies erweitert ihr Verständnis von Gesundheit und macht sie für verschiedene Themen sensibler und Zusammenhänge werden erkannt.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Die Nutzer:innen benötigen einen Zugangscode und müssen mind. 15 Jahre alt sein.
    Ein Modul (und somit ein Coaching) dauert 14 Tage – im Idealfall dauert die Begleitung durch die gesamte App also 14 Wochen. Weitere wichtige Funktionen (wie Ask the Expert) können das ganze Jahr über genutzt werden. Zum 1. August eines jeden Jahres erscheint eine neue weiterentwickelte Version von ready4life.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Für die Nutzer:innen ist der Zugang kostenlos. Unter (Bundes-)Ländern/ Kantonen gibt es (Lizenz)-Vereinbarungen.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    ready4life ist ein Projekt der Lungenliga, das 2016 durch das Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF) initiiert wurde. Die Inhalte der App wurden mit Fachpersonen der Lungenligen (LL) und folgenden Partner:innen entwickelt: Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD), Universität Zürich (UZH), Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS), Suchtprävention Dietikon & Affoltern (SUPAD), Blaues Kreuz (BLK), Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF).

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert? Ergebnisse?
    Das ISGF hat ready4life 2021/2022 evaluiert und festgestellt, dass die App wirkt (signifikant bei den Modulen Stress, Alkohol und Social Media & Gaming).

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Deutsch, Französisch, Italienisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Seit dem 01.08.2024 erscheint ready4life in einem neuen Design. Ebenso wurden Erklärvideo, Website und Social-Media-Auftritt erneuert.

    Die Fragen beantwortete Pia Nobis, Nationale Projektleitung ready4life, Lungenliga beider Basel.

    Cyber-Mobbing Leichte Hilfe

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe“-App ist über den Apple App Store und den Google Play Store zu beziehen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Die App stellt primär ein Hilfsangebot bei Betroffenheit von Cybermobbing und digitaler sexualisierter Gewalt dar. Im Wesentlichen geht es um erste Schritte nach einem Angriff. Es werden Beratungsstellen aufgeführt, es gibt Videotipps zu ersten Schritten, Anleitungen zum Blockieren, Melden und Löschen von Angreifer:innen sowie Vorschläge zur Aufmunterung.
    Gleichzeitig soll die App potenziell Betroffene für diese speziellen Formen der Gewalt sensibilisieren und gibt einige Tipps, wie man sich im Internet schützen kann.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich primär an erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung, kann aber ebenso von älteren Personen oder Personen, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, genutzt werden.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App bietet in erster Linie Hinweise und Informationen zum Verhalten bei digitaler Gewalt in einfacher und zum Teil auch Gebärdensprache.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Nutzer:innen können sich Videotipps in einfacher Sprache und in Gebärdensprache zum Umgang mit digitaler Gewalt ansehen und erhalten Informationen zum Thema Cybermobbing und digitale sexualisierte Gewalt. Außerdem enthält die App Anleitungen zum Blockieren, Melden und Löschen von Angreifer:innen auf sechs unterschiedlichen Social-Media-Plattformen (WhatsApp, Instagram, Facebook, TikTok, YouTube und Discord). Nutzer:innen bekommen eine Übersicht von spezialisierten Beratungsangeboten zum Thema digitale Gewalt, die aus der App heraus angerufen werden können. Zudem gibt es eine Videoanleitung zur Erstellung einer Online-Anzeige in Berlin und eine Linksammlung zu sämtlichen Internetwachen aller Bundesländer.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Alle Videotipps liegen in einfacher Sprache und in Gebärdensprache vor. Die App wurde partizipativ erarbeitet. Das bedeutet, dass die Inhalte (Texte, Videos, Design) mit und von Menschen mit Beeinträchtigungen der Werkstätten in Berlin erarbeitet wurden.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine speziellen Zugangsvoraussetzungen. Die App begleitet Nutzer:innen so lange diese dies wünschen und benötigen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App ist kostenlos.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde im Rahmen einer Kooperation von klicksafe https://www.klicksafe.de/ und der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen Berlin e. V. erarbeitet.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Eine Evaluation der App steht noch aus.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App liegt bisher noch nicht in anderen Sprachen vor, ist aber angedacht.

    Die Fragen beantwortete Sascha Omidi, Fachberater für Gewaltprävention, Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung Berlin e. V.

    belinu

    belinu – Abkürzung für believe in yourself. Während meiner eigenen Trauerzeit war der Glaube an mich selbst, um diese herausfordernde Zeit zu überwinden, sehr prägend und wichtig. Da es so wichtig ist, an sich selbst zu glauben, besonders in herausfordernden Zeiten und persönlichen Krisen, liegt uns diese Botschaft sehr am Herzen. Deshalb haben wir auch die App danach benannt.

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    belinu ist im App Store und Google Play Store verfügbar.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Wir haben uns auf die Themenbereiche Trauer, Einsamkeit, Stress und Überforderung sowie Probleme in Beziehungen spezialisiert. Für diese Themen gibt es zahlreiche Videokurse und Übungen, die wir speziell für die App mit unseren Expert:innen entwickeln. Hier arbeiten wir mit verschiedensten Psycholog:innen, Trauerbegleiter:innen und anderen ausgebildeten Expert:innen zusammen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich an Betroffene, die mit einem oder mehreren unserer Themengebiete zu kämpfen haben. Alle unsere Themengebiete lassen sich nicht auf ein Alter beschränken, weshalb wir keine bestimmte Altersgruppe haben. Allerdings richtet sich die App an Erwachsene und ist somit erst ab 18.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    belinu ist in zwei Hauptbereiche aufgeteilt. Zum einen gibt es die Video-Mediathek mit zahlreichen praktischen Übungen und Anwendungsfällen zu den genannten Themengebieten. Zum anderen gibt es einen Community Bereich. Hier können sich Betroffene austauschen, Erfahrungen und Informationen teilen. Hierfür wählen die Nutzer:innen aus, über welches Thema, mit welcher Altersgruppe oder mit welchem Geschlecht sie sich gerne austauschen möchten. Anschließend wird eine Liste mit Menschen, die vor ähnlichen / gleichen Herausforderungen stehen, vorgeschlagen, und die Nutzer:innen können selbst entscheiden, mit wem sie sich vernetzen möchten. Hierbei können die Nutzer:innen so viel sie von sich preisgeben, wie sie möchten, und die App auch anonym nutzen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die Nutzer:innen können sich aktiv mit der Community austauschen und das Schwarmwissen der Community nutzen. Zusätzlich können sie Übungen aus den verschiedenen Kursen direkt in ihren Alltag integrieren, da die Kurse sehr praktisch sind und der Fokus auf der direkten Umsetzungsmöglichkeit im Alltag liegt. Zusätzlich gibt es ein Tagebuch mit Stimmungstracking. Täglich kann eine Emotion des Tages und der Grund für diese Emotion erfasst werden. Das ermöglicht einen guten Überblick über die eigenen Gefühle und die Gründe für diese Gefühle.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Unser Merkmal ist die Bandbreite an Expert:innen und unterschiedlichen Menschen. Was für den einen passt, ist für den anderen unpassend. Deshalb arbeiten wir mit verschiedensten Expert:innen und erweitern unsere Videokurse laufend. Auch unsere Community wächst stetig, was einen Austausch mit verschiedensten Personen ermöglicht.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    belinu ist für Nutzer:innen ab 18 Jahren geeignet. Weitere Voraussetzungen bestehen nicht. Wie lange die App die Nutzer:innen begleitet, ist von Nutzerin zu Nutzer unterschiedlich. Jede:r entscheidet selbst, mit welchem Tempo und in welcher Intensität er/sie die App nutzen möchte.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    belinu ist in zwei Abo-Varianten erhältlich. Nutzer:innen können zwischen einem Quartals-Abo (38,90 €) und einem Jahres-Abo (94,90 €) entscheiden. Bisher ist die App nicht auf Rezept erhältlich.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    belinu wurde vollständig von uns selbst in Kooperation mit verschiedenen Expert:innen und Psycholog:innen entwickelt.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Hier sind wir dran. Bisher noch kein Start einer Studie.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App ist im DACH Raum verfügbar, bisher nur in deutscher Sprache.

    Die Fragen beantwortete Lisa Mutvar, Gründerin von belinu.


    RAUCHEN

    NichtraucherHelden

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die NichtraucherHelden-App ist als Präventionsprogramm im jeweiligen Store von Apple und Google erhältlich und kann auch über einen Browser auf www.nichtraucherhelden.de genutzt werden. Zuerst war die App als Präventionsprogramm für Unternehmen im Rahmen ihres BGM-Angebots (Betriebliches Gesundheitsmanagement) sowie für Krankenkassenversicherte erhältlich. Inzwischen gibt es auch eine Variante als DiGA (Digitale Gesundheits- Anwendung), diese kann somit als „App auf Rezept“ von Ärzten und Ärztinnen verordnet werden. Im Folgenden wird nur auf die als DiGA auf Rezept erhältliche NichtraucherHelden-App eingegangen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Bei Personen, die sich das Zigarettenrauchen abgewöhnen wollen, kommt die NichtraucherHelden-App zum Einsatz. Sie kann entweder als eigenständiges Hilfsmittel genutzt werden, aber auch in Verbindung mit Medikamenten. Ansprechpartner dazu ist dann zwingend der Arzt. Die App informiert und motiviert die Anwender:innen, um den Entschluss des Rauchstopps besser und erfolgreicher umsetzen zu können und Entzugserscheinungen und mit dem Rauchen verbundenen Gewohnheiten bewusst zu begegnen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die NichtraucherHelden-App richtet sich an Zigarettenraucher:innen, die tabakabhängig sind und sich das Rauchen abgewöhnen wollen. Es gibt dabei keine Einschränkung bezüglich Personengruppen oder Alter. Die NichtraucherHelden-Anwendung ist nicht geeignet bei Personen mit psychiatrischen Erkrankungen mit Zeichen der akuten Depressivität oder Suizidalität sowie bei Erkrankungen mit akuten deliranten oder akuten psychotischen Störungen.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die NichtraucherHelden-App bietet mit informativen Videos und lehrreichen Aufgaben eine umfangreiche Vorbereitung auf den Rauchstopp. Anschließend folgen verschiedene Angebote nach dem Rauchstopp, z. B. was tun, wenn Entzugserscheinungen eintreten, Verlangen nach einer Zigarette auftritt, gegen mögliche Gewichtszunahme und Ähnliches. Sehr gerne wird die moderierte NichtraucherHelden-Community genutzt, die im Rahmen der App angeboten wird. Darin tauschen sich die Anwender und Anwenderinnen aus, beantworten sich gegenseitig Fragen und geben und finden Motivation.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Neben informativen und motivierenden Coaching-Videos haben die Benutzer und Benutzerinnen die Möglichkeit, sportliche Übungen mitzumachen und gesunde Rezepte auszuprobieren. In der NichtraucherHelden-Community können die Anwender und Anwenderinnen sich austauschen. Im Rahmen der täglichen Betreuung fordert die App die Benutzer:innen auf, Aufgaben abzuarbeiten und sich seiner Gewohnheiten bewusst zu werden und sie gegebenenfalls zu ändern. Zur Belohnung gibt es Informationen, was man erreicht hat und wie viel Geld man an nicht gerauchten Zigaretten gespart hat.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Die Vorgehensweise im Programm basiert auf einem eigens entwickelten Ansatz des „Medical Story Telling“. In Videos werden medizinische Informationen mit Filmszenen aus dem Leben und Tipps zum Nichtrauchen angeboten. Zusammen mit Aufgaben zur Selbstanalyse wird dem Benutzer und der Benutzerin bewusst, welche schädlichen Folgen das Rauchen hat, und es wird eine starke Motivation erzeugt, mit dem Rauchen aufzuhören. Durch tägliche Abfragen trägt der Anwender und die Anwenderin eigenes Feedback ein, womit die NichtraucherHelden-App auf jeden individuellen Fall angepasst wird.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nachdem der Arzt oder die Ärztin ein Rezept ausgestellt hat, wird dieses vom Patienten oder der Patientin bei der Krankenkasse eingereicht. Die Kasse gibt dem Patienten oder der Patientin einen Zugangs-Code, mit dem man sich bei den NichtraucherHelden anmelden kann. Zuvor muss man nur die App aus dem jeweiligen Store auf sein Smartphone laden und installieren, und es kann losgehen. Die Nutzungsdauer der App ist angelegt auf drei Monate, das heißt Vorbereitung zum Rauchstopp, die Phase des Rauchstopps sowie die Begleitung und Unterstützung hinterher. Es kann jederzeit ein Folgerezept ausgestellt werden, sodass die App jeweils weitere drei Monate genutzt werden kann.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Nach Feststellen der Nikotinabhängigkeit durch den Arzt oder die Ärztin wird ein Rezept für den Patienten oder die Patientin ausgestellt. Dies belastet das Budget des Arztes bzw. der Ärztin nicht. Durch das Rezept wird die Nutzung der App für drei Monate freigeschalten. Für den Patienten oder die Patientin entstehen keine Kosten.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die Firma Sanero Medical GmbH aus Stuttgart ist ein Startup, das sich auf medizinische Apps auf Rezept spezialisiert hat. Die NichtraucherHelden-App wurde gemeinsam mit Medizinern und Fachleuten entwickelt und wird von Sanero Medical vermarktet.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Damit die NichtraucherHelden-App als DiGA dauerhaft zugelassen werden konnte, wurde eine umfangreiche klinische Studie durchgeführt. Das Ziel der Studie war die Evaluierung der Wirksamkeit der Digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) NichtraucherHelden. Als Schlussfolgerung aus der Studie kann man zusammenfassen, dass der Rauchstopp mit Hilfe der NichtraucherHelden-App die Abstinenzquote verdoppelt.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Aktuell ist die NichtraucherHelden-App nur in Deutsch verfügbar. Inzwischen führen weitere Länder Programme für eine App auf Rezept ein, ähnlich der DiGA in Deutschland. Entsprechend ist geplant, die App in weiteren Sprachen für andere Länder anzubieten.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Anfang 2024 ist die NichtraucherHelden App bei der Stiftung Warentest Testsieger geworden und mit Top-Noten bewertet worden. Aktuell ist die NichtraucherHelden-App die einzige DiGA zur Rauchentwöhnung, die vom Bundesamt für Arzneimittel (BfArM) eine dauerhafte Zulassung erhalten hat. Auf der Internetseite von NichtraucherHelden (www.nichtraucherhelden.de) findet man interessante Erfahrungsberichte von Personen, die mit der Nichtraucherhelden-App aufgehört haben zu rauchen.

    Die Fragen beantwortete Rainer Ott, Sales und Partner Manager, Firma Sanero Medical GmbH.

    Smoke Free – Rauchen aufhören

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die App ist im Apple App Store und Google Play Store verfügbar. Es gibt keine Web-Version.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Smoke Free wird im Bereich der Rauchentwöhnung eingesetzt. Sie ist eine evidenzbasierte, digitale Therapie, die als Smartphone-App angeboten wird und darauf abzielt, Menschen beim Aufhören mit dem Rauchen zu unterstützen. Sie kann von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen beim Vorliegen einer Tabakabhängigkeit (ICD 17.2) als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) verordnet werden. Die App hilft, die nötige Motivation aufzubauen und aufrechtzuerhalten, um dem Rauchverlangen zu widerstehen und dauerhaft rauchfrei zu bleiben.

    3. An wen richtet sich die App?
    Smoke Free richtet sich an Erwachsene zwischen 18 und 65 Jahren, die direkt von der Tabakabhängigkeit betroffen sind und mit dem Rauchen aufhören möchten.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App zielt darauf ab, die Motivation der Nutzer:innen zu steigern und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, indem sie Feedback zu Fortschritten gibt und den Rauchstopp als einen Prozess mit möglichen Rückschlägen betrachtet. Dazu bietet sie eine Vielzahl an Leistungen:

    • Tägliche Missionen und Belohnungssystem: Nutzer:innen erhalten bereits sieben Tage vor dem Rauchstoppversuch tägliche Missionen, um sich auf den Rauchstopp vorzubereiten und diesen erfolgreich zu absolvieren. Im Verlauf des Rauchstoppversuchs nimmt die Frequenz der Missionen ab. Darüber hinaus lassen sich Abzeichen verdienen, was zur Steigerung des Selbstbewusstseins beiträgt und die Motivation aufrechterhält.
    • Unterstützung durch Community und Chatbot: Die App bietet Unterstützung durch einen Chatbot, der rund um die Uhr verfügbar ist und den Rauchstopp begleitet. Der Chatbot vermittelt praktische Tipps und passende Strategien, zum Beispiel im Umgang mit Rauchverlangen. Er basiert auf einem etablierten Protokoll zur Rauchentwöhnung, das in Face-to-Face-Rauchentwöhnungsangeboten im Vereinigten Königreich genutzt wird. Außerdem gibt es eine Community, in der sich unsere Nutzer:innen gegenseitig motivieren und unterstützen können.
    • Fortschrittsverfolgung: Nutzer:innen können verfolgen, wie lange sie rauchfrei sind, wie viel Geld sie gespart haben und welche gesundheitlichen Verbesserungen sie bereits mit der rauchfreien Zeit erzielt haben.
    • Ablenkung: Nutzer:innen können in einem virtuellen Haustierspiel Ablenkung finden, bis ein aufgekommenes Rauchverlangen vorbeigeht. Mit der Nutzung verschiedener Aspekte der App schaltet man dazu noch Gegenstände frei, die zur individuellen Dekoration des eigenen Haustiers genutzt werden können.
    • Analyse von Auslösern für Rauchverlangen und Stress-Tracking: Nutzer:innen werden ermutigt, aufgekommene Rauchverlangen in die App einzutragen und sowohl die Stärke des Verlangens als auch Uhrzeit, Ort oder Tätigkeiten zu notieren. Die Rauchverlangen können dann im Anschluss räumlich, zeitlich und situativ ausgewertet werden, um kritische Situationen zu identifizieren und diese besser bewältigen zu können. Darüber hinaus bietet die App ein Stress-Tracking, um Veränderungen im Stresserleben, die zu einem möglichen Rückfall führen könnten, frühzeitig zu erkennen und dem entgegenzuwirken.
    • Verhaltenstherapeutische Techniken: Die App integriert Techniken zur Verhaltensänderung, die auf psychologischen Theorien zur Verhaltensänderung basieren. Dies schließt Erkenntnisse aus der kognitiven Verhaltenstherapie, aber auch der Motivationspsychologie ein.
    • Wissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeit: In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Nutzung der App die Erfolgsrate beim Rauchstopp signifikant erhöhen kann.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Tägliche Missionen: Nutzer:innen können tägliche Aufgaben absolvieren, die speziell darauf ausgelegt sind, die Rauchgewohnheiten zu durchbrechen und die Motivation zu steigern. Diese Missionen sind wissenschaftlich fundiert und konnten in einer Studie die Erfolgschancen beim Rauchstopp verdoppeln.
    • Generelle Unterstützung bei Rauchverlangen: Die App bietet Tools und Tipps, um mit Rauchverlangen umzugehen, einschließlich eines Chatbots, der rund um die Uhr Unterstützung bietet.
    • Soziale Unterstützung: In der App haben Nutzer:innen Zugang zu einer Community, in der Tipps und Strategien zum Rauchstopp ausgetauscht werden können sowie Erfolge gemeinsam gefeiert werden.
    • Spielerische Unterstützung (Haustierspiel): Nutzer:innen können ihren eigenen virtuellen Drachen großziehen und diesen pflegen. Dies kann vor allem dann hilfreich sein, wenn die Dauer eines Verlangens überbrückt werden soll. Generell bietet das Spiel aber auch einen Anreiz, andere Teile der App zu nutzen, da man damit Gegenstände für den Drachen freischalten kann.
    • Analytische Unterstützung: Die App ermöglicht es den Nutzer:innen, ihren Fortschritt zu überwachen, indem sie sehen, wie lange sie rauchfrei sind, wie viel Geld sie gespart haben und welche gesundheitlichen Verbesserungen sie erzielt haben. Darüber hinaus können die Nutzer:innen die eingetragenen Rauchverlangen nach Ort, Zeit und auslösenden Situationen analysieren.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Die App umfasst sowohl off- als auch online nutzbare Funktionen. Das ist besonders im Kontext der Rauchentwöhnung wichtig, da Rauchverlangen nicht immer nur dann auftreten, wenn eine gute Internetverbindung vorhanden ist. Allgemein versteht sich die App nicht als Onlinekurs, bei dem Lerninhalte (z. B. im Videoformat) vermittelt werden, sondern als Begleiter auf dem Weg ins rauchfreie Leben. Deshalb wird viel Wert auf eine therapeutische Allianz zwischen App und Nutzer:in gelegt.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine Zugangsvoraussetzungen. Die Zusatzfunktionen der App begleiten die Menschen beim Rauchstopp für den Verschreibungszeitraum (90 Tage, Folgeverschreibungen sind möglich). Die Basisfunktionen sind dauerhaft kostenfrei verfügbar und bieten im Anschluss an einen Verschreibungszeitraum weiterhin Unterstützung.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App Smoke Free enthält sowohl kostenlose Basisfunktionen als auch kostenpflichtige Zusatzfunktionen. Nutzer:innen können die App kostenlos im App-Store herunterladen und die Zusatzfunktionen für eine Woche unverbindlich testen. Nach der einwöchigen Testphase ist für die Zusatzfunktionen ein Rezept nötig. Dies kann von Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen ohne Kontraindikationen verordnet werden. In diesem Fall übernehmen sowohl gesetzliche Krankenkassen als auch viele private Krankenversicherungen die Kosten, sodass die App für die Nutzer:innen kostenlos ist. Selbstzahler:innen zahlen 389,00 € für den Nutzungszeitraum von 90 Tagen.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde von Dr. David Crane entwickelt, der auch als Gründer und CEO des Unternehmens fungiert. David hat einen Hintergrund in den Verhaltenswissenschaften und hat die App als Teil seiner Dissertation im Bereich der digitalen Gesundheitslösungen entwickelt.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Verschiedene Aspekte der App wurden bereits in größeren RCTs mit der englischsprachigen Version evaluiert. Hier zeigte sich, dass sowohl die Missionen als auch der Chatbot die Chance, erfolgreich aufzuhören, etwa verdoppeln konnte. Die App wird darüber hinaus im englischen Kontext stetig evaluiert, da dies von den Kooperationspartnern vorausgesetzt wird (siehe unten). In der letzten derartigen Evaluation wurden beispielsweise Aufhörraten von 40 % nach drei Monaten ermittelt. Für die deutschsprachige Version mit Zusatzfunktionen liegen erste Ergebnisse im Rahmen der vorläufigen Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis vor. Momentan sind wir in der Abschlussphase der bis dato größten DiGA-Evaluationsstudie mit über 1.450 Teilnehmenden, um die Voraussetzungen für eine dauerhafte Listung zu erfüllen. Die Ergebnisse der Studie werden in den kommenden Monaten veröffentlicht.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die Zusatzfunktionen in der App sind auch auf Englisch verfügbar. Die Basisfunktionen werden auch noch in weiteren Sprachen (momentan Spanisch, Französisch, Russisch und Portugiesisch) angeboten, wobei wir das Angebot stetig ausbauen wollen.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Die App wird sowohl im deutschen als auch im englischen Gesundheitssystem genutzt. Dort bestehen Kooperationen unter anderem mit dem britischen National Health Service (NHS) und dem National Centre for Smoking Cessation and Training (NCSCT).
    Die App ist bereits seit über zehn Jahren erhältlich und verzeichnet mehr als sieben Millionen Downloads, wovon mehr als eine Million Downloads auf Deutschland fallen. Sie gehört zu den bestbewerteten Rauchstopp-Apps mit mehr als 185.000 5-Sterne-Bewertungen.

