Digitale Kommunikation ist für die heranwachsende Generation normal. Die Suchtprävention hat hier noch Barrieren zu überwinden. Wie Digitalisierung und Corona-Krise einen Paradigmenwechsel in der Suchtprävention voranbringen könnten, beschreibt dieser Beitrag aus der Fachsicht von blu:prevent, dem Suchtpräventionsangebot des Blauen Kreuzes für Jugendliche.
Wenn wir uns aktuell auf eine Sache verlassen können, dann ist es der Wandel. Und zwar ein Wandel, der mittlerweile exponentielle Züge annimmt. Befeuert wird dieser Prozess durch die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung. Kommunikation und Mediennutzung der Menschen haben sich so stark verändert, dass bereits von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Wirtschaft, Politik, Kirchen, Schulen, Jugendarbeit und natürlich auch die Suchthilfe sind herausgefordert, neue Methoden der Wissensvermittlung zu entwickeln, um Jugendliche in ihrer Kommunikations- und Lebenswelt weiterhin erreichen zu können.
Wir erhalten regelmäßig Anfragen von Fachkräften, Trägern und Landesstellen, die suchtpräventiv mit jungen Menschen arbeiten und nach zeitgemäßen und innovativen Tools suchen. Daher haben wir mit blu:prevent – bereits vor Corona – damit begonnen, neue und unkonventionelle Wege in der Suchtprävention zu gehen, um geeignete digitale Tools für Jugendliche und Multiplikatoren entwickeln zu können.
Welche Chancen und Herausforderungen beinhalten digitale Angebote in der Suchtprävention?
Die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Suchtprävention sind größer, als viele denken. Über digitale Wege wie Social Media, Apps, Podcasts, Plattformen/Websites, YouTube-Clips, Webinare/Online-Schulungen usw. kann plötzlich eine millionenfache Reichweite generiert werden. So kann es kleinen und bisher unbekannten Projekten oder Personen (selbst mit einem kleinen Budget) gelingen, sich aus dem „Nichts“ mit einer cleveren Idee und einem digitalen Konzept erfolgreich zu positionieren und eine wesentliche Rolle auf dem Markt zu spielen.
Durch die Verbreitung und Bewerbung (Social Media-Advertising, Google Ads, TV-Wartezimmer, YouTube-Werbung) unserer Tools konnte blu:prevent in wenigen Jahren über acht Millionen Menschen erreichen. Hinzu kommen die Personen, die über unsere Kooperationspartner:innen und Influencer erreicht wurden, die in TV-Sendungen, großen YouTube-Channels und bekannten Podcasts eingeladen waren (1). Dies sind alles Chancen, die erst durch die Digitalisierung möglich geworden sind und unbedingt genutzt werden sollten. Dies erfordert Agilität und einen gewissen Pioniergeist bei den Behörden, Institutionen und Verbänden/Vereinen. Weitere großartige Chancen bestehen darin, dass digitale Tools viele der bisherigen Barrieren nicht kennen: Entfernungen, mangelnde Mobilität, Hemmschwellen, Berührungsängste, schwer zugängliche Milieus usw. Dies bemerken wir bei unserem anonymen Chat-Angebot in der blu:app, mit dem wir milieu- und ortsübergreifend jungen Menschen in Notlagen professionell zur Seite stehen können. Auch bei einem kürzlich durchgeführten Online-Präventions-Event mit über 300 Jugendlichen konnten wir erleben, wie positiv neue Formate angenommen werden (2).
Neben einer hohen Effizienz, ökonomischen Vorteilen und den hohen Reichweiten gibt es auch Nachteile, die ich aber bewusst „Herausforderungen“ nennen möchte. Hierzu zählt, dass wichtige Elemente des Dialogs und Miteinanders in persönlichen Begegnungen (Gestik, Augenkontakt, Intuition, Übertragungen, Körperkontakt, Emotionalität usw.) durch digitalen Kontakt teilweise nicht zu kompensieren sind. Und: Anonymität kann ein Vor- und Nachteil sein.
Eine weitere Challenge sind die Barrieren, die wir bei vielen Multiplikator:innen, aber auch eigenen Mitarbeitenden, erleben. Dazu gehören technische Barrieren, Barrieren innerhalb der Organisation (Strukturen, Abläufe, Budgets), Barrieren am Markt (Angebot und Nachfrage, keine Akzeptanz am Markt, Konkurrenzangebote, Markt benötigt etwas anderes) und Akzeptanz-Barrieren. Hier bemerken wir vor allem in den Bereichen „Schule“ und „Suchthilfe“, aber auch in Deutschland insgesamt, viele unterschiedliche Hürden.
Daher möchten wir mit blu:prevent mutig vorangehen, Pilot- und Best-Practice- (auch Fail-Practice-) Modelle liefern und Menschen und Institutionen für diesen vielversprechenden Weg gewinnen. Denn: Für die heranwachsende und kommende Generation (Digital Natives) wird es „normal“ sein, auf digitale Hilfsangebote zuzugreifen, und es wird „unnormal“ werden, auf analoge Angebote angewiesen zu sein. Wir erleben immer mehr das Phänomen, dass für viele Jugendliche die klassischen Wege zu den Hilfsangeboten mit Barrieren und Vorbehalten verbunden sind. Daher werden hybride Angebote (digital & analog) oder rein digitale Angebote & Tools zukünftig eine bedeutendere Rolle spielen.
Welche Rolle spielen Influencer:innen in Social Media?
Influencer:innen (Beeinflusser:innen) sind meistens Einzelpersonen, die sich im Social Media-Bereich (YouTube, Instagram, TikTok) eine starke Eigenmarke und einen starken eigenen Channel aufgebaut haben und somit zu einer hohen Reichweite gekommen sind. Viele Influencer:innen leben bereits sehr gut von den Einnahmen, die sie von Sponsoren bzw. Firmen, deren Produkte sie bewerben, erhalten.
Folgende Merkmale werden ihnen von den Usern zugeschrieben: hohes Ansehen, Glaubwürdigkeit, wirken greifbar, geben Orientierung, sind immer da, vertreten Zielgruppe, sind Projektionsfläche für eigene Träume und Vorstellungen. Dadurch üben sie eine hohe Faszination und Überzeugungskraft auf viele Follower aus. Viele Jugendliche suchen die Antworten zu ihren persönlichen Alltagsfragen (Schule, Familie, Pubertät, Stress, Gewalt, Alkohol, Mobbing, Mediennutzung usw.) auf den digitalen Plattformen oder bei „ihren“ Influencer:innen. Das heißt, auch im Bereich Informationsvermittlung, Meinungsbildung, Austausch (Foren) und Hilfestellungen findet ein entsprechender Paradigmenwechsel statt.
Die „Reiseroute“ von der Fragestellung oder dem Problem der jungen Menschen zum Hilfsangebot hat sich radikal verändert. Nicht mehr die Eltern, Lehrkräfte, Jugendleiter:innen oder Pastor:innen sind die ersten Ansprechpartner:innen, sondern die Influencer:innen ihrer Wahl. Nicht mehr die Lebenserfahrung steht im Vordergrund, sondern das Verhalten der Peergroup, das Maß an Attraktivität und der Reichweite der Influencer:innen und das Entertainment. Daher stellt sich hier die große Frage, wie es den Institutionen gelingen kann, eigene Influencer:innen auf den Weg zu bringen oder neue (unkonventionelle) Kooperationsformen mit etablierten Influencer:innenn einzugehen.
Was hat die Corona-Krise aufgedeckt und was können wir aus ihr lernen?
Aus meiner Sicht hat uns die Corona-Krise einerseits aufgezeigt, wie wichtig die etablierten Anlaufstellen für Jugendliche an den Schulen, in der Jugendarbeit, den Sportvereinen, Kirchen und der Suchthilfe sind und wie Jugendliche – besonders in der Krise – vertraute Bezugspersonen brauchen und suchen. Andererseits hat uns die Corona-Krise aber auch schonungslos aufgezeigt, wie labil das eigentlich gut ausgebaute Hilfesystem in Deutschland sein kann, wenn es zu analog, zu wenig hybrid und somit zu einseitig aufgestellt ist.
Wir sehen nun sehr klar, wo Entwicklungsmöglichkeiten im Bildungs- und Suchthilfesystem liegen, aber auch, wie wenig sie bisher genutzt wurden. Corona macht zudem deutlich, wie stark dieses System in sich gefangen ist, dass es oft an Agilität und Risikofreudigkeit fehlt und dass zu viel Bürokratie und zu lange Entscheidungswege Entwicklungen lähmen. Viele notwendige Veränderungsprozesse werden seit Jahrzehnten linear-kausal behandelt, und der notwendige Schritt in die Transformation, in den Zustand des „Sich selbst neu Erfindens“, ist offensichtlich noch nicht bewusst genug geworden. Hier scheinen der Leidensdruck oder die erforderliche Expertise (noch) nicht hoch genug zu sein.
Da hier die Influencer:innen, aber auch die Wirtschaft, um ein Wesentliches agiler agieren, besteht real die Gefahr, dass kommerzielle Plattformen, branchenferne Start-ups oder andere Interessent:innen (und Influencer:innen) wichtige Marktanteile mit ihren Ideen oder Technologien übernehmen (Disruption), und es könnte das Szenario eintreten, dass Google, Facebook, Chatbots (Künstliche Intelligenz) oder Influencer:innen die Aufklärungs- und Beratungstätigkeiten sukzessiv übernehmen. Ob diese Plattformen/Personen die erforderlichen Professionen mitbringen und vernetzt mit dem Suchthilfesystem zusammenarbeiten werden, bleibt fraglich und könnte zu einer enormen Herausforderung bis hin zur Zerreißprobe führen. Noch bietet sich die Chance, gegenzusteuern und auf dem Marktplatz der Player mitzuspielen. Das bedeutet aber, bisherige Denkkategorien, die eigene Komfortzone und festgefahrenen Strukturen zu verlassen und Neuland zu betreten.
In der Corona-Krise hat es aber auch viele Lichtblicke gegeben: Organisationen haben plötzlich gemerkt, wie schnell Veränderungen und Umstellungen – auch unbürokratisch – an manchen Stellen umgesetzt werden können. Und jede:r einzelne von uns wurde persönlich mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob wir die Krise akzeptieren und als Teil der Wirklichkeit annehmen und an ihr wachsen wollen, oder ob wir stetig gegen sie ankämpfen, Kraft verlieren und gleichzeitig viele Chancen der Neuorientierung und des Wachstums auslassen.
Krisen fordern uns oft auf, Dinge/Haltungen/Einstellungen neu zu definieren. Für mich bedeutet das, Traditionen und Werte zu berücksichtigen, bestehende Schätze zu heben und gleichzeitig die Entschlossenheit zur Entwicklung zu zeigen.
Welche Haltung wird in der Zukunft entscheidend sein?
Grundsätzlich wird das Thema „Haltung“ in den nächsten Jahren sehr entscheidend sein! Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Genauso, wie es nicht ausreicht, einfach alle bisher analogen Verfahren zu digitalisieren. Fakt ist, dass die Jugendlichen konsequent ihren eigenen Weg gehen werden und wir entweder mit adäquaten Angeboten am Start sind oder nicht. Die – während der Coronazeit – stark besuchten Chat-Angebote, Foren und E-Mail-Beratungen verschiedener Organisationen bestätigen diesen Trend. Es braucht neue Denkweisen (Mindsets) und eine Transformation in vielen Bereichen, damit wir junge Menschen weiterhin gut und nachhaltig erreichen können. Die Haltung „Wer wagt gewinnt“ sollte unsere zukünftige Projektarbeit prägen. Es bedarf einer neuen Form der Risikobereitschaft, Flexibilität und Kreativität.
Auf Fortbildungen präsentiere ich Thesen, die polarisieren und zum Nachdenken anregen, wie: „Kreativität schlägt Potential!“ oder „Der Rahmen ist wichtiger als der Inhalt!“. Es gilt, „Out of the Box“ zu denken und Neues zu entdecken. Es ist zu beobachten, dass die klassischen Hierarchien, Strukturen und Prozesse oftmals mit den aktuellen Fragestellungen und unterschiedlichen Anspruchsgruppen überfordert sind. Daher sind auch neue Arbeitsformate notwendig. Bekannte Methoden/Formate sind: Think Tanks, Design Thinking, Scrum, Bar Camps, Co-Creation. Eine Anpassung an die Branche bzw. das Projekt ist allerdings immer erforderlich. Der Weg zum Ziel und zu nachhaltigen Lösungen wird immer mehr unter Einbindung des interdisziplinären Teams (multiprofessionelle Kompetenzen) und der Dialoggruppe (Co-Creation) verwirklicht. Vieles wird zukünftig im Prozessverlauf (Work in Progress) gelernt, getestet und neu ausprobiert. Offenheit, Kreativität und die Erlaubnis zum Scheitern sind wichtige Merkmale des zukünftigen Arbeitens.
Das klingt vielleicht nach großen Hürden, kann aber auch unglaublich viel Spaß machen, da es eine Abenteuerreise ist! Und viele Jugendliche nehmen es mit Begeisterung zur Kenntnis, wenn Hilfsangebote digital sind, ihre Sprache sprechen und in ihre Lebenswelt passen. Das erleben wir in der Praxis bei unserem Chat-Angebot (über 1.300 Anfragen/Jahr), der App (blu:app), den E-Learning-Modulen (blu:interact) und unseren Social-Media-Angeboten (@vollfrei). Für Multiplikatoren bieten wir (Online-)Fortbildungen zu diesem Thema an. Weitere Infos, unsere Tools und unseren Shop (kostenlose Materialen) finden Sie unter www.bluprevent.de
Der neue Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, schreibt auf seiner Homepage: „Die Drogen- und Suchtpolitik muss in vielen Bereichen neu gedacht und neu gestaltet werden. Was wir brauchen, ist ein Aufbrechen alter Denkmuster. Es muss gelten: ‚Hilfe und Schutz statt Strafe.‘ Nicht nur beim Thema Cannabis, sondern in der Drogenpolitik insgesamt, national wie auch international. Die Welt steht gesundheitspolitisch vor nie dagewesenen Herausforderungen und auch die Sucht- und Drogenpolitik muss mit großem Engagement und ohne Vorurteile angegangen werden.“
Wie wohltuend müssen diese Worte in den Ohren all jener klingen, die in der bundesdeutschen Suchtpolitik der letzten Jahrzehnte eher eine Stagnation erlebt haben, die sich wie Mehltau über dieses wichtige gesundheitspolitische Arbeitsfeld gelegt hat. In der Politik und in der Öffentlichkeit hat die Suchtthematik dadurch einen Bedeutungsverlust in großem Ausmaß erfahren.
Und jetzt diese Aufbruchstimmung, gekoppelt mit zwei Vorhaben der Bundesregierung, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder an politischen Widerständen gescheitert sind: der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken und der modellhaften Erprobungen von Drug-Checking.
Natürlich wird es bei der Umsetzung der Vorhaben Widerstand geben, sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der Politik. Und natürlich gibt es eine große Anzahl von Fallstricken, lauert auch hier der Teufel im Detail. Bei einem gesundheits- und gesellschaftspolitischen Kurswechsel in einer seit mehreren Jahrzehnten hoch emotionalisierten und z. T. ideologisierten Debatte ein neues Regelwerk zu erstellen, das hochkomplexe Fragestellungen berücksichtigen muss, bedeutet eine enorme Herausforderung. Aber es bedeutet auch ein Ende der Stagnation, es wird wieder debattiert und gestritten werden. Er wird darum gerungen werden, die bestmögliche Lösung zu finden (die dann immer noch nicht die beste sein wird). Es kommen wieder Prozesse in Gang. Es wird wieder lebendig werden.
Eine gesetzliche Regulierung bei der Cannabisthematik muss darauf aufbauen, dass der Konsum von Cannabis Gesundheitsrisiken birgt und ein problematischer bzw. risikoreicher Konsum sowie der situationsunangepasste Konsum (z. B. Konsum am Arbeitsplatz, in der Schwangerschaft oder im Straßenverkehr) mit negativen Folgen für die Person selbst oder Dritte assoziiert sein kann. Die neue gesetzliche Regulierung muss das Ziel haben, die aktuelle Situation zu verbessern und Gefährdungspotentiale so weit wie möglich zu minimieren, besonders was Jugendliche betrifft.
Multidisziplinäre Kompetenz
In der medialen Öffentlichkeit wird die Stimme der Suchthilfe in der aktuellen drogenpolitischen Debatte noch nicht in dem Maße wahrgenommen, wie es für sie angezeigt wäre. Die Organisationen der Verbände und Einrichtungen haben schließlich die Expertise und langjährige Erfahrungen im Umgang mit den anstehenden Themen und vor allem den Menschen, um die es geht.
Die organisierte Suchthilfe hat ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen Berufsgruppen, die sich zu Wort melden werden, seien es Ärzt:innen, Jurist:innen oder Ökonom:innen: Niemand hat Drogen- und Suchtfragen umfassender im Blick als die Suchthilfe. Hier arbeiten multidisziplinäre Teams in der ambulanten und stationären Versorgung, in der Prävention und in der Selbsthilfe. Die Suchthilfe ist weit mehr als eine berufsständische Fachgesellschaft, die die Sichtweise und Interessen einer Berufsgruppe vertritt.