    Die Fragen beantwortete Dr. Lucas Keller, Lead Researcher.

  • Neue Visionen für die Suchtprävention?

    Neue Visionen für die Suchtprävention?

    Dr. Johannes Nießen, Errichtungsbeauftragter des BIPAM und Kommissarischer Leiter der BZgA. Fotograf: Carsten Kobow i.A. BZgA

    Die Suchtprävention ist wichtiger denn je! Als zentrale staatliche Institution ist aktuell die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA, Fachbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit) mit dieser Aufgabe betraut. Sie ist zuständig für die Erarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen der Suchtprävention auf Bundesebene. Bis 2025 soll die BZgA nun in das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) übergehen. Was bedeutet das für die Suchtprävention? Welche Rolle wird sie im BIPAM spielen? Darüber sprach KONTUREN online mit Dr. Johannes Nießen. Er ist seit Oktober 2023 Errichtungsbeauftragter des neuen Instituts und Kommissarischer Leiter der BZgA.

    KONTUREN online: Aufgabe des BIPAM soll es sein, sich mit der Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen wie Krebs, Demenz und koronaren Herzerkrankungen zu befassen. Was sind für Sie die wichtigsten konkreten Handlungsfelder für das BIPAM? Rückt die Suchtprävention in den Hintergrund?

    Dr. Johannes Nießen: Das BIPAM soll als zentrale Instanz auf Bundesebene die Strukturen für Öffentliche Gesundheit – insbesondere im Bereich Prävention, Gesundheitsförderung und -kommunikation – ausbauen und die Vernetzung von Bund, Ländern und Kommunen stärken. Die BZgA soll in dieser neuen Behörde aufgehen, die Expertise des RKI genutzt werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf den Gebieten der übertragbaren und nicht übertragbaren Erkrankungen (kurz NCDs) soll gefördert werden, um eine übergreifende Betrachtung sicherzustellen und der gesamten Situation des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung Rechnung zu tragen.
    Präventionsarbeit hat einen hohen Stellenwert im BIPAM. Dies wird auch international, beispielsweise von der WHO, als sehr wichtig angesehen. Die Suchtprävention rückt dabei keinesfalls in den Hintergrund, sondern wird aufgrund der Interdependenz zu NCDs einen höheren Stellenwert erhalten.
    Erklärtes Ziel ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern einen einfachen und schnellen Zugang zu verständlichen Gesundheitsinformationen über Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs zu ermöglichen. Zudem wird das BIPAM den Öffentlichen Gesundheitsdienst vernetzen und mit verschiedenen Angeboten bei seiner Arbeit vor Ort unterstützen.

    Wie wird die Suchtprävention am BIPAM strukturiert sein? Welche Fachleute sind in die Entwicklung von Maßnahmen eingebunden?

    Der Errichtungsprozess ist in vollem Gange. Welche Verantwortlichkeiten und Arbeitseinheiten wie zusammenkommen und wie die Facharbeit gestaltet wird, kann erst dann festgelegt werden, wenn die Aufbauorganisation des BIPAM steht.

    Was sind für Sie die wichtigsten konkreten Ziele und Handlungsfelder in der Suchtprävention? Welches sind die größten Herausforderungen?

    Wichtigste Ziele der Suchtprävention und gleichzeitig größte Herausforderungen sind die Vermeidung oder Hinauszögerung des Erstkonsums, die Früherkennung und Frühintervention bei riskantem Konsumverhalten sowie die Verringerung von einem missbräuchlichen Konsumverhalten und einer Suchtentwicklung. Jedes Jahr sterben etwa 127.000 Menschen allein in Deutschland an den Folgen des Tabakkonsums und über 40.000 Menschen an den Folgen schädlichen Alkoholkonsums. Eine zielgerichtete und evidenzbasierte Suchtprävention kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Gesundheitskompetenz zu stärken und Lebensqualität zu verbessern. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet dazu für diverse Zielgruppen qualitätsgesicherte Angebote zur Suchtprävention im Bereich der legalen und illegalen Drogen sowie der Verhaltenssüchte.

    Was wird das BIPAM in der Suchtprävention anders machen als die BZgA? Haben Sie neue Ideen? Wo sind Verbesserungen zu erwarten?

    Das BIPAM wird auf einem soliden Fundament der Suchtprävention aufbauen können, das die BZgA mit ihrer langjährigen Kommunikationsexpertise gelegt hat. Ergänzt wird sie um Datenexpertise aus dem RKI, etwa zu Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring. Diese Verbindung ermöglicht es, evidenzbasierte Bedarfe passgenauer zu ermitteln, Präventionsmaßnahmen gezielter zu entwickeln und sie abschließend zu evaluieren.

    Zum 1. April 2024 ist eine gesetzliche Neuregelung zur Teil-Legalisierung von Cannabis in Kraft getreten. Welche konkreten Maßnahmen planen Sie, um schädlichem Cannabiskonsum vorzubeugen?

    Die BZgA bietet für unterschiedliche Zielgruppen fachlich fundierte, gut verständliche und sachliche Informationen zu Cannabis, dessen Wirkweise sowie den gesundheitlichen Risiken des Konsums, zudem digitale Beratungsangebote und Selbsttests. Zielgruppen sind Jugendliche unter 18 Jahren, für die Cannabis auch weiterhin verboten bleibt, sowie junge Erwachsene ab 18 Jahren – aber auch Eltern, pädagogische Fachkräfte und Fachkräfte der Suchtprävention. Ziel ist es, insbesondere bei der jugendlichen Zielgruppe über die schädliche Wirkung des Cannabiskonsums aufzuklären, das heißt vor allem eine bleibende Schädigung des Gehirns in der Entwicklungsphase, sowie insgesamt für einen verantwortungsvollen Umgang mit Cannabis zu sensibilisieren.

    Wie wollen Sie – insbesondere für die Cannabisprävention – die verschiedenen Zielgruppen in ihren Lebenswelten erreichen? Gibt es z. B. spezifische Programme für Schulen? Ist eine Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen vorgesehen?

    Die BZgA setzt einen Fokus auf den Ausbau der schulischen Cannabisprävention, um insbesondere Jugendliche, die noch nicht konsumieren, zu erreichen, sie für die gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums zu sensibilisieren und darin zu bestärken, auf den Konsum von Cannabis zu verzichten. Neben der Entwicklung von Lehrkräfte-Schulungen, Weiterbildungsangeboten und Elternabenden speziell zur Cannabisprävention fördert die BZgA bereits Angebote zum direkten Einsatz im Unterricht, wie zum Beispiel Unterrichtseinheiten und -materialien. Die Präventionsangebote der BZgA werden kontinuierlich ausgebaut und weiterentwickelt. Hierzu veranstaltet die BZgA unter anderem regelmäßige Austauschformate mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sowie den entsprechenden Landesstellen, um eine frühzeitige übergreifende Abstimmung zu Bedarfen und Entwicklungspotentialen zu ermöglichen.

    Werden die Präventionsbeauftragten der Anbauvereinigungen fachlich begleitet und unterstützt?

    Das Cannabisgesetz sieht vor, dass Präventionsbeauftragte gegenüber ihrer jeweiligen Anbauvereinigung spezifische Beratungs- und Präventionskenntnisse nachweisen müssen. Der Nachweis wird erbracht durch eine Bescheinigung der Teilnahme an einer Suchtpräventionsschulung bei Landes- oder Fachstellen für Suchtprävention oder Suchtberatung oder bei vergleichbar qualifizierten öffentlich geförderten Einrichtungen. Welche Schulungen im jeweiligen Land angeboten werden, von welchem Träger und mit welchem konkreten Inhalt, entscheidet daher das jeweilige Bundesland. Der Bund wird die Erarbeitung eines Mustercurriculums für Schulungen von Präventionsbeauftragten im Rahmen einer Vergabe beauftragen, das die Länder dann für Schulungen nutzen können.

    Der Bedarf an Beratung durch Fachleute und an Programmen wie FreD (Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten) und SKOLL (Selbstkontrolltraining) wird steigen. Wie sollen diese für die Prävention dringend nötigen Angebote finanziert werden?

    Die BZgA bietet bereits für konsumierende, eher drogenaffine junge Menschen qualitätsgesicherte Informationen auf www.drugcom.de sowie Unterstützungsangebote wie zum Beispiel einen Online-Selbsttest „Cannabis Check“, eine digitale Beratung sowie das Online-Verhaltensänderungsprogramm „Quit the Shit“.

    In Deutschland gibt es verschiedene Verbände, die sich für Suchthilfe und -prävention einsetzen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) wird durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert und ist die zentrale Dachorganisation der deutschen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe. An welchen Stellen bzw. zu welchen Themen ist eine Kooperation des BIPAM mit der DHS angedacht?

    Die BZgA pflegt seit vielen Jahren eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der DHS und fördert beispielsweise die Produktion und Distribution von Printmaterialien der DHS oder beteiligt sich an der inhaltlichen Neu- und Weiterentwicklung von relevanten Printprodukten. Ein regelmäßiger fachlich-inhaltlicher Austausch erfolgt dabei in Sachstandsgesprächen von BZgA, BMG und DHS sowie in den Austauschformaten der BZgA mit den Landesstellen für Suchtfragen und wird auch im zukünftigen BIPAM von großer Relevanz sein.

    Herr Dr. Nießen, wir wünschen Ihnen eine glückliche Hand beim Aufbau des BIPAM! Auf welche Aufgaben freuen Sie sich besonders?

    Es ist sehr spannend, gemeinsam mit den engagierten Kolleginnen und Kollegen aus BMG, BZgA und RKI Ideen für das BIPAM zu entwickeln, um die Öffentliche Gesundheit in Deutschland zu stärken.

    Vielen Dank für das Interview!

  • Prävention von Suchtproblemen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Prävention von Suchtproblemen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Prof. Dr. Knut Tielking
    Julia Klinkhamer

    Einleitung

    Während Suchtprävention als Gesundheitsthema in der Gesellschaft bereits etabliert ist, steht sie bezogen auf Menschen mit geistiger Beeinträchtigung noch vor besonderen Herausforderungen. Die zunehmende Verselbstständigung führt dazu, dass Menschen mit geistiger Beeinträchtigung vermehrt Suchtmittel wie Alkohol und Tabak konsumieren (Jung/Nachtigal 2018). Sie benötigen spezielle Präventionsangebote, da herkömmliche Programme oft nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse eingehen (Tielking/Rabes 2022). Aufgrund ihrer Beeinträchtigung weisen sie ein erhöhtes Risiko für einen problematischen Konsum auf. Es besteht daher die Notwendigkeit, ein neues Bewusstsein für den Konsum zu schaffen und dieser Zielgruppe die erforderlichen Werkzeuge und Strategien zur Verfügung zu stellen, um eine gesunde und bewusste Entscheidungsfindung zu unterstützen.

    Der Caritasverband für den Landkreis Emsland hat es in Angriff genommen, diese entscheidende Versorgungslücke mit dem Selbstkontrolltraining „Suchtprävention inklusiv (SUPi)“ zu schließen. SUPi geht neue Wege im Hinblick auf Inklusion und Partizipation und ermöglicht den Menschen den Zugang zur Suchtprävention in Form eines bundesweit einmaligen Gruppenangebotes. Eine innovative, zielgruppenadäquate Wirkungsevaluation durch die Hochschule Emden/Leer begleitet die Teilnehmenden und Trainer:innen im Trainingsprozess.

    Problemhintergrund

    Anforderungen aus Sicht der UN-Behindertenrechtskonvention

    Die Anerkennung und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland sowie die damit einhergehende Inklusion stärkten die Position von Menschen mit Beeinträchtigung. Die Kernpunkte Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Teilhabe sollen umgesetzt werden (BMAS 2011). Erklärtes Ziel dieser Konvention ist die „gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben“ (ebd. S. 10). Im März 2009 ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Infolgedessen ist sie verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen Zugang zu Gesundheitsdiensten und gesundheitlicher Rehabilitation erhalten (BMAS 2011).
    Auch das im Jahr 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz (BTHG) verfolgt das Ziel, die „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft [für Menschen mit Beeinträchtigungen] zu fördern“ (§ 1 SGB IX) und Benachteiligungen für diesen Personenkreis zu vermeiden. Gemäß § 118 SGB IX des BTHG sollen sich die Instrumente zur Bedarfsermittlung an der ICF orientieren. Dies legt bundesweit die Grundlage für das bio-psycho-soziale Modell sowie für ethische Leitlinien im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen fest (BMAS 2023).

    Anforderungen aus Sicht des Präventionsgesetzes

    Am 18. Juni 2015 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz, PrävG). Ziel dieses Gesetzes ist es, der Prävention in unserer Gesellschaft einen angemessenen Stellenwert zuzuweisen. Der Gesetzesansatz beinhaltet die Unterstützung aller Menschen, gesundheitsförderliche Lebensweisen in ihren individuellen Lebensumgebungen zu entwickeln und im täglichen Leben umzusetzen (BMG 2023). Insbesondere in der Lebenswelt von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zeigt sich, dass diese Forderung bisher schwierig umzusetzen ist. Zielgruppenadäquate Angebote in Form eines Gruppentrainings zur Suchtprävention gibt es derzeit nicht (Feldmann 2020).

    Anforderungen aus Sicht der Gesundheitspolitik

    Die zunehmende Verselbstständigung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung führt neben individuellen Herausforderungen zu veränderten, ambulanten Wohnformen in der Behindertenhilfe. Aufgrund der Intelligenzminderung kann dies zu Problemen im Konsumverhalten führen, da der Konsum nicht realistisch eingeschätzt werden kann und die Selbstreflexion nur eingeschränkt möglich ist (Feldmann 2020; Sandfort 2022). Insbesondere im Bereich der Prävention müssen Instrumente entwickelt und angewendet werden, um diese spezielle Zielgruppe, ebenso wie alle anderen Bürger:innen, zu befähigen, ihren Konsum frühzeitig zu überprüfen. Es herrscht ein akuter Mangel an entsprechenden Angeboten, der – sofern er nicht behoben wird – zu einem Anstieg der Zahl suchtmittelabhängiger Menschen mit geistiger Beeinträchtigung führen könnte (Jung/Nachtigal 2018).

    Studienlage

    Laut dem Bundesministerium für Gesundheit existieren auf Bundesebene keine Studien zu den Prävalenzen des Suchtmittelkonsums bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Verfügbare Informationen basieren auf regionalen Untersuchungen, die nahelegen, dass der missbräuchliche oder problematische Suchtmittelkonsum in dieser Zielgruppe ähnlich ausgeprägt ist wie in der restlichen Gesellschaft (BMG 2017).

    Im Rahmen des Modellprojektes „Vollerhebung Sucht und geistige Behinderung in NRW“ wurde im Jahr 2011 eine Umfrage unter Mitarbeiter:innen in Einrichtungen für Behinderten- und Suchthilfe in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Ziel war es, valide Aussagen über den Suchtmittelkonsum bei erwachsenen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu erhalten. Zwei Drittel der Befragten (66,7 %; N=780) gaben an, dass aufgrund von riskantem oder abhängigem Substanzkonsum Probleme in der jeweiligen Einrichtung aufgetreten seien. Die Häufigkeit des problematischen Substanzkonsums bei den Betreuten wurde wie folgt eingeschätzt (Kretschmann-Weelink 2013):

    1. Nikotinkonsum: 32,5 %,
    2. Alkoholkonsum: 15,7 %,
    3. verhaltensbezogene Störungen (insbesondere Computerspiele): 14,2 %

    Im Projekt „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“ wurde 2019 eine regionale Bedarfsanalyse im nördlichen Emsland durchgeführt. Mitarbeiter:innen einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen (St. Lukas Papenburg) wurden zur Substanznutzung der Betreuten befragt (N=506). Drei Viertel (76 %) betrachteten es als wichtig, sich mit dem Thema des problematischen Konsums bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu befassen. Bei 21,8 % der Betreuten wird der Konsum von Suchtmitteln als problematisch eingestuft. Es ergab sich folgendes Ranking der von den Betreuten konsumierten Suchtmittel (Feldmann et al. 2020):

    1. Nikotin (53,3 %)
    2. Alkohol (27,3 %)
    3. Computer-/Handynutzung (20,9 %)
    4. Cannabis (5,9 %)
    5. Glücksspiel (3,7 %)
    6. Sonstige Drogen (7,0 %)

    Das Trainingsprogramm SUPi

    Die Zielgruppe: Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Zielgruppe des SUPi-Angebotes sind Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im Erwachsenenalter, die durch Angebote der kooperierenden Einrichtungen unterstützt werden. Über diese Einrichtungen erfolgt zugleich der Zugang zur Zielgruppe. Ein wichtiges Kriterium ist eine mögliche Auffälligkeit im Konsumverhalten (Feldmann 2020).

    Unter „geistiger Beeinträchtigung“ ist ein andauernder Zustand zu verstehen, der durch deutlich unterdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten und die damit verbundenen Einschränkungen des affektiven Verhaltens gekennzeichnet ist (Theunissen 2011). Diese Beeinträchtigung kann sich auf die intellektuelle Entwicklung, die Lernfähigkeit und die allgemeine Lebensführung auswirken. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung haben unterschiedliche Grade von Einschränkungen in der kognitiven Funktionalität. Ihre Fähigkeit, Informationen zu verstehen, zu verarbeiten und zu kommunizieren, wird dadurch unterschiedlich stark beeinflusst. In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) wird diese Erkrankung als „Intelligenzminderung“ (F70-79) klassifiziert.

    Vorerfahrung des Caritasverbandes für den Landkreis Emsland

     Im Rahmen des Projektes „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“ wurden in Kooperation mit St. Lukas Papenburg Maßnahmen entwickelt, die als Grundlage zur Förderung der Gesundheit der benannten Zielgruppe dienen können sollten. Ein Baustein war das Selbstkontrolltraining „SKOLL“, welches nach § 20 SGB V als Leistung der Primären Prävention und Gesundheitsförderung anerkannt ist. In der Umsetzung stellte sich heraus, dass das bestehende Trainingsmanual aufgrund der Beeinträchtigungen der Zielgruppe nicht zum Einsatz kommen kann (Feldmann 2020).

    Besondere Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Das SUPi-Training wurde entwickelt, um den Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gerecht zu werden. Dabei wurde besonders darauf geachtet, die Inhalte an die individuellen Erfahrungen und die Lebenswelt der Teilnehmenden anzupassen (Moisl 2017). Die eingesetzten Materialien sind in Leichter Sprache verfasst und auf die kognitiven Fähigkeiten der Teilnehmenden abgestimmt. Die Leichte Sprache ist eine spezielle Form der sprachlichen Darstellung, um Informationen barrierefrei verständlich und zugänglich zu machen. Komplizierte Grammatikstrukturen werden reduziert und einfache Wörter anstelle von Fachbegriffen verwendet. Zudem werden unterstützende visuelle Elemente wie Symbole und Zeichnungen auf Arbeitsblättern eingesetzt, um die relevanten Inhalte zu vermitteln (Ahlers et al. 2023).

    Um bestmöglich auf die Zielgruppe einzugehen, wird das Training von Tandems ausgebildeter Fachkräfte aus der Sucht- und Behindertenhilfe durchgeführt. Beide Bereiche bringen spezifisches Fachwissen mit: Die Suchthilfe bietet Kenntnisse über Suchtprävention und Suchtbehandlung, während die Behindertenhilfe sich auf die Bedürfnisse und Unterstützung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung spezialisiert hat. Die Kombination dieser Hilfesysteme stellt sicher, dass die Zielgruppe bei ihrer selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung im Hinblick auf einen gesundheitsgerechten Umgang mit Suchtmitteln optimal begleitet und unterstützt wird (Feldmann 2020).

    Der SUPi-Aufbau

    Das SUPi-Training zielt darauf ab, zu einem gesundheitsbewussten Umgang mit den von den Teilnehmenden genannten Suchtmitteln zu motivieren. Es besteht aus zwölf wöchentlichen Sitzungen. In den 90-minütigen Kurseinheiten werden verschiedene didaktische Methoden und Materialien eingesetzt, um wiederholt über die Auswirkungen des Konsums zu informieren und das Wissen darüber zu vertiefen. Durch dieses Vorgehen sollen sich die Teilnehmenden Informationen besser aneignen können (Sandfort 2022) und ein tieferes Verständnis für den eigenen Konsum, insbesondere von Alkohol und Tabak, erlangen. Die Teilnehmenden erhalten während des Trainings Hilfestellung für die Entwicklung individueller Strategien, mit denen sie ihren Konsum reduzieren und ihre Impulskontrolle verbessern können (Feldmann 2020; Ahlers et al. 2023).

    Es wird ein individueller Plan erstellt, in dem jedes Gruppenmitglied sein persönliches Ziel festlegt. Dieser Plan erfasst den aktuellen Status, den die Teilnehmenden verändern möchten, und formuliert einen angestrebten Zielzustand. Um diese Ziele zu erreichen, werden Strategien zur Umsetzung mit den durchführenden Fachkräften besprochen (Ahlers et al. 2023). Die Trainer:innen stehen den Gruppenmitgliedern während des Umsetzungsprozesses ihrer Ziele kontinuierlich unterstützend zur Seite (Feldmann 2020). Folgende Übersicht zeigt die inhaltlich aufeinander aufbauenden Kurseinheiten (Abb. 1).

    Abb. 1: SUPi-Kurseinheiten. Eigene Darstellung.

    Zertifizierung und Krankenkassenanerkennung

    Es wird eine Zertifizierung des SUPi-Trainings als qualitativ hochwertige Präventionsmaßnahme durch die Zentrale Prüfstelle Prävention sowie die Aufnahme in die Grüne Liste Prävention angestrebt. Dies dient dem übergeordneten Interesse, dass Krankenkassen das Training gemäß § 20 SGB V in ihr Leistungsangebot aufnehmen und damit die Implementierung in weiteren Einrichtungen erleichtern. Voraussetzung für die Zertifizierung und Krankenkassenanerkennung ist der wissenschaftliche Wirkungsnachweis (Feldmann 2020).

    Wirkungsevaluation

    Die wissenschaftliche Wirkungsevaluation erfolgt durch das Team der Hochschule Emden/Leer unter der Leitung von Prof. Dr. Knut Tielking und wird durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Ziel ist es festzustellen, ob das SUPi-Training den Bedürfnissen der Zielgruppe gerecht wird, zu einer positiven Veränderung im Konsumverhalten der Teilnehmenden führt und damit einen nachweislichen Beitrag zur Suchtprävention bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung leisten kann. Insbesondere Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen werden durch Vorher-Nachher-Messungen (Döring/Bortz 2016) überprüft. Die quantitative Befragung der Studieneilnehmenden erfolgt zu drei Messzeitpunkten mit identischen Fragen, um Vergleichbarkeit der Ergebnisse im Zeitverlauf herstellen zu können: Mithilfe eines standardisierten Fragebogens in Leichter Sprache wird der Zustand der Trainingseilnehmenden (Interventionsgruppe) vor Beginn des Trainings (T1) erfasst. Die Ausgangssituation beleuchtet das Wissen und die Einstellung in Bezug auf den Suchtmittelkonsum sowie das Konsumverhalten der Zielgruppe vor der Intervention. Es schließen sich zwei weitere Befragungen, unmittelbar nach Trainingsabschluss (T2) und drei Monate nach Trainingsabschluss (T3), an. Durch diese strukturierten Messungen werden Langzeiteffekte des SUPi-Trainings dargestellt. Den Ergebnissen der Interventionsgruppe werden Ergebnisse einer Kontrollgruppe gegenübergestellt, die ebenfalls zu drei Messzeitpunkten mit einem zeitlichen Abstand von drei Monaten den identischen Fragebogen beantwortet.

    Herausforderung

    Unter Berücksichtigung der Möglichkeiten und Einschränkungen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung mussten die wissenschaftlichen Anforderungen spezifiziert werden – sowohl methodisch als auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung. Die Evaluation stellt sich damit der Herausforderung eines simplifizierenden Verfahrens mit dem gleichzeitigen Ziel, valide Daten zu generieren, die den Bewertungskriterien der Zentralen Prüfstelle Prävention (GKV Spitzenverband 2022) und der Grünen Liste Prävention (Groeger-Roth/Hasenpusch 2011) entsprechen. Vor diesem Hintergrund wurden die Erhebungsinstrumente partizipativ, unter Einbezug der Zielgruppe, entwickelt.

    Methode: Partizipative Evaluation

    Die partizipative Evaluation zeichnet sich durch die aktive Einbindung aller am Projekt beteiligten Personen von Anfang bis Ende des Evaluationsprozesses aus (Hartung et al. 2020). Dieses Vorgehen erfordert eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Betroffenen, den Fachkräften und den Projektverantwortlichen. In den einzelnen Kurseinheiten wurden in enger Abstimmung von Wissenschaft und Praxis kompetenzorientierte Ziele gesetzt.

    Fragebogenentwicklung

    Die Fragen wurden in Anlehnung an standardisierte Formulierungen aus Studien aus der Sucht- und Präventionsforschung ausgestaltet. Inhalte aus validierten Studien wurden mit den kompetenzorientierten Zielen der SUPi-Kurseinheiten abgeglichen. Um ein zielgruppenadäquates Messinstrument zu entwickeln, wurde der Fragenpool reduziert. Durch dieses Vorgehen sollte die Beantwortung für die Zielgruppe erleichtert sowie Demotivierung und Überforderung vermieden werden.

    Der Fragebogen wurde in Leichte Sprache transferiert, ohne von der inhaltlichen Bedeutung abzuweichen. Anstelle von fachspezifischen Begriffen fanden einfache Wörter Anwendung. Lange Sätze wurden in verständliche Abschnitte unterteilt. Der Fragebogen wurde durch das Büro für Leichte Sprache (Andreaswerk Vechta) zertifiziert. Zusätzlich wurde die Formatierung des Fragebogens durch klare, sich wiederholende Strukturen und eine große, deutliche Schrift vereinfacht. Farbliche Hervorhebungen von Rot bis Grün und visuelle Elemente verdeutlichen den Inhalt der Fragen und Antworten und erleichtern die Orientierung bei der Beantwortung. Die Praxistauglichkeit des Fragebogens wurde in einem Pretest mit neun Personen aus der Zielgruppe auf Verständlichkeit, Akzeptanz und Durchführbarkeit überprüft. Der Pretest bestätigte die Angemessenheit des Fragebogens für die Zielgruppe.

    Durchführung der Befragung

    Aufgrund der kognitiven Einschränkung der Zielgruppe liegt eine weitere Herausforderung in der Evaluationsdurchführung. Es bedarf einer besonderen Beziehungsgestaltung, um bestehende Ängste hinsichtlich einer schriftlichen Befragung abzubauen. Über diesen Zugangsweg gelingt es, die Bereitschaft der Betroffenen zur Mitarbeit zu fördern.

    Die Teilnahme an der Evaluation erfolgt auf freiwilliger Basis. Um eine freiwillige Entscheidung zu gewährleisten, ist die hinreichende barrierefreie Aufklärung der Studienteilnehmenden über die Evaluationsziele, die Freiwilligkeit an der Teilnahme und die Sicherstellung der Anonymität entscheidend. Potenzielle Studienteilnehmende werden dazu befähigt, sich anhand der dargestellten Informationen autonom und selbstbestimmt für bzw. gegen eine Teilnahme zu entscheiden.

    Aussagemöglichkeiten

    Für die Wirkungsevaluation sollen unter Berücksichtigung der Bewertungskriterien der Zentralen Prüfstelle Prävention sowie der Grünen Liste insgesamt 50 Personen für die freiwillige Teilnahme an dem SUPi-Training gewonnen werden. Bis April 2024 wurden 44 Personen mit geistiger Beeinträchtigung in das SUPi-Training involviert. Weitere 40 Personen bilden die Kontrollgruppe.

    Durch fortlaufende Akquisetätigkeiten der kooperierenden Einrichtungen, darunter St. Lukas in Papenburg, das Christophorus-Werk in Lingen und das St. Vitus-Werk in Meppen, wird erwartet, dass im zweiten Quartal 2024 die angestrebte Stichprobengröße von je 50 Teilnehmenden in der Interventions- und Kontrollgruppe erreicht werden kann. Die darauffolgende Analyse lenkt den Fokus, neben der Überprüfung der persönlichen Zielerreichung, auf folgende Rubriken (Abb. 2):

    Abb. 2: Bestandteile der Wirkungsanalyse. Eigene Darstellung.

    Die Wirkungsevaluation involviert zudem die SUPi-Trainer:innen, die mithilfe kursbegleitender Fragebögen dokumentieren, welche Gruppeninhalte erarbeitet und welche kompetenzorientierten Ziele erreicht wurden. Zudem bewerten sie die eingesetzten Materialien und Hilfsmittel sowie die Motivation und Gruppendynamik pro Kurseinheit. Es ist zu erwarten, dass diese umfassenden Bewertungen der einzelnen Kurseinheiten dazu beitragen, erfolgreiche Einheiten, effektive Kursmaterialien und bedarfsgerechte pädagogische Methoden für die Zielgruppe zu identifizieren. So lassen sich jene Faktoren erkennen, die besonders förderlich für das Training sind. Gleichzeitig werden Einblicke in Bereiche ermöglicht, in denen das SUPi-Training Verbesserungspotenzial aufweist. So dient diese Analyse dazu, sowohl Stärken als auch Schwächen des Trainings zu erkennen und dieses gezielt weiterzuentwickeln.

    Diskussion und Ausblick

    Im vierten Quartal 2024 sollen repräsentative Aussagen über die Wirksamkeit des SUPi-Trainings bezüglich des Wissens, der Einstellung und des Verhaltens der Teilnehmenden in Bezug auf den Konsum von Suchtmitteln sowie über die Kursdynamik und das verwendete Trainingsmaterial vorliegen.

    Das SUPi-Training trägt das Potenzial, eine bedeutende Versorgungslücke in der Suchtprävention zu schließen. Durch seine Implementierung soll eine maßgeschneiderte Intervention für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung bereitgestellt werden, die die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten dieser Personengruppe berücksichtigt. Dies gilt es, durch die Wirkungsanalysen zum SUPi-Training nachzuweisen. Gelingt dies, soll die Anerkennung des Trainings seitens der Krankenkassen und die Aufnahme in die Grüne Liste zu einer bundesweiten Verbreitung und damit zur besseren Versorgung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung beitragen.

    Kontakt:

    Julia Klinkhamer (M.A.)
    Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
    Hochschule Emden/Leer
    Constantiaplatz 4
    26723 Emden
    julia.klinkhamer(at)hs-emden-leer.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Prof. Dr. Knut Tielking ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sucht- und Drogenhilfe an der Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Er ist Leiter des Forschungsprojektes „Wirkungsevaluation des Selbstkontrolltrainings SUPi – Suchtprävention – inklusiv für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung“ (2022-2024).
    Julia Klinkhamer (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer und Geschäftsführerin der Firma PRINOR Statistik.

    Literatur
    • Ahlers, L./Clavée, M./Hopster, T. (2023): Konzept SUPi – Suchtprävention inklusiv. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Meppen.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2011): Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2023): Bundesteilhabegesetz (BTHG). Berlin.
    • Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2017): Richtlinie zur Förderung von Forschung auf dem Gebiet „Geistige Behinderung und problematischer Substanzkonsum“. Berlin.
    • Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2023): Präventionsgesetz (PrävG). Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/praevg.html (06.12.2023).
    • Döring, N./Bortz, J. (2016): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. 5. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer Verlag.
    • Feldmann, M. (2020): Konzept zur Entwicklung eines Gruppentrainings zum gesundheitsgerechten Umgang mit Suchtstoffen/ Reduzierung des Alkoholkonsums für erwachsene Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Meppen.
    • Feldmann, M./Veld, M./Schomaker, K./Speller, B. (2020): Abschlussbericht zum Projekt „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Papenburg.
    • GKV Spitzenverband (2022): Kriterien zur Zertifizierung von Kursangeboten in der individuellen verhaltensbezogenen Prävention nach § 20 Abs. 4 Nr. 1 SGB V, Stand 22.11.2023. Online verfügbar unter: https://www.zentrale-pruefstelle-praevention.de/wp-content/uploads/2023/11/20231122_Leitfaden_Praev_Kap_5_Kritierien_zur_Zertifizierung.pdf   (17.04.2024)
    • Groeger-Roth, F./Hasenpusch, B. (2011): Grüne Liste Prävention. Auswahl und Bewertungskriterien für die CTC Programm-Datenbank. Landespräventionsrat Niedersachsen. Fassung v. 01.11.2011. Online verfügbar unter: https://www.gruene-liste-praevention.de/communities-that-care/Media/_Grne_Liste_Kriterien.pdf (17.04.2024)
    • Hartung, S./Wihofszky, P./Wright, M. T. (2020): Partizipative Forschung – ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. In: Hartung, S./Wihofszky, P./Wright, M. T. (Hrsg.): Partizipative Forschung. Ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19.
    • Jung, F./Nachtigal, P. (2018): Suchtselbsthilfe für Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Praxisbericht. Bremen.
    • Kretschmann-Weelink, M. (2013): Prävalenz von Suchtmittelkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung in Nordrhein-Westfalen. Gevelsberg.
    • Moisl, D. (2017): Methoden zur Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung. Public Health Forum, 25(4), 312-323. https://doi.org/10.1515/pubhef-2017-0051
    • Sandfort, G. (2022): SUPi – Suchtprävention inklusiv. Caritasverband für die Diözese Osnabrück. Osnabrück.
    • Theunissen, G. (2011): Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Ein Lehrbuch für die Schule, Heilpädagogik und außerschulische Behindertenhilfe. 4. Auflage, Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB.
    • Tielking, K./Rabes, M. (2022): Niedersächsisches Suchtpräventionskonzept. Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Hannover.
  • Synthetische Opioide auf dem europäischen Drogenmarkt

    Synthetische Opioide auf dem europäischen Drogenmarkt

    Prof. Dr. Heino Stöver ©B. Bieber Frankfurt UAS

    Dem Europäischen Drogenbericht 2022 zufolge ist Heroin zwar nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Opioid in Europa und die Droge, die für die meisten drogenbedingten Todesfälle verantwortlich ist. Doch geben synthetische Opioide im Hinblick auf das Drogenproblem in Europa zunehmend Anlass zur Sorge.

    Synthetische Opioide werden im Gegensatz zu Opiaten (Morphin) und halbsynthetischen Opioiden (Heroin) vollständig aus Chemikalien synthetisiert. Sie sind mit pharmazeutischen Grundkenntnissen leicht herzustellen. Es handelt sich um Substanzen mit einer schmerzlindernden Wirkung, die der von Heroin und Morphin ähnelt. Die Wirkung ist allerdings viel stärker und potenter als die von Heroin und Morphin, sodass das Risiko einer Überdosierung höher ist.

    Synthetische Opioide werden in der Medizin häufig zur Behandlung starker Schmerzen sowie bei der Palliativversorgung eingesetzt. Es gibt zwei separate Lieferketten für synthetische Opioide, die auf den unterschiedlichen Drogenmärkten verkauft werden: Abzweigung und Missbrauch innerhalb der legalen Lieferkette der medizinischen und veterinärmedizinischen Versorgung sowie Synthetisierung der synthetischen Opioide in illegalen Laboren für die illegale Lieferkette.

    Fentanylderivate sind laut Europäischem Drogenbericht aufgrund der zentralen Rolle, die sie im nordamerikanischen Opioid-Problem spielen, besonders besorgniserregend. Weiter heißt es, es gebe jedoch auch Anzeichen dafür, dass in einigen Ländern andere synthetische Opioide vorherrschend bei den Drogenproblemen sein könnten. Die derzeitigen Überwachungssysteme dokumentierten die Trends des Konsums von synthetischen Opioiden möglicherweise nicht ausreichend, die Beobachtungskapazitäten müssten verbessert werden (Europäischer Drogenbericht 2022, S. 36).

    Weiter heißt es im Europäischen Drogenbericht, dass in Europa in den Jahren 2020 und 2021 keine neuen Fentanylderivate nachgewiesen wurden, in diesem Zeitraum jedoch 15 neue synthetische Opioide entdeckt wurden, die nicht unter die Regelung zur Kontrolle von Fentanylderivaten fallen. Dazu gehörten neun potente Benzimidazol-Opioide. Hergestellt worden seien z. B. gefälschte Arzneimittel wie Oxycodon-Tabletten, die erwiesenermaßen potente Benzimidazol-Opioide enthalten. Auch gefälschte Xanax- und Diazepam-Tabletten mit neuen Benzodiazepinen wurden sichergestellt. Die Konsumierenden könnten, ohne es zu wissen, starken Substanzen ausgesetzt sein, die das Risiko tödlicher oder nicht tödlicher Überdosierungen erhöhen können (Europäischer Drogenbericht 2022, S. 38).

    Toolkit für das Gesundheitswesen

    Das europäische Forschungsprojekt „Stärkung der Reaktionsbereitschaft von Gesundheitssystemen auf den potenziellen Anstieg der Prävalenz und des Konsums von synthetischen Opioiden“ (Strengthening Synthetic Opioids Health Systems‘ Preparedness to respond to the Potential Increases in Prevalence and Use of Synthetic Opioids) hat ein Toolkit mit Schlüsselstrategien zur Bekämpfung der mit synthetischen Opioiden verbundenen negativen Folgen (SO-PREP) entwickelt. Ziel des Projektes ist, den Verantwortlichen im öffentlichen Gesundheitswesen Angebote, Informationen und praktische Hilfen an die Hand zu geben, um den spezifischen Herausforderungen im Umgang mit synthetischen Opioiden zu begegnen. Das Toolkit enthält Empfehlungen und Anleitungen zu sieben Schlüsselstrategien:

    1. Frühwarnsysteme
    2. Internet-Monitoring
    3. E-Health
    4. Drug-Checking
    5. Drogenkonsumräume
    6. Naloxon
    7. Opioid-Agonisten-Therapie

    Frühwarnsysteme

    Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) und die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden (Europol) arbeiten seit 1997 mit Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten, der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und der Europäischen Kommission (EK) zusammen, um das Risiko neu aufkommender Drogen auf dem europäischen Drogenmarkt zu überwachen und zu bewerten und ein Frühwarnsystem einzurichten. Ende 2020 überwachte die EBDD rund 830 Neue psychoaktive Substanzen (NPS), von denen 67 zu den synthetischen Opioiden gehörten. Doch in vielen europäischen Ländern gibt es Defizite beim zeitnahen Austausch aktueller Informationen. Daher besteht die größte Herausforderung darin, die Zusammenarbeit sowie die systematische Datenerfassung und den Informationsaustausch zwischen allen relevanten Partnern sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene zu stärken (vgl. Abbildung 1). Für einen schnellen Datenaustausch werden nationale Datenbanken und digitale Plattformen benötigt. Auch die Koordination, Implementierung und Evaluierung von Daten sowie die Berichterstattung darüber sollten für ein funktionierendes Frühwarnsystem zu synthetischen Opioiden optimiert werden.