Das gesundheitliche Gefährdungspotential von Cannabis bei vulnerablen Gruppen ist unbestritten. Aber Suchtberatungsstellen sind auch mit Menschen konfrontiert, die aufgrund juristischer Auflagen zugewiesen werden, obwohl sie einen risikoarmen, nicht abhängigen und größtenteils unschädlichen Konsum betreiben. Diese Menschen werden allein wegen der aktuellen Rechtslage kriminalisiert, mit dem Resultat möglicher sozialer und psychischer Folgeschäden (gerade bei jugendlichen Konsument:innen).
Expertin für Prävention
Vor allem, um die im Zuge der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken geäußerte unabdingbare Forderung nach begleitenden umfassenden Präventionsmaßnahmen zu erfüllen, sind die Erfahrungen und Kompetenzen der Suchthilfe unverzichtbar.
Es ist erfreulich, dass in der aktuellen Diskussion um die gesetzlichen Veränderungen das Thema Prävention eine herausragende Rolle spielt. Im Bereich der Prävention muss mit umfassender Information und Aufklärung über die gesundheitlichen Gefahren des Cannabiskonsums einem möglichen Eindruck entgegengewirkt werden, der Konsum werde legalisiert, weil Cannabis ungefährlich sei. Aufgrund der geänderten Gesetzeslage kann ferner auch das Thema risikoreduzierende Verhaltensweisen und Konsumformen in den Angeboten einen größeren Raum einnehmen.
Auch wenn der gesetzgeberische Prozess noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, kann Prävention nicht erst beginnen, wenn das Gesetz verabschiedet ist. Allerdings reichen die aktuellen Budgets und Ressourcen in der Suchthilfe hierfür nicht aus. Auf den Mittelzuwachs zu warten, bis die potentiellen Steuereinnahmen aus dem Cannabisverkauf realisiert sind, um daraus die Präventionsmaßnahmen zu finanzieren, ist allerdings keine Option.
Nötig sind Mittel, die der Bund der Suchthilfe im Vorfeld zur Verfügung stellt, um zielgruppenspezifische und situationsangepasste Präventionskonzepte vor dem Hintergrund der neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erarbeiten sowie entsprechende Maßnahmen zu planen und in die Umsetzung zu bringen. Hierzu wäre es hilfreich, in einem Gremium mit Vertreter:innen der Bundesebene, der Länder und der Suchthilfe ein abgestimmtes Vorgehen zu erarbeiten.
Der neue Drogenbeauftragte sieht die Notwendigkeit vom „Aufbrechen alter Denkmuster“. Dies betrifft in der Suchtpolitik nicht nur den zukünftigen Umgang mit Cannabis.
Wir gehen bewegten und spannenden Zeiten entgegen.
Kontakt:
Wolfgang Rosengarten
w.rosengarten@t-online.de
Angaben zum Autor:
Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.
Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.
Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.
Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.
Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren
Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.
Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:
Wenn
Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,
dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.
Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).
Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.
SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.
Was ist das Besondere? SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.
Dauerhafte Finanzierung Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.
Die Leistung an Mann* und Frau* bringen Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.
Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.
Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.
Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.
Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.
Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.
Große Träger sind im Vorteil
Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.
In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.
Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.
Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen
In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.
Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.
Kontakt:
Wolfgang Rosengarten
w.rosengarten@t-online.de
Angaben zum Autor:
Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.
Drogenkonsum ist kein neuzeitliches Phänomen. Drogen begleiten die Menschheit seit ihren Anfängen. Rauschmittel waren stets präsent und nie unumstritten. Mit der industriellen Herstellung von Wirkstoffen und dem daraus zu erzielenden Profit entwickelten sie sich sowohl zu einem unverzichtbaren Heilmittel als auch zu einem im Extremfall gesundheitsgefährdenden Konsumgut. Nicht zuletzt deshalb ist Gesundheitsförderung im Sinne von Prävention eine gesellschaftliche Aufgabe, der aber die nötigen finanziellen Mittel fehlen, um dem Angebotsdruck der Drogenproduzenten standzuhalten.
Entdeckungen und Erfindungen – Drogen im Lauf der Jahrtausende
Bis zum 16. Jahrhundert blieben die Gewohnheiten einzelner Völker in der Verwendung von Drogen aufgrund der geographischen Isolation erhalten, und Drogenmissbrauch wurde gewöhnlich durch soziale und religiöse Kontrolle in Grenzen gehalten. Im klassischen Altertum (ca. 3500 v. Chr. bis 600 n. Chr.) wurden Cannabis und Opium zu medizinischen Zwecken und die Cannabispflanze als Fasertyp zur Herstellung von Gegenständen des täglichen Bedarfs verwendet. Es gibt keine Hinweise auf einen bedeutsamen Konsum von Cannabis und Opium als Genuss- und Rauschmittel im Mittelmeerraum. Die einzige Droge, die soziale Probleme verursachte, war und ist Alkohol. Zweifellos geht das Trinken von Bier und Wein bis in prähistorische Zeiten zurück. Zeugnisse, die die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Bier und Wein sowie die Bemühungen, ihren Genuss zu kontrollieren, diskutieren, reichen bis in das alte Ägypten und Mesopotamien zurück. Das klassische griechisch-römische Schrifttum ist angefüllt mit kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und voller Lob der Tugend der Mäßigkeit (Legarno 1982).
Bereits in der Geschichte des Alten Ägyptens (vor 4000 v. Chr. bis 395 n. Chr.) finden wir Belege für alkoholische Getränke. Bier ist schon 3000 v. Chr. bezeugt. Bei der Herstellung war das Brotbacken als Vorstadium des Brauens wichtig. Da man weder das Destillieren noch den Gebrauch von Hopfen kannte, wurde Brotteig, vermischt mit gegorenem Dattelsaft oder Honig, als Maische verwendet. Bier war ein gebräuchliches Heil- oder Nahrungsmittel, aber es war auch das Hauptgetränk in den verrufenen Bierhäusern und Schenken, wo leichte Mädchen junge Männer von ihrem Studium abhielten, so dass die Moralprediger mahnten: „Du verlässt die Bücher und Du gehst von Kneipe zu Kneipe, der Biergenuss allabendlich, der Biergeruch verscheucht die Menschen (von Dir)!“ (von Cranach 1982). An anderer Stelle wird empfohlen: „Ein Napf Wasser stillt schon den Durst“ – eine frühe Präventionsbotschaft. Gegorene Fruchtsäfte waren in Ägypten schon in der Vorgeschichte (vor 4000 v. Chr.) bekannt, ebenso Dattel- und Granatapfelwein. Die ersten Rebsorten wurden vermutlich aus dem mesopotamischen Raum nach Ägypten gebracht (von Cranach 1982).
Wein war für die Bewohner des antiken Griechenlands (1600 v. Chr. bis 146 v. Chr.) Grundnahrungs- und Genussmittel und damit auch Opfergabe sowie Mittel des sozialen Kontaktes. Beobachtungen und Urteile zum Weingenuss und seinen Folgen finden sich zu damaliger Zeit in allen Literaturgattungen in Fülle, dafür gibt es genügend Belege (Preiser 1982).
Hanf ist wahrscheinlich ursprünglich in China in den Dienst des Menschen gestellt worden, und zwar als Faserpflanze, als nahrhafte Körnerfrucht und als Rauschmittel. Es wird vermutet, dass Reitervölker der Steppen Ostasiens die Anwendung von Hanf als Rauschmittel von den Chinesen gelernt und dann weitervermittelt haben. Herodot (450 v. Chr.) berichtet von den Skythen, einem Volk von Reiternomaden, die ab etwa dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine besiedelten: „In die Hütte stellen sie ein flaches Gefäß mit glühenden Steinen gefüllt und werfen mitgebrachte Hanfsamen zwischen die Steine. Sofort beginnt es zu rauchen und zu dampfen, mehr noch als in einem griechischen Schwitzbad. Begeistert heulen die Skythen auf (…).“ (zit. n. Völger & von Welck 1982)
Über die Germanen schreibt der römische Historiker und Senator Tacitus im Jahr 98 n. Chr.:
22 Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. (…)
23 Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. (…) Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.
24 Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. (zit. n. Reclam-Ausgabe 1972)
Im Mittelalter spielte der Hexenglaube eine große Rolle. Die Herkunft des Wortes „Hexe“ verweist auf eine Frau mit okkultem oder Naturheilwissen, die unter Umständen einer Priesterschaft angehörte. Diese Zuschreibungen sind eine Übertragung der Fähigkeiten der Göttin Freya aus der nordischen Mythologie und vergleichbarer Göttinnen in anderen Regionen (Heilen, Zaubern, Wahrsagen) auf die mittelalterlichen Priesterinnen, die im frühchristlichen Umfeld noch lange in der gewohnten Weise agierten. Mit dem Vordringen des Christentums wurden die heidnischen Lehren und ihre Anhänger dämonisiert. Der Begriff des Hexenglaubens ist im Übrigen doppeldeutig. Er bezeichnet nicht nur die Überzeugung, dass Hexen real und bedrohlich sind – eine Überzeugung, die im Volksglauben verwurzelt war und sich zum Hexenwahn steigern konnte. Sondern er kann heute auch die (naturreligiösen) Überzeugungen beschreiben, die sich auf ein vorchristliches Verständnis berufen, nach dem es Menschen beiderlei Geschlechts gibt, die über besondere Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen und die als Hexen bezeichnet werden. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse bezogen sich mit Sicherheit auch auf Pflanzen, die unter den Sammelbegriff Drogen fallen.
Spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts beschrieben zuerst, dass in Südamerika ein weitverbreiteter Gebrauch einer Vielzahl von Pflanzen mit außergewöhnlichen, zu Weissagungen und Ekstasen führenden Wirkungen auf die Sinne zu beobachten ist. In den Überlieferungen wird dabei besonders auf Pilze, Peyote und Trichterwinde Bezug genommen (Völger & von Welck 1982).
Die Weinproduktion erreicht in Europa im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt, und die Berichte über ausgedehnte Saufgelage von Feudalherren und Bauern häufen sich in dieser Zeit. Dies nahm Luther 1534 zum Anlass, zu wettern: „Es muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben (…) unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauf heißen.“ (Völger & von Welck 1982)
500 Jahre Drogen-Geschichte in Stichworten
Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Publikationen von Günter Amendt (1984), Norman Ohler (2017) und Irmgard Vogt (1982).
1618–1648
30-jähriger Krieg, Weinberge werden verwüstet, Branntwein wird in größeren Mengen produziert und ist das beliebteste alkoholische Getränk bei Soldaten.
1677
Die Holländer bekommen das Monopol für Opiumlieferungen nach China. Städte wie Macao, Hongkong und Shanghai werden als Handelsstützpunkte gegründet.
1771
Die importierten Konsumgüter Tabak, Kaffee und Tee sind so populär wie kostspielig. Dies erregt Ärger bei Kaufleuten und Regierung. Dieser Handel liegt außerhalb ihrer Kontrolle, er führt zu einer ungünstigen Handelsbilanz und bedroht andere wichtige Einnahmen. In Preußen förderte Friedrich der Große das Kaffeetrinken, bis er entdeckte, dass es seine Einkünfte aus dem Biermonopol schmälerte und – wie er in seinem 1771 erlassenen Kaffeemanifest feststellte – dazu führte, dass ein „abscheulich hoher Geldbetrag“ außer Landes ging. Der Konsum wurde auf heimische Produkte abgestellt – das sind in der Konsequenz Bier und Branntwein aus, wie man heute sagt, „regionaler Produktion“ (Austin 1982).
1773
Das Handelsmonopol für Mohnsaft liegt bei der englischen Ostindien-Kompanie.
1780
Kartoffeln werden zur Schnapsherstellung verwendet.
1804
Morphium (Morphin) wird erstmals von dem deutschen Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Adam Sertürner in Paderborn aus Opium isoliert.
19. Jahrhundert
Technische Neuerungen verbessern die Schnapsproduktion, es entwickeln sich mittelgroße und Großfabriken.
1850
Die Injektionsspritze wird erfunden. Es beginnt der Siegeszug des Morphiums in Europa.
1859/60
Albert Niemann isoliert die aktiven Komponenten des Cocastrauches. Er gibt dem Alkaloid den Namen Kokain.
1845
Laut Friedrich Engels führen die schlechten Lebensbedingungen des Proletariats fast zwangsläufig zur Trunksucht. Auch Teile der SPD sehen den Alkoholismus vor allem als Hindernis im Klassenkampf an. Diese Position wird vehement vom 1903 gegründeten Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund (DAAB) vertreten.
1862
Die Firma Merck produziert Kokain als Medikament – u. a. gegen Husten, Depressionen und Syphilis.
1875
Eine Morphiumwelle erreicht Europa als Folge des amerikanischen Bürgerkrieges und des deutsch-französischen Krieges. „Morphin ist der Absinth der Frauen.“ (Alexandre Dumas)
1878
20.000.000 Opiumabhängige in China
1893
Das Vereinigte Königreich erteilt der Regierung von Indien den Auftrag, in Bengalen Hanf anzubauen und die Gewinnung von Drogen, den Handel damit und die Auswirkung auf den Zustand der Bevölkerung sowie die Frage eines etwaigen Verbotes zu überprüfen. Ergebnis: Die Kommission stellt fest, dass die medikamentöse Anwendung von Hanfdrogen umfangreich ist und daher ein Verbot unzweckmäßig erscheint.
1896
Bayer entwickelt ein Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin und lässt sich dafür den Markennamen „Heroin“ schützen.
1912
MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin) wird von Merck als Beiprodukt zur Herstellung von Hydrastinin (Blutstiller) patentiert.
1920er Jahre
Die Firmen Merck, Böhringer und Knoll beherrschen 80 Prozent des Weltmarktes für Kokain.
1920er Jahre
In München entsteht der Nationalsozialismus. München ist Gründungsort der NSDAP. Die Stadt wird zur „Hauptstadt der Bewegung“, weil es den wenigen nationalsozialistischen Gründungsaktivisten hier gelingt, ihre anfängliche Splitterpartei von ein paar versprengten Verwirrten zu einer Massenbewegung anwachsen zu lassen. Dabei spielen die großen Bierkeller in München eine zentrale Rolle. Hier werden nicht nur Volksfeste gefeiert, sondern auch die großen politischen Versammlungen abgehalten. Im Kindl-Bräu sah und hörte Ernst „Putzi“ Hanfstaengl Hitler zum ersten Mal reden. Er war es, der Hitler auch in den großbürgerlichen Kreisen salonfähig machte. Auf den Rednerbühnen des Bürgerbräukellers avancierte Hitler unter Johlen und Bierkrugschwenken seiner Anhänger allmählich zum Volksheld und schließlich zum Führer des Deutschen Reiches. Der Aufstieg Adolf Hitlers – der selbst keinen oder kaum Alkohol getrunken hat – ist ohne das Bier nicht denkbar. Bier, das in München auch bei politischen Versammlungen in rauen Mengen konsumiert wurde, verwandelte Hitlers Zuhörer regelmäßig in eine berauschte, betrunkene Masse, die fast beliebig zu steuern war. Die durch den Alkohol bewirkte Enthemmung schuf aus Hitlers kleinbürgerlichen Anhängern gefährliche, gewaltbereite Extremisten. Der NS-Terror auf Münchens Straßen in den Zwanziger Jahren ist ohne Alkohol nicht denkbar (Hecht 2013).
1926
Deutschland steht an der Spitze der Morphin produzierenden Staaten und ist Exportweltmeister bei Heroin: 98 Prozent der Produktion gehen ins Ausland. Zwischen 1925 und 1930 werden 91 Tonnen Morphin hergestellt.
1926
Die Firma Parke-Davis entwickelt Phencyclidin (Abkürzung PCP, in der Drogenszene bekannt als „Angel Dust“) als Arzneistoff der Klasse der Anästhetika.
Berlin mutiert zur Experimentierhauptstadt Europas. 1928 gehen in Berlin 73 Kilogramm Morphin und Heroin legal auf Rezept in Apotheken über den Ladentisch. 40 Prozent der Berliner Ärzte sind angeblich morphinsüchtig. „Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversität!“ (Klaus Mann)
1937
Am 31. Oktober melden die Temmler-Werke Berlin das erste – an Potenz das amerikanische Benzedrin weit in den Schatten stellende – deutsche Methylamphetamin zum Patent an. Der Markenname: Pervitin. Der Tübinger Pharmakologe Felix Haffner schlägt die Verordnung des Pervitin sogar als „höchstes Gebot“ vor, wenn es um den „letzten Einsatz für das Ganze“ gehe: eine Art „chemischer Befehl“.
Pervitin wird zum Symptom der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Selbst eine mit Methamphetamin versetzte Pralinensorte kam auf den Markt. Pro Genusseinheit waren stolze 14 Milligramm Methamphetamin beigemischt – beinahe das Fünffache einer Pervitin-Pille. „Hildebrand Pralinen erfreuen immer“, lautete der Slogan der potenten Leckerei. Die Empfehlung lautete forsch, drei bis neun Stück davon zu essen mit dem Hinweis, dies sei, ganz anders als Koffein, ungefährlich. Die Hausarbeit ginge dann leichter von der Hand, zudem schmelzen bei dieser außergewöhnlichen Süßigkeit sogar die Pfunde, da der Schlankmacher Pervitin den restlichen Appetit zügle (Ohler 2017).