    Abb. 1: Voraussetzungen für ein funktionierendes Frühwarnsystem

    Internet-Monitoring

    Die Überwachung im Internet beinhaltet das Monitoring von Daten zu

    • Suchverhalten
    • Austausch über Drogen
    • Nutzererfahrungen
    • Drogenmärkte und Drogenangebot

    sowohl im Clearnet (öffentliches Internet) als auch im Deep-Web (nur mit Anonymisierungssoftware zugängliches Web, darunter das Darknet). Für den Handel mit synthetischen Opioiden werden Kanäle wie Google Trends, Instagram, Twitter, Facebook, Chatrooms, Kryptomärkte sowie Diskussionsforen im Clearnet und Darknet genutzt. Mithilfe eines Online-Monitorings können Mechanismen innerhalb dieser Plattformen sowie die Entwicklung von Angebot und Nachfrage überwacht werden. Das liefert Erkenntnisse, die durch traditionellere Forschungsmethoden wie z. B. Umfragen nicht gewonnen werden können.

    E-Health

    Obwohl das Forschungsinteresse zu E-Health-Angeboten bei Substanzstörungen in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat, sind digitale Informations- und Kommunikationstechnologien wie Telemedizin und Apps für Drogenkonsumierende noch relativ begrenzt. Realisierbar sind geeignete E-Health-Maßnahmen für die drei Säulen der Drogenpolitik

    • Prävention,
    • Therapie und
    • Schadensminimierung.

    Wie wirksam digitale Präventionsmaßnahmen für Konsumierende von synthetischen Opioiden sein können, zeigt das finnische Online-Portal Päihdelinkki (https://paihdelinkki.fi/) mit seinem Informationsangebot zu Drogenkonsum und Drogenentwöhnung. E-Health-Apps können als alternativer Ansatz genutzt werden, um Klient:innen zu einer Therapie zu bewegen und langfristig zu motivieren. In der Telemedizin ist MySafeRx (https://www.c4tbh.org/program-review/mysaferx/) eine Plattform für Mobilgeräte, die Text- und Videokommunikation anbietet und es den Patient:innen ermöglicht, ein Medikament unter Aufsicht einzunehmen.

    E-Health-Angebote können nicht nur den Zugang zu bereits existierenden Maßnahmen wie Drug-Checking und Drogenkonsumräumen vereinfachen, sondern auch den Weg für neue, innovative Methoden der Schadensminimierung ebnen. So bietet die app-gestützte Begleitung von Konsumierenden via Telefonbetreiber oder Biofeedback eine Art virtuellen Drogenkonsumraum, in dem sich die Drogengebraucher:innen sicherer fühlen können.

    Drug-Checking

    Drug-Checking ist ein Angebot an Drogenkonsumierende. Anonym können sie Proben von illegal erworbenen Drogen chemisch analysieren lassen, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen. Sobald die Ergebnisse der Analyse vorliegen, werden die Informationen zu den Inhaltsstoffen und zur Reinheit der Drogenprobe übermittelt. In der Regel gehören Hinweise zur Schadensminimierung, eine Beratung und Kurzinterventionen zu dem Angebot dazu. In Deutschland ist Drug-Checking inzwischen durch Träger der Jugend- und Drogenhilfe in Kooperation mit zur Betäubungsmittelanalyse befähigten Laboren rechtlich abgesichert. Der Deutsche Bundestag hat am 23. Juni 2023 im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) die gesetzlichen Grundlagen für das Drug-Checking-Modellvorhaben geschaffen. Das im BtMG verankerte Verbot von Drug-Checking in Drogenkonsumräumen wurde aufgehoben. Berlin macht seit April 2023 erste Erfahrungen in einem Modellprojekt. Hessen und Baden-Württemberg wollen folgen, andere Bundesländer beraten noch.

    Da der illegale Drogenmarkt äußerst dynamisch ist, müssen Drug-Checking-Dienste sich kontinuierlich weiterentwickeln, um neuen Bedrohungen wie synthetischen Opioiden gewachsen zu sein. Möglich sind sowohl stationäre Angebote an festen Standorten als auch mobile Angebote, z. B. bei Festivals oder großen Partys. Um mit Drug-Checking gute Ergebnisse zu erzielen, empfehlen sich Handlungsleitfäden. Darin sollten die Zuständigkeiten des Personals, die Qualitätsanforderungen und vor allem die standardmäßigen Schutz- und Sicherheitsvorschriften beim Umgang mit Drogenproben, insbesondere mit hochpotenten Substanzen wie Fentanyl und seinen Analoga, beschrieben werden. Die Laborergebnisse aus dem Drug-Checking können wichtige Informationen für das Frühwarnsystem liefern.

    Drogenkonsumräume

    Seit 1986 wirken sich Drogenkonsumräume positiv auf Gesundheit und Lebensqualität drogenkonsumierender Menschen aus. Hinsichtlich Prävention und Intervention haben sie eine Schlüsselrolle. Sie bieten eine überwachte, hygienische und sichere Umgebung für den Konsum – auch von synthetischen Opioiden. Mitarbeitende klären über Substanzen und sichere Konsumpraktiken auf. Sie entwickeln Strategien für den Umgang mit Überdosierungen und setzen diese um. So tragen Drogenkonsumräume dazu bei, die Selbstfürsorge und Selbstregulierung von Konsumierenden zu verbessern.

    Bei einem starken Anstieg des SO-Konsums müssen die Maßnahmen, Ressourcen und Regelungen in Drogenkonsumräumen angepasst werden. Die Mitarbeitenden müssen sich zusätzliches Fachwissen und Kompetenzen aneignen, um die Sicherheit zu fördern. Fentanyl und andere synthetische Opioide, die zum Strecken von Substanzen verwendet werden, können nicht nur in Opioiden, sondern auch in Stimulanzien vorkommen. Wichtig ist auch, dass Kenntnisse über die Risiken verschiedener Substanzkombinationen vermittelt werden.

    Mitarbeitende der Drogenkonsumräume können für das Frühwarnsystem Echtzeit-Daten zur Überwachung des Drogenmarktes liefern. So können Konsumierende, Anbieter von Diensten zur Schadensminimierung, Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens, Wissenschaftler:innen und Strafverfolgungsbehörden zeitnah über hochpotente oder verunreinigte Drogenchargen informiert und davor gewarnt werden.

    Naloxon

    Der Konsum hochpotenter synthetischer Opioide kann sehr schnell und völlig unvorhergesehen zu einer lebensbedrohlichen Überdosierung, irreversiblen gesundheitlichen Schäden und zum Tode führen. Naloxon ist ein einfacher und sicherer selektiver Opioidrezeptor-Antagonist, der die Wirkung eines Opioids am Rezeptor blockiert und dadurch die Intoxikation aufhebt. Das synthetische Opioid Fentanyl ist schätzungsweise 100-mal stärker als Morphium. Eine Dosis von zwei Milligramm reicht bereits aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Angesichts dieser Wirkstärke ist eine viel höhere Naloxondosis erforderlich, um eine Überdosis von synthetischen Opioiden zu bekämpfen, als z. B. bei einer Heroinüberdosis.

    Naloxon muss breiter verfügbar gemacht werden, da es eine der Schlüsselstrategien zum Schutz vor der wachsenden Bedrohung durch synthetische Opioide ist (siehe hierzu das Positionspapier „Naloxon rettet Leben. Empfehlungen zu Take-Home-Naloxon“). Bisher ist das Medikament in Deutschland rezeptpflichtig. Doch sollte es rezeptfrei erhältlich sein oder zumindest von entsprechend befugten Drogendiensten rezeptfrei abgegeben werden. Es ist wichtig, dass Fachkräfte und Laien wie z. B. Drogenkonsumierende in Schulungen lernen, wie sie im Fall einer Überdosis reagieren sollten und wie das Naloxon zu verabreichen ist. Besonders wichtig sind dabei Peer-to-Peer-Programme.

    Die Peer-Schulungen zum Umgang mit Opioidüberdosierungen können Folgendes beinhalten:

    • Ursachen und Risikofaktoren für eine Überdosierung
    • Erkennen von Anzeichen und Symptomen einer Überdosierung (einschließlich der Unterschiede zwischen einer Überdosierung durch Stimulanzien, Heroin, Fentanyl oder andere synthetische Opioide)
    • Begutachtung und Behandlung von Betroffenen
    • adäquate lebenswichtige Unterstützung, einschließlich Wiederbelebung und Beatmung
    • Informationen zur Wirkung von Naloxon
    • Nebenwirkungen und Überwachung nach der Verabreichung von Naloxon
    • mögliches Risiko aggressiven Verhaltens
    • häufige Fehlannahmen zur Überdosisprävention
    • rechtlicher Rahmen zum Umgang mit Naloxon für die Zielgruppen: Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen und der Strafverfolgung (Polizei)

    Auch sollte sichergestellt sein, dass Naloxon Ersthelfer:innen wie Polizei oder Krankenwagenpersonal und in Notaufnahmen zur Verfügung steht und angemessen eingesetzt wird.

    Opioid-Agonisten-Therapie

    Mit der Opioid-Agonisten-Therapie (OAT) – auch Opioid-Substitutionstherapie (OST) bzw. medikamentengestützte Therapie genannt – werden Opioidabhängige behandelt. Zwei der am häufigsten verwendeten Medikamente sind Methadon und Buprenorphin. Diese morphinähnlichen Substanzen wirken wie natürliche Opiumextrakte. Sie werden je nach Bedarf der behandelten Person für kurze oder lange Behandlungszeiträume verschrieben. Die Therapie hat dann die größte Aussicht auf Erfolg, wenn sie mit Maßnahmen wie Beratung, soziale Unterstützung, Überwachung des Substanzkonsums sowie Aufklärung und Rückfallprävention kombiniert wird.

    Zu den operativen Risiken der OAT für Menschen, die synthetische Opioide konsumieren, gehören Rückfälle, Abzweigung und Missbrauch der Medikamente sowie Überdosierungen. Bei der Umsetzung der OAT für Konsumierende von synthetischen Opioiden sind eine routinemäßige Kontrolle und Evaluierung, qualifiziertes ärztliches Personal und Take-Home-Medikation wichtig. Gleichzeitig muss auf schwere Infektionskrankheiten und die Lebensqualität der behandelten Personen geachtet werden. Ein gut funktionierendes OAT-System kann einen wirksamen Schutzmechanismus im Kampf gegen den illegalen Opioidmarkt bieten. Die OAT ist nach wie vor der wichtigste Ansatz zur Behandlung von Konsumstörungen im Zusammenhang mit Opioiden und synthetischen Opioiden.

    Fazit

    Um die komplexen Herausforderungen im Kontext von synthetischen Opioiden zu bewältigen, reichen ein einzelner Ansatz sowie herkömmliche Maßnahmen nicht aus. Neue und innovative Ansätze wie Drug-Checking, E-Health und Internet-Monitoring sind notwendig, um etablierte Maßnahmen wie die OAT zu ergänzen. Da jede Maßnahme ihre Schwachstellen hat, liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Kombination und Integration verschiedener Ansätze.

    Anmerkung des Autors: Für die textliche Unterstützung danke ich Wissenschaftsjournalistin Ursula Katthöfer (textwiese.com) sehr herzlich.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Heino Stöver, Dr. Babak Moazen
    Frankfurt University of Applied Sciences
    Institut für Suchtforschung (ISFF)
    hstoever(at)fb4.fra-uas.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Heino Stöver leitet den Studiengang „Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe“ des Instituts für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences.

    Literatur:
    • Institut für Suchtforschung an der FRA-AUS (ISFF) und akzept e.v. (Hg.): SO-PREP, Toolkit mit Schlüsselstrategien zur Bekämpfung der mit synthetischen Opioiden verbundenen negativen Folgen, Frankfurt 2023, www.akzept.eu/publikationen
    • Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2022), Europäischer Drogenbericht 2022: Trends und Entwicklungen, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg 2022, doi:10.2810/541855
    • Deutscher Bundesstag: Bundestag stimmt für Frühwarnsystem gegen Medikamentenmangel. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw25-de-arzneimittellieferengpass-954384
  • Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern

    Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern

    Frauke Schwier
    Dr. Hauke Duckwitz
    Dr. Lieselotte Simon-Stolz

    Kinder mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil sind vielfältigen, oft chronischen Belastungen und kumulierenden Risikofaktoren ausgesetzt. Sie gelten als Hochrisikogruppe für die Entstehung einer eigenen psychischen und/oder Suchterkrankung und tragen ein großes Risiko, vernachlässigt oder misshandelt zu werden. Hierbei bilden die Kinder, die bereits durch Exposition von Alkohol oder anderen Substanzen in der Schwangerschaft pränatal geschädigt wurden, eine vulnerable Gruppe mit besonderer Gefährdung. Die Vermittlung von Hilfen sowie der Schutz von Kindern in sogenannten Hochrisikofamilien stellen für die beteiligten Systeme eine besondere Herausforderung dar. Bei hoher Komorbidität von Sucht- und psychischen Erkrankungen – bei 40 bis 50 Prozent der Suchterkrankten bestehen zusätzlich psychische Erkrankungen (Jacobi et al., 2010) – und aufgrund fehlender Möglichkeiten, alle Betroffenen zu erfassen, gehen konservative Schätzungen von ca. fünf Millionen Kindern mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil in Deutschland aus (Lenz & Wiegand-Grefe, 2017). Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

    Fachkräfte im Gesundheitssystem orientieren sich bei ihrer täglichen Arbeit an Empfehlungen von Leitlinien. Im Folgenden stellen wir die für die Thematik relevanten Leitlinien kurz vor und werden auf den Leitfaden „Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern“ der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) gezielt eingehen.

    Übersicht aktueller Leitlinien

    Im Februar 2019 wurde unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) die AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019), kurz AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie veröffentlicht. Sie beruht auf höchstem wissenschaftlichem Niveau, und alle Empfehlungen wurden durch ein repräsentatives Gremium aus 82 Fachgesellschaften und Organisationen aus Medizin, Psychologie, Sozialer Arbeit und Pädagogik erstellt und verabschiedet.

    Die Kinderschutzleitlinie soll Fachkräfte im Gesundheitssystem dabei unterstützen, eine Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und einen sexuellen Missbrauch frühzeitig zu erkennen, festzustellen und mit den erkannten Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung fachgerecht und kompetent umzugehen. Außerdem soll die Leitlinie Fachkräften aus anderen Versorgungsbereichen wie z. B. der Kinder- und Jugendhilfe die Arbeit im Gesundheitssystem transparent darstellen. Alle Informationen und Veröffentlichungen zur Kinderschutzleitlinie sind abrufbar auf den Homepages der AWMF oder DGKiM.

    Eine der Handlungsempfehlungen der Kinderschutzleitlinie besagt, dass bei allen Erwachsenen, die aufgrund einer Intoxikation, eines (versuchten) Suizids oder einer akuten psychischen Dekompensation in der Notaufnahme behandelt werden, danach gefragt werden soll, ob diese Erwachsenen für Minderjährige verantwortlich sind. Wenn diese Frage bejaht wird, soll der Sozialdienst der Klinik informiert werden, um in Erfahrung zu bringen, inwieweit es einen Hilfebedarf in der Familie gibt.

    Weitere aktuelle Leitlinien:

    Fokus: DGKiM-Leitfaden „Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern“

    ezüglich der Thematik Kinder psychisch und suchtkranker Eltern veröffentlichte der Arbeitskreis Prävention der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin im Dezember 2020 einen Leitfaden für Präventiven Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern. Dieser Leitfaden informiert Fachkräfte im Gesundheitssystem über Prävention und Intervention bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Er beruht auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Anlehnung an die AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie und auf in der Praxis bewährten Vorgehensweisen. Nach einer Einführung in die Thematik werden Empfehlungen für präventives Handeln bezogen auf die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Kinder gegeben.

    Auswirkungen der elterlichen Erkrankung auf das Fürsorgeverhalten und das familiäre System

    Nicht jede psychische Störung oder Suchterkrankung eines Elternteils führt zwangsläufig zu einer eingeschränkten Erziehungskompetenz oder einer Gefährdung des Kindeswohls. Eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der elterlichen Erziehungsfähigkeit spielen die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung und die Kompetenz der Eltern, einfühlsam die Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen und diese angemessen zu befriedigen (Plattner, 2017). Psychisch oder suchterkrankte Eltern zeigen jedoch in erhöhtem Maße eine eingeschränkte emotionale Bindungs- und Empathiefähigkeit. Die Auswirkungen auf die Co-Regulation und die Eltern-Kind-Interaktion verdeutlicht Abbildung 1.

    Abbildung 1: Entstehung von Risikokonstellationen – frühe Hinweise bei den Eltern und Auswirkungen auf elterliche Co-Regulation und Interaktion

    Häufig ist der Familienalltag wenig strukturiert und bietet unzureichende kognitive und soziale Anregung, Explorationsmöglichkeiten und Regulationshilfen für die Kinder. Diese erleben ihre Eltern immer wieder als instabil und schlecht berechenbar. Weitere Problemfelder sind die häufige soziale Isolation sowie das hohe Risiko, dass die Eltern sich durch die Kinder persönlich eingeschränkt fühlen und den Kindern negative Emotionen (Ärger, Feindseligkeit, Wut, Hass) entgegenbringen. Betroffene Eltern zweifeln häufig an der eigenen elterlichen Kompetenz mit daraus folgenden Gefühlen von Enttäuschung, Unzulänglichkeit, Versagen und Hilflosigkeit.

    Außerdem zeigt sich eine erhöhte Prävalenz von familiärer Disharmonie (Trennung/ Scheidung), Arbeitslosigkeit, finanziellen Problemen, problematischen Wohnverhältnissen und kritischen Lebensereignissen (z. B. schwere Erkrankung oder Tod eines Elternteils, Krankenhausaufenthalte, Polizeieinsätze, Inhaftierung). Das Risiko für Unfälle und Verletzungen ist erhöht. In manchen Familien herrscht eine Atmosphäre ständiger Angst und Unsicherheit. Häusliche Gewalt sowie Vernachlässigung und Misshandlung treten häufiger auf und bedeuten damit ein hohes Entwicklungsrisiko für die Kinder (Klein, 2008).

    Direkte altersbezogene Folgen für die Kinder

    Eine Gefährdung der kindlichen Entwicklung kann bereits durch eine intrauterine Substanzexposition – sowohl von legalen (Nikotin, Alkohol, Medikamente) als auch illegalen Substanzen (häufig auch in Kombination) – und durch pränatale Stressbelastung der Mutter entstehen. Neurobiologische Forschungen zeigen Zusammenhänge zwischen dem Belastungserleben der Schwangeren und Veränderungen der Hirnmorphologie und Neuroendokrinologie des ungeborenen Kindes. Die stressbezogenen Umwelteinflüsse ab dem frühen Kindesalter stellen einen Hauptrisikofaktor für die Entstehung späterer psychopathologischer Erkrankungen dar (Albermann et al., 2019).

    Zum breiten Spektrum potenzieller Komplikationen und Erkrankungen des Kindes in der Neonatalzeit nach intrauteriner Substanzexposition gehören u. a. Frühgeburtlichkeit, intrauterine Wachstumsretardierung, Mikrozephalie (deutlich zu kleiner Kopfumfang), Fehlbildungen, Hyperexzitabilität (Übererregbarkeit des Zentralen Nervensystems), Trink- und Ernährungsschwierigkeiten sowie zerebrale Erkrankungen mit z. T. langfristigen Konsequenzen und erheblichen kognitiven Einschränkungen.

    Nach der Geburt manifestieren sich bei ca. 50 bis 90 Prozent der Neugeborenen nach (legalem oder illegalem) Substanzkonsum in der Schwangerschaft (auch nach Substitution) Entzugssymptome, die unter dem Begriff Neugeborenen-Abstinenz-Syndrom (NAS) zusammengefasst werden. Klinische Symptome zeigen sich in der Regel innerhalb der ersten 24 bis 36 Lebensstunden, allerdings bei mütterlichem Zusatzkonsum von Benzodiazepinen häufig auch zeitverzögert (nach sieben Tagen bis zu vier Wochen). Deshalb sollten neben Geburtshelfern, Neonatologen, medizinischem Pflegepersonal und Hebammen auch Kinder- und Jugendärzt:innen mit der Symptomatik vertraut sein (Rohrmeister & Weninger, 2006).