1938
Albert Hofmann stellt Lysergsäurediethylamid (LSD) her.
1940
Weckmittelerlass der Reichswehr vom 17. April: „Die Erfahrung des Polen-Feldzuges hat gezeigt, dass in bestimmten Lagen der militärische Erfolg in entscheidender Weise von der Überwindung der Müdigkeit einer stark beanspruchten Truppe beeinflusst wird. Die Überwindung des Schlafes kann in besonderen Lagen wichtiger als jede Rücksicht auf eine etwa damit verbundene Schädigung sein, wenn durch den Schlaf der militärische Erfolg gefährdet wird. Zur Durchbrechung des Schlafes (…) stehen die Weckmittel zur Verfügung.“
Pervitin wurde in der Sanitätsausrüstung planmäßig eingeführt. Daraufhin bestellte die Wehrmacht für Heer und Luftwaffe 35 Millionen Tabletten, die noch bis ca. 1950 im Umlauf waren.
1945
Der Zweite Weltkrieg endet, der Konsum von Aufputschmitteln geht weiter. Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.
1949
Die Firma Sandoz bringt LSD unter dem Namen „Delysid“ in den Handel. Es soll Psychiatrie-Ärzten ermöglichen, sich in die Wahrnehmungswelt psychotischer Patienten einzufühlen.
1953
Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.
1954
In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den ‚Raketentreibstoff‘ Pervitin eingeflößt zu haben.
1954
Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.
1967
Hippies in den USA berauschen sich an der ‚Liebesdroge‘ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.
1968
Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung sind Schlagworte der gesellschaftlichen Entwicklung der späten 1960er Jahre in Deutschland. Dazu muss man sich verdeutlichen, dass die Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre in der BRD von denselben Personen, derselben Doppelmoral und denselben Ritualen beherrscht wird, die Deutschland in den 1930er Jahren eingeübt hatte. Als sich der Vietnamkrieg zum Völkermord entwickelt, in Bonn eine große Koalition gebildet wird und diese über Notstandsgesetze berät, die im Krisenfall das demokratische System außer Kraft setzen sollen, regt sich in der Gesellschaft ein lange angestauter Widerstand. Dabei geht es vor allem um eine Abgrenzung zur Elterngeneration und zum politischen System. Dazu gehören Provokation, Widerstand und Drogen. In Westdeutschland entwickelt sich daraus ein ‚hedonistischer Antifaschismus‘, während Ostdeutschland seinen moralischen Antifaschismus bewahrt: Die DDR erschafft sich einen perfekten Entstehungs- und Rechtfertigungs-Mythos, der sie gegen jede Kritik immunisiert. In der DDR sind Drogen nicht Teil des Widerstandes, sondern dienen den großen und kleinen Fluchten, mit denen man sich dem nicht minder spießigen System in der ‚Volksrepublik Preußen‘ entziehen kann.
Drogen und ihre Kultur
Alkoholkonsum
Drogenkultur in Deutschland ist Alkoholkultur, genauer gesagt Bierkultur. Der Blick auf den Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland zeigt dies deutlich (Abbildung 1).
Abbildung 1: Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland (eigene Grafik)
Während der jährliche Branntweinkonsum von einem Höchststand Anfang des 20. Jahrhunderts mit wenigen Schwankungen seit vielen Jahren bei fünf bis sechs Litern pro Kopf liegt, ist der Weinkonsum in über 100 Jahren von etwa fünf Litern auf fast 25 Liter gestiegen. Absoluter Spitzenreiter ist das Bier, das mit einem nicht erklärbaren Tiefpunkt in den späten 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Konsumhöhepunkt im Jahre 1975 erreichte und jetzt bei einem Durchschnittsverbrauch von etwas über 100 Litern pro Kopf und Jahr liegt. Der in Rein-Alkohol umgerechnete Verbrauch erreichte erst 1970 wieder die hohen Werte um 1900 und sank dann allmählich auf jetzt etwa 9,5 Liter pro Kopf ab (DHS 2017).
Über die Schattenseite dieser Kultur informiert der Alkoholatlas Deutschland 2017:
18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen nehmen riskante Mengen Alkohol zu sich, vor allem unter 25-Jährige und Personen zwischen 45 und 65 Jahren.
Der Anteil der Risikokonsumenten ist bei den Männern in Thüringen, Sachsen und Berlin (je 22 Prozent) am höchsten.
2015 standen zehn Prozent aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss.
2015 ereigneten sich rund 34.500 Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter alkoholisiert war. Bei über 13.000 dieser Unfälle wurden Personen verletzt oder getötet.
Konsum illegaler Drogen
An zweiter Stelle bei den konsumierten psychotropen Substanzen steht in Deutschland Cannabis. Bei Cannabis handelt es sich allerdings um eine illegale Droge, so dass die Ergebnisse von Konsument/innen-Befragungen sich nur in einer Grauzone abspielen können und die Realität abbilden können, aber nicht müssen. Nach den vorliegenden Daten (DBDD 2016) konsumieren bundesweit innerhalb einer Jahresfrist knapp über 4,5 Millionen Menschen Cannabis. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Werte für alle illegalen Substanzen:
Abbildung 2. Konsum illegaler Drogen pro Jahr. *Aufgrund zu geringer Zellbesetzungen werden für einige Zellen keine Prozentwerte angegeben. Werte im niedrigen Prozentbereich sind mit großer Vorsicht zu interpretieren, da von einer erheblichen Unschärfe bei der Extrapolation der Messwerte auszugehen ist. Quelle: DBDD 2016
Gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich
Der Grund, Drogen zu nehmen, liegt nicht nur in wie auch immer gearteten Rauscherlebnissen. Fast jede Droge erzeugt eine gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich. Auch darüber muss im Zusammenhang mit verbotenen illegalen Substanzen immer wieder diskutiert werden.
Alkohol
Alkohol ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Ethanol. Die Vergärung von Zucker zu Ethanol ist eine der ältesten bekannten biochemischen Reaktionen. Ethanol wird als Lösungsmittel für Stoffe verwendet, die für medizinische oder kosmetische Zwecke eingesetzt werden, wie Duftstoffe, Aromen, Farbstoffe oder Medikamente. Außerdem dient es als Desinfektionsmittel. Die chemische Industrie verwendet Ethanol als Lösungsmittel sowie als Ausgangsstoff für die Synthese weiterer Produkte wie Carbonsäureethylester. Ethanol wird auch als Biokraftstoff, etwa als so genanntes Bioethanol, verwendet.
Die folgenden Informationen zu illegalen Drogen stützen sich auf die Publikation von Fred Langer et al. (2017).
Amphetamin
Amphetamin wurde erstmals 1887 synthetisiert. Zunächst wurde es gegen Asthma und als Appetitzügler eingesetzt, heute findet es Anwendung bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Narkolepsie (Schlafsucht). Wegen seiner aufputschenden Wirkung ist es als Partydroge beliebt (Speed).
Barbiturate
Barbitursäure wurde erstmals 1864 hergestellt. Barbiturate waren ab dem frühen 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte das Schlafmittel schlechthin. Sie werden als Narkosemittel, bei Epilepsie und auch in der Sterbehilfe eingesetzt. In den USA werden sie in Kombination mit anderen Präparaten zur Hinrichtung mittels Spritze verwendet. Abhängigkeit und Entzug verlaufen ähnlich wie beim Alkohol.
Cannabis
Seit Jahrtausenden nutzen Heilkundige die Wirkstoffe der Hanfpflanze (Cannabinoide). Cannabis wird gegenwärtig in immer mehr Ländern für medizinische Zwecke freigegeben. Einsatz findet es u. a. in der Schmerztherapie, bei Multipler Sklerose, gegen Übelkeit und Erbrechen, unterstützend in der Therapie von Krebs und Aids. Als Drogen werden die getrockneten Blütentrauben und Blätter als Marihuana geraucht (‚Gras‘) oder extrahiertes Harz als Haschisch. Die Wirkung ist entspannend und stimmungsaufhellend.
Kokain
Kokain wird aus den Blättern des Cocastrauches extrahiert. Es ist das älteste Mittel zur örtlichen Betäubung und spielte früher eine wichtige Rolle in der Augenheilkunde. Bei Eingriffen am Kopf ist es heute noch zulässig. Als Droge wird Kokain wegen seiner euphorisierenden Wirkung geschnupft (Pulver) oder als Crack geraucht.
Ketamin
Ketamin wurde ab 1962 gezielt als Arzneimittel entwickelt und wird als Analgetikum (schmerzstillendes Mittel) und Narkosemittel angewendet, vor allem in der Notfall- und Tiermedizin, neuerdings auch gegen schwere Depressionen. Als Rauschdroge (geschluckt, geschnieft oder gespritzt) löst es starke Wahrnehmungsveränderungen aus.
LSD
LSD wurde 1938 erstmals als Derivat der Lysergsäure hergestellt, die im Mutterkornpilz auch natürlich vorkommt. Früher wurde es zur psychotherapeutischen Behandlung von Krebspatienten und bei Alkoholismus eingesetzt. Vermutlich ist es wirksam gegen Cluster-Kopfschmerzen. LSD ist eine starke halluzinogene Droge (Acid) und löst einen intensiven psychedelischen Rausch aus.
MDMA
MDMA wurde 1912 synthetisiert und in den 1960er Jahren von US-Chemikern wiederentdeckt. Es ist ein viel versprechender Wirkstoff in der Therapie Posttraumatischer Belastungsstörungen. In Pillenform (Ecstasy) oder pulverisiert (Molly) ist es eine beliebte Partydroge.
Opiate
Opiate werden aus dem Saft geritzter Samenkapseln des Schlafmohns gewonnen. Durch Trocknen des Saftes entsteht Rohopium. Rohopium enthält u. a. die Wirkstoffe Morphin (eingesetzt als Schmerzmittel) und Codein (eingesetzt als gegen Hustenreiz). Das bekannteste Morphinderivat ist Heroin, ein sehr starkes Schmerzmittel, dessen therapeutische Anwendung heute in den meisten Ländern verboten ist aufgrund seines starken Abhängigkeitspotenzials. Opium ist nur noch zur Behandlung chronischen Durchfalls erlaubt. Gespritzt, geschnupft oder geraucht wirken Opiate euphorisierend und sedierend.
Psilocybin
Psilocybin kommt in diversen Pilzarten vor (Magic Mushrooms) und wurde ab 1959 auch synthetisch hergestellt. Seit Jahrhunderten ist es Teil spiritueller Rituale. In der modernen Medizin wird es zur Linderung von Depressionen und Angstzuständen, möglicherweise auch gegen Alkoholismus und Nikotinsucht eingesetzt. Es ruft einen bewusstseinsverändernden Rausch hervor, ähnlich wie bei LSD, aber kürzer.
Schlussbemerkung
Die Dosis macht das Gift: Drogen haben eine heilsame und eine unheilvolle Seite. Eine Ausnahme bildet Alkohol. Dieser ist vor allem als Lösungsmittel wirksam – zum Beispiel in menschlichen Beziehungen. Menschen aus anderen Kulturkreisen bringen andere Haltungen gegenüber Drogen und andere Konsumkulturen mit. Prävention muss sich einer Arbeit im Feld interkultureller Begegnung öffnen. Ein solcher Prozess ist angesichts der Zuwanderung in allen Bereichen erforderlich. Voraussetzung für diesen Prozess ist die Entwicklung interkultureller Kompetenz. Diese Entwicklung kann nur als mittel- bis langfristiger Prozess gedacht werden, dessen Realisierung u. a. gezielte Fortbildungs- und Supervisionsmaßnahmen erfordert.
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“, schreibt Karl Marx in seinen Thesen über Feuerbach. In der Suchtprävention reicht es daher nicht aus, das Gefüge von Kultur und Drogen zu beschreiben und soweit möglich zu interpretieren, sondern es bedarf auch einer Handlungsanleitung für die Praxis. Für die Fachkräfte in der Suchtprävention könnte diese heißen, zu überprüfen, in welchem Umfeld ihre Arbeit stattfindet und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beeinflussen.
Prävention ist Gesundheitsförderung und versucht die Wirkungen zu lindern, die von den Drogenproduzenten durch den Verkauf ihrer Produkte und die entsprechende Werbung dafür erzeugt werden. Für illegale Drogen finden Werbung und Verkauf auf dem Schwarzmarkt statt, über den naturgemäß keine Daten vorliegen. Bei legalen Drogen dagegen – und hier reden wir nur über Alkohol – liegen die Informationen offen vor. Abbildung 3 zeigt die Werbeausgaben für alkoholische Getränke. Bundesweit sind das 544 Millionen Euro.
Abbildung 3: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke bundesweit (in Millionen Euro) (eigene Grafik, Quelle: DHS, Daten und Fakten)
Abbildung 4 zeigt, wie sich die Situation umgerechnet auf Thüringen darstellt (Angaben in Millionen Euro). Aussagekräftig ist der Vergleich der Ausgaben für Werbung und für Prävention.
Abbildung 4: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke in Thüringen (in Millionen Euro) (eigene Grafik)
Auf Thüringen entfallen 14,62 Millionen Euro an Werbeausgaben. Präventionsangebote werden in Thüringen von den Kommunen und dem Land gefördert. Für die Kommunen liegen keine Zahlen vor. Für das Land finden sich Angaben im Haushaltsplan 2017 des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Titel: 684 71 314 (Freistaat Thüringen 2017). Es handelt sich um Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung, des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitshilfen, für die 1,7005 Millionen Euro aufgewendet werden. Selbst wenn wir unterstellen, dass die Kommunen noch einmal eine Million Euro drauflegen, was wahrscheinlich sehr optimistisch ist, stünden dann diese 2,7 Millionen Euro Werbeaufwendungen der Alkoholindustrie in Höhe von 14,62 Millionen Euro gegenüber. Dieses als Ungleichgewicht zu bezeichnen, ist eine maßlose Untertreibung.
Wenn Gesundheitsförderung in Form von Suchtprävention nicht so wirkt, wie wir uns das wünschen, liegt das nicht an der Qualifikation und dem Fleiß der Fachkräfte. Es liegt an dem Ungleichgewicht zwischen Angebotsdruck bei legalen und illegalen Drogen und den gesundheitsfördernden Leistungen, die die Gesellschaft diesem Druck entgegenstellt. Und da tut Thüringen Einiges. Das darf an dieser Stelle auch mal gelobt werden. Ein kulturverträglicher Drogenkonsum funktioniert nämlich nur, wenn die möglichen Risiken von Substanzen und Verhalten durch ein wirksames Konzept der Gesundheitsförderung ausgeglichen werden können. Dazu braucht man Geld und guten Willen, sonst kann der Genuss schnell zum Verdruss führen.
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor anlässlich der 5. Thüringer Jahrestagung Suchtprävention am 25. Oktober 2017 in Erfurt gehalten hat. Redaktion des Vortragsmanuskripts: Simone Schwarzer
Austin, G. (1982), Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
Cranach, D. von (1982), Drogen im alten Ägypten, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
Langer, F., Khazan, O., Hanske,P. (2017), Vom Segen der Drogen, in: Zeitschrift GEO, Ausgabe 06 2017 Seite 68-89
Legarno, A. (1982), Ansätze zu einer Soziologie des Rausches – zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
Ohler, N. (20172), Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Kiepenheuer & Witsch, Köln
Preiser, G. (1982), Wein im Urteil der griechischen Antike, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
Springer, A. (1997), Anthropologisch-gesellschaftliche Aspekte des Drogengebrauchs, in: Heckmann, W. (Hg.), Fleisch, E., Haller R., Suchtkrankenhilfe. Lehrbuch zur Vorbeugung, Beratung und Therapie, Beltz-Verlag Weinheim/Basel
Tacitus (1972), Germania, Reclam Ditzingen
Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
Vogt, I., Alkoholkonsum, Industrialisierung und Klassenkonflikte, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
In allen Nationen, Kulturen, Religionen sowie in allen sozialen Schichten und Hierarchieebenen finden sich Suchtkrankheiten. Störungen des Substanzmissbrauchs stellen mit einer Prävalenz von 16,6 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung (Jacobi et al. 2014) die größte Gruppe psychischer Störungen dar. Trotz der hohen Anzahl werden Suchtkranke häufig ausgegrenzt, diskriminiert und stigmatisiert. Der Stigmatisierungsprozess ist ein komplexes Phänomen von Wechselwirkungen zwischen den Betroffenen und der Gesellschaft. Dabei nehmen meist historisch entstandene und nicht hinterfragte Vorstellungen von Normalität und Normabweichung eine entscheidende Rolle ein.