    Zumindest in den USA haben sowohl die Inzidenz als auch die Behandlungsdauer für das NAS in den letzten Jahren zugenommen. Aus Europa liegen keine systematisch erhobenen Daten vor (Gortner & Dudenhausen, 2017). Nach Schätzungen werden jährlich bundesweit ca. 2.000 Kinder drogenabhängiger Mütter geboren. Das entspricht einer Inzidenz von 1:3000 (Hüsemann, Nagel & Obladen, 2008). Prävalenzdaten zum Konsum illegaler Substanzen in der Schwangerschaft sind nicht verfügbar. Auch eine annähernde Schätzung des illegalen Substanzkonsums ist aufgrund häufiger Verschweigungstendenzen und geringerer Inanspruchnahme von vor- und nachgeburtlichen Hilfen betroffener Schwangerer sehr schwierig.

    Aufgrund des häufigen Mischkonsums von illegalen und legalen Drogen können direkte substanzbezogene Langzeiteffekte auf die Kinder (z. B. auf Regulationsfähigkeit, Lernverhalten und Gedächtnisleistungen) nur eingeschränkt wissenschaftlich belegt werden. Aussagen über Wirkungseffekte, die auf eine einzelne Substanz zurückgeführt werden können, sind bei der derzeitigen Forschungslage nicht möglich. Insbesondere werden jedoch nach wie vor die Langzeitschädigungen durch Nikotin und Cannabinoide erheblich unterschätzt. Generell steigt das Risiko für das Ungeborene mit der Häufigkeit der Einnahme, der Dosis und der Vielfalt der konsumierten Substanzen.

    Exkurs: Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD)

    Eine zahlenmäßig sehr bedeutsame Gruppe sind die Kinder, die durch mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft geschädigt wurden. Die im Zusammenhang mit intrauteriner Alkoholexposition auftretenden kindlichen Folgeschädigungen, Entwicklungsstörungen und Behinderungen werden unter dem Oberbegriff Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD/Fetal alcohol spectrum disorder) zusammengefasst. Bundesweit trinken ca. 28 Prozent der Schwangeren Alkohol in der Schwangerschaft, ca. 16 Prozent zeigen ein binge-drinking-Verhalten (mind. fünf Getränke zu einer Gelegenheit) (Landgraf & Hoff, 2018).

    Nach jetzigem Kenntnisstand muss davon ausgegangen werden, dass jeglicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft den Embryo gefährden kann. Statistische Schätzungen von Kraus et. al, die die Häufigkeit von mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und das Risiko für eine FASD bei intrauteriner Alkoholexposition mit einbeziehen, zeigen eine Inzidenz der FASD von 1,77 Prozent in Deutschland. Eine zuverlässige Prävalenzstudie zu FASD existiert in Deutschland bisher nicht (Kraus et al., 2019). Die aktuell vorliegenden Daten beruhen auf Hochrechnungen oder Schätzungen. Expertenschätzungen gehen von einer einprozentigen FASD-Prävalenz der Gesamtbevölkerung aus. Bezogen auf Deutschland wären somit ca. 0,8 Millionen Menschen, davon 130.000 Kinder, von FASD betroffen (Landgraf & Heinen, 2016; Landgraf & Hoff, 2018).

    Die routinemäßige Erfassung des Alkohol- und Drogenkonsums gehört in Deutschland zum Standard in der Schwangerenvorsorgeuntersuchung. Allerdings wird eine offene Ansprache des Konsums oft vermieden bzw. aufgrund struktureller und zeitlicher Belastungen nur unzureichend nachgefragt (Landgraf & Heinen, 2016; Nagel & Siedentopf, 2017). Hinzu kommt, dass die Frauen die tatsächliche Konsummenge möglicherweise nicht angeben bzw. aus Scham und Angst vor sozialer Stigmatisierung häufig alkoholverneinende Angaben machen. Aufgrund dessen ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Daher sollte bei Screening-Verfahren in der Schwangerschaft auf jeglichen Alkoholkonsum und nicht nur auf riskante Konsummuster geachtet werden. Angestrebtes Ziel der Aufklärung und Beratung sollte die Prävention einer Alkohol-exponierten Schwangerschaft sein.

    Mögliche Folgen der teratogenen und neurotoxischen Wirkungen bei Alkoholexposition in der Schwangerschaft sind Wachstumsstörungen, typische Gesichtsdysmorphien, Hirnschädigungen und Beeinträchtigungen der geistigen und seelischen Entwicklung, Verhaltensauffälligkeiten sowie Funktions- und Alltagsbeeinträchtigungen des Kindes, die bis ins Erwachsenenalter persistieren. Die Störungen können in unterschiedlicher Ausprägung auftreten (Vollbild Fetales Alkoholsyndrom = FAS; nur einzelne Bereiche betreffend = partielles FAS/pFAS; auf entwicklungs-neurologische Störungen beschränkt = Alkoholbedingte Entwicklungsneurologische Störung/ARND), was aber nicht gleichzeitig eine geringere Schwere der Erkrankung impliziert. Für die Diagnostik der FASD steht seit 2016 eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie zur Verfügung (Landgraf & Heinen, 2016). Empfohlen wird eine vernetzte, multimodale, interdisziplinäre Diagnostik und Therapie, wie sie in einigen wenigen spezialisierten Zentren bundesweit oder in sozialpädiatrischen Zentren vorgehalten wird. Dabei sollen die individuelle Problemlage und Alltagseinschränkungen des Kindes immer im Fokus stehen (Landgraf & Hoff, 2018).

    Neben biologischen und (epi)genetischen Faktoren müssen auch die Umgebungs- und Sozialisationsbedingungen, unter denen die Kinder nach intrauteriner Substanzexposition aufwachsen, berücksichtigt werden. Das Aufwachsen mit suchtkranken Eltern stellt für die Kinder und Jugendlichen eine enorme Belastung dar. Sie fühlen sich nicht gesehen und erfahren häufig nur unzureichende elterliche emotionale und erzieherische Unterstützung und Fürsorge. Damit sind sie einem entwicklungsgefährdenden, dysfunktionalen elterlichen Verhalten ausgesetzt, in kritischen Fällen auch dem Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung. Die Folgen für die Kinder sind umso gravierender, je früher und länger sie mit der elterlichen psychischen und Suchterkrankung konfrontiert sind, je schwerer ausgeprägt die Erkrankung ist und je mehr zusätzliche familiäre Belastungen vorliegen, die nicht durch vorhandene Schutzfaktoren kompensiert werden können. Ein weiteres Problem stellt die „Parentifizierung“, d. h. die Sorge um die Eltern, die Fürsorge für jüngere Geschwister, die Erledigung des Haushalts und das Wahren der Fassade durch die betroffenen Kinder, dar.

    Empfehlungen für präventives Handeln

    Bei Unterstützungsmaßnahmen für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern spielen neben der Beratung und Unterstützung der Eltern insbesondere Angebote für die Kinder und Jugendlichen selbst entlang ihrer Entwicklungsphasen eine wichtige Rolle. Diese sollten möglichst frühzeitig erfolgen. Wichtig ist die Ermöglichung eigener Zugangswege für Kinder, die es ihnen erlauben, im Bedarfsfall auch eigenständig und ohne Einverständnis der Eltern nach Hilfe zu fragen, insbesondere bei mangelnder oder fehlender Krankheitseinsicht der Eltern. Diese Empfehlung, die die Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern in ihrem Abschlussbericht formuliert (Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern, 2019, Empfehlung Nr. 2; siehe auch Artikel auf KONTUREN online), wurde inzwischen im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz berücksichtigt. In § 8 SGB VIII wurde das Vorliegen einer „Not- und Konfliktlage“ als Voraussetzung für einen Beratungsanspruch gestrichen. Somit haben Kinder und Jugendliche nun auch ohne ihre Eltern einen uneingeschränkten eigenen Anspruch auf Beratung durch die Kinder- und Jugendhilfe. Die Beratung kann auch durch einen Träger der freien Jugendhilfe erbracht werden (Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen – Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG, 2021).

    Ein zentrales Thema stellt die Psychoedukation der Kinder dar. Folgende Informationen und Botschaften sollten Kindern psychisch und suchtkranker Eltern gegeben werden (Moesgen et al., 2017):

    • Sucht ist eine psychische Erkrankung und somit eine Krankheit.
    • Die Eltern sind wegen ihrer psychischen Erkrankung keine schlechten Menschen.
    • Das Kind hat keine Schuld an psychischen und Suchtproblemen von Vater oder Mutter.
    • Es kann den Eltern nicht helfen und es ist auch nicht seine Aufgabe, deren Sucht zu kontrollieren oder die Erkrankung zu heilen.
    • Das Kind hat trotz der Krankheit im Elternhaus das Recht, Kind zu sein, zu spielen, die Welt zu entdecken, Freundschaften zu entwickeln, die eigenen Fähigkeiten zu erproben und sich selbst zu lieben und zu achten.

    Präventiver Kinderschutz in Familien mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil bedeutet oft eine Gratwanderung. Es gilt, gefährdete Kinder frühzeitig zu identifizieren und ihnen und den Eltern angemessene Unterstützung anzubieten, dabei gleichzeitig die elterliche Autonomie zu respektieren und schließlich Gefährdungssituationen deutlich abzugrenzen und ggf. geeignete Kinderschutzmaßnahmen einzuleiten (Albermann et al., 2019). Bei Hinweisen auf eine Gefährdung des Wohles oder der Entwicklung des Kindes bei fehlender Mitwirkung der Eltern sollten immer Maßnahmen unter Berücksichtigung des § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) Anwendung finden (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019). Wichtig sind in multidisziplinären und multiinstitutionellen Settings ein regelmäßiger (auch fallbezogener) Austausch, z. B. in Netzwerktreffen, Qualitätszirkeln, Helferkonferenzen usw., sowie eine eindeutige Festlegung der Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure.

    Exkurs: Gesetzliche Grundlage zum Vorgehen bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (§ 4 KKG)

    Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) regelt im § 4 die Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger an das zuständige Jugendamt beim Auftreten von Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung. Unter dem Begriff Geheimnisträger:in sind verschiedene Berufsgruppen aufgeführt, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Fachkräfte des Gesundheitssystems sind dabei explizit benannt.

    Werden diesen Berufsgruppen im Rahmen ihrer Tätigkeit Hinweise für eine Kindeswohlgefährdung bekannt, so ist ein stufenweises Vorgehen geregelt (s. Abbildung 2).

    Abbildung 2: Vorgehen bei Bekanntwerden von gewichtigen Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung (Material entnommen aus Kinderschutzleitlinie 2021)
    Präkonzeptionelle Prävention

    Unter dem Aspekt des präventiven Kinderschutzes ist im Kontext der Betreuung von psychisch und suchtkranken Frauen die Frage zu klären, ob ein aktueller oder zukünftiger Kinderwunsch besteht. Ebenso bedeutsam ist die Berücksichtigung des Risikos einer ungeplanten Schwangerschaft. Diesbezüglich ist eine frühe Anbindung an eine gynäkologische Praxis sowie eine psychiatrische, ggf. suchtmedizinische, Betreuung der Frauen notwendig. Im Rahmen der medizinischen Betreuung sind mögliche Risiken einer Schwangerschaft aufgrund der Schwere der Erkrankung, der Medikation oder eines Substanzkonsums zu prüfen. Ebenso muss die psychopharmakologische Medikation bezüglich eines erhöhten Fehlbildungsrisikos (Embryotoxizität) überprüft werden. Im Bedarfsfall sollte eine Umstellung der Medikation erwogen werden (Kittel-Schneider, 2019).

    Als Leitlinien liegen die AWMF S3-Leitlinien für Unipolare Depression (BÄK, KBV, AWMF, no date), Bipolare Störungen (DGBS & DGPPN, 2019) und Schizophrenie (DGPPN, no date) vor. Im Rahmen der ärztlichen Aufklärung/Psychoedukation über die jeweilige Erkrankung sollten psychisch und suchtkranke Frauen auch über die Auswirkungen einer möglichen Schwangerschaft auf die Erkrankung informiert werden.

    Schwangerschaft

    Schwangerschaften von psychisch und suchtkranken Frauen gelten als Risikoschwangerschaften. Viele dieser Schwangerschaften sind ungeplant, bei suchtkranken Frauen ca. 85 Prozent. Sie werden oft spät bemerkt oder sich spät eingestanden. Kontakte mit Gynäkolog:innen finden oft erst weit nach dem ersten Trimenon statt. Ängste, Schuld- und Schamgefühle hindern viele Frauen daran, Vorsorge- und Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Es bestehen oft multikomplexe Problemlagen. Diese aggravierenden Begleitfaktoren erklären das breite Spektrum potenzieller Komplikationen und Erkrankungen des Kindes in der Neonatalzeit und die mögliche Beeinträchtigung nach der Geburt. Zudem ist die körperliche Situation von suchtkranken schwangeren Frauen oft von Mangel- und Fehlernährung und von Begleiterkrankungen wie Hepatitiden und HIV-Infektionen gekennzeichnet. Häufig wird ein zurückliegender oder aktueller Konsum gegenüber Gynäkolog:innen, Kliniken, Hebammen oder Beratungsstellen verheimlicht, wodurch erforderliche Vorbereitungen auf die Geburt und eine fachlich kompetente Betreuung unterbleiben (Tödte & Bernhard, 2016).

    Die bedarfsgerechte Substitutionstherapie mit langwirksamen Opiaten oder Opioiden stellt die Standardtherapie von opiatabhängigen Schwangeren dar (Bundesärztekammer, 2017). Die suchtmedizinische Behandlung ist eine notwendige Initialmaßnahme, der weitere Behandlungen und Interventionsmaßnahmen folgen müssen, um die Risiken für das Kind zu senken. In Kooperation mit weiteren Fachdisziplinen, u. a. der Psychosozialen Betreuung (PSB) und optimalerweise der Jugendhilfe, sollte der umfassende medizinische Behandlungsprozess begleitet und abgesichert werden (Nagel & Siedentopf, 2017). Dies beinhaltet eine frühzeitige Zusammenarbeit von Sozialen Diensten, Kinder- und Jugendheilkunde, Gynäkologie und Suchtmedizin. Die Standards in der Betreuung suchtkranker Schwangerer zeigt Abbildung 3.

    Abbildung 3: Standards in der Betreuung suchtgefährdeter und suchtkranker schwangerer Frauen, modifiziert nach Nagel & Siedentopf 2017; Landgraf & Hoff 2018
    Geburt und frühe Kindheit

    Im Gegensatz zu der vor- und nachgeburtlichen Phase werden in der Geburtsklinik in einem begrenzten Zeitraum (ein bis drei Tage) nahezu alle entbindenden Frauen (98 Prozent) mit ihren Kindern, darunter auch Mütter mit psychosozialen und gesundheitlichen Belastungen, erreicht. Die Mütter sind insbesondere am Tag nach der Entbindung offen für Gespräche. Sie nehmen während der kurzzeitigen stationären Behandlung in der Geburtsklinik Unterstützungsangebote leichter an als später.

    Aufgrund der Häufigkeit von Entzugssymptomen bei Neugeborenen nach mütterlichem Substanzkonsum in der Schwangerschaft (Neugeborenen-Abstinenz-Syndrom, NAS) sollten Geburtshelfer, Neonatolog:innen, medizinisches Pflegepersonal, Hebammen und Kinder- und Jugendärzt:innen mit der Symptomatik vertraut sein. Entwickelt das Neugeborene Entzugssymptome, wird nach der aktuellen AWMF-S3-Leitlinie Kinderschutz (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019) eine Verlegung in eine neonatologische Abteilung empfohlen, die ein strukturiertes Vorgehen zur Erkennung, Überwachung und Behandlung eines NAS vorhält und anwendet. Die Behandlung sollte auch ein strukturiertes Besuchs- und Interaktionsprotokoll und ein multiprofessionelles Vorgehen, einschließlich einer Fallkonferenz mit den Eltern und den unterstützenden Helfersystemen, beinhalten, um möglichst bereits vor der Entlassung erforderliche Unterstützungsmaßnahmen einleiten zu können. Optimalerweise sollte die stationäre Versorgung in enger Kooperation mit der klinikinternen Kinderschutzgruppe erfolgen.

    Vorrangige Ziele sind die Förderung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung, die Gewährleistung einer zuverlässigen und stabilen sozialen Umwelt, die Vermeidung traumatisierender familiärer Beziehungsmuster und die Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Situation. Für die Kinder sollten routinemäßig folgende Leistungen durchgeführt werden:

    • eine engmaschige Entwicklungsbeobachtung – oft auch über die regelhaften Vorsorgeuntersuchungen hinaus,
    • die Initiierung von erforderlichen therapeutischen, sozial- und heilpädagogischen oder rehabilitativen Maßnahmen und
    • eine kontinuierliche Betreuung bis ins Adoleszenten-Alter. Dies ist zum Beispiel durch die Anbindung an ein Sozialpädiatrisches Zentrum möglich.
    Vorschulkinder (3–6 Jahre)

    Nur ein prozentual sehr kleiner Anteil der betroffenen Kinder findet den Weg in spezielle präventive Angebote, von denen allerdings bundesweit (noch) viel zu wenige existieren. Ein sehr viel größerer Teil der Kinder – insbesondere bei mangelnder oder fehlender Krankheitseinsicht der Eltern – ist ausschließlich in den Settings zu erreichen, in denen sich Kinder und Jugendliche sowieso aufhalten: in Kindertagesstätten, Schulen und Horteinrichtungen sowie in ärztlichen oder therapeutischen Praxen oder in Kliniken. Damit die dortigen Mitarbeitenden mögliche Anzeichen einer familiären Suchterkrankung besser erkennen und adäquat darauf reagieren können, sollten entsprechende Inhalte in die pädagogischen, psychologischen und medizinischen Ausbildungen aufgenommen werden. Kinder- und Jugendärzt:innen nehmen in den ersten fünf Lebensjahren eines Kindes eine zentrale Stellung ein. Sie sehen nahezu alle Kinder zu den gesetzlich vorgesehenen Früherkennungsuntersuchungen U2/U3 bis U9 (1. Lebenswoche bis 64. Lebensmonat) und führen bei ihnen regelmäßig Untersuchungen zur Gesundheit und zur kindlichen Entwicklung durch. In Arztpraxen sollten Materialien zum Thema Suchthilfe und Suchtprävention sowie zu psychisch kranken Eltern zur Verfügung stehen. Bei allen Mitarbeitenden sollten Kenntnisse über lokal verfügbare Unterstützungs- und Beratungsangebote sowie die jeweiligen Zugangswege vorhanden sein.

    Auffälligkeiten im kindlichen Verhalten sowie in der Eltern-Kind-Interaktion und relevante soziale Risikofaktoren sollen im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen im Früherkennungsheft sowie in der Patientenakte dokumentiert werden. Das Vorsorgeheft stellt sowohl für die behandelnden Ärzt:innen als auch für Bildungseinrichtungen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst – mit Einverständnis der Eltern – eine wichtige Informationsquelle über den Entwicklungsverlauf des Kindes, stattgehabte schwere Erkrankungen und psychosoziale Risiken dar.

    Der Öffentliche Gesundheitsdienst führt spätestens im sechsten Lebensjahr vor der Einschulung die Schuleingangsuntersuchung durch. In diesem Rahmen sollten alle Kinder eines Jahrgangs gesehen werden. Außerdem finden in vielen Kommunen weitere (freiwillige) Untersuchungen der Kindergartenkinder durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst und kinder- und jugendzahnärztliche Untersuchungen statt.

    Der Besuch von Kindertageseinrichtungen und anderen Bildungsinstitutionen ist ein wichtiger Schutzfaktor für die Entwicklung von Kindern, die mit psychisch oder suchtkranken Eltern aufwachsen. Die Kinder erfahren dort: klare, transparente und konsistente Regeln und Strukturen, wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt und Akzeptanz gegenüber dem Kind), positive Verstärkung der Leistungen und Anstrengungsbereitschaft des Kindes, positive Peerkontakte/Freundschaftsbeziehungen, Förderung von Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung und sozialer Kompetenz, Förderung im Umgang mit Stress und von Problemlösefähigkeiten usw. (Schaich, 2017). Dies bedeutet natürlich auch, dass in ausreichendender Zahl entsprechend ausgebildetes Personal zur Verfügung stehen muss.

    Entwicklungs- oder verhaltensauffällige Kinder im Kindergartenalter bedürfen einer differenzierten fachlichen Diagnostik und Therapie. Hierbei müssen auch bei belasteten familiären Bedingungen mögliche Differentialdiagnosen wie genetisch bedingte Entwicklungsstörungen, umschriebene Entwicklungsstörungen, Störungen aus dem Autismus-Spektrum oder somatische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Somit ist in vielen Fällen die Anbindung an eine interdisziplinäre Frühförderstelle, ein Sozialpädiatrisches Zentrum oder eine Praxis/Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll.

    Schulkinder (6–12 Jahre)

    Durch die psychische und Suchterkrankung der Eltern können bei Schulkindern und Jugendlichen Schulleistungsstörungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten auftreten, wobei die Schwierigkeiten im schulischen Alltag besonders sichtbar werden. Hier ist eine enge Vernetzung von Lehrer:innen, Schulsozialarbeitenden, Schulpsycholog:innen, Kinder- und Jugendärzt:innen und dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst notwendig. Besteht der Verdacht, dass das Kind belastet ist, oder stehen Schulprobleme im Vordergrund, ist eine ausführliche Diagnostik zu empfehlen, z. B. in Schulberatungsstellen/im Schulpsychologischen Dienst, in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen oder Sozialpädiatrischen Zentren. Je nach Diagnose bzw. Ursachen der Problematik können verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten wie Hilfen zur Erziehung, schulische Förderung, Lerntherapien oder psychotherapeutische Interventionen initiiert werden.

    Für Schulkinder kann auch der Besuch einer Gruppe speziell für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern sehr hilfreich sein. Ein Ziel in diesen Gruppen ist es, das Krankheitsverständnis und die Problemlösekompetenz der Kinder im Umgang mit alltäglichen Belastungssituationen zu fördern. Insbesondere der Kontakt mit gleichaltrigen Betroffenen ist für viele Kinder eine wichtige Erfahrung, die ihnen zeigt, in ihrer Situation nicht alleine zu sein (Jungbauer, 2019).

    Adoleszente (ab 12 Jahren)

    Da zu den Hauptrisiken von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern die Entwicklung einer eigenen psychischen oder Abhängigkeitserkrankung gehört, ist eine Hauptanlaufstelle im Gesundheitssystem in diesem Alter die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Circa 50 Prozent der dort behandelten Patient:innen haben psychisch und suchtkranke Eltern. Das Angebot der Kinder- und Jugendpsychiatrie reicht von ambulanten Terminen über eine tagesklinische Diagnostik und Therapie bis zur vollstationären Behandlung, ggf. auch geschlossen bei stark fremd- und eigengefährdendem Verhalten. Beratung und Hilfen für Jugendliche bieten bei Fragen zu Sucht und Abhängigkeitserkrankungen auch Drogenberatungsstellen vor Ort an. In der Regel ist aber eine Behandlung ohne längerfristig angelegte Jugendhilfemaßnahmen mit Hilfen zur Erziehung (z. B. Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft, teil- oder vollstationäre Unterbringung) oder Eingliederungshilfe (z. B. Integrationshilfe, Lerntherapie) nicht ausreichend. Eine enge Vernetzung von Gesundheitssystem, Suchthilfe und Jugendhilfe ist daher unabdingbar.

    Die Peer-Group und die Beziehung zu Gleichaltrigen nehmen einen immer größeren Stellenwert ein. Wünschenswert wäre daher neben der Aufklärung der Lehrer:innen auch die Aufklärung der Jugendlichen durch Akteure des Gesundheitssystems (z. B. im Biologie-Unterricht oder im Rahmen der Jugendsprechstunde) über Auswirkungen psychischer und Suchterkrankungen und Unterstützungsmöglichkeiten mit Bekanntmachung örtlicher und bundesweiter Anlaufstellen.

    Verstärkt sollten für Jugendliche auch digitale Beratungsformate (z. B. anonyme Onlineberatung, Foren, Gruppenchats usw.) genutzt werden, da die Nutzung des Internets ein selbstverständlicher Bestandteil jugendlicher Lebenswelten ist und einen niedrigschwelligen Zugang ermöglicht (Jungbauer, 2019). Diese Angebote und Formate haben sich auch in der Corona-Pandemie als hilfreich erwiesen.

    Vernetzung, Kooperation und Fallverantwortung

    Die psychische und Suchterkrankung eines oder beider Elternteile hat Auswirkungen auf die gesamte Familie. Von daher müssen die Unterstützungs- und Hilfeangebote auch das gesamte Familiensystem in den Blick nehmen. In die adäquate und umfassende familienorientierte und individuelle Versorgung ist eine Vielzahl von Institutionen und Fachkräften mit unterschiedlichen Aufträgen, Herangehensweisen und Möglichkeiten eingebunden. Dazu gehören Einrichtungen des Gesundheitssystems, der Jugendhilfe, der Suchthilfe u.a.m., deren Leistungen in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern verankert sind. Dies beinhaltet u. a. eine unterschiedliche Finanzierung der für die Familie vorgesehenen Leistungen. Betroffen sind neben dem SGB VIII und dem SGB V auch Leistungen aus anderen Sozialgesetzbüchern wie dem SGB II, dem SGB IX oder dem SGB XII. Von daher müssen die Hilfen interprofessionell entwickelt, gesteuert und miteinander abgestimmt umgesetzt werden.

    Bestehende Angebote können nur dann genutzt werden, wenn sie den Familien und Fachkräften bekannt sind. Dieses setzt eine Vernetzung der beteiligten Institutionen und Professionen auch Einzelfall übergreifend voraus. Erforderlich sind Kenntnisse über Aufgaben und Aufträge der einzelnen Anbieter, über Angebotsprofile, Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten, interne Organisationsabläufe und Arbeitsgrundlagen der jeweiligen Institutionen. Dadurch können falsche Erwartungen abgebaut, gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz aufgebaut und eine realistische Basis für Kooperation geschaffen werden. Raum dazu bieten regelmäßige interprofessionelle Arbeitskreise, Netzwerktreffen, Qualitätszirkel oder Runde Tische. Bei diesen kommunikativen Verständigungsprozessen auf Expertenebene dürfen allerdings die Bedürfnisse der Familien nicht aus dem Blick geraten (Lenz, 2020).

    Bei der fallbezogenen Zusammenarbeit sind Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen, Institutionen und Versorgungssektoren beteiligt. Das Fallmanagement beinhaltet Absprachen sowie Regelungen bezüglich der gemeinsamen Verantwortung für die Familie und der eigenen Zuständigkeit für zu übernehmende Aufgaben sowie die Festlegung der Fallverantwortung.

    Zusammenfassung

    Kinder aus psychisch oder suchtbelasteten Familien tragen ein großes Risiko für Entwicklungs- und gesundheitliche Gefährdungen. Sie gelten als Hochrisikogruppe für eine eigene psychische und/oder Suchterkrankung sowie für Misshandlung und Vernachlässigung.

    Präventiver Kinderschutz muss früh einsetzen – idealerweise bereits vor der Schwangerschaft. Belastungen und Gefährdungen bei Kindern und ihren Familien können im Gesundheitssystem erkannt werden, von daher stellt dieses einen wichtigen Zugangsweg dar. Entsprechende Hilfen können anhand der vorhandenen Ressourcen angeboten und vermittelt werden. Notwendig sind frühzeitig zur Verfügung stehende individuell angepasste Hilfen bis hin zu differenzierten Versorgungsangeboten bei hohem Unterstützungsbedarf. Adäquate Hilfen erfordern einen ganzheitlichen Blick auf das gesamte Familiensystem und eine engmaschige Beobachtung der Entwicklung des Kindes. Damit kann wesentlich zu einer Verbesserung der kindlichen Entwicklungsbedingungen, der Lebensqualität der Kinder und zu einer Reduktion späterer körperlicher und psychischer Störungen beigetragen werden.

    Wirksame Prävention, Unterstützung und Schutz der betroffenen Kinder und ihrer psychisch und suchtkranken Eltern sind nur interdisziplinär in Kooperation mit anderen Professionen und Systemen fachlich adäquat und erfolgreich zu bewältigen. Notwendige Voraussetzungen sind entsprechendes Fachwissen, geeignete Screening-Instrumente, systematisches und strukturiertes Vorgehen, verbindliche Absprachen, gemeinsame Verantwortungsübernahme mit einer eindeutig definierten Fallverantwortung sowie eine ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung.

    Interessenkonflikt
    Die Autor:innen erklären, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.

    Kontakt:

    Dr. med. Lieselotte Simon-Stolz
    Kinder- und Jugendärztin
    Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM)
    Leiterin des DGKiM Arbeitskreises Prävention
    E-Mail: info@dgkim.de
    https://www.dgkim.de/

    Angaben zu den Autor:innen:

    Dr. med. Lieselotte Simon-Stolz, Kinder- und Jugendärztin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM), Leiterin des DGKiM Arbeitskreises Prävention
    Dr. med. Hauke Duckwitz, Kinder- und Jugendarzt, Schwerpunkt Neuropädiatrie, Zertifizierter Kinderschutzmediziner (DGKiM), Sana Krankenhaus Gerresheim
    Frauke Schwier, Kinderchirurgin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM), Geschäftsführerin Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin

    Literatur:
  • Substanzkonsum geflüchteter Menschen

    Substanzkonsum geflüchteter Menschen

    Dr. Simone Penka
    Panagiotis Stylianopoulos
    Laura Hertner

    Dass geflüchtete Menschen Suchtmittel konsumieren, ist anzunehmen. Dennoch wissen wir wenig über die Art der konsumierten Substanzen, über Konsummuster oder -motivationen. Insgesamt gibt es international wenig Daten zum Substanzkonsum von geflüchteten Menschen. Studien, wie beispielsweise zusammengefasst in dem systematischen Review von Horyniak et al. (2016) oder Lo et al. (2017), weisen jedoch auf eine erhebliche Heterogenität in den Mustern sowie Prävalenzraten des Suchtmittelkonsums hin.

    Eine bisher häufige Annahme ist, dass geflüchtete Menschen aus Abstinenz-orientierten Herkunftsregionen aufgrund kultureller und religiöser Faktoren weniger Substanzen konsumieren als die europäische Bevölkerung, die u. a. einen sehr liberalen Umgang mit Alkohol pflegt (z. B. Salas-Wright & Schwartz, 2019). Im Kontrast hierzu steht die Annahme, dass eine – durch zahlreiche Studien erwiesene – erhöhte Prävalenz von Traumafolgestörungen bei geflüchteten Menschen auch eine erhöhte Prävalenz von Suchterkrankungen als komorbide psychische Erkrankung bedingt (Horyniak et al., 2016; Vaughn et al., 2015; Weaver & Roberts, 2010; Lindert et al., 2021). Letztere Annahme bildet sich allerdings in der Praxis nicht in der Inanspruchnahme von Einrichtungen der Suchthilfe ab. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass geflüchtete Menschen, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund, aufgrund kultureller, ökonomischer und rechtlicher Gründe als schwer erreichbar für suchtspezifische Versorgungsangebote zu betrachten sind (Penka et al., 2008). Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund deshalb in Einrichtungen der Suchthilfe unterrepräsentiert sind (Kimil, 2016; Rommel & Köppen, 2014; Schwarzkopf et al., 2021). Für geflüchtete Menschen im Spezifischen liegen hierzu bislang keine Daten vor.

    Um Suchthilfeangebote und Prävention für geflüchtete Menschen zu gestalten und bedarfsadäquat auszurichten, scheint vor allem ein tiefgreifendes Verständnis für Konsummotive und Faktoren, die den Substanzkonsum beeinflussen, notwendig. Das Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PREPARE (Prevention and Treatment of Substance Use Disorders in Refugees)* liefert nach drei Jahren Laufzeit hierzu Anknüpfungspunkte. Dieser Artikel präsentiert aus dem Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ gewonnene Erkenntnisse zum Substanzkonsum geflüchteter Menschen und zu einer passgenaueren Versorgung durch das Suchthilfesystem. Die Ergebnisse geben Aufschluss über die von geflüchteten Menschen konsumierten Substanzen, über Konsummuster sowie Substanzkonsum fördernde Faktoren. Darüber hinaus werden 39 Strategien „Guter Praxis“ skizziert, mit deren Hilfe Einrichtungen der Suchthilfe für geflüchtete Menschen zugänglicher werden können und eine gute Versorgung gewährleistet werden kann.

    Wer konsumiert welche Substanzen?

    Im Rahmen von PREPARE wurden zwischen 2019 und 2021 an acht Standorten – Berlin, Bremen, Frankfurt (Main), Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig und München – 108 semistrukturierte Interviews sowie 218 strukturierte Befragungen mit Schlüsselpersonen der lokalen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie weiteren Personen durchgeführt. Die gesammelten Erkenntnisse wurden anschließend in zehn Fokusgruppen diskutiert. Leitfragen der Interviews und Befragungen waren: Wer konsumiert Substanzen in besonders auffälliger Art und Weise? Welche Substanzen werden konsumiert? Welche Probleme treten im Zusammenhang bzw. in Folge von Substanzgebrauch auf? Welche Faktoren beeinflussen den Substanzgebrauch? Die Schlüsselpersonen waren aufgefordert, sich vor allem auf geflüchtete Menschen zu beziehen, die seit 2015 in Deutschland angekommen waren. Im entsprechenden Zeitraum waren in Summe Syrien, Afghanistan und Irak die Hauptherkunftsländer von Menschen, die einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt hatten (bpb, 2022).

    Es zeigte sich deutlich, dass es vor allem geflüchtete junge Männer sind, die in puncto Substanzkonsum auffallen. Dies muss vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass junge Männer gemäß den Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den Jahren 2015 bis 2020 die größte Gruppe unter den Asylantragstellenden in Deutschland ausmachten (bpb, 2022). Über den Substanzkonsum von Frauen wurde vergleichsweise wenig berichtet. Es bleibt unklar, ob und in welchem Ausmaß der Suchtmittelkonsum von geflüchteten Frauen ungesehen bleibt, z. B. aufgrund der konsumierten Substanzen oder der gesellschaftlichen Rollenbilder. Schlüsselpersonen betonen in ihren Berichten häufig, dass der Konsum geflüchteter Frauen landläufig weit unterschätzt wird.

    Interessanterweise zeigen unsere Daten, dass geflüchtete Menschen nicht auf einzelne bestimmte Substanzen zurückgreifen, die ihnen beispielsweise aus den Herkunftsländern vertraut sind, sondern dass die lokale Verfügbarkeit bzw. die Verfügbarkeit innerhalb der eigenen Peergroup die Art der konsumierten Substanz(en) bzw. die Konsummuster bedingt. Somit sind Alkohol und Cannabis den Befragungen zufolge die am häufigsten konsumierten Substanzen. Aber auch Medikamente, Heroin und – v. a. in Leipzig und dem Umland – Amphetamine werden konsumiert.

    Häufig wird die Frage gestellt, ob geflüchtete Menschen bereits in den Herkunftsländern Suchtmittel konsumiert haben und der aktuelle Substanzkonsum eine Kontinuität bereits bestehender Abhängigkeiten darstellt. Viele Fachkräfte konnten hierzu keine Angaben machen. Da viele geflüchtete Menschen sehr jung in Europa ankommen, ist neben der Betrachtung der individuellen Konsumbiografie die Betrachtung der substanz- bzw. konsumbezogenen Normen im Herkunftskontext überaus zentral. Selbst wenn, z. B. aufgrund des jungen Alters, in den Herkunftsländern noch nicht selbst konsumiert wurde, sind die dortigen gesellschaftlichen Haltungen rund um Suchterkrankungen, Substanzkonsum und Suchtmittel prägend. Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Haltungen im hiesigen und dem Herkunftskontext bedingen Konsequenzen, beispielsweise für die individuelle Konsumkompetenz.

    So verdient gerade der Alkoholkonsum geflüchteter Menschen als ein Beispiel dieses Zusammenspiels eine intensivere Betrachtung: Die hohe Verfügbarkeit, Erschwinglichkeit und die ausgeprägte gesellschaftlicher Akzeptanz von Alkohol in Deutschland kann bei Menschen, die in Bezug auf Alkohol in restriktiven Kontexten sozialisiert wurden, den Anschein von Harmlosigkeit erwecken. Extrem riskanter Alkoholkonsum ist die Folge.

    Welche Faktoren fördern den Substanzkonsum geflüchteter Menschen?

    Das mit Abstand am häufigste benannte Konsummotiv geflüchteter Menschen ist Selbstregulierung bei psychischen Belastungen – sich zu betäuben, zu vergessen, sich davon abzulenken, einfach mal abzuschalten. Diese psychischen Belastungen sind häufig bedingt durch migrationsbezogene Faktoren. Auf einige besonders relevante Faktoren, die den Substanzkonsum geflüchteter Menschen fördern, werden wir im Folgenden eingehen.

    Es zeichnet sich in unseren Daten deutlich ab, dass ein Leben in Deutschland ohne Familie, Partner:in und/oder Kinder konsumfördernd wirkt. Dabei ist ein zweiteiliger Mechanismus zu beobachten: Erstens stellen die Einsamkeit und das Vermissen der zurückgelassenen geliebten Menschen sowie die Sorge um deren (Über)Leben eine besondere psychische Belastung dar, die durch Substanzkonsum vermeintlich aushaltbarer wird. Zweitens bietet das Fehlen „sozialer Kontrolle“, von Struktur und Verantwortung innerhalb von Familienverbünden ein Einfallstor dafür, Verhaltensweisen, die im Herkunftsland nicht zu rechtfertigen gewesen wären, auszuprobieren bzw. im schlimmsten Fall die Kontrolle darüber zu verlieren. Gerade bei geflüchteten Frauen scheint sich dieser Effekt stark auf die Art der konsumierten Substanz und die Maßlosigkeit des Konsums auszuwirken: Frauen mit Kindern konsumieren den befragten Schlüsselpersonen zufolge in der Regel ausschließlich und oftmals unauffällig Medikamente, wohingegen Frauen (inklusive Transfrauen) ohne Familien bzw. Kinder durch exzessiven Alkohol-, Cannabis- und Kokainkonsum auffallen.

    Ähnlich wie bei anderen Personengruppen bietet Substanzkonsum auch geflüchteten Menschen eine Möglichkeit, sich mit einer sozialen Gruppe zu identifizieren und ein Gefühl erlebter Zugehörigkeit zu schaffen. Den Berichten der Schlüsselpersonen zufolge scheint bei geflüchteten Menschen dieser Aspekt von besonderer Relevanz zu sein, da zum einen soziale Beziehungen durch die Fluchtmigration erschüttert werden, zum anderen das Leben in Deutschland allzu häufig ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit, des sozialen Ausschlusses und diskriminierender Erfahrungen mit sich bringt. Somit ist es wenig überraschend, dass sich beispielsweise geflüchtete Jugendliche den alterstypischen Konsummustern anschließen und Alkohol und Cannabis konsumieren.

    Auch die Wohnsituation bzw. das sozial-räumliche Wohnumfeld geflüchteter Menschen scheint ein Suchmittelkonsum fördernder Faktor zu sein. Neben allseits bekannten Stressoren des Lebens in Gemeinschaftsunterkünften – in erster Linie wenig Privatsphäre sowie Autonomie –, die vermeintlich über Substanzkonsum reguliert werden können, ist von einer hohen Verfügbarkeit von Suchtmitteln innerhalb dieser Unterkünfte auszugehen. Vielfach wurde von befragten Schlüsselpersonen berichtet, dass gerade unter Mitbewohner:innen Konsumempfehlungen im Sinne von Erfahrungsberichten ausgesprochen werden: „Du bist ja so traurig, du hast ja so Stress. Komm rauch mal!“ (Originalzitat)

    Weitere zentrale Faktoren, die sich fördernd auf den Substanzkonsum auswirken, scheinen fehlende Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu sein. Für viele bedeutet die Ankunft in Deutschland weniger ein Ankommen als ein Warten, ein Bangen um den Aufenthaltsstatus und letztlich oftmals eine erlebte Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Die hieraus resultierende induzierte psychische Belastung, Überforderung und Enttäuschung über die Situation in Deutschland scheinen maßgeblich Substanzkonsum zu fördern.

    In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Perspektiven und Möglichkeiten geflüchteter Menschen in Deutschland je nach Herkunftsland unterscheiden. Der Effekt von herkunftsabhängigen Perspektiven in Deutschland führt scheinbar zu einem schädlicheren Konsum von Suchtmitteln in manchen Subgruppen im Vergleich zu anderen. Eine mangelnde Arbeitserlaubnis bzw. etwaige Barrieren des Arbeitsmarktes resultieren in nur wenigen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Beschäftigung. Mögliche Folgen sind Langeweile und – da Substanzkonsum u. a. das Erleben von Zeit verändert – in der Konsequenz der Konsum von Suchtmitteln. Hierzu ein zusammenfassendes Zitat: „Also die wissen, das [Substanzkonsum] ist dreckig, aber dreckiger als die Situation, in der sie sich befinden, ist das gar nicht.