Auf die Wahrnehmung und Benennung einer Normabweichung erfolgt die Zuschreibung negativer Stereotype, die zu einer Abgrenzung gegenüber den Trägern des Stigmas führt und eine Diskriminierung bewirkt. Bei vielen Betroffenen löst die Diagnose Sucht durch das Bewusstsein der gesellschaftlichen ‚Ächtung‘ einen Selbstverurteilungsprozess aus. Interviews mit Suchtkranken machen deutlich, dass deren negative Gedanken über sich selbst wie z. B. „Ich tauge nichts“, „Ich kriege nichts auf die Reihe“, „Ich bin ja selbst schuld“ mit diskriminierenden Äußerungen von anderen Personen übereinstimmen. Diese negative Identitätsbildung führt zum Selbstwertverlust und wird als Teil der „zweiten Krankheit“ gesehen. Als „zweite Krankheit“ bezeichnet Finzen (2001) die sozialen Auswirkungen der Stigmatisierung, die als ebenso gravierend eingeordnet werden wie die Grunderkrankung an sich.
Der Teufelskreis der Stigmatisierung
Der Teufelskreis der Stigmatisierung beginnt für viele Betroffene mit der Diagnose Sucht, die verheimlicht wird und zu sozialem Rückzug führt. Diese Normabweichung (Sucht und Rückzug wegen Sucht) bewirkt in der Gesellschaft eine Aktivierung negativer Stereotype – insbesondere von Schuldvorwürfen –, die der Betroffene sich schließlich selbst zuschreibt. Diese Selbstzuschreibung führt zu einer Verhaltensannahme. Infolgedessen geht die Diskriminierung mit einer Verstetigung des kritisierten Verhaltens einher, die wiederum eine Bestätigung der Diagnose bedeutet (Abbildung 1).
Abbildung 1: Ein Teufelskreis – die Diagnose als Teil des Stigmatisierungsprozesses (vgl. Bottlender & Möller, 2005, S. 15)
Die Betroffenen sehen sich durch die Stigmatisierung einer bestimmten Rollenerwartung gegenüber, die sie in ihrem Handeln beeinflusst. Der Mechanismus der Anpassung erfolgt wie in jedem anderen Sozialisationsprozess. Durch die an den Menschen herangetragenen Erwartungen wird das Selbstkonzept entsprechend der self-fulfilling prophecy neu bestimmt. Paradoxerweise wird das deviante Verhalten durch den Konformitätsdruck verstärkt und der Wunsch des Betroffenen, sich in gleichgesinnten Gruppen aufzuhalten, gesteigert. Das süchtige Verhalten wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt verständlich, dass der Betroffene nicht mehr als vollwertiger Interaktionsteilnehmer anerkannt wird, sondern nur noch unter der Prämisse seines Stigmas bewertet wird. Nach Finzen entsteht beim Betroffenen ein gestörtes Grundvertrauen in die Berechenbarkeit sozialer Interaktionen. Studien zur Stigmatisierung von Suchterkrankungen zeigen als häufigstes Maß für die Ablehnung das Bedürfnis der Betroffenen nach sozialer Distanz. Die Ablehnung von Alkoholikern ist im Vergleich zu anderen psychischen oder somatischen Erkrankungen am höchsten (Schomerus et al. 2010).
Auswirkungen von Stigmatisierung auf die Gesundheit
Mitglieder stigmatisierter Gruppen weisen ein erhöhtes Risiko für körperliche Erkrankungen sowie für psychische Störungen auf und zeigen aufgrund der stressauslösenden Diskriminierung eine erhöhte Vulnerabilität. Darüber hinaus zeigen Studien einen erschwerten Zugang der Betroffenen zum Gesundheitssystem. Sie spüren eine ablehnende Haltung von Fachkräften einiger Gesundheitsberufe und reagieren darauf mit Vermeidung oder Abbruch der Behandlung. Teils erfolgen vom Pflegepersonal Schuldzuweisungen, dass die Betroffenen ihre Gesundheitsprobleme ja sozusagen „selbst verschuldet“ hätten (vgl. Vogt 2017).
Strategien gegen Stigmatisierung
Das Stigma-Memorandum
Im Frühjahr 2017 wurde das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ veröffentlicht. Eine der Kernaussagen ist die Empfehlung, dass Befähigung und Wertschätzung im Zentrum des Umgangs mit Suchtkranken stehen müssen. Im Sinne des Empowerments sollen Betroffene und Angehörige unterstützt werden, sich gegen das Stigma zu wehren. Begleitend ist eine qualitative Verbesserung im Hilfesystem und der Prävention erforderlich. Die Suchtprävention muss auf stigmatisierende Effekte überprüft werden, und in Studium und Ausbildung von Gesundheitsberufen muss die Anti-Stigma-Kompetenz erhöht werden. Die Öffentlichkeitsarbeit soll durch einen Medienleitfaden zur stigmafreien Berichterstattung professionalisiert und eine Entkriminalisierung des Konsums soll rechtlich weiterentwickelt werden. Im Bereich der Forschung sind Förderungen zur Entwicklung von Strategien der Entstigmatisierung genauso anzustreben wie die Untersuchung von Stigmafolgen bzw. -ursachen, wobei die Einbeziehung Betroffener und Angehöriger notwendig ist.
Psychologische Forschung
Weitere Strategien lassen sich aus der psychologischen Forschung entnehmen. Als einheitliche Erkenntnis wird in der Social contact theory (Allport) wie auch in den Prinzipien nach Corrigan et al. (2001) und den Strategien nach Schomerus et al. (2011) der Kontakt, also die direkte Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Stigma, als Grundsatz für die Entstigmatisierung deutlich. Darüber hinaus wird der Protest gegen Diskriminierung durch Meinungsmacher und Fachkräfte sowie die Edukation zur Auflösung stereotyper Verurteilungen als zielführend von Schomerus et al. (2013) benannt. Durch die gesellschaftliche Edukation zum Abbau von Vorurteilen sollen Ansichten, die zur Selbststigmatisierung führen wie „Der Süchtige ist selbst schuld“, aufgelöst werden.
Öffentlicher Diskurs
Im öffentlichen Diskurs muss insbesondere auf Sachlichkeit gesetzt werden, Übertreibungen beinhalten häufig stigmatisierende Elemente. Dabei hilft eine akzeptanzorientierte professionelle Grundhaltung, die deutlich macht, dass Sucht nicht die gesamte Person erfasst bzw. ausmacht, also ein Süchtiger nicht nur auf seine Sucht reduziert wird. Das konsequente Auftreten gegen stigmatisierende Angriffe stellt ein wichtiges Element dar, ebenso wie das Arbeiten mit Ansätzen der motivierenden Gesprächsführung.
Behandlung
Als eine neue Strategie in der Behandlung wird die Förderung von Selbstmitgefühl gesehen, Methoden dafür sind Achtsamkeit und Meditation. Unter Selbstmitgefühl wird eine Art Selbstfreundlichkeit verstanden, die mit dem „gemeinsamen Menschsein“ und dem „gelassenen Gewahrsein“ einhergeht. Dadurch kann es dem Betroffenen gelingen, die Selbstverurteilung abzubauen und die Isolation aufzulösen. Die Erkenntnis, dass Krankheit zum Leben dazugehört, also die Fähigkeit, die Erkrankung zu akzeptieren, um daran arbeiten zu können, sind wichtige Schritte in dieser Behandlungsstrategie. Brooks et al. (2012) konnten nachweisen, dass das Selbstmitgefühl bei Alkoholabhängigen weniger ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung und dass das Selbstmitgefühl positiv mit dem Selbstwert zusammenhängt. Aus diesem Grund ist diese Behandlungsmethode gerade im Kontext des Abbaus von Selbststigmatisierung sehr vielversprechend.
Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention
Entsprechend dem o. g. Memorandum wird empfohlen, dass Präventionsmaßnahmen routinemäßig auf mögliche stigmatisierende Effekte hin geprüft werden. Im Memorandum wird herausgestellt, dass Gesundheitsförderung und Prävention durch abschreckende und stereotypisierende Elemente stigmatisierend wirken und die Zielgruppen dadurch ausgegrenzt bzw. abgewertet werden können.
Im Rahmen selektiver Prävention besteht die Gefahr, dass die Zielgruppe allein durch die erhöhte Risikoexposition und ohne Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, schon als Risikoträger identifiziert wird. Wicki et al. (Zürich 2000) ermittelten anhand einer Literaturrecherche bei 25 Prozent der sekundärpräventiven Programme eine Zunahme des Substanzkonsums der Jugendlichen. Die Forscher begründeten den negativen Effekt durch Etikettierung der Zielgruppe als Risikojugendliche und den vermehrten Kontakt mit anderen riskant konsumierenden Peers. Als Ursache für solche unerwünschten Programmergebnisse (Dishion 1999) wird der „deviant talk“ benannt, wodurch sich die Jugendlichen gegenseitig innerhalb der Gruppe in ihrem abweichenden Verhalten bestärken. Obwohl die Ressourcenorientierung in der Suchtprävention zunimmt, überwiegen Konzepte für Risikogruppen, die anhand von Risikofaktoren ermittelt werden. Diese Faktoren geben aber nur einen Hinweis auf potentielle Gefährdungen und können keine Kausalitäten darstellen. Sobald Präventionsfachkräfte im Rahmen der Risikobewertung Zusammenhänge konstruieren und Werturteile fällen, greifen soziale Stigmata und Gefährdungsannahmen unreflektiert ineinander.
Die Stigma-Checkliste der Stadt Zürich
Eine zeitgemäße stigmafreie Suchtprävention muss sich mit solchen Stigmatisierungseffekten auseinandersetzen. Hierfür hat die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich eine Stigma-Checkliste (Berger 2012) entwickelt. Inwieweit diese in der präventiven Praxis in Deutschland Anwendung findet, wurde im Rahmen von leitfadengestützten Expert/inneninterviews ermittelt (Kostrzewa 2017). Der Fokus wurde dabei auf Ressourcenorientierung, Partizipation und Empowerment gelegt, weg von einer defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer resilienzfördernden Prävention. Die Expert/innen waren 14 Fachkräfte der Suchtprävention und -arbeit mit einem durchschnittlichen Arbeitszeitumfang von 71 Prozent für Suchtprävention und 21,2 Berufsjahren im Durchschnitt. In den Interviews wurden sie nach einer Bewertung der in der Zürcher Stigma-Checkliste vorgestellten Strategien mit „sinnvoll“, „umsetzbar“ und „bekannt“ gefragt. Insgesamt gaben 85,7 Prozent der Befragten an, sich schon mal mit dem Thema Stigma bei Suchtkranken auseinandergesetzt zu haben, jedoch nur zwei Fachkräfte gaben an, die Checkliste aus Zürich zu kennen. Folgende Ergebnisse hat die Befragung im Einzelnen erzielt:
Die Strategie der offenen Fehlerkultur, durch die negative stigmatisierende Auswirkungen von Suchtpräventionsmaßnahmen benannt werden, um aus ihnen zu lernen, wurde von den Expert/innen zu 100 Prozent als sinnvoll, zu 85,7 Prozent als umsetzbar und zu 42,8 Prozent als schon bekannt bewertet. Es gab dabei große Unterschiede in den Aussagen von „… Fehleranalyse ist ein ganz wichtiger Punkt, muss man auch klar ansprechen …“ bis „… alles, was unter dem Aspekt Nachbereitung läuft, das spielt eigentlich keine große Rolle, da ist keine Zeit für …“.
Inwieweit standardisierte Reflexionsfragen zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention etwas beitragen können, blieb unklar: 57,1 Prozent bewerteten diese Strategie als sinnvoll und 50 Prozent als umsetzbar, während sie aber nur 14,2 Prozent der Expert/innen bekannt war.
Eine klare Position der Expert/innen zeichnete sich bei der Strategie Ressourcenorientierung beim Adressaten ab, mit der Partizipation und Empowerment gestärkt werden sollen. Diese Strategie bewerteten 100 Prozent als sinnvoll und 85,7 Prozent als umsetzbar, für 50 Prozent war es bereits eine bekannte Strategie. Eindeutige Aussagen wie „… ressourcenorientiert, das ist der einzige mir sinnvoll erscheinende Weg, das Stigma überhaupt zu reduzieren“ können als richtungsweisend bezeichnet werden.
Die Offenlegung von Zielen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Adressat/innen wurde von 92,9 Prozent als sinnvoll bewertet, von 78,6 Prozent als umsetzbar und von 57,1 Prozent als bekannt. Es wurde deutlich, dass bei diesem Punkt abhängig von der Zielgruppe auch sprachliche Schwierigkeiten auftreten können.
Die Strategie der Resilienzförderung zur Entwicklungsbegleitung wurde zu 100 Prozent als sinnvoll und zu 85,7 Prozent als umsetzbar bewertet und damit eindeutig positiv eingeordnet, während sie aber nur 35,7 Prozent der Expert/innen als Strategie in der Suchtprävention bekannt war. Aussagen wie „Ja, aber ich glaube, das ist noch so in den Anfängen …“ machen dies gut deutlich.
Auf die Frage nach eigenen Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention wurde der Kontakt, explizit das Reden mit den Betroffenen, als zentrales Element durch die Expert/innen bestätigt.
Als Fazit der Expert/inneninterviews lässt sich herausstellen, dass eine Modernisierung der Suchtprävention in Richtung einer Verstärkung der Ressourcenorientierung und Resilienzförderung als vielversprechend für die Entstigmatisierung gesehen wird: „… es würde der Suchtprävention sicherlich gut tun, den Fokus auf Resilienzförderung zu verschieben.“
Partizipative Theaterarbeit
Eine weitere Methode zur Entstigmatisierung ist in der partizipativen Theaterarbeit zu sehen. Diese interaktive Theaterform ermöglicht im Spiel die Teilhabe und Interaktion von Betroffenen in der Gesellschaft (Abbildung 2). Durch die Aufnahme der Strategien des Protests, der Edukation und des Kontaktes lässt sich der stigmatisierende Alltag dekonstruieren. Integration und Offenheit im Alltag werden ermöglicht, um am Abbau des Vorurteils „Der Süchtige ist selbst schuld“ mitzuwirken und so den Teufelskreis von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung zu durchbrechen bzw. aufzulösen.
Abbildung 2: Entstigmatisierung durch partizipative Theaterarbeit
Prof. Dr. Regina Kostrzewa, Dipl.-Pädagogin, ist 1. Vorsitzende der Gesundheitsakademie Nord e.V. in Kiel. Seit Oktober 2015 ist sie als Professorin für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik an der Medical School Hamburg tätig. Dort ist sie auch Studiengangsleiterin des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. Zuvor war sie 25 Jahre in der Suchtarbeit in Schleswig-Holstein tätig und entwickelte eine Reihe innovativer suchtpräventiver Maßnahmen und Projekte, die auch über die Landesgrenzen hinaus im Bundesgebiet zum Einsatz kamen.
Literatur:
Berger, C. (2017): Stigmatisierung trotz guter Absicht – Zum Umgang mit einem konstitutiven Dilemma in der Suchtprävention. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 49. Jg., Heft 2, Tübingen, 335 – 345.
Bottlender, R. & Möller, H.-J. (2005): Psychische Störungen und ihre sozialen Folgen. In: Gaebel, W., Möller, H.-J.& Rössler, W. (Hrsg.): Stigma – Diskriminierung – Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychisch Kranker. Stuttgart: Kohlhammer. S. 7-17.
Brooks, M./Kay-Lambkin, F./Bowman, J./Childs, S. (2012): Self-Compassion Amongst Clients with Problematic Alcohol Use. Springer Science Media, DOI 10.1007/s12671-012-0106-5.
Corrigan, P./Schomerus, G./Shuman, V./Kraus, D./Perlick, D./Hamish, A./Kulesza, M./Kane-Willis, K./Qin, S./Smelson, D. (2016): Developing a research agenda for understanding the stigma of addictions Part I: Lessons from the Mental Health Stigma Literature. Am J Addict.
Dishion, T. J. (1999): When Interventions harm. Peer Groups and Problem Behavior. In: American Psychologist, 54, 755-764.
Finzen, A. (2001): Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen. 2. korrigierte Auflage. Bonn: Psychiatrieverlag.
Jacobi, F./Höfler, M./Strehle, J./Mack, S./Gerschler, A./Scholl, L./Busch, M. A./Maske, U./Hapke, U./Gaebel, W./Maier, W./Wagner, M./Zielasek, J./Wittchen, H.-U. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). In: Nervenarzt 85, 77 – 87.
Schomerus, G. (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? Psychiatrische Praxis, 38, 109 – 110.
Schomerus, G./Holzinger, A./Matschinger, H. et al. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. Eine Übersicht. Psychiatrische Praxis. DOI: http://dx.doi.org/10.1055/s-0029-1223438.
Schomerus, G. et al. (2010): Self-stigma in alcohol dependence: Consequences for drinking-refusal self-efficacy. In: Drug and Alcohol Dependence, 1 – 6.
Vogt, I. (2017): Nobody’s perfect: Einstellungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe zu psychisch Kranken. Ein Überblick über die Forschungsergebnisse. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 49 (2), 307 – 323.
Wicki, W. et al. (2000): Präventionsforschung bei Jugendlichen im Suchtbereich. Erkenntnisse für die Praxis. In: Bundesamt für Gesundheit BAG: Suchtforschung des BAG 1996 – 98, Band 2/4: Prävention, 2 – 13.
Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) ist als Fachverband der bundesweite Zusammenschluss von rund 160 stationären Einrichtungen und Fachabteilungen mit knapp 7.500 Plätzen zur Behandlung und Betreuung suchtkranker Menschen. Zahlreiche Mitgliedseinrichtungen verfügen über spezielle Betreuungskonzepte für die Kinder von suchtkranken Rehabilitanden. Diese Konzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und wurden jeweils in Abstimmung mit dem federführenden Leistungsträger der Deutschen Rentenversicherung entwickelt. Auch die Höhe der Vergütung für diese zusätzliche Betreuungsleistung ist sehr unterschiedlich und folgt keiner einheitlichen Systematik. Dabei ist zu beachten, dass die Rehabilitationsträger bislang nur für die Behandlung der Eltern mit Suchtdiagnose zuständig sind und die Betreuung als so genannte Begleitkinder lediglich über einen Haushaltshilfesatz finanziert wird. Eine weitergehende Unterstützung liegt dann in der Zuständigkeit der Jugendhilfe.
Einige aktuelle politische Entwicklungen lenken nun aber den Fokus verstärkt auf diese spezielle Zielgruppe: Zum einen sieht das Flexi-Rentengesetz vor, dass die Kinder- und Jugendrehabilitation nun eine Pflichtleistung für die Deutsche Rentenversicherung ist. Zum anderen hat die Bundesdrogenbeauftragte einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages mit initiiert, der eine deutliche Verbesserung der Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern fordert. Bemerkenswert ist daran, dass auch suchtkranke Eltern explizit genannt werden. Kinder aus suchtbelasteten Familien sind nicht selten psychisch stark belastet. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung für den Schutz der Kinder ergibt sich der dringende Handlungsbedarf auch aufgrund der volkswirtschaftlichen Folgekosten bei Vernachlässigung dieser Risikozielgruppe.
Vor diesem Hintergrund entschied sich der buss, eine verbandsinterne Umfrage zur begleitenden Aufnahme von Kinder in der Suchtrehabilitation durchzuführen, um sich einen Überblick über die Betreuungsangebote, die finanzielle Situation und den Personalmehraufwand in den Einrichtungen zu verschaffen. Über die verbandseigene Webseite www.therapieplaetze.de konnten durch die erweiterte Suche „Eltern mit Kind“ insgesamt 37 Einrichtungen ermittelt und angeschrieben werden. 26 Einrichtungen füllten den Fragebogen aus, neun Einrichtungen nahmen in den Jahren 2015/2016 keine Begleitkinder auf, drei Einrichtungen gaben keine Rückmeldung.
Betreuungsplätze und Fallzahlen
Insgesamt stellen diese 26 Einrichtungen 212 Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung und hatten 676 Betreuungsfälle im Jahr 2015 sowie 665 Fälle im Jahr 2016. Die Altersverteilung der Begleitkinder ist heterogen, die meisten Kinder sind zwischen drei und fünf Jahre alt (43 Prozent). Jeweils etwa gut ein Viertel fällt auf die Gruppe der Kinder unter zwei Jahren und auf die Gruppe der 6- bis 11-Jährigen. In Ausnahmefällen nehmen einzelne Einrichtungen Kinder ab zwölf Jahren auf, also jenseits des Grundschulalters.
Der überwiegende Teil der Einrichtungen hält bis zu zehn Betreuungsplätze vor. Das Minimum liegt bei drei, das Maximum bei 26 Plätzen (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Anzahl der Betreuungsplätze pro Einrichtung
Betreuungsangebote
Die Betreuung der Kinder während der Therapiezeiten erfolgt in den meisten Fällen in der Einrichtung oder bei Kooperationspartnern. Die Betreuungsangebote reichen von externer Unterstützung (z. B. Notmütterdienst) bis hin zur Heilpädagogischen Tagesstätte. In Abbildung 2 ist die Häufigkeitsverteilung der Angebote dargestellt (Mehrfachnennung möglich). Insgesamt 13 Einrichtungen bieten unterstützende Maßnahmen zur Betreuung in eigenen Kinder-Einrichtungen an.
Abbildung 2: Betreuungsangebote in den Einrichtungen
Einrichtungen, die keine eigene Kindertagesstätte oder einen Kindergarten vorhalten, haben Kooperationsvereinbarungen mit entsprechenden ortsansässigen Anbietern (siehe Abbildung 3). Jedoch bestehen die meisten Kooperationsvereinbarungen mit Grundschulen (14 Nennungen).
Abbildung 3: Kooperationsvereinbarungen mit externen Partnern
Neben einer Grundversorgung der Kinder bestehen weitere Kooperationsvereinbarungen mit folgenden Institutionen:
Förder- oder Sonderschule, Schule für Behinderte
Frühförderstelle
Kinderarzt oder Kinderklinik
Ambulante Einrichtung für Kinder von Suchtkranken
Kommunaler Fachbereich Familienhilfe und Erziehungsberatung
Kreisjugendamt (örtlich zuständiges Landratsamt)
Ergotherapie oder Logopädie
Suchtkranke Eltern sind in vielen Fällen überfordert mit der Erziehung der Kinder. Daher bieten 16 Einrichtungen neben der Betreuung der Kinder auch gemeinsame Unterstützungsangebote für Eltern und Kinder an. Insbesondere Spiel-, Sport- und Freizeitaktivitäten werden genannt. Therapeutische Gesprächsrunden und Interaktionstherapien mit Videoanalyse gehören außerdem zum Portfolio einzelner Einrichtungen. Eltern erhalten Unterstützung in Form von speziellen Gruppenangeboten (Müttergruppe, Indikative Gruppe für Eltern), Elternsprechstunden und Mütter-Kompetenztraining nach dem Programm des Kinderschutzbundes. Im Bedarfsfall finden Krisengespräche statt. Im Zusammenhang mit diesen Angeboten stellt sich für die Einrichtungen ein zusätzliches Problem: Nicht alle genannten Leistungen lassen sich angemessen in der KTL (Klassifikation Therapeutischer Leistungen) abbilden und somit entstehen Nachteile bei der Erfüllung der im Rahmen der Reha-Qualitätssicherung geforderten Standards (bspw. Reha-Therapiestandards).
Kinder von suchtkranken Eltern benötigen in erheblichem Umfang psychische, soziale, pädagogische und z. T. medizinische Unterstützung. Elf Einrichtungen geben in diesem Zusammenhang an, spezielle Förderprogramme für Kinder vorzuhalten. Je nach Entwicklungsstand des Kindes steht die emotionale, motorische, sprachliche, kognitive und soziale Förderung im Vordergrund. Dazu werden Angebote wie Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie und Frühförderprogramme angesetzt. Entspannungsverfahren, Suchtprävention und angeleitete aktive Freizeitgestaltung gehören ebenso dazu. Drei Einrichtungen verfügen über eine eigene heilpädagogische Tagesstätte. In fünf Einrichtungen werden die Kinder unter Einbeziehung von externen Kooperationspartner betreut.
Personalausstattung
Die o. g. besonderen Leistungen können nur mit Hilfe von zusätzlichem Personal bewältigt werden. In den Einrichtungen werden Erzieher/innen (16 Nennungen), Sozialpädagog/innen, Heilpädagog/innen und Therapeut/innen (elf Nennungen), Psycholog/innen bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeut/innen (vier Nennungen) und Kinderkrankenschwestern (vier Nennungen) eingesetzt. Neben Absolvent/innen des FSJ (drei Nennungen) werden auch Sport-/ Ergotherapeut/innen, Sozialassistenz und Tagesmütter genannt. Ein Teil der Einrichtungen holt sich bei Bedarf fachliche Unterstützung auf Honorarbasis.
Diese vielfältigen und umfassenden Betreuungskonzepte werden mit vergleichsweise geringem Personaleinsatz realisiert. Im Schnitt stehen 0,2 bis 0,3 Vollkräfte pro Betreuungsplatz zur Verfügung (siehe Abbildung 4), dies entspricht etwa zehn Wochenstunden pro Betreuungsplatz. Dieser Umfang ist letztlich der unzureichenden Vergütung geschuldet.
Abbildung 4: Personalausstattung pro Betreuungsplatz
Finanzierung
Für die Aufnahme von Kindern im Rahmen der Suchtrehabilitation der Eltern sehen die Rehabilitationsträger (DRV und GKV) einen tagesgleichen Haushaltshilfesatz vor, der nur die Unterbringung, Verpflegung und Aufsicht abdecken soll, weitere Leistungen werden nicht berücksichtigt. Die Obergrenze für diesen Haushaltshilfesatz liegt derzeit bei 74 Euro und wird jährlich angepasst. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen eine große Spannbreite der Vergütungssätze für begleitende Kinder. 14 Einrichtungen weisen Kostensätze bis 60 Euro aus, sieben Einrichtungen erhalten eine Vergütung in Höhe von 61 bis 70 Euro, und sechs Einrichtungen liegen über 70 Euro (siehe Abbildung 5).
Abbildung 5: Kostensätze für die Kinderbetreuung (gruppiert)
Der geringste Kostensatz bei den befragten Einrichtungen lag bei 38,50 Euro. Die betroffene Einrichtung hat den Betrieb des hauseigenen Kindergartens inzwischen wegen der massiven Unterfinanzierung eingestellt. Bei den angegebenen Kostensätzen von über 74 Euro (Obergrenze Haushaltshilfesatz DRV) werden die Differenzbeträge vom Jugendamt übernommen. Hier handelt es sich um einige wenige Einrichtungen mit Behandlungsverträgen in der Jugendhilfe gem. § 78 ff., § 27 i.V. mit § 34, § 35 i.V. mit § 34 SGB VIII. Im Bereich der GKV zahlt die AOK in vier Fällen einen Pflegesatz von 42 Euro, obwohl mit den übrigen Rehabilitationsträgern Tagessätze von 62 bis 74 Euro vereinbart sind.
Ausblick
Die Behandlung der suchtkranken Eltern steht im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zwar im Vordergrund, aber mindestens die intensive Betreuung der Kinder, wenn nicht sogar die spezifische Behandlung, ist unumgänglich. Eine frühzeitige Intervention stärkt die Kinder in ihrer psychischen und physischen Entwicklung und kann die Ausbildung von psychischen Problemen bis hin zu eigenen Suchterkrankungen verhindern. Die Umfrage zeigt, dass in den Einrichtungen mit viel Engagement versucht wird, den Kindern und ihren Familien zu helfen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Betreuungskonzepte teilweise weit über den finanzierten Rahmen hinausgehen. Die Suchtrehabilitationseinrichtungen leisten einen enorm wichtigen Beitrag zur Förderung der Teilhabe von Familien, die von Suchterkrankungen betroffen sind, und es ist sehr bedauerlich, dass es dafür bislang keinen einheitlichen leistungsrechtlichen Rahmen gibt.
Bei einem Treffen der entsprechenden Mitgliedseinrichtungen des buss im Sommer 2017 wurde der Vorschlag formuliert, eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage für die Betreuung von Kindern suchtkranker Eltern im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zu schaffen und in diesem Zusammenhang auch eine einheitliche Vergütung von Seiten der Rehabilitationsträger zu fordern. Insbesondere folgende Elemente sollten Teil der gemeinsamen konzeptionellen Grundlage sein:
Kindgerechte Unterbringung (Zimmer der Rehabilitand/innen mit Kinderschlafraum, Spielmöglichkeit, Speise- und Aufenthaltsräume, Sicherheit etc.)
Angebote zur gemeinsamen Freizeitbeschäftigung für Eltern und Kinder
Vermittlung von Kompetenzen zur Haushaltsführung und zur Grundversorgung eines Kindes
Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und Förderung der Eltern-Kind-Bindung
Feststellung des Förderbedarfs für das Kind und bei Bedarf Einleitung entsprechender Hilfe bzw. Erarbeitung von Nachsorgeempfehlung
Bei Bedarf fallbezogene Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt
Bei Bedarf Organisation der Vorstellung bei einem Kinderarzt
Ziel muss es sein, dass für Einrichtungen, die diese Mindeststandards erfüllen, der Höchstsatz für die Haushaltshilfe voll ausgeschöpft wird. Über diese ‚Basisbetreuung‘ hinausgehende Angebote müssen zusätzlich vergütet werden. Eine Möglichkeit wäre in diesem Zusammenhang die Erhöhung des tagesgleichen Vergütungssatzes der Eltern, weil von den Einrichtungen zusätzliche therapeutische Leistungen auch für die Eltern erbracht werden. Notwendig wäre auch eine längere Dauer der Reha, um der Eingewöhnungsphase und den häufigen Erkrankungen der Kinder Rechnung zu tragen. Ganz besondere Anforderungen entstehen zudem für Einrichtungen, die schwangere Patientinnen aufnehmen und diese häufig auch bis zur Geburt und darüber hinaus begleiten. Eine weitere Möglichkeit ist die ‚Co-Finanzierung‘ der Leistungen für die Kinder durch die Jugendhilfe, was in einigen wenigen Fällen schon realisiert wird. Allerdings sind hier nicht unerhebliche Hürden zwischen zwei Versorgungssegmenten (medizinische Rehabilitation und Jugendhilfe) zu überwinden, und das ist von einzelnen Einrichtungen alleine nur mit großer Mühe zu bewältigen.
Es ist dringend geboten, die Einrichtungen mit Angeboten für begleitend aufgenommene Kinder deutlicher als bisher durch die Leistungsträger zu unterstützen und dabei den gegebenen rechtlichen Rahmen auszuschöpfen sowie nach weiteren Finanzierungsmodellen zu suchen. Damit kann ein entscheidender Beitrag dazu geleistet werden, Kinder suchtkranker Eltern davor zu bewahren, selbst suchtkrank zu werden oder an anderen seelischen oder körperlichen Folgen ein Leben lang zu leiden. Einrichtungen, die Kinder begleitend zur Suchtreha der Eltern aufnehmen und entsprechende Angebote vorhalten, unterstützen die Kinder wesentlich darin, potentielle Einschränkungen in ihrer späteren gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung zu überwinden.
Der Artikel ist in der Zeitschrift Sozial Extra erschienen: Koch, A., Otto, I., „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation, in: Sozial Extra 1/2018, 42, 40-43, DOI 10.1007/s12054-018-0004-8, http://link.springer.com/article/10.1007/s12054-018-0004-8
Kontakt:
Prof. Dr. Andreas Koch
Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
Wilhelmshöher Allee 273
34131 Kassel
Tel. 0561/77 93 51 andreas.koch@suchthilfe.de www.suchthilfe.de
Angaben zu den Autoren:
Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.
Wie kann verhindert werden, dass Kinder und Jugendliche Suchtverhalten entwickeln? Und wie kann die therapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Suchtstörungen verbessert werden? Antworten auf diese Fragen wollen Psychologen, Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychiater in einem neuen Forschungsverbund finden, der vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen im Kindes- und Jugendalter (DZSKJ) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) geleitet wird. Der Startschuss für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 3,6 Millionen Euro geförderten Vorhaben erfolgte am 1. Dezember.
„Suchtstörungen tragen maßgeblich zur Krankheitslast in entwickelten Gesellschaften bei und stellen ein erhebliches Entwicklungsrisiko für Kinder und Jugendliche dar“, erklärt Prof. Dr. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des DZSKJ und Koordinator des neuen Projekts. Trotz wissenschaftlicher Fortschritte im Verständnis über die Entstehung von Suchtstörungen seien die Effekte von Prävention und Behandlung der Suchtstörungen vergleichsweise gering. „Notwendig sind deshalb wirkungsvolle, an neuen Erkenntnissen orientierte Interventionsmaßnahmen.“ Konkrete Ziele des Forschungsvorhabens sind die Entwicklung kindgerechter Versorgungsansätze für psychische Störungen, die Erforschung prägender Einflüsse auf die Gesundheit und die jeweilige Krankheit sowie die Entwicklung von Risikogruppen-bezogenen Präventionsansätzen.
Das Verbundprojekt mit dem Namen „IMAC-Mind“* wird vom BMBF im Rahmen der „Förderinitiative Gesund – ein Leben lang“ für vier Jahre mit insgesamt 3,6 Millionen Euro gefördert, knapp 1,1 Millionen Euro davon gehen ans DZSKJ. Beteiligt sind sieben Institute: neben dem UKE das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, die Uniklinik Erlangen-Nürnberg, die Katholische Hochschule Köln, die Universitätsmedizin Rostock, die Uni Bochum sowie das Institut für Therapieforschung in München. Die Fäden des Gesamtprojekts laufen in Hamburg zusammen: „Wir freuen uns und sind stolz, dieses wichtige Projekt zu koordinieren“, sagt Prof. Thomasius. „Und es zeigt auch, welch bedeutsame Rolle das DZSKJ bei Suchtfragen im Kindes- und Jugendalter innehat.“ Das Wissenschaftler-Team will jetzt zielgruppenspezifische und entwicklungsangepasste Interventionen sowohl für Jugendliche mit ersten psychopathologischen Symptomen als auch für stationär behandelte Jugendliche mit Substanzgebrauchsstörungen entwickeln. Ein weiteres im UKE angesiedeltes Teilprojekt hat die Aufgabe, die Forschungsarbeiten aller Teilprojekte methodisch und statistisch zu begleiten. Dies erfolgt im Institut für Medizinische Biometrie und Epidemiologie.
Weitere Projekte zur Alkoholprävention bei Kindern und Jugendlichen, an denen das DZSKJ beteiligt ist, sind das internationale, von der Europäischen Kommission unterstützte Vorhaben „Localize it!“, der vom BMBF-geförderte Forschungsverbund „Pro-HEAD“ und ein von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unterstütztes Projekt, das sich mit Gesundheitsförderungs- und Präventionsansätzen bei Kindern aus suchtbelasteten Familien befasst.
* IMAC-Mind: Improving Mental Health and Reducing Addiction in Childhood and Adolescence through Mindfulness: Mechanisms, Prevention and Treatment; auf Deutsch: Verbesserung der psychischen Gesundheit und Verringerung von Suchtgefahr im Kindes- und Jugendalter durch Achtsamkeit: Mechanismen, Prävention und Behandlung
Pressestelle des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), 30.11.2017
Zahlreiche Katamnesen belegen, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit im ersten Jahr nach der Rehabilitation – auch nach erfolgreichem Abschluss – für viele Drogenabhängige am größten ist und dass eine gelungene berufliche Reintegration die beste Voraussetzung für eine suchtmittelfreie Zukunft darstellt. Dennoch können auch dann, wenn ein festes Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis vorliegt, Krisen und Rückfälle auftreten. Diese Erfahrung wurde auch in der Rehaklinik Freiolsheim und in der dazugehörenden Adaptionseinrichtung im Integrationszentrum Lahr gemacht.
Im Integrationszentrum Lahr mit 20 Adaptionsplätzen absolvieren die Rehabilitand/innen in ihrer letzten Behandlungsphase ein Praktikum in einem Betrieb des ersten Arbeitsmarktes. Die Praktikumsdauer beträgt acht bis zehn Wochen. Zwischenzeitlich sind es über 400 Betriebe in der Ortenau, die Praktikant/innen aus dem Integrationszentrum Lahr aufnehmen, da bereits viele sehr gute Erfahrungen mit den Rehabilitand/innen des Integrationszentrums gemacht wurden. Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt in der Ortenau nahezu leergefegt ist und die Praktikumsgeber so die Möglichkeit haben, junge potenzielle Nachwuchskräfte unverbindlich kennenzulernen, ohne gleich mit einem Arbeitsvertrag einsteigen zu müssen. Für die Rehabilitand/innen stellt dieses Praktikum einen wichtigen ersten Schritt in die berufliche Reintegration dar und häufig auch die Chance auf einen festen Arbeitsplatz. Zwischen 50 und 65 Prozent aller Praktikant/innen des Integrationszentrums Lahr erhalten ein Angebot zur direkten Übernahme nach Beendigung der Adaptionsbehandlung. Zahlreichen Rehabilitand/innen wird auch ein Ausbildungsvertrag in Aussicht gestellt.
Krise trotz Arbeit
In der Vergangenheit hat sich jedoch gezeigt, dass viele Klient/innen zwar gerne das Arbeitsplatzangebot annehmen, dies aber zu Lasten der suchttherapeutischen Nachbetreuung geht. Im Fokus steht der Arbeitsplatz, die Drogenabhängigkeit wird als überwunden angesehen. Die Klient/innen sind überzeugt, den Ausstieg aus der Drogenabhängigkeit bewältigt zu haben. Doch hier begannen die Probleme:
Manchmal bereits nach Wochen, in anderen Fällen nach einigen Monaten, kam es zu persönlichen Krisensituationen, Rückfälligkeit und Problemen am Arbeitsplatz. Gerade bei Rückfälligkeit wurde dies von den Betroffenen so lange wie möglich verheimlicht, bis dann letztlich nach Fehlzeiten, Abmahnungen etc. der Arbeitsplatz weg und der Wiedereinstieg in den Drogenkreislauf nahezu unvermeidlich war. In seltenen Fällen wandten sich die ehemaligen Rehabilitand/innen oder auch die Arbeitsgeber frühzeitig hilfesuchend an das Integrationszentrum Lahr. Im einen oder anderen Fall gelang es so, durch Kriseninterventionen, Entgiftungen, Auffangbehandlungen oder durch andere Maßnahmen den Wiedereinstieg in die Abhängigkeit zu vermeiden und den Arbeitsplatz zu erhalten. Viel zu häufig kam jedoch jede Unterstützung zu spät, und der Arbeitsplatz war verloren.
Die Entwicklung von BISS
Auf der Basis dieser Erfahrungen stellten die Leitungen der Rehaklinik Freiolsheim und des Integrationszentrums Lahr den Kontakt zur Deutschen Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg – dem Hauptkostenträger der Rehabilitationsmaßnahmen – her, und ein Modellprojekt zur Unterstützung der beruflichen Reintegration im ersten Jahr nach Therapieabschluss wurde entwickelt. Es entstand das Modellprojekt „BISS“ (Berufliche Integration nach stationärer Suchtrehabilitation), das in einer dreijährigen Modellphase von 2010 bis 2012 vom Rehabilitationswissenschaftlichen Lehrstuhl der Universität Freiburg evaluiert wurde.
Allen regulär entlassenen Rehabilitand/innen, die sich nach der Therapie in der Ortenau niederließen, wurde angeboten, am BISS-Modell teilzunehmen. Allen Betrieben, die ehemaligen Rehabilitand/innen einen Arbeitsplatz anboten, wurde ebenfalls eine Teilnahme offeriert.
Zielsetzungen des Projektes
Die Zielsetzungen des Projektes lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Förderung der langfristigen Integration in den ersten Arbeitsmarkt von ehemals Suchtmittelabhängigen nach regulärem Abschluss einer Rehabilitationsbehandlung
Unterstützung und Begleitung ehemaliger Rehabilitand/innen während des ersten Arbeitsjahres nach der Therapie (im Falle einer begonnenen Berufsausbildung bis zum Abschluss der Ausbildung)
Unterstützung der Arbeitgeber, die bereit sind, ehemalige Suchtmittelabhängige in ein reguläres Arbeitsverhältnis einzustellen
Von Beginn an war das Interesse der Rehabilitand/innen sehr groß, an diesem Modellprojekt teilzunehmen. Viele sahen darin die Chance, noch über die Therapie hinaus Unterstützung zu erfahren und während der beruflichen Reintegration begleitet zu werden. Die mit dem Modellprojekt verbundenen regelmäßigen Alkohol- und Drogenscreenings wurden nicht als Kontrolle oder Lebenseinschränkung erlebt, sondern von den meisten als Unterstützung und Absicherung einer langfristigen Abstinenz.
Sehr erfreulich war, dass auch die Arbeitgeber das BISS-Angebot von Beginn an sehr gerne annahmen. Zum einen waren sie froh und dankbar, im Krisenfall einen kompetenten Ansprechpartner zu haben, zum anderen sahen sie durch das Projekt eine Risikominimierung im Falle der Einstellung von ehemaligen Drogenabhängigen, da diese noch einer gewissen Kontrolle unterlagen. Immer wieder kam es auch dazu, dass Arbeitgeber die Teilnahme am BISS-Projekt zur Bedingung für eine Einstellung machten.
Angebote für die Klient/innen
Die Angebote für die Klient/innen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Unterstützung einer langfristigen Abstinenz durch die monatlich stattfindende BISS-Gruppe
Angebot von Einzelgesprächen auf Wunsch der BISS-Teilnehmer/innen
Unterstützung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Vermittlung von Praktika für Teilnehmer/innen, die aus der Adaptionsbehandlung heraus keinen Arbeitsplatz gefunden haben
Krisenintervention und rasche Organisation von Hilfen im Falle von Rückfälligkeit
Unterstützung und Förderung von Ausgleichsmaßnahmen im Freizeitbereich zur Kompensation von Arbeitsbelastungen
Durchführung von unangekündigten Alkohol- und Drogenscreenings zur Absicherung der Suchtmittelabstinenz
Angebote für die Arbeitgeber
Den Arbeitgebern werden folgende Angebote gemacht:
Regelmäßige Besuche am Arbeitsplatz mit Gesprächsangeboten für Arbeitgeber und Projektteilnehmer/innen
Ansprechpartner bei Rückfallverdacht, erhöhten Fehlzeiten oder sonstigen betrieblichen Auffälligkeiten
Angebot von Mediation mit Arbeitgebern und Projektteilnehmer/innen in Konfliktsituationen
Prävention und rasche Hilfemaßnahmen bei Rückfälligkeit
Einmal monatlich treffen sich alle BISS-Teilnehmer/innen zu einem Gruppengespräch zum allgemeinen Austausch und zur Planung gemeinsamer Aktivitäten. Auf der Basis einer Schweigepflichtsentbindung und eines Dreieckvertrages zwischen Klient/in, Arbeitgeber und Integrationszentrum hat jede/r Beteiligte jederzeit die Möglichkeit, das Integrationszentrum und die BISS-Mitarbeiter/innen zu kontaktieren. Auf diese Weise werden Rückfallkrisen, aber auch sich kumulierende psychosoziale Problemlagen und Konflikte zwischen Arbeitergeber und ehemaligen Klient/innen frühzeitig aufgegriffen und können im Idealfall Rückfälligkeit verhindern und Krisen lösen.
Ist ein/e BISS-Teilnehmer/in nun tatsächlich rückfällig, können rasche Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden. Diese reichen von Kriseninterventionen und hochfrequenten ambulanten Angeboten über eine Einweisung in eine Entgiftungseinrichtung bis hin zur erneuten stationären Kurzzeitrehabilitation zur Stabilisierung. Die getroffenen Maßnahmen werden zwischen Arbeitgeber, Integrationszentrum und Klient/in abgestimmt und verhindern so im Regelfall, dass der Arbeitsplatz verloren geht. Da die BISS-Teilnehmer/innen um diese Unterstützungsmöglichkeiten wissen, ist die Bereitschaft, über Rückfälligkeit zu sprechen, durchaus groß.
Ergebnisse der Modellphase
Der im Frühjahr 2013 vorgelegte Evaluationsbericht dokumentierte hervorragende Ergebnisse der Modellphase. So zeigte sich eine hohe Zufriedenheit sowohl bei den BISS-Teilnehmer/innen als auch bei den beteiligten Arbeitgebern. Diese berichteten von einer Absicherung und Ermutigung, die durch das BISS-Projekt gegeben wird. Auch die weiteren Beteiligten wie das kommunale Jobcenter und die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg waren von den geringen Abbruchquoten und den katamnestischen Erfolgsquoten begeistert. So zeigten die BISS-Teilnehmer/innen nach einem Jahr durchweg höhere Abstinenzquoten als die Vergleichsgruppe, die im Rahmen der Studie untersucht wurde. Ebenfalls signifikant war die deutlich höhere Zahl an Ausbildungsverhältnissen in der BISS-Gruppe.
Die Evaluationsergebnisse und die positiven Rückmeldungen aller Beteiligten motivierten die DRV Baden-Württemberg dazu, das BISS-Modell ab 1. Januar 2014 in eine Regelförderung zu überführen. Für alle bei der DRV Baden-Württemberg versicherten BISS-Teilnehmer/innen erhält das Integrationszentrum Lahr einen Pauschalbetrag, der die Begleitung während des ersten Jahres nach der Therapie finanziert und somit möglich macht. Angeregt durch die Erfolge des BISS-Programms eröffnete die DRV Baden-Württemberg darüber hinaus allen Suchtberatungsstellen die Möglichkeit, eine zweite Nachsorgepauschale speziell zur Begleitung der Berufsintegration abzurechnen, d. h., neben der klassischen Nachsorgepauschale können Suchthilfeeinrichtungen nun, wenn sie ehemalige Rehabilitand/innen bei ihrer Berufsintegration begleiten, eine zweite Förderung durch die DRV Baden-Württemberg abrechnen.
Erfahrungen mit BISS als Regelangebot
Seit der Einführung von BISS als Regelangebot ab 1. Januar 2014 haben 133 Klient/innen am BISS-Programm teilgenommen. 104 dieser Teilnehmer/innen konnten in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, und 39 Teilnehmer/innen absolvierten eine Berufsausbildung. Mit insgesamt 54 BISS-Teilnehmer/innen wurde ein Bewerbertraining durchgeführt.
Das wohl beeindruckendste Ergebnis ist der hohe Anteil der regulären BISS-Beender. So haben von allen 133 Teilnehmer/innen, die bisher das Projekt beendet haben, 102 Teilnehmer/innen (77 Prozent) regulär mit laufendem Arbeitsverhältnis abgeschlossen. Lediglich 31 Teilnehmer/innen (23 Prozent) haben das Projekt vorzeitig abgebrochen. Darunter sind auch einige, die sich beruflich an anderen Orten neu orientiert haben und aufgrund der Entfernung nicht mehr teilnehmen konnten. Gemessen an Katamnese-Ergebnissen für Drogenabhängige sind diese Zahlen beachtlich.
Bei 38 BISS-Teilnehmer/innen mussten Kriseninterventionen durchgeführt werden. Über die Hälfte dieser Kriseninterventionen waren so erfolgreich, dass die BISS-Teilnahme regulär beendet werden konnte und der Arbeitsplatz erhalten blieb. Bei ca. 40 Prozent der Kriseninterventionen waren der Abbruch der Maßnahme und meist auch der Arbeitsplatzverlust bzw. die Kündigung nicht vermeidbar. Insbesondere frühzeitige Interventionen durch hochfrequente ambulante Betreuungen waren erfolgsversprechend. War die Rückfälligkeit bereits so weit fortgeschritten, dass eine Entgiftung und eine Auffangbehandlung erforderlich waren, so konnte trotz großen Aufwands die langfristige Berufsintegration bei mehr als der Hälfte dieser Fälle nicht fortgesetzt werden.
Auch als Regelangebot ist das BISS-Projekt sowohl für die Rehabilitand/innen als auch für die Arbeitgeber attraktiv. Teilweise entscheiden sich Drogenabhängige für die Durchführung der Adaption im Integrationszentrum Lahr, weil sie wissen, dass dort das BISS-Programm angeboten wird. Mit durchschnittlich 30 Teilnehmer/innen ist das BISS-Projekt ein wichtiger Baustein in der Angebotspalette des Integrationszentrums Lahr.
Wer etwas für seinen Rücken tun will, trainiert im Fitnessstudio, wer seine Kondition steigern möchte, geht in eine Laufgruppe. Aber welches Angebot bietet sinnvolle Unterstützung, um besser mit dem eigenen Suchtmittelkonsum oder suchtbezogenen Verhalten umzugehen? Hier hilft das Selbstkontrolltraining SKOLL.
Seit 2006 wird das vom Caritasverband Osnabrück entwickelte SKOLL-Training von Präventions- und Suchtfachkräften in unterschiedlichen Settings (z. B. Schule und Ausbildung, Jobcenter, Betriebe, JVAen, Bewährungshilfe) bundesweit angewendet. SKOLL schließt eine Angebotslücke für die Menschen, die sich zwischen Absichtslosigkeit und Absichtsbildung befinden (Gastpar, Mann, Rommelsbacher 1999) und sich in einer Gruppe darüber klar werden wollen, ob ihr suchtmittelbezogenes Konsum- und Verhaltensmuster schon problematisch ist. Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen (Bruns 2007; Bösing et al. 2012; Görgen, Hartmann 2013) haben die Wirkung dieses Trainings nachgewiesen. Zum Beispiel konnte das Risikoverhalten der Teilnehmenden bei Alkohol im Mittel um bis zu 50 Prozent stabil über mehrere Monate verringert werden. In den letzten zehn Jahren wurden die zahlreichen Erfahrungen der SKOLL-Trainerinnen und -Trainer und die Ergebnisse der Evaluation zur Weiterentwicklung genutzt.
Dieser Artikel verfolgt das Ziel, die Stärken des Trainingsformats für Fachkräfte in der Suchthilfe und die Teilnehmenden herauszuarbeiten. Eingegangen wird deshalb vor allem auf die Besonderheit des Trainings und die Rolle der Trainerin/des Trainers.
Ziele des SKOLL-Trainings
Das SKOLL-Selbstkontrolltraining ist ein Programm für den verantwortungsvollen Umgang mit Suchtmitteln und anderen Suchtphänomenen. Es richtet sich an Jugendliche und Erwachsene mit riskantem Konsumverhalten. Die Grundlagen bilden die Prinzipien der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 1999), das Selbstmanagement aus dem Bereich der Kognitiven Verhaltenstherapie (Kanfer, Reinecker, Schmelzer 1996), die Grundidee des Empowerments, bewährte psychoedukative Verfahren im Rahmen von Suchtprävention und die interaktionelle Methode zur Steuerung der Gruppendynamik.
SKOLL umfasst zehn Trainingseinheiten à 90 Minuten im wöchentlichen Rhythmus. Dabei werden die jeweiligen Ziele der Teilnehmenden erfasst, es wird ein individueller Trainingsplan erstellt und das Wahrnehmen von Risikosituationen geübt. Die Teilnehmenden erlernen hilfreiche Gedanken sowie einen gesundheitsförderlichen Umgang mit Stress, Konflikten und Rückschritten. Gemeinsam werden Möglichkeiten der Gestaltung von Beziehungen und Freizeit sowie stabilisierende Rituale erarbeitet.
Aufbau und Inhalte des Trainings
„Menschen lassen sich viel eher durch Argumente überzeugen, die sie selbst entdecken, als durch solche, auf die andere kommen.“ (Blaise Pascal) Das Zitat von Blaise Pascal drückt einen wesentlichen Leitgedanken des SKOLL-Programms aus. SKOLL zeichnet sich durch folgende Inhalte und Merkmale aus:
1. Es ist ein Training – keine Behandlung oder Therapiegruppe. Krisen, biografische Themen oder gar traumatische Lebenssituationen können hier nicht bearbeitet werden. Das Training ermöglicht den Teilnehmenden, neugierig auf sich selbst zu werden, Angebote zur Bearbeitung ihrer Themen in der Gruppe als hilfreich anzunehmen und sich von anderen inspirieren zu lassen.
2. Das Training steht allen offen, die in einer Gruppe ihre Konsum- und Verhaltensformen reflektieren wollen. Dabei spielen Alter, Geschlecht, Konsummittel und/oder Verhaltensform keine Rolle. Im Gegenteil, je heterogener die Gruppenzusammensetzung, desto lebendiger die Gruppe und desto stärker die Wirkung für die Einzelne und den Einzelnen. Das verbindende Element ist der Wunsch, einen Umgang mit der problematischen Situation zu finden, die durch den Konsum von Suchtmitteln oder eine Verhaltensform ausgelöst wurde. Die unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenserfahrungen der Teilnehmenden offenbaren einen Pool an Ressourcen und Kompetenzen, der das Training bereichert.
3. Die Durchführung des Trainings basiert auf einem strukturierten Manual. Es gibt so genannte Kernelemente, die sich in allen Trainingsmodulen wiederholen. Diese Kernelemente sind:
Trainingsplan: Er wird in der zweiten Trainingseinheit erstellt und ist sehr individuell gestaltet. Zur Festlegung der Ziele werden die SMART-Kriterien (Spezifisch, Messbar, Akzeptabel/Angemessen, Realistisch, Termingebunden) verwendet.
Treppe zum Ziel: Sie dient zur Sicherung der Erkenntnisse in den jeweiligen Einheiten. Die Teilnehmenden können auf Arbeitsblättern mit symbolisierten einzelnen Treppenstufen – entsprechend der Module – ihren ganz persönlichen Prozess während des Trainings festhalten.
Dokumentation: Sie ist ein wichtiges Hilfeinstrument zur Selbstkontrolle, weil damit die Erreichung des eigenen Vorhabens kontrolliert wird.
Situationsanalyse: Mit der Analyse erlebter Situationen können die eigenen Veränderungsmöglichkeiten besser erkannt und Risikosituationen besser gemeistert werden.
Die Teilnehmenden können mit ihrem Risikoverhalten experimentieren, alternative Verhaltensweisen einüben, neue Erfahrungen sammeln, sich selbst beobachten lernen, alltägliche Situationen analysieren, Gefühle benennen und Gedanken identifizieren – kurz: ihr eigenes Verhalten kritisch wahrnehmen. Durch den Einsatz der Kernelemente in jeder Trainingseinheit kommt es zu einer Verinnerlichung wirksamer Verhaltensänderungen. Damit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Veränderungen auch im Alltag umgesetzt werden.
4. Die Teilnehmenden legen ihre Ziele selbst fest. Die Trainerin/der Trainer und die Gruppe begleiten und bestärken die Einzelne/den Einzelnen dabei. Die Arbeit in der Gruppe orientiert sich an den persönlichen Zielen der Teilnehmenden. So kann es z. B. ein legitimes Ziel sein, keinen Ärger mit dem Jobcenter zu haben oder mit der Freundin. Andere kommen mit der Absicht zu überprüfen, ob sich der Alkoholkonsum noch in einem ‚normalen Rahmen‘ befindet. SKOLL hilft bei der Zielerreichung durch ein gesundheitsbezogenes Selbstmanagement und allgemeine Problemlösungsfertigkeiten. Dadurch erhöht sich die Kontrolle über das Risikoverhalten, und die Gesundheit der Teilnehmenden verbessert sich. SKOLL ist deshalb für unterschiedlich motivierte Teilnehmende geeignet und wirksam.
5. Die Trainerinnen und Trainer werden in einem mehrtägigen Seminar geschult und bei Bedarf begleitet. Zur kontinuierlichen Durchführung des Trainings werden Tandems gebildet. Im Fokus der Trainerschulung stehen die handlungsorientierte Vermittlung der einzelnen SKOLL-Module sowie die Einübung einer akzeptierenden Grundhaltung. Bei der Gestaltung der Trainingseinheiten gibt es ausreichend Raum, um die jeweils eigenen fachlichen Ressourcen und Kompetenzen miteinzubringen.
Die Rolle der SKOLL-Trainerin/des SKOLL-Trainers
Hier einige Aussagen von Trainerinnen und Trainern:
„Für mich war das Schwierigste, mich zurückzunehmen, meine Trainerrolle zu finden, doch dann stellte ich fest, dass der Austausch innerhalb der Gruppe sehr spannend ist und eine große Gruppendynamik entsteht.“
„Es hat auch was Erfrischendes.“
„Das Training birgt viel Abwechslung, davon profitieren eigentlich alle.“
Aufgaben der Trainingsleitung:
1. Die Trainerinnen bzw. Trainer schreiben die Inhalte und die Struktur des Trainings vor. Sie sind die ‚Impulsgeber‘ für die Teilnehmenden und fördern die Interaktion in der Gruppe. Das Training bezieht seine Stärke aus dieser lebendigen Interaktion. Umso mehr sich die Trainingsleitung auf ihre beobachtende und impulsgebende Rolle zurückzieht, umso mehr kann zwischen den Teilnehmenden geschehen. Dabei sind es oft kleine Erkenntnisgewinne, die große Wirkung entfalten.
2. Bei Verstößen gegen die Gruppenregeln, die von den Teilnehmenden im Rahmen der Gruppendynamik nicht eigenständig korrigiert werden können, obliegt der Trainerin/dem Trainer die Aufgabe der Intervention.
3. Um Über- und Unterforderungen zu vermeiden, ist ein offener Blick für die individuellen Ressourcen und Bedürfnisse wichtig, um ggf. durch Aufgabenverteilung eine Ausgewogenheit herzustellen.
4. Die Trainingsleitung stärkt die positiven Veränderungen und trägt wertfrei die als Teil des Prozesses zu akzeptierende Stagnation bzw. auch Rückschritte mit.
Die wichtigsten Faktoren für die Gestaltung der Beziehung der Trainerin/des Trainers zu den Teilnehmenden sind Empathie, Wertschätzung und gegenseitiges Vertrauen. Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit der Teilnehmenden werden stets betont. Selbstheilungskräfte, vorhandene Ressourcen, gesunde Verhaltensmuster und Bewältigungsstrategien werden gefördert und genutzt.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die SKOLL-Trainerin/der SKOLL-Trainer ein förderndes Klima für die Teilnehmenden schafft, damit diese selbstbestimmt handeln, eigene Ziele festlegen und eine eigene Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen können. Jede/jeder trainiert die eigenen Stärken und Fähigkeiten, um wieder die Macht zu spüren, die eigene Geschichte beeinflussen zu können.
Die SKOLL-Fachkräfte verstehen sich als ‚Verbündete‘ der Teilnehmenden, ohne vorzugeben, die richtige Methode, die zum Ziel führt, zu kennen. Für die erfolgreiche Implementierung von Trainings in den unterschiedlichen Institutionen ist es notwendig, dass diese Haltung nicht nur von den Trainerinnen und Trainern getragen wird, sondern auch von der dortigen Leitung und dem Team.
Die Verbreitung von SKOLL
Der Transfer des Trainings erfolgte bisher durch die Etablierung in seinem ursprünglichen Kontext der Suchthilfe und erfuhr dann eine Ausweitung in weitere Bereiche wie z. B. Schulen, Job-Center und die Wohnungslosenhilfe. Unter dem Gesichtspunkt der nachhaltigen Qualitätssicherung wurden erfahrene SKOLL-Trainerinnen und -Trainer zu SKOLL-Lehrtrainerinnen und -Lehrtrainern geschult. So können bundesweite Schulungen angeboten werden. Die Lehrtrainerinnen und -trainer erfüllen das notwendige Qualifikationsprofil, um das evidenzbasierte Manual, die in der Fläche nachgewiesenen Wirkfaktoren und die daraus erstellten Qualitätsstandards weiterzuvermitteln.
Eine Weiterentwicklung des bewährten SKOLL-Konzepts stellt SKOLL-SPEZIAL dar. SKOLL-SPEZIAL ist ein Angebot für Menschen, die sich gezielt mit Alkohol und Nikotin auseinandersetzen möchten. Das Training wurde von der Zentralen Prüfstelle Prävention der GKV als Maßnahme nach § 20 SGB V anerkannt. Die Kosten für die Teilnahme können bei den Krankenkassen abgerechnet werden.
Die letzte wissenschaftliche Untersuchung (Görgen, Hartmann 2013) zeigte, dass SKOLL nicht nur als Intervention bei Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Problemlagen Nutzen bringt. Auch die Fachkräfte selbst – aus der Sucht- und Drogenhilfe, aber auch aus angrenzenden Arbeitsfeldern – profitieren von der Ausbildung zu SKOLL-Trainerinnen und -trainern. Die Ausbildung enthält hohe Anteile selbstreflexiver Elemente, die geeignet sind, das eigene Selbstverständnis, die verfolgten Ziele und angewendeten Methoden zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
So gilt es, SKOLL-Trainings in den unterschiedlichen Settings weiter zu implementieren, mehr motivierte Trainerinnen und Trainer zu finden und das SKOLL-Programm damit zu einem flächendeckenden, entstigmatisierenden Angebot in der Suchtprävention und Frühintervention zu machen.
SKOLL und SKOLL-SPEZIAL wurden entwickelt vom Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V. Weitere Informationen zum Training und zu Schulungen sind unter www.skoll.de zu finden.
Sabine Bösing ist Diplom-Sozialpädagogin, Suchttherapeutin (DRV-anerkannt), systemische Coachin und Beraterin für Organisationsentwicklung/Changemanagementprozesse. Sie hat langjährige Erfahrung in der Entwicklung und Umsetzung von Landes- und Bundesprogrammen zur Prävention und Gesundheitsförderung und war Bundesmodellkoordinatorin von SKOLL. Heute ist sie als Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband tätig und als freie Trainerin und Ausbilderin für SKOLL, SKOLL-SPEZIAL und zum Thema Empowerment.
Literatur:
Bösing, S., Kliche, T., Tönsing, C. (2012): Transfer und Evaluation des SKOLL-Selbstkontrolltrainings in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Wirksamkeit, Umsetzung und Versorgungsaspekten, insbesondere im ländlichen Raum (Abschlussbericht 2012, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.).
Bruns, B. (2007): SKOLL – SelbstKOntroLL-Training. Eine Studie zur Effektivität des Frühinterventionsmodells bei substanz- und verhaltensbezogenen Störungen im Auftrag des Deutsch-Niederländischen Suchthilfeverbundes. Fachhochschule Norddeutschland, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Osnabrück.
Gastpar, M. H., Mann, K. H., Rommelspacher, H. H. (1999): Lehrbuch der Suchterkrankungen. Stuttgart, New York.
Görgen, W., Hartmann, R. (2013): Befragungen im Rahmen einer nachhaltigen Qualitätssicherung des SKOLL-Selbstkontrolltrainings im Zusammenhang seiner flächendeckenden Umsetzung. FOGS, Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich, Köln.
Kanfer, F. H., Reinecker, H., Schmelzer, D. (1996): Selbstmangement-Therapie. Ein Lehrbuch für die klinische Praxis. Berlin.
Kliche, T., Boye, J., Griebenow, B., Richter, S. (2009): Bundesmodellprojekt SKOLL: Evaluation eines übergreifenden Trainingsprogramms bei riskantem Konsum von Suchtmitteln. Erste Befunde zur Umsetzung aus der Nutzerbefragung 2008-09. Unveröffentlichtes Manuskript.
Miller, W., Rollnick, S. (1999): Motivierende Gesprächsführung. Ein Konzept zur Beratung von Menschen mit Suchtproblemen. Freiburg.
Petermann, M. (2010): Möglichkeiten und Grenzen von Selbstmanagement im Rahmen ambulanter Suchtberatung und -behandlung unter besonderer Berücksichtigung des Selbstkontrolltrainings (SKOLL). Diplomarbeit an der Berufsakademie Sachsen, Staatliche Studienakademie Breitenbrunn.
Dr. Klaus WölflingDr. Kai W. MüllerProf. Dr. Manfred E. BeutelJun.-Prof. Dr. Leonard Reinecke. Foto: Richard Lemke
Die zunehmende Verbreitung des Internets und insbesondere die hohe Nutzungsrate bei Jugendlichen (JIM-Studie, 2015) hat in den letzten Jahren zu einem intensiven gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs geführt. Im Zentrum steht die Frage nach den Folgen der Digitalisierung. Da sich die Nutzung ‚neuer‘ Medien in annähernd allen Gesellschaftsschichten mit einer beispiellosen Geschwindigkeit vollzieht, fehlen weitestgehend Vergleichsmöglichkeiten in Bezug auf die positiven wie auch negativen Auswirkungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene. Aktuelle Statistiken weisen aus, dass das Internet unter Kindern und Jugendlichen einen besonders hohen Stellenwert einnimmt und internetbasierte Aktivitäten wie etwa Chats und weitere Kommunikationsplattformen, aber auch Online-Computerspiele und Unterhaltungsportale einen integralen Bestandteil im Leben und Aufwachsen dieser Generation darstellen (JIM-Studie, 2015). Diese Generation wird auch als „Digital Natives“ (deutsch: Digitale Eingeborene) bezeichnet.
Mehr noch als in erwachsenen Bevölkerungsschichten ist hier ein Spannungsfeld zu beobachten, in welchem einerseits Befürwortung der Internetnutzung, andererseits Bedenken hinsichtlich möglicher nachteiliger Effekte auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aufeinandertreffen. Während theoretisch zu erwarten ist, dass beide Positionen in gewissem Maße zutreffen, muss aus empirischer Sicht festgehalten werden, dass derzeit lediglich eine dünne und damit insgesamt wenig belastbare Datengrundlage existiert, welche die mittel- und langfristigen Folgen der Digitalisierung unseres Lebens abbilden könnte. So bleiben wichtige Fragen vorerst ungeklärt, wie etwa die Auswirkung der Digitalisierung auf die Entwicklung der sozioemotionalen Kompetenz oder die Fähigkeit, internetbasierte Fertigkeiten auf andere Lebensbereiche übertragen zu können. Eine besondere Rolle nimmt die Frage ein, welche Auswirkungen eine intensive bis exzessive Mediennutzung auf die psychische Gesundheit hat.
„Nur eine Phase?“ – und weitere offene Fragen
Ein viel diskutierter und eindeutiger Nachteil, den die Digitalisierung gebracht hat, ist das Auftreten eines neuen Störungsbildes. Die im Jahr 2013 erfolgte Aufnahme der „Internet Gaming Disorder“ in das Klassifikationssystem für psychische Störungen (DSM-5) als Forschungsdiagnose zeugt davon, dass mit der Verbreitung des Internets auch vorher unbekannte gesundheitsrelevante Auswirkungen der Mediennutzung festzustellen sind (APA, 2013). Aktuelle querschnittliche Erhebungen konnten zeigen, dass ein nicht zu vernachlässigender Anteil der deutschen Allgemeinbevölkerung und gerade auch der Jugendlichen computerspiel- oder internetsüchtiges Verhalten aufweist und hierüber teils dramatische Einschränkungen der psychischen Gesundheit hinnehmen muss. Jedoch stellt sich die Frage nach der zeitlichen Stabilität suchtartiger Internetnutzung: Handelt es sich bei dem Verhalten eher um ein fokussiertes Interesse und damit nur um eine ‚Phase‘? Oder ist das Medienverhalten tatsächlich eine Sucht und bedarf externer, professionaler Hilfe? Außerdem stellt sich die Frage nach den Entstehungsbedingungen einer exzessiven Nutzung: Welche Risikofaktoren begünstigen einen suchtartigen Medienkonsum und welche Faktoren wirken – vielleicht trotz einer intensiven Nutzung – schützend?
Während seit etwa zehn Jahren eine Zunahme von Querschnittstudien – teilweise auch in Form von repräsentativen Erhebungen – zu verzeichnen ist und somit die oben stehenden Fragen zum Teil schon in den Fokus wissenschaftlichen Interesses gerückt sind, stellen Längsschnitterhebungen noch immer eine Seltenheit dar. Dies ist ungünstig, da Querschnitterhebungen zwar wichtige Erkenntnisse zum Thema erlauben, konkrete Aussagen über die kausalen Zusammenhänge bestimmter Merkmale jedoch nur über längsschnittliche Forschungsmethoden getroffen werden können.
Viele Jugendliche durchlaufen Phasen mit gesteigertem Interesse an bestimmten Themen. Hierbei handelt es sich um ein aus entwicklungspsychologischer Sicht ganz normales Phänomen, welches für die Autonomieentwicklung in dieser Phase sogar notwendig ist. Diese Phasen können spontan enden oder von neuen Phasen abgelöst werden. Auch von risikoreichem Verhalten wie etwa dem Rauschmittelkonsum ist bekannt, dass sich Konsummuster aus dem Jugendalter keineswegs zwangsläufig im Erwachsenenalter fortsetzen müssen, sondern ebenfalls einer spontanen Remission unterliegen können (Moffitt, 1993). Analog könnte es sich mit dem problematischen bzw. suchtartigen Mediengebrauch verhalten, d. h. es könnte sich hierbei lediglich um eine temporäre Erscheinung in der Entwicklung handeln.
Viele Studien zur Internetsucht beschränken sich auf eine einmalige Erhebung des Phänomens, also auf eine Abbildung der Situation im Hier und Jetzt. Um den Verlauf bzw. die zeitliche Stabilität abzubilden, sind solche Studiendesigns demnach ungeeignet. Lediglich Längsschnitterhebungen, die ein und dasselbe Phänomen bei denselben Personen zu mehreren unterschiedlichen Zeitpunkten erfassen, können Aufschluss über wichtige Zusammenhänge und tiefere Einblicke in die Thematik geben. Solche Studien werden aufgrund des damit verbundenen enormen Aufwands jedoch zum einen selten durchgeführt, und zum anderen sind sie häufig methodisch nicht einwandfrei. So stellt sich etwa immer wieder das Problem, dass die untersuchte Kohorte nicht über den zeitlichen Verlauf gehalten werden kann, was bisweilen in Stichprobenreduktionen auf zum Teil deutlich unter 50 Prozent resultiert. Aus diesen Gründen ist die Forschungsliteratur zur zeitlichen Stabilität suchtartiger Internet- und Computerspielnutzung, aber auch zu anderen Langzeiteffekten der Mediennutzung durch Jugendliche deutlich unterrepräsentiert. Der bisherige Stand der Forschung soll nachstehend kurz zusammengefasst werden.
Befunde bisheriger Längsschnittstudien
Forscher untersuchten im Jahr 2014 rund 3.000 Schüler in Taiwan im Alter zwischen 15 und 17 Jahren über einen Zeitraum von zwölf Monaten bezüglich der Stabilität internetsüchtigen Verhaltens (Chang, Chiu, Lee, Chen & Miao, 2014). Es wurde festgestellt, dass rund 66 Prozent der anfänglich als internetsüchtig diagnostizierten Jugendlichen auch noch bei der (abschließenden) zweiten Messung die diagnostischen Kriterien für eine Internetsucht erfüllten. Positiv hervorzuheben ist die methodische Stärke der Studie: So wurde auf einen gut etablierten Fragebogen zurückgegriffen (CIAS, Chen Internet Addiction Scale; Chen, Weng & Su, 2003) und eine hohe Haltequote der Studienteilnehmer erzielt: 77 Prozent der Schüler nahmen zu beiden Messzeitpunkten teil. Eine weitere Untersuchung aus dem asiatischen Raum fand über einen Zeitraum von drei Jahren statt (Yu & Shek, 2013). Von den 3.300 jugendlichen Befragten nahmen noch 80 Prozent zum letzten Zeitpunkt an der Befragung teil. Der Anteil der Jugendlichen mit Internetsucht erwies sich hier als annähernd stabil: Während zum ersten Zeitpunkt 26 Prozent die Kriterien einer Internetsucht erfüllten, belief sich der Anteil zum Zeitpunkt der letzten Befragung noch auf 23 Prozent.
Speziell zur Computerspielsucht führten Gentile und Kollegen (2011) eine Studie an 3.000 Jugendlichen aus Asien durch. Ihre Ergebnisse deuten ebenfalls auf eine hohe Stabilität des Problemverhaltens hin. 84 Prozent der zu Beginn als suchtartige Spieler eingeschätzten Jugendlichen zeigten auch noch nach zwei Jahren das gleiche Problemverhalten. Methodisch zu bemängeln ist jedoch die Verwendung eines bislang nicht anerkannten Fragebogens zur Klassifikation der Computerspielsucht.
Interessanterweise kommen Längsschnittstudien mit europäischen Teilnehmern zu abweichenden Ergebnissen und legen eher den Schluss einer mittleren bis schwachen zeitlichen Stabilität des suchtartigen Verhaltens nahe. Lemmens, Valkenburg und Peter (2011) berichten für eine kleine Stichprobe von 851 Jugendlichen über einen Zeitraum von sechs Monaten geringe Stabilitäten der Diagnose Computerspielsucht. Sie zeigten jedoch gleichzeitig auf, dass eine suchtartige Computerspielnutzung eine zumindest exzessive (also zeitlich ausufernde) Computerspielnutzung sechs Monate später voraussagte. Das Problemverhalten remittierte also nicht vollständig.
Eine erste Untersuchung basierend auf einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in Deutschland nahmen Scharkow, Festl und Quandt (2014) an 4.500 regelmäßigen Computerspielern vor. Hier zeigte ein Prozent der Befragten über den gesamten Zeitraum von zwei Jahren ein problematisches Computerspielverhalten, wohingegen es bei drei Prozent zu einer Veränderung hin zu einem unauffälligen Computerspielverhalten kam. Obgleich dieser Studie eine wichtige Pionierrolle für den deutschen Sprachraum zukommt, lassen sich doch methodische Unzulänglichkeiten finden. Diese betreffen insbesondere die geringe Haltequote der Stichprobe (lediglich 902 der initial 4.500 Teilnehmer konnten zwei Jahre später nachbefragt werden).
In den oben berichteten Untersuchungsergebnissen wird eine erhebliche Heterogenität deutlich. Daraus lässt sich ein Bedarf an methodisch hochwertigen Studien mit mehreren Messzeitpunkten, ausreichender und kohortenspezifischer Teilnehmerzahl zu allen Messzeitpunkten und zuverlässigen Instrumenten zur Messung der Internetsucht ableiten.
Schutz- und Risikofaktoren
Insbesondere erscheint es relevant, in solchen langfristig angelegten Untersuchungen Faktoren ausfindig zu machen, die zu einer Stabilität der Problematik beitragen können oder diese gar bedingen. Erkenntnisse über schützende Faktoren, die zu einer Verbesserung der suchtartigen Mediennutzung beitragen, sind vor allem für die Ableitung präventiver Strategien, aber auch für Interventionsprogramme wichtig. Gerade in dieser Hinsicht mangelt es derzeit noch an aussagekräftigen Forschungsbefunden. Ob sich eine verstärkte Mediennutzung nachteilig auf bestimmte Gruppen von Adoleszenten, die beispielsweise eine spezifische Vulnerabilität mitbringen, auswirkt und welche Einflüsse hierzu beitragen, muss von daher eine wesentliche Aufgabenstellung der modernen Forschung sein. Einen theoretischen Ausgangspunkt für die Formulierung zielgerichteter Hypothesen bietet die inzwischen reichhaltige Literatur aus Querschnittserhebungen.
Wenngleich die Anzahl jener Studien, die sich gezielt mit der Frage nach Schutz- und Risikofaktoren befassen, noch überschaubar ist, deuten einzelne Befunde doch darauf hin, dass das Auftreten einer Internetsucht unter bestimmten Voraussetzungen wahrscheinlicher ist. Ähnlich wie bei anderen psychischen Erkrankungen und Abhängigkeitsphänomenen legt die Forschung einen Zusammenhang zwischen bestimmten Persönlichkeitsdimensionen und Internetsucht nahe. Demnach ist in erhöhtem Neurotizismus, niedriger Gewissenhaftigkeit oder verminderter Extraversion zumindest ein Korrelat internetsüchtigen Verhaltens zu sehen und möglicherweise sogar ein kausaler Faktor, der die Krankheitsentstehung direkt beeinflusst (vgl. z. B. Müller et al., 2014; Kuss et al., 2014; Braun et al., 2015; für eine Übersicht vgl. Müller, 2013). Hiervon ausgehend kann angenommen werden, dass möglicherweise das Gefühl von einer bedrohlichen Welt voller potenzieller Stressoren zu einer stärkeren Hinwendung zum Internet führt. In dieser als sicher und berechenbar erlebten Online-Welt kann der Jugendliche Belastungen entfliehen und erlebt eine erhöhte Selbstwirksamkeit (Müller, 2013). Im Umkehrschluss ist gleichzeitig anzunehmen, dass es bestimmte Umstände gibt, die eine Remission des exzessiven oder gar suchtartigen Nutzungsverhaltens begünstigen – und eben dieser Punkt ist es, über den es zum aktuellen Zeitpunkt noch so gut wie keine Erkenntnisse gibt. Wissen über diese Thematik würde entscheidende Vorteile mit sich bringen. Im Sinne der positiven Psychologie wäre es etwa möglich, ressourcenfördernd bzw. -aktivierend zu arbeiten und bestehende Präventionskonzepte um entsprechende Module zu ergänzen.
Einen Versuch, Schutz- und Risikofaktoren bei der Entwicklung von unauffälligem, problematischem und suchtartigem Internetverhalten zu eruieren, nahm die Forschergruppe um Dreier im Jahr 2012 vor. In ihrer international angelegten qualitativen Studie wurden Tiefeninterviews mit Jugendlichen durchgeführt, welche ein intensives bis exzessives Internetnutzungsverhalten aufwiesen. Die Forscher stellten in dieser spezifischen Stichprobe adaptive sowie maladaptive Strategien im Umgang mit dem Internet fest: Zu den identifizierten adaptiven Strategien zählten Kompetenzen wie etwa die Priorisierung von Offline-Aktivitäten als gezielter Ausgleich zum Online-Verhalten sowie angewandtes Verhaltensmonitoring, um die Onlinenutzungszeiten nicht entgleiten zu lassen. Demgegenüber ließen sich maladaptive Strategien identifizieren wie das gezielte Umgehen elterlicher Kontrolle und die Bagatellisierung des exzessiven Verhaltens.
Verschiedene Nutzertypen
Anhand der Befragung von Dreier et. al (2012) konnten vier unterschiedliche Nutzertypen ausgemacht werden: „Stuck online“, „Juggling it all“, „Coming full cycle“ und „Killing boredom“. Jugendliche des Typs Stuck online zeigten einen exzessiven Internetkonsum, vernachlässigten wichtige Alltagsaktivitäten (Schule, Freunde, Pflichten) und schafften es nicht aus eigener Kraft, den Internetkonsum zu reduzieren. Die exzessive Nutzung zeigte bei diesen Jugendlichen bereits negative Konsequenzen wie beispielsweise Schlafstörungen. Als Risikofaktoren für diesen Typ wurden defizitäre soziale Fertigkeiten genannt, die teilweise auf erlebte Enttäuschungen in sozialen Interaktionen, aber auch auf Mobbingerlebnisse zurückgeführt werden können. Der Typ Juggling it all zeigt eine Balance zwischen Online- und Offline-Aktivitäten. In beiden ‚Welten‘ zeigen sich Jugendliche dieses Typs sehr präsent, was – negativ betrachtet – zu einem vollen Zeitplan und Stress führen kann. Als protektiven Faktor wiesen diese Jugendliche ein hohes Maß an sozialer Kompetenz auf, die sich darin äußerte, dass die Jugendlichen einen qualitativen Unterschied zwischen Offline- und Online-Kommunikation machen. Gleichzeitig nehmen die Online-Aktivitäten Bezug zur Offline-Welt (z. B. Jugendlicher mit vielen Freunden, der viel Aktivität auf sozialen Netzwerken aufweist). Jugendliche des Typs Coming full cycle zeigten ein exzessives Nutzungsverhalten, konnten jedoch durch Selbstregulierungsprozesse eine progressive und adaptive Veränderung in ihrem Verhalten erzielen. Bei diesen Jugendlichen handelte es sich lediglich um eine ‚Phase‘ exzessiver Nutzung, die sich ohne externe Hilfe wieder legte. Der Typ Killing boredom empfindet die Offline-Welt als langweilig, und ihm fehlt es an alternativen Aktivitäten, die ihn interessieren. Die Internetnutzung ist ein Zeitfüller und eine automatisierte Reaktion auf Langeweile. Dieser Typ zeigt wenig Eigeninitiative in der aktiven Exploration von Verhaltensalternativen und hat begrenzte soziale Fähigkeiten.
Zusammenfassend scheint die Befundlage zu Risiko- und protektiven Faktoren hinsichtlich der Entwicklung einer Internetsucht überschaubar. Insbesondere an ganzheitlichen und langfristigen Betrachtungen fehlt es bislang. Die Durchführung weiterer methodisch einwandfreier Längsschnittstudien ist in diesem recht neuen Themengebiet bedeutsam, um Präventionskonzepte und Strategien der Frühintervention an die Bedürfnisse der Jugendlichen anpassen zu können.
Die intensive Nutzung internetbasierter Anwendungen durch Jugendliche zeigt, dass in vielerlei Hinsicht von einem Wandel im Freizeit- und Kommunikationsverhalten auszugehen ist, der auf keinen Fall automatisch mit einem Krankheitswert gleichzusetzen ist. Im Gegenteil existieren empirische Befunde, die der Nutzung moderner Medien mancherlei positive Effekte bescheinigen (z. B. Greitemeyer, 2011). Bei allen nachteiligen Konsequenzen, die eine manifeste Internetsucht nach sich zieht, sollte also nicht außer Acht gelassen werden, dass internetsüchtiges Verhalten mit einer Prävalenz zwischen zwei und vier Prozent in Europa deutlich seltener ist als die problematische Internetnutzung.
Die Studie „Always on – Mediennutzungsverhalten im Verlauf“
Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Vertreter/innen der Fachdisziplinen Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Medizin und Medienpädagogik hat sich zum Ziel gesetzt, die oben genannten offenen Punkte näher zu beleuchten. In der vom Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität finanzierten Studie „Always on – Mediennutzungsverhalten im Verlauf“ wird eine repräsentative Stichprobe von 2.500 Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren aus Rheinland-Pfalz schriftlich befragt. Das innovative Moment der Erhebung stellt die Begleitung der Jugendlichen über zwei Jahre hinweg dar. Es wird angestrebt, die Teilnehmer zu insgesamt drei Messzeitpunkten (2015, 2016 und 2017) zu denselben Themen zu befragen und somit Aussagen über individuelle Verläufe in der Mediennutzung treffen zu können. Ebenso soll es möglich werden, Rückschlüsse auf die Kausalität der gefundenen Zusammenhänge zu ziehen. Bei der inhaltlichen Konzeption der Befragung wurde Wert darauf gelegt, dass die Fragestellungen nicht explorativ, sondern theoriegeleitet sind und eine entwicklungspsychologische Perspektive eingenommen wird. Zentrale Inhalte des Projekts betreffen:
Art und Umfang des Mediennutzungsverhaltens
Subjektive und objektive Beeinflussbarkeit durch Medieninhalte
Häufigkeit und Effekte von „Digital Stress“
Veränderung von Peer-Kontakten durch die Nutzung sozialer Netzwerke
Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung durch unterschiedlich intensive Mediennutzung
Prävalenz, Inzidenz (= Häufigkeit der Neuerkrankungen), Stabilität und Remission von Internetsucht
Belastung durch psychosoziale Symptome in unterschiedlichen Nutzergruppen
In der Erhebung kommen ausschließlich gut etablierte Erhebungsinstrumente zum Einsatz, welche vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Ansatzes zusammengestellt wurden. Hierüber sollen die Effekte der Mediennutzung möglichst breit erfasst werden, sodass sich Raum für die Identifikation sowohl von positiven als auch negativen Effekten bietet. Die Studie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf insgesamt 24 Monate angelegt, jedoch wird angestrebt, die rekrutierte Kohorte über den genannten Zeitraum hinaus beizubehalten und im Idealfall auch den Übergang von der Adoleszenz in das junge Erwachsenenalter abbilden zu können.
Die Dipl.-Psychologen Dr. Klaus Wölfling, Dr. Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel forschen und arbeiten an der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dr. Leonard Reinecke ist Juniorprofessor am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Literatur:
APA – American Psychiatric Association. Diagnostic and statistical manual of mental disorders. 5th ed. Arlington, USA: American Psychiatric Publishing; 2013.
Braun, B., Stopfer, J.M., Müller, K.W., Beutel, M.E. & Egloff, B. (2016). Comparing regular gamers, non-gamers, and gaming addicts and differentiating between game genres. Computers in Human Behavior, 55, 406-412.
Chang, F. C., Chiu, C. H., Lee, C. M., Chen, P. H., & Miao, N. F. (2014). Predictors of the initiation and persistence of Internet addiction among adolescents in Taiwan. Addictive Behaviors, 39, 1434–1440.
Chen, S., Weng, L., & Su, Y. (2003). Development of Chinese Internet Addiction Scale and its psychometric study. Chinese Journal of Psychology, 45, 279–294.
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