    Strategien „Guter Praxis“ zum Erreichen und Versorgen geflüchteter Menschen

    Im Rahmen unserer Erhebungen wurde deutlich, dass Einrichtungen der Suchthilfe selten, und insbesondere in ländlichen Regionen kaum Kontakt zu geflüchteten Menschen haben. Mitarbeitende von Suchthilfeeinrichtungen lehnten Interviewanfragen sehr häufig ab, da sie über zu wenig Kontakt und Wissen zu der Zielgruppe verfügten. In der Folge gab der Großteil der interviewten Schlüsselpersonen an, im Bereich der Geflüchtetenhilfe zu arbeiten. Diese berichteten von gescheiterten Bemühungen, Konsument:innen in die lokalen Suchthilfeeinrichtungen zu vermitteln. Hierbei wurden Barrieren benannt, die aus der Literatur über Zugangsbarrieren in Bezug auf verschiedene psychosoziale, psychotherapeutische und psychiatrische Einrichtungen bereits bekannt sind, wie beispielsweise Sprachbarrieren oder die Angst vor Stigmatisierung (z. B. Byrow et al., 2020; Straßmayr et al., 2012). Beim Konsums illegalisierter Substanzen kommen Ängste vor rechtlichen und im schlimmsten Fall aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen hinzu (Greene et al., 2021). Um die suchtspezifische Versorgungssituation von geflüchteten Menschen systematisch zu verbessern, wurden im Rahmen der Studie Lösungsansätze identifiziert. Ein Delphi-Prozess mit 22 Expert:innen resultierte in 39 Strategien „Guter Praxis“. Eine Handreichung, die alle Strategien umfasst, aufgeteilt auf neun Themenfelder, steht online zur Verfügung (Hertner, Panagiotis & Penka, 2022).

    Die Handreichung enthält Strategien, die auf die benannten strukturellen Aspekte und migrationsbezogenen Stressoren sowie auf Rechte zur Inanspruchnahme verschiedener Gesundheitsdienste Bezug nehmen (z. B. Reduktion strukturell suchtfördernder bzw. aufrechterhaltender Faktoren). Daneben werden einige grundlegende Ansprüche an das Versorgungssystem der Suchthilfe adressiert, wie z. B. die Gewährleistung einer Beständigkeit von Angeboten vor allem durch dauerhafte Finanzierung. Diese Strategien sind im Sinne der strukturorientierten Verhältnisprävention zwar wichtig, liegen aber außerhalb des direkten Einflussbereiches der Einrichtungen. Politische Schritte hierfür sind gefragt. 33 der 39 Strategien bieten hingegen konkrete Anknüpfungspunkte für Einrichtungen der Suchthilfe. Exemplarisch werden einige Strategien an dieser Stelle angeführt.

    Eine Vielzahl an Strategien fokussiert auf Ansätze zur Überwindung von Sprachbarrieren. Die hohe Sprachenvielfalt unter geflüchteten Menschen lässt sich nicht über muttersprachliches Personal alleine abdecken. Daher bietet sich der Einsatz von Sprachmittler:innen an. Damit die Versorgung mit Sprachmittler:innen gelingt, sollten folgende Faktoren erfüllt sein:

    a) Gewährleistung der Finanzierung, z. B. durch Berücksichtigung etwaiger Kosten in Förderungsanträgen und Budgets,
    b) niedrigschwellige und schnelle Verfügbarkeit, z. B. auch durch sprachmittelnde Telefon- oder Videodienstleistende, sowie
    c) Professionalität, die gerade im Suchtbereich gewährleistet, dass korrekt und ohne persönliche Wertung übersetzt wird.

    Leicht umzusetzen ist die mehrsprachige Übersetzung von schriftlichen Dokumenten in den Einrichtungen, z. B. Datenschutzerklärungen, Behandlungsvereinbarungen.

    Als Grundvoraussetzung für eine bedarfsadäquate Versorgung geflüchteter Menschen zeichnet sich in den Strategien das gemeinsame Handeln von Sucht- und Geflüchtetenhilfe ab. Es finden sich in der Handreichung einige Strategien „Guter Praxis“ zur zielgerichteten Netzwerkarbeit dieser beiden Arbeitsbereiche.

    Darüber hinaus ist auch ein Wissensaustausch zwischen den beiden Bereichen zu implementieren. Einerseits gilt es, Akteure der Geflüchtetenhilfe für Suchtthemen zu sensibilisieren, Unsicherheiten im Umgang mit Substanzen und Sucht abzubauen und eine eigene reflektierte Haltung gegenüber Konsum und Konsumierenden zu entwickeln. Dadurch können Mitarbeitende der Geflüchtetenhilfe frühzeitig problematischen Suchtmittelkonsum erkennen und mit dem Wissen über verfügbare Angebote der Suchthilfe dorthin vermitteln. Vice versa sollten auch Fachkräfte der Suchthilfe zur Lebenssituation geflüchteter Menschen und deren sozio-politischen Rahmenbedingungen informiert und regelmäßig geschult werden, z. B. in Bezug auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Aspekte, Familiennachzug, Regelungen zu Kostenübernahmen und Zuständigkeiten von Kostenträgern. Keinesfalls geht es dabei darum, dass Fachkräfte die Aufgaben des jeweils anderen Arbeitsbereichs übernehmen sollen, sondern lediglich um eine Sensibilisierung für eine spezielle Lebenssituation und die Kenntnis von adäquaten Unterstützungsangeboten. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde mehr als deutlich, dass der Grad der Vernetzung zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe ausschlaggebend ist für die Versorgungssituation geflüchteter Menschen vor Ort.

    Neben der sprachlichen Verständigung und der Netzwerkarbeit kommt auch der Haltung von Suchthilfe-Mitarbeitenden eine große Bedeutung zu. Ideal ist eine transkulturelle Kompetenz im Sinne von diskriminierungsfreier Haltung und Selbstreflexion im Umgang mit geflüchteten Klient:innen. Wichtig ist es, geflüchteten Menschen mit einer offenen, neugierigen und fragenden Haltung auf Augenhöhe, anstatt mit Vorurteilen und Wertung, zu begegnen.

    Darüber hinaus sollten geflüchtete Menschen für Themen rund um Substanzkonsum und Suchterkrankungen sensibilisiert und über die ausdifferenzierten Unterstützungsangebote in ihrer Region informiert werden. Die Strategien „Guter Praxis“ schlagen diesbezüglich vor, Präventions- und Aufklärungsangebote an Orten durchzuführen, an denen sich geflüchtete Menschen aufhalten. Damit sind nicht nur interaktive, mehrsprachige Infoveranstaltungen in Gemeinschaftsunterkünften gemeint, sondern auch das Einbringen von Themen rund um Substanzen und Suchterkrankungen in z. B. Deutsch- und Integrationskursen, Selbsthilfegruppen oder sozialen Medien. Zum Informieren und Aufklären über Substanzen und deren Risiken liegen bereits viele Materialien in diversen Sprachen vor, die hierfür genutzt werden können (z. B. von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen).

    Beispielhaft haben wir einige Einrichtungen der Suchthilfe zusammengestellt, die verschiedene Strategien „Guter Praxis“ bereits umsetzen und geflüchtete Menschen gut erreichen und versorgen. Die Kollektion der Projektsteckbriefe, die als Inspiration für andere Einrichtungen dienen kann, kann hier heruntergeladen werden.

    Ausblick

    Die dargestellten Ergebnisse unseres Teilprojektes des PREPARE-Forschungsverbundes zeigen deutlich, dass bisherige Ansätze der Suchtprävention, die im Sinne einer Verhaltensprävention auf Individuen, deren Wissen rund um die Themen Konsum und Sucht sowie auf Versorgungsstrukturen der Suchhilfe fokussieren, unzulänglich sind. Eine Erweiterung um Ansätze strukturorientierter Verhältnisprävention ist wichtig, um den Einfluss von Faktoren, die die Vulnerabilität strukturell erhöhen, einzudämmen. Dabei sind insbesondere die Themenfelder Unterbringung, Ungewissheit über Bleibeperspektiven, Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit sowie Nutzungsrechte von Gesundheitsdiensten von Relevanz.

    Zudem zeigen die Ergebnisse, dass Angebote der Suchthilfe vielerorts nicht genügend auf die speziellen Bedürfnisse geflüchteter Menschen (z. B. Sprachmittlung, Niedrigschwelligkeit) zugeschnitten sind und geflüchtete Konsument:innen häufig nicht in Einrichtungen der Suchthilfe ankommen bzw. dort nicht dauerhaft angebunden werden. Oftmals sind die Mitarbeitenden der Unterkünfte somit die einzigen Fachkräfte, zu denen längerfristiger Kontakt besteht.

    Das Thema Substanzkonsum unter geflüchteten Menschen sollte bundesweit Berücksichtigung finden. Unter anderem deshalb bewerten wir es als vorbildlich, wie im Rahmen aktueller Fluchtbewegungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine für bestimmte Personenkreise von aus der Ukraine geflüchteten Menschen unbürokratisch aufenthaltsrechtliche und auch arbeitsrechtliche Ausnahmeregelungen geschaffen wurden (vgl. BAMF, 2022). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Rahmenbedingungen auch auf die psychische Gesundheit positiv auswirken und damit eine Anfälligkeit für problematischen Substanzkonsum geringer ausfallen könnte als bei geflüchteten Menschen aus anderen Herkunftsländern wie beispielsweise Afghanistan, Irak oder auch Syrien.

    Ebenfalls zeigt das dynamische Migrationsgeschehen, wie wichtig es ist, bestehende Angebote der Suchthilfe für alle Menschen zu öffnen. Insbesondere der Einsatz von Sprachmittler:innen ermöglicht es, flexibel mit Menschen unterschiedlichster Sprachkompetenzen umzugehen. Auch der Ansatz von transkultureller Kompetenz als selbstreflexive und fragende Haltung trägt zu einer Offenheit für alle zugewanderten Menschen bei – mehr als das Erlernen vermeintlichen Wissens über Herkunftsregionen und deren „Kultur“ (Steinhäuser et al., 2021).

    Darüber hinaus sind Vernetzungen zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie ein stetiger Wissensaustausch zwischen diesen Arbeitsbereichen unabdingbar, um für geflüchtete Konsument:innen einen Zugang zu Hilfen und eine bedarfsadäquate Versorgung zu gewährleisten. Die Strategien „Guter Praxis“ sowie die Kollektion „Praxisbeispiele“ bieten Fachkräften der Suchthilfe sowie Einrichtungsleitungen Inspiration, wie eine gute Vernetzung und interdisziplinäres Arbeiten mit dieser Zielgruppe gut gelingen können.

     *) Der Forschungsverbund PREPARE besteht insgesamt aus vier Teilprojekten. So wurde in einem Teilprojekt eine App (BePrepared) entwickelt, die im Rahmen einer Kurzintervention problematischen Alkohol- und Cannabiskonsum reduzieren soll. Ein anderes Teilprojekt bietet an verschiedenen Standorten auch derzeit weiterlaufend Affektregulations-Trainings in Gruppen für geflüchtete Menschen mit riskantem Suchtmittelkonsum oder einer Suchterkrankung an. Weitere Informationen:

    https://www.sucht-und-flucht.de/forschung/prepare-forschungsverbund

    https://www.mentalhealth4refugees.de/de/prepare

    Kontakt:

    Laura Hertner
    AG transkulturelle Psychiatrie, Charité Universitätsmedizin Berlin
    laura.hertner(at)charite.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Laura Hertner ist Psychologin und promoviert an der Charité – Universitätsmedizin Berlin zum Thema Substanzkonsum geflüchteter Menschen.
    Panagiotis Stylianopoulos befindet sich in der Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten und promoviert ebenfalls an der Charité.
    Dr. Simone Penka leitet als Ethnologin und Erziehungswissenschaftlerin in Berlin TransVer –Ressourcen-Netzwerk zur interkulturellen Öffnung (www.transver-berlin.de).

    Literatur:
    • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2022). FAQ zur Einreise aus der Ukraine und dem Aufenthalt in Deutschland. Verfügbar unter https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/ResettlementRelocation/InformationenEinreiseUkraine/_documents/ukraine-faq-de.html
    • Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2022). Demografie von Asylsuchenden in Deutschland. Verfügbar unter https://www.bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl/265710/demografie-von-asylsuchenden-in-deutschland/
    • Byrow, Y., Pajak, R., Specker, P. & Nickerson, A. (2020). Perceptions of mental health and perceived barriers to mental health help-seeking amongst refugees: A systematic review. Clinical Psychology Review, 75, 101812.
    • Greene, M.C., Haddad, S., Busse, A., Ezard, N., Ventevogel, P., Demis, L., et al. (2021). Priorities for addressing substance use disorder in humanitarian settings. Conflict and Health, 15(1), 1-10.
    • Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Kollektion „Praxisbeispiele“ der Versorgung geflüchteter Menschen in der Suchthilfe. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
    • Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Handreichung Strategien „guter Praxis“ in der Suchthilfe – Erreichen und Versorgen Geflüchteter Menschen. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
    • Horyniak, D., Melo, J. S., Farrell, R. M., Ojeda, V. D. & Strathdee, S. A. (2016). Epidemiology of substance use among forced migrants: a global systematic review. PLoS one, 11(7), e0159134.
    • Kimil, A. (2016). Sucht und Migration – Ausgangslage, Herausforderungen und Anregungen für die Suchthilfe in Deutschland. Suchthilfe in kultureller Vielfalt (Vol. Infodienst 01/16, pp. 7–11). Berlin: Fachverband der Diakonie Deutschland.
    • Lindert, J., Neuendorf, U., Natan, M. & Schäfer, I. (2021). Escaping the past and living in the present: a qualitative exploration of substance use among Syrian male refugees in Germany. Conflict and Health, 15, 1-11.
    • Lo, J., Patel, P., Shultz, J.M., Ezard, N. & Roberts, B. (2017). A systematic review on harmful alcohol use among civilian populations affected by armed conflict in low- and middle-income countries. Substance Use and Misuse, 52(11), 1494–510.
    • Penka, S. et al. (2008) Explanatory models of addictive behaviour among native German, Russian-German and Turkish youth. European Psychiatry, 23 Suppl 1,36-42
    • Rommel, A. & Köppen, J. (2014). Migration und Suchthilfe – Inanspruchnahme von Leistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund. Psychiatrische Praxis, Epub Oct 27.
    • Salas-Wright, C.P. & Schwartz, S.J. (2019). The study and prevention of alcohol and other drug misuse among migrants: Toward a transnational theory of cultural stress. International Journal of Mental Health and Addiction, 17(2), 346–69.
    • Schwarzkopf, L., Künzel, J., Murawski, M. & Specht, S. (2021). Suchthilfe in Deutschland 2020. Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS). München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Steinhäuser, T., von Agris, A. S., Büssemeier, C., Schödwell, S., & Auckenthaler, A. (2021). Transkulturelle Kompetenz: Spezialkompetenz oder psychotherapeutische Kernkompetenz? Psychotherapeut, 66(1), 46-53.
    • Straßmayr, C. et al. (2012). Mental health care for irregular migrants in Europe: Barriers and how they are overcome. BMC Public Health, 12, 367.
    • Vaughn, M., Salas-Wright, C., Qian, Z., & Wang, J. (2015). Evidence of a ‘refugee paradox’ for antisocial behavior and violence in the United States. The Journal of Forensic Psychiatry and Psychology, pp. 624-631.
    • Weaver, H. & Roberts, B. (2010). Drinking and displacement: A systematic review of the influence of forced displacement on harmful alcohol use. Substance Use Misuse, 45, 2340-55.
  • Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Frauke Gebhardt

    Schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche leben mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil unter einem Dach, 40.000 bis 60.000 Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem illegale Drogen konsumiert werden. Und bis zu 150.000 Kinder haben Väter oder Mütter, die glücksspielsüchtig sind.

    Was bedeutet ein Leben im Schatten der elterlichen Sucht für den Alltag der Kinder? Er ist gekennzeichnet von ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an emotionaler Zuwendung und Geborgenheit. Häufig erfahren diese Kinder auch Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch. Die gravierenden Belastungen in der Kindheit haben vielfach lebenslange negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen sowie auf die schulische Bildung und somit auch auf berufliche Erfolge. Überdies sind Kinder suchtkranker Eltern die größte bekannte Risikogruppe für eine eigene Suchterkrankung und hochanfällig für psychische Erkrankungen und soziale Störungen. Gemessen an der Anzahl der betroffenen Kinder gibt es in Deutschland nur wenig Hilfeangebote. So kommen etwa 15.000 Kinder auf jedes der rund 120 bis 200 existierenden Angebote. Die Hilfelandschaft ist zudem von starken regionalen Unterschieden gekennzeichnet.

    Um die Situation der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien zu verbessern, wurde 2014 ein Prozess angestoßen, woraus 2019 insgesamt 19 Empfehlungen hervorgingen. Nun sind zweieinhalb Jahre vergangen, da stellen sich die Fragen „Wo stehen wir jetzt? Und wo wollen und müssen wir noch hin?“

    Einige der Empfehlungen wurden bereits umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung wurde begonnen. Aber es fehlen an verschiedenen Stellen noch konkrete Aufträge, um notwendige rechtliche Anpassungen sowohl auf Bundesebene als auch in den Bundesländern durchzusetzen, die Vernetzung voranzutreiben und in der Praxis anwendbare Finanzierungswege zu finden. Ebenso offen ist die Ausgestaltung der bereits umgesetzten Empfehlungen, denn erst in der Anwendung wird sich zeigen, ob die Hilfen wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Der Weg vom Antrag zum Auftrag

    Die Einsetzung der „Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ (KpkE) war ein Meilenstein. Wie kam es dazu?

    2014 schlossen sich 19 Fachverbände zusammen und stellten beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Bundesministerium für Gesundheit einen Antrag auf die Einrichtung einer Sachverständigenkommission zum Thema „Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern“. Diesem Antrag folgten zahlreiche Gespräche mit Politikern und Anhörungen in verschiedenen Ausschüssen, bis schließlich im Juni 2017 mit der einstimmigen Verabschiedung eines interfraktionellen Entschließungsantrages der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN das erste große Ziel erreicht wurde.

    In dem Antrag forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzurichten, welche einvernehmlich Vorschläge erarbeiten sollte, um die Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist, zu verbessern. Es sollten Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie rechtliche Rahmenbedingungen geklärt und Handlungsbedarfe zu den vorgegebenen Untersuchungsschwerpunkten identifiziert werden. Weiterhin wurden Aufklärungsmaßnahmen für die Bevölkerung, betroffene Kinder und Familien sowie Fachleute wie Ärzt:innen, Lehrer:innen und weitere Schnittstellenakteur:innen beschlossen. Zudem wurde festgelegt, dass das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Professionen, die an der Versorgung von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern beteiligt sind, verankert werden soll.

    Im März 2018 tagte die Arbeitsgruppe unter Federführung des Familienministeriums mit Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung sowie 29 Verbänden, Fachgesellschaften und Interessensvereinigungen, sieben Wissenschaftler:innen und zwei Moderatoren zum ersten Mal. Nach vier weiteren Sitzungen, drei Fachgesprächen sowie drei umfangreichen Expertisen (Recht, Forschung und Gute Praxis), in denen die Ist-Situation erfasst wurde, konnten dem Deutschen Bundestag im Dezember 2019 insgesamt 19 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien vorgelegt werden.

    Sieben Empfehlungen (Empfehlung 1 bis 6 und 19) zielen auf eine Verbesserung in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Weitere sieben Empfehlungen (Empfehlung 7 bis 12) beziehen sich auf die Verbesserung der präventiven Leistungen für Kinder und Jugendliche in Hinblick auf die Umsetzung des Präventionsgesetzes. Die verbleibenden sechs Empfehlungen dienen der verbesserten Zusammenarbeit und stärkeren Verzahnung der Hilfen an den Schnittstellen Suchthilfe, Jugendhilfe und Gesundheitswesen (Empfehlung 13 bis 18).

    Nach der Abschlussveranstaltung im März 2020 hofften die Expert:innen, durchstarten zu können, doch dann kam die Corona-Pandemie und verschärfte sowohl die Lage der Kinder und Jugendlichen als auch die Situation der Hilfeangebote, bremste den frischen Schwung aus und lenkte den politischen Fokus auf andere Themen.

    Von den Empfehlungen zur Umsetzung – Wo stehen wir heute?

    Die 19 Empfehlungen lassen sich vier inhaltlich sehr weit reichenden Kernthesen unterordnen, welche die Ziele zusammenfassen, die zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien erreicht werden müssen:

    • Kernthese I
      Die Leistungen sind sowohl individuell als auch am Bedarf der Familie ausgerichtet flächendeckend auf- und auszubauen und für die betroffenen Kinder über alle Altersgruppen hinweg und ihre Eltern zugänglich zu machen.
    • Kernthese II
      Präventive Leistungen sollten für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen sowie für deren Familien zugänglich sein.
    • Kernthese III
      Um komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden, müssen die bestehenden Hilfs- und Unterstützungsangebote besser ineinandergreifen.
    • Kernthese IV
      In den örtlichen und regionalen Netzwerken müssen Lotsen die Zugänge zu (weiteren) Hilfen und jeweils bedarfsgerechten Unterstützungsmaßnahmen an den Schnittstellen unterschiedlicher Leistungssysteme erleichtern.

    Trotz der neuen Herausforderungen und Einschränkungen, welche die Pandemie mit sich brachte, blieb das Engagement vieler Akteur:innen, die sich für das Wohl der Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien einsetzen, weiterhin groß. Deshalb konnten Empfehlungen teilweise schon umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung konnte begonnen werden.

    Kernthese I

    Im Rahmen der Kernthese I wird unter anderem empfohlen eine flexible, kontinuierliche und bedarfsgerechte Alltagsunterstützung als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe mit einem einklagbaren Rechtsanspruch einzuführen (Empfehlung 1). Der ursprünglich als § 28a SGB VIII vorgeschlagene Gesetzestext wurde im Rahmen der Novellierung des SGB VIII an den § 20 SGB VIII angedockt und stärkt nun den Anspruch der Eltern auf Unterstützung bei der Betreuung des im Haushalt lebenden Kindes. Die fachliche Feststellung von Bedarf und Eignung der Hilfe kann durch die Beratungsstelle erfolgen. Weil nun kein Antrag beim Jugendamt mehr gestellt werden muss, ist der Zugang zum Beratungsangebot deutlich leichter möglich.

    Außerdem empfehlen die Expert:innen der Arbeitsgruppe, die Möglichkeit der Kombination mehrerer Hilfen auszubauen, um das bessere Ineinandergreifen voranzutreiben (Empfehlung 1), einen unmittelbaren und flexiblen Zugang zu Angeboten zu gestalten (Empfehlung 2) sowie die Bedarfsgerechtigkeit und die Qualität von Hilfeangeboten mit niedrigschwelligen Hilfezugängen durch entsprechende Maßnahmen zu sichern (Empfehlung 4). Diese Empfehlungen wurden ebenfalls im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) berücksichtigt. Allerdings gibt es noch viele offene Fragen zur Umsetzung, der Finanzierung und der Gestaltung des Übergangs. Eine ausführliche Stellungnahme zu Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen des § 20 SGB VIII für die Erziehungsberatung wurde im Mai 2022 von der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung Bayern e.V. veröffentlicht.

    Die Empfehlung 3 legt die Sicherstellung flexiblerer Hilfen nahe, die an dem Bedarf der Familie im Einzelfall ausgerichtet sind. In der Hilfeart wird noch häufig das vorherrschende Bild der „Einversorger-Familie“ zugrunde gelegt. Das muss aufgebrochen und an die Lebensverhältnisse der Familien angepasst werden. Wünschenswert wäre, dass hier die Flexibilität weitergedacht wird – nicht nur bezogen auf die Familienverhältnisse, sondern auch auf die Erkrankungen.

    Weiterhin sieht die Arbeitsgemeinschaft großen Handlungsbedarf beim Anspruch auf Beratung von Kindern und Jugendlichen ohne Kenntnis ihrer Eltern (Empfehlung 5). Dies ist besonders relevant, wenn Eltern ihre Krankheit nicht einsehen oder sie noch nicht bereit sind, Unterstützung für ihre Kinder anzunehmen. Bisher hatten Kinder und Jugendliche in diesen Fällen zwar das Recht auf Beratung, allerdings nur, wenn eine Not- und Konfliktlage vorlag, welche in einem ersten Beratungskontext nicht unbedingt offensichtlich ist. Mit dem neuen SGB VIII ist 2021 zumindest die gesetzliche Grundlage geschaffen worden, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Not- und Konfliktlage und ohne das Wissen und die Einwilligung der Eltern beraten werden dürfen. Dass dann tatsächlich Kinder den Zugang in die Beratungsstelle finden und wie niedrigschwellig dieser sein kann, sind Herausforderungen für die Praxis.

    In Empfehlung 6 werden der „Ausbau und die Förderung einer bundesweit öffentlichkeitswirksam präsentierten, wissenschaftlich evaluierten und umfassend barrierefreien Online-Plattform“ für Kinder und Jugendliche gefordert. Diese soll die Suche nach wohnortnahen Hilfen durch eine Postleitzahlenrecherche vereinfachen.

    Es gibt bereits zwei erfahrene Anbieter, die Schritte zu einer Umsetzung der Empfehlung 6 gegangen sind. Sowohl KidKit, das Hilfesystem der Kölner Drogenhilfe (www.kidkit.de), als auch NACOA Deutschland e.V. (www.nacoa.de) halten seit 2003 bzw. seit 2014 Online-Plattformen vor, auf denen sich Betroffene anonym Rat suchen können. KidKit richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen zwischen zehn und 21 Jahren und bietet Hilfe zu den Themen Sucht, (sexualisierte) Gewalt und psychische Erkrankungen in der Familie. Bei NACOA Deutschland e.V. liegt der Schwerpunkt auf der Online- und Telefonberatung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsenen, Angehörige und Fachkräfte zu den Themen Sucht und Traumatisierung in der Familie. Mittels Recherche über Postleitzahlen bzw. digitale Landkarten können sich Betroffene auch eingeständig wohnortnahe Beratung suchen.

    Durch ihre unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte ergänzen sich die beiden Angebote. In einer gemeinsamen Initiative streben KidKit und NACOA Deutschland e.V. an, sich zusammenzuschließen und ihre bereits etablierten Angebote im Verbund ausbauen.

    Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Um die Strukturen für die Kinder, Jugendliche, Familien und Fachkräfte nachhaltig zu verbessern und die Empfehlung 6 vollständig und qualitätsgesichert umzusetzen, ist es essenziell, dass entsprechende Angebote nicht nur projektfinanziert existieren, sondern in eine Regelfinanzierung überführt werden. Gerade niedrigschwellige Hilfen für (hochtraumatisierte) Kinder und Jugendliche aus stark belasteten Familien dürfen nicht nach Abschluss eines Projektzeitraums wegbrechen oder wegzubrechen drohen, sondern müssen dauerhaft verankert werden und somit eine verlässliche Adresse in der Hilfelandschaft sein.

    Für Fachkräfte hat NACOA Deutschland im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Kommunikationsplattform geschaffen, die es ihnen kostenfrei ermöglicht, sich praxisnah über verschiedene Probleme und Herausforderungen auszutauschen, eigene Angebote dazustellen, geplante Veranstaltungen zu bewerben sowie Studien und Fachinformationen abzurufen: https://coakom.de/

    Kernthese II

    Die Empfehlungen unter der Kernthese II beziehen sich auf den Bereich der Prävention. Obwohl auch primärpräventive Angebote von Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie der Suchthilfe und der Gesundheitsförderung einen wesentlichen Beitrag zum gesunden Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien leisten, geht es bei diesen Empfehlungen in erster Linie um die Leistungen der Krankenkassen nach SGB V.

    In der Empfehlung 7 der AG KpkE heißt es, dass die Leistungen der Krankenkassen für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten oder psychisch belasteten Familien an deren spezifischen Bedarfen ausgerichtet werden sollen und dass die Anzahl der entsprechenden Aktivitäten sowie der erreichten Personen gesteigert werden sollen. Aufgrund der Corona-Pandemie lässt sich anhand der verfügbaren Daten aus dem Präventionsbericht 2021 nicht einschätzen, ob die Ziele der Empfehlung erreicht wurden. Jedoch lässt sich an der Anzahl der gestellten Anträge zur Förderung von vulnerablen Zielgruppen im Rahmen des GKV-Bündnisses für Gesundheit ein hoher Bedarf seitens der Kommunen ablesen.

    In Bezug auf das Förderprogramm des GKV-Bündnisses für Gesundheit (ein Zusammenschluss aller Krankenkassen und ihrer Verbände; die Antragsfristen sind mittlerweile abgelaufen) empfahl die Arbeitsgruppe, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und die BZgA gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden darauf hinwirken, dass Kommunen das Förderprogramm auch in Anspruch nehmen (Empfehlung 8). Anfang 2019, also bereits bevor die Empfehlungen veröffentlicht waren, bewarb der GKV-Spitzenverband den Start des Förderprogramms mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen. Aufgrund des komplexen Antragsstellungsprozesses gab es seitens der Nutzer:innen zahlreiche Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Programmorganisation und der Finanzierungslogik. Diese werden in einer externen Evaluation erfasst und fließen in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess ein. Insgesamt erhalten laut GKV-Spitzenverband mittlerweile 25 Kommunen, die den Schwerpunkt ihres Projektes auf die Zielgruppe Kinder und Jugendliche aus psychisch bzw. suchtbelasteten Familien legen, eine Förderung durch das GKV-Bündnis für Gesundheit.

    Parallel dazu soll gemeinsam mit Akteure:innen aus Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe und dem Gesundheitswesen ein Qualitätsentwicklungsprozess auf Bundes- und Landesebene angestoßen werden. Dieser soll auch ermitteln, wie der Zugang zu (Gruppen-)Programmen in den Kommunen erleichtert werden kann (Empfehlung 8). Der Prozess wird gegenwärtig auf Bundesebene angegangen, die Länderebene müsste in einem weiteren Schritt noch folgen. Hierfür wurde bereits mit dem Handlungsrahmen für eine Beteiligung der Krankenkassen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention eine Grundlage geschaffen. Ein Bestandteil des GKV-Handlungsrahmens ist eine Handreichung für die GKV auf Landesebene, in welcher auch die relevanten Handlungsfelder für eine Beteiligung der GKV, einschließlich des in der Empfehlung 8 geforderten Zugangs zu (Gruppen-)Programmen, aufgeführt werden. Wie es in der Praxis tatsächlich flächendeckend gelingt, die bestehenden Projekte aus dem Modus der Projektförderung in den Modus der Regelfinanzierung zu überführen, bleibt jedoch offen. Denn das Bestreben, das Thema Kinder psychisch und suchtbelasteter Eltern in die Präventionsstrategie einzubringen, orientiert sich an den Ergebnissen der Nationalen Präventionskonferenz (NPK), welche erst 2027 finalisiert werden sollen. Bis sich die Strukturen vor Ort ändern und die Hilfe bei den psychisch und suchtbelasteten Familien ankommt, werden wohl noch einige Jahre vergehen.

    Die Träger der nationalen Präventionskonferenz wurden im Rahmen der Empfehlungen aufgerufen, die Zielgruppe Kinder von psychisch und suchtkranken Eltern und deren Familien stärker in den Blick zu nehmen. Das Ziel ist, eine gemeinsame Strategie der Länder, Kommunen, Krankenkassen und Jugendhilfeträger zu Hilfenetzwerken und Gruppenangeboten (Empfehlung 9) zu entwickeln. Im Rahmen des Dialogprozesses brachten Träger und Verbände ihre Positionen und die aus ihrer Sicht erforderlichen Änderungen ein. Ende 2020 beschloss die NPK, die nationale Präventionsstrategie stärker gesamtgesellschaftlich und politikfeldübergreifend auszurichten. Dafür wurden zwei Themen festgelegt, darunter das Thema „Psychische Gesundheit im familiären Kontext“. Eine Gruppe von Verbänden erreichte, dass auch ein Workshop zum Thema Kinder psychisch kranker Eltern durchgeführt werden konnte. Daraus entstand eine Synopse zu Änderungen im SGB V, bezogen auf die psychiatrische Versorgung und Kinder psychisch kranker Eltern, die im Frühjahr 2022 an die Aktion Psychisch Kranke (APK) sowie an Gesundheitspolitiker versendet wurde. Bis heute warten die Verbände gespannt darauf, ob und wie die Änderungsvorschläge angenommen und umgesetzt werden können.

    Die in Empfehlung 10 von der Arbeitsgruppe geforderte Förderung von abgestimmten, koordinierten und vernetzten Vorgehensweisen durch die Sozialversicherungsträger bezieht sich in der Praxis auf die Abstimmungen auf der Landesebene in den Gremien der Landesrahmenvereinbarung. Hier steht die Umsetzung in allen Bundesländern noch am Anfang. Daher wurden auch die Empfehlung 11 „Anpassung und Erweiterung der Landesrahmenvereinbarungen im Sinne der Empfehlung 9“ und die Empfehlung 12 „Weiterentwicklung und Umsetzung der Regelungen und Verfahrensweisen in der Prävention auf Grundlage des Präventionsberichtes“ bisher nicht realisiert.

    Die Empfehlung 13 schlägt eine gesetzliche Klarstellung im SGB V vor, welche die wechselseitige Transparenz zu den Leistungen zwischen GKV und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe sicherstellen soll. Diese gesetzliche Anpassung ist mittlerweile erfolgt, wenngleich sie in der Praxis noch keine große Rolle spielen dürfte.

    Kernthese III

    Die Empfehlungen unter der Kernthese III zielen auf ein besseres Ineinandergreifen der Hilfs- und Unterstützungsangebote, um den komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden. Die in Empfehlung 14 geforderte Überwindung der Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, z. B. durch die stärkere Nutzung der Gesamtplankonferenz, ist bereits im Gesetz verankert. Allerdings ist unklar, inwieweit die Praxis die Bestärkung der bestehenden Gesetze durch die Empfehlungen wahrnimmt. Auch die rechtliche und finanzielle Absicherung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen (Empfehlungen 15 und 16) wurde angegangen, jedoch nicht in dem Umfang, den die Expert:innen der Arbeitsgruppe empfehlen, sondern lediglich in Bezug auf die Finanzierung von niedergelassenen Ärzt:innen, die im Rahmen der Gefährdungseinschätzung des Kindeswohls eingesetzt werden (§ 73 c SGB V). Ein guter erster Schritt in die richtige Richtung, der aber noch Luft nach oben lässt, denn wichtige Grundlagen und nächste Umsetzungsschritte fehlen noch. Bis heute sind daher am individuellen Bedarf orientierte, sozialgesetzbuchübergreifende, familienorientierte Hilfen nicht strukturell verortet und kommen bei den Betroffenen auch nicht an.

    Über die in der Empfehlung 17a geforderten Komplexleistungen wird nach wie vor diskutiert. Das Medizinsystem sieht diese ausschließlich innerhalb des SGB V, die AG KpkE meint in ihren Empfehlungen jedoch SGB-übergreifende Komplexleistungen, die den Fokus der bisher vorwiegend individuenzentrierten Behandlung auf das gesamte Familiensystem erweitern. Für die betroffenen Familien ist es äußert mühsam, die verschiedenen Hilfesysteme zu verstehen und die für sie notwendigen Hilfen eigenständig einzufordern. SGB-übergreifende Komplexleistungen würden dies erleichtern und gleichzeitig die Bindungsqualität, die Erziehungskompetenz und die Resilienz von Kindern und Eltern fördern. Und auch für die Fachkräfte in den unterschiedlichen Bereichen würden SGB-übergreifende Komplexleistungen die interdisziplinäre Zusammenarbeit maßgeblich erleichtern, das Entstehen von interdisziplinären Einrichtungen und Diensten für Eltern und ihre Kinder fördern (Empfehlung 17b) und das Nebeneinander-Existieren der Leistungssysteme verhindern.

    Doch bisher ist noch vieles unklar. Es müssen rechtliche Anpassungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern vorgenommen werden, und es braucht eine Regelung der Fallzuständigkeit sowie eine abgestimmte koordinierte Vermittlung zwischen den Systemen. Am wichtigsten scheint aber momentan die Frage: Wer erteilt den rechtlichen Auftrag zur Flexibilisierung der Unterstützung? Im Koalitionsvertrag ist die Hilfe für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern im Bereich Familie verortet, im Bereich Gesundheit fehlt dadurch ein klarer Auftrag. Für ein solches Vorhaben (Empfehlungen 17a und b) müssen sich allerdings alle Hilfesysteme, in denen sich die Familien bewegen, an einen Tisch setzen.

    Weiterhin empfiehlt die Arbeitsgruppe, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und den Sozialversicherungsträgern einen Handlungsrahmen für ein kommunales Gesamtkonzept zur Entwicklung, Umsetzung, Evaluation und Verstetigung multiprofessioneller, qualitätsgesicherter und rechtskreisübergreifender Hilfesysteme erstellt (Empfehlung 18). Dies wurde kommunal und in einzelnen Bundesländern bereits aufgegriffen, ein bundespolitischer Auftrag fehlt jedoch noch. Nach Kenntnisstand von NACOA Deutschland e.V. gibt es allerdings gerade politische Bestrebungen, die Umsetzung der Empfehlungen 6 und 18 voranzutreiben, was wir sehr begrüßen. Die kommentierte Übersicht „Modelle guter Praxis für kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ sowie die Handreichung „Kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz bilden dafür eine wertvolle Grundlage.

    Kernthese IV

    Die letzte Empfehlung (Nr.19) regt die Klarstellung an, dass Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen umfasst, wenn deren Leistungen erforderlich sind. Die ab 2024 bis 2028 geplanten Verfahrenslotsen (nach § 10b SGB VIII) sind eine Möglichkeit der Umsetzung dieser Empfehlung im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Sie sollen sowohl eine unabhängige Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung der Leistungen der Eingliederungshilfe für Eltern von Kindern mit Behinderung bieten als auch Unterstützung des Jugendamtes bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe. Wie die Umsetzung gelingt und ob die Hilfen auch bei Kindern aus suchtbelasteten Familien ankommen, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.

    Ausblick

    Alles in allem wird deutlich, dass bereits einige der Empfehlungen aufgegriffen bzw. umgesetzt wurden. Dennoch ist noch viel zu tun: Konkrete Aufträge müssen auf bundes- und landespolitischer Ebene ausgesprochen werden, um notwendige rechtliche Anpassungen durchzusetzen und die Vernetzung voranzutreiben. Für die Praxis und gemeinsam mit den Praktiker:innen müssen praktikable Finanzierungswege und zum Teil kreative Umsetzungswege gefunden werden, damit die Hilfen auch wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Um die noch offenen Ziele und Maßnahmen umzusetzen, bedarf es einer stärkeren systematischen, interdisziplinären und politischen Schwerpunktsetzung auf Bundesebene und vor allem einer interministeriellen Begleitung der einzelnen Implementierungsschritte. Deshalb fordert NACOA Deutschland e.V. gemeinsam mit neun anderen Fachverbänden und Organisationen einen abgestimmten Monitoring- und Evaluationsprozess, der system- und rechtsübergreifend sowie unter Berücksichtigung der Länder- und kommunalen Ebene geplant und umgesetzt werden soll. Dabei darf ein klarer Bezug zur Selbsthilfe nicht vergessen werden.

    In Gesprächen mit Politiker:innen, wie z. B. im Rahmen der Podiumsdiskussion zur COA-Aktionswoche 2022, wurde und wird deutlich, dass seitens der Ampel-Koalition weiterhin großes Interesse vorhanden ist, die Situation für suchtbelastete Familien zu verbessern. Durch die Corona-Pandemie, den Cannabis-Legalisierungsprozess, den Ukraine-Krieg und weitere aktuelle Themen, die momentan stark im Vordergrund stehen, ist eine kontinuierlich starke Stimme aus der Fachwelt besonders nötig, um das Thema „Suchtbelastete Familien“ auf der Agenda der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik zu halten und voranzubringen. Eine eindringliche Empfehlung an alle Fachkräfte, Mitarbeitende an Schnittstellen und Betroffene ist daher: Schließen Sie sich in Netzwerken zusammen, betreiben Sie Lobby- und Advocacyarbeit, sprechen Sie mit Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen und werden Sie gemeinsam laut!

    Kontakt:

    Frauke Gebhardt
    NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    gebhardt(at)nacoa.de
    https://nacoa.de/

    Angaben zur Autorin:

    Frauke Gebhardt arbeitet seit August 2020 bei NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V. Dort leitet sie das Projekt „Bundesweite Vernetzung von Akteuren des Hilfesystems für Kinder suchtkranker Eltern“. Mit diesem Projekt soll aufbauend auf die bestehenden Strukturen ein bundesweites digitales Fachkräfte-Netzwerk geschaffen werden. Des Weiteren ist sie zuständig für Advocacy-Arbeit sowie die COA-Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien.

    Literatur: