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  • Die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen – Chancen und Risiken für die Suchthilfe

    Die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen – Chancen und Risiken für die Suchthilfe

    Am 1. September 2020 ist ein neues Psychotherapeutengesetz in Kraft getreten. Seit dem Wintersemester 2020/21 ist es möglich, die Universität nach einem fünfjährigen Studium mit dem Masterabschluss „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ und mit Approbation zu verlassen. Daran kann sich eine Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in anschließen (KONTUREN berichtete).

    Ab 2024 werden mit steigender Anzahl approbierte Psychotherapeut:innen von den Universitäten abgehen und ihre Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in beginnen. Durch das neue Psychotherapeutengesetzt wird es ihnen u. a. möglich sein, die zweijährige stationäre Weiterbildungsphase komplett in der Suchtrehabilitation zu absolvieren. Wie wird sich die Veränderung in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut:innen auf die Einrichtungen der Suchthilfe auswirken? KONTUREN online hat Expert:innen aus der Praxis nach ihren Einschätzungen gefragt und die Antworten im Folgenden zusammengestellt. Die Leitfrage an alle Expert:innen lautete:

    Welche Chancen, Risiken und Herausforderungen sehen Sie in der neuen Weiterbildung der Psychotherapeut:innen und wie gehen Sie in der Praxis damit um?

     

    Dr. med. Elke H. Sylvester

    Dr. Elke H. Sylvester

    Chefärztin, Fachklinik Nettetal, CRT Caritas-Reha und Teilhabe GmbH, Wallenhorst

    Nachdem die Ausbildung der Psychotherapeut:innen auf neue gesetzliche Grundlagen gestellt wurde, ist es seit dem Wintersemester 2020/21 möglich, nach einem fünfjährigen Universitätsstudium und erfolgreicher Abschlussprüfung die Approbation als Psychotherapeut:in zu bekommen. Eine nach Landesrecht organisierte Weiterbildung (auf Basis der Muster-Weiterbildungsordnung von Seiten der Bundespsychotherapeutenkammer) soll in stationären und ambulanten Einrichtungen angeschlossen werden. Die Weiterbildung zur Fachpsychotherapeut:in erfolgt damit in Analogie zur ärztlichen Weiterbildung.

    Für den großen Bereich der Suchthilfe ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Beschäftigung der zukünftigen Psychotherapeut:innen sowohl in der ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation als auch in Übergangseinrichtungen. Damit besteht die Möglichkeit, fundierte Erfahrungen in der multiprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit zu sammeln.

    Die vergleichsweise langen Therapiezeiten bieten auch angehenden Fachpsychotherapeut:innen eine gute Möglichkeit, entsprechend umfassende Therapie- und Veränderungsprozesse kennenzulernen, im Weiteren selbst zu initiieren und unter Supervision zu gestalten. Der Wirkfaktor der therapeutischen Beziehung kann so umfassend gelernt und erfahren werden. Der hohe Anteil an gruppentherapeutischen Angeboten ergänzt den Weiterbildungsprozess in besonderer Weise. Der Blick über das „eigene“ Setting hinaus wird dabei durch die gute Vernetzung in der Suchthilfe gefördert. Die vorgesehenen Weiterbildungszeiten zum / zur Fachpsychotherapeut:in, die länger sind als die Praktika in der bisherigen Ausbildung, kommen diesem Prozess zugute.

    Die neue Psychotherapie-Ausbildung sieht die Möglichkeit einer Qualifizierung in der Sozialmedizin vor. Für die medizinische Rehabilitation ist diese Qualifikation erforderlich. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels auch im ärztlichen Bereich ergeben sich hier neue Möglichkeiten, den Anforderungen der Kosten- und Leistungsträger gerecht zu werden.

    Suchttherapie ist mehr als reine Psychotherapie – es wird für die Weiterbildungsanbietenden notwendig sein, dieses Wissen potenziellen Bewerber:innen zu vermitteln. Auch die in der medizinischen Rehabilitation erforderliche Orientierung nicht nur an Diagnoseklassifikationssystemen (ICD-10, DSM-V), sondern an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) mit der entsprechenden Auswirkung auf die Gestaltung von Therapieprozessen, sollte deutlich kommuniziert werden. Das Therapieziel ist nicht nur eine Symptomreduktion, sondern eine umfassende Verbesserung der Teilhabe.

    Eine Herausforderung besteht schon jetzt darin, therapeutisch Tätige mit unterschiedlicher Grundprofession und dementsprechend unterschiedlicher Therapieausbildung gut in ein Team zu integrieren und Grabenkämpfe insbesondere zwischen Suchttherapeut:innen und Psychotherapeut:innen zu vermeiden. Beide sind für eine gelungene Suchttherapie –natürlich neben den anderen notwendigen Berufsgruppen – unverzichtbar.

    Eine Substanzkonsumstörung ist eine bio-psycho-soziale Erkrankung. In der Praxis heißt das, dass im Therapieprozess alle Ebenen Berücksichtigung finden müssen. Die Komorbidität weiterer psychischer Störungen ist dabei eher die Regel, denn die Ausnahme. Dementsprechend kann der große Bereich der Suchthilfe eine fundierte Weiterbildung nicht nur hinsichtlich der Substanzkonsumstörung, sondern auch in Bezug auf weitere psychische Störungen wie affektive Störungen, psychotische Erkrankungen, Traumafolgestörungen, Angsterkrankungen, ADHS oder Persönlichkeitsstörungen garantieren.

    Je besser dabei das Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Professionen und den unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen, desto besser das Outcome. Eine vorbehaltlose und wertschätzende Zusammenarbeit im multiprofessionellen und interdisziplinären Team ist dafür eine grundlegende Voraussetzung.


    Marcus Breuer

    Marcus Breuer

    Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Klinikleitung und Therapeutische Leitung, Würmtalklinik Gräfelfing, Deutscher Orden – Ordenswerke

    Chancen:
    Durch die Revision der Psychotherapeuten-Approbationsordnung im Jahr 2020 ergibt es sich erstmalig, dass zukünftige Psychotherapeut:innen ihre therapeutische Zusatzausbildung nicht selbst werden bezahlen müssen. Dies ist berufspolitisch ein wesentlicher Fortschritt. Außerdem ist hiermit erstmals sichergestellt, dass auch während der psychotherapeutischen Weiterbildung (bzw. der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeuten:in) – analog zur Facharztausbildung bei den Ärzt:innen – angemessene Gehälter bezahlt werden. Schließlich verfügen die Betroffenen bereits über einen anerkannten Masterabschluss!

    Risiken:
    Was für die zukünftigen Master-Absolventen nach dem neuen Psychotherapeutengesetz eine Chance ist (s.o.), ist zugleich ein Risiko. Aktuell ist nämlich keinesfalls sichergestellt, dass ausreichend Plätze für die Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in (das Analogon zur bisherigen Psychotherapie-Zusatzausbildung) zur Verfügung stehen werden. Und anders als bisher kann man sich in die neue Weiterbildung auch nicht selbst „einkaufen“. Es besteht also die reale Gefahr, dass es (ggf. deutlich) mehr Bewerber:innen für die Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in geben wird, als überhaupt Weiterbildungsplätze bestehen. Das größte Problem ist die Frage, wie die Kliniken bzw. Leistungserbringer die einzelnen Weiterbildungsanteile (insbesondere Theorieteil, Supervision sowie Selbsterfahrung) refinanzieren.

    Herausforderungen:
    Die größten Herausforderungen betreffen zwei Aspekte: Erstens gilt es, die Kosten- und Leistungsträger mit ins Boot zu bekommen. Nur wenn es von dieser Seite zu einer realistischen Refinanzierung der zusätzlichen Lasten kommt, werden ausreichend viele Weiterbildungsplätze geschaffen werden. Dies wiederum wäre auch im Interesse der Kostenträger. Die zweite Herausforderung für die Leistungserbringer besteht in der Bewältigung der mit der neuen Weiterbildungsordnung (WBO) verbundenen Logistik und Bürokratie. Dies reicht von den Anträgen zur Anerkennung als Weiterbildungsstätte bei der jeweiligen Landespsychotherapeutenkammer über das Finden geeigneter Weiterbildungsbefugter bis hin zur konkreten Betreuung zukünftiger Kolleg:innen, die sich in der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeuten:in befinden. Diese müssen deutlich aufwendiger betreut werden als bisher. Auch hierfür werden (z. B. Personal-)Ressourcen benötigt. Schließlich ist auch die zeitliche Befristung der Tätigkeit im Rahmen der Weiterbildung  (maximal zwei Jahre stationäre Tätigkeit) ein Problem bzw. eine Herausforderung für die Kliniken als Leistungserbringer. Hier besteht die Gefahr einer häufigen Personalrotation, welche nicht im Interesse der Kliniken und auch nicht der Kostenträger sein kann.

    So gehen wir in der Praxis aktuell mit diesem Thema um:
    Als kleinere stationäre Suchtrehaklinik werden wir nicht in der Lage sein, die oben genannten Weiterbildungsanteile selbst anzubieten. Wir machen uns daher gerade auf die Suche nach Kooperationspartnern (z. B. bei den Weiterbildungsinstituten). Wir haben uns bisher auch noch nicht final entschieden, ob wir die Anerkennung als Weiterbildungsstätte überhaupt anstreben werden. Neben der Prüfung der für uns in Frage kommenden Optionen beobachten wir aktuell die Entwicklung am Arbeitsmarkt besonders genau.


    Christina Baumeister

    Christina Baumeister. Foto: Tim Hoppe

    Geschäftsführerin, Alida Schmidt-Stiftung, Hamburg

    Zunächst einmal können wir festhalten, dass mit dem neuen Psychotherapeutengesetz der Weg zum/zur „einsatzfähigen“ Psychotherapeuten bzw. Psychotherapeutin kürzer und einfacher wird: Nach dem Bachelor-Studium der Psychologie, dem Master-Studium der Klinischen Psychologie und Psychotherapie sowie der Approbationsprüfung stehen künftig approbierte Psychotherapeut:innen nach gut fünf Jahren für die psychotherapeutische Behandlung in unseren Suchtfachkliniken zur Verfügung. Die bisher für eine Approbation erforderliche Weiterbildung mit einer Dauer von weiteren fünf Jahren ist nicht mehr Voraussetzung für eine Tätigkeit in der medizinischen Rehabilitation.

    Falls wir uns als Praktikumsbetriebe engagieren, lernen wir die angehenden Psychotherapeut:innen bereits während ihres Studiums kennen. Das führt günstigstenfalls zu einer vorgezogenen Personalrekrutierung bzw. -bindung. Die erste Herausforderung wird sein, 17- bis 20-jährige Studierende sinnvoll in unseren Fachkliniken einzusetzen. Im Masterstudium sind sie mit vielleicht 21 bis 23 Jahren schon etwas reifer. Nach unseren bisherigen Erfahrungen sind neue Mitarbeiter:innen i.d.R. mit PT1- u. PT2-Erfahrungen deutlich sicherer im Patientenkontakt als noch Studierende und können insofern auch eher selbstständig mit Patient:innen arbeiten. Das bedeutet, dass künftige studentische Praktikant:innen stärker hilfs- oder begleitende Tätigkeiten ausüben werden. Für die Sinnhaftigkeit der Praktika wird es außerdem darauf ankommen, wie lange die Studierenden „am Stück“ in den Kliniken tätig sein werden. Das Fachkrankenhaus Hansenbarg der Alida Schmidt-Stiftung hat bereits eine Kooperation mit einer Hochschule für Praktika im Masterstudium vereinbart. Hierbei sollen die Studierenden die gesamte Praktikumszeit von dreieinhalb Monaten in unserer Fachklinik ableisten. In ländlicher Idylle gelegen, haben wir vorsorglich eine Wohnung im Nachbarort für eine potentielle Studierenden-WG angemietet und möbliert, damit das Praktikum nicht schon am täglichen Anfahrtsweg scheitert. Im Übrigen entstehen offenbar keine Kosten für den Praktikumsgeber. Der Aufwand beschränkt sich auf die Erstellung eines Einsatzkonzepts und die Betreuung der Praktikant:innen.

    Wir gehen davon aus, dass die Psychotherapeut:innen nach der neuen Systematik direkt nach der Approbation in unseren Reha-Kliniken der Suchthilfe eingesetzt und voll auf den Stellenplan angerechnet werden können. Diese Fachkräfte könnten für unser Arbeitsfeld langfristig gebunden werden, wenn sie sich mit der Ausbildung bestehend aus Studium und praktischen Einsätzen ausreichend qualifiziert fühlen und keine langjährige Fach-Weiterbildung anstreben.

    Ambivalent betrachten wir eine Beteiligung unserer Einrichtungen als Weiterbildungsstätte im Rahmen der Weiterbildung zum/zur Fachpsychotherapeuten bzw. Fachpsychotherapeutin. In der Bewertung fällt positiv ins Gewicht, dass für die Anerkennung als Weiterbildungsstätte bundesweit einheitliche Kriterien bestehen und die Anerkennung zwar nach Landesrecht durchgeführt wird, aber bundesweit gelten soll. Bisher leiden wir nämlich unter einem uneinheitlichen Vorgehen der Länder und sind mit unserer Fachklinik z. B. in Niedersachsen für die Weiterbildung zugelassen, nicht jedoch in Hamburg. Für eine Beteiligung an der Weiterbildung spricht auch, dass die Weiterbildung nicht nur in den Reha-Kliniken, sondern auch in unseren Einrichtungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Suchterkrankungen durchgeführt werden kann. So können die angehenden Fachpsychotherapeut:innen das gesamte Spektrum der Behandlung und Betreuung von Suchtpatient:innen kennenlernen. Und nicht zuletzt: Falls die PiW (Psychotherapeut:innen in Weiterbildung) während ihrer Weiterbildung von Anfang an auf den Stellenplan angerechnet werden können, entstehen auch hier keine zusätzlichen Personalkosten.

    Allerdings erscheinen die Anforderungen an die Weiterbildungsstätten auf den ersten Blick sehr anspruchsvoll zu sein. Hier braucht es innerhalb der Klinik eine verantwortliche Person als Weiterbildungsbefugte:n, die für die Antragstellung, die Kooperation mit den Weiterbildungsinstituten, die Qualifizierung der PiW, die Erstellung des Weiterbildungsplans, die Dokumentation, die Fallbesprechungen und die Qualitätssicherung zuständig ist. Dies quasi nebenbei den – ohnehin nicht in der Personalbemessung der DRV enthaltenen – therapeutischen Leitungen aufzubürden, erscheint schwierig. Fraglich ist auch, welche langfristige berufliche Tätigkeit die Fachpsychotherapeut:innen nach Abschluss ihrer Weiterbildung ausüben wollen. Wird eine Zulassung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung im System der gesetzlichen Krankenversicherung angestrebt, so werden diese Fachkräfte nach ihrer bei uns absolvierten Weiterbildungszeit von zwei bis drei Jahren wieder aus unseren Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe ausscheiden. Wir machen bereits jetzt die Erfahrung, dass die meisten PiAs (Psychotherapeut:innen in Ausbildung nach dem herkömmlichen System) nach Approbation in andere Tätigkeitsbereiche abwandern. Die ohnehin hohe personelle Fluktuation und die damit verbundenen organisatorischen Diskontinuitäten und Erfahrungsverluste werden sich damit weiter erhöhen.

    Möglicherweise schotten wir uns jedoch ungewollt von einem großen Personalpool ab, wenn wir den Aufwand für die Weiterbildung scheuen. Denn bisher ist nicht absehbar, wie viele Masterpsychotherapeut:innen in ihrer beruflichen Laufbahn auf die Fach-Weiterbildung verzichten werden.

    Gerne beteiligen wir uns weiterhin an einem Meinungs- und Erfahrungsaustausch im Rahmen des bus. e. V., um bei diesen Zukunftsfragen eine fundierte Entscheidung zu treffen.


    Mathias Schuch

    Mathias Schuch. Foto: Alex Habermehl

    Dipl.-Psych., ehem. Leiter der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“, Höchst-Hassenroth/Odw., seit 2000 als Psychologischer Psychotherapeut / Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis tätig (Psychotherapeutische Praxisgemeinschaft Buchhügel, Offenbach), seit 2020 Geschäftsführer der Main PVZ Offenbach gGmbH

     Als Geschäftsführer des Psychotherapeutischen Versorgungszentrums Offenbach ist Mathias Schuch selbst in der Psychotherapie-Ausbildung tätig. Das folgende Statement ist die Zusammenfassung eines Telefon-Interviews mit KONTUREN online.

    Mit der neuen universitären Ausbildung zum / zur Psychotherapeut:in, die mit der 1. Approbation abgeschlossen wird, werden die Absolvent:innen jünger und sie bringen mehr Praxiserfahrung aus dem Studium mit. Fraglich ist aber, wie die Universitäten diese Ausbildung werden leisten können. Das bisherige Lehrpersonal kann diese praktischen Kenntnisse kaum vermitteln. Auch werden gewisse Theorieinhalte des bisherigen Grundlagenstudiums außen vor bleiben. Gleichzeitig vergrößert sich der Gestaltungsspielraum der Universitäten im Sinne einer Art Monopolisierung. Sie können mehr Einfluss darauf nehmen, zu bestimmen, was Psychotherapie ist.

    Positiv an der neuen Ausbildung ist eine Vereinheitlichung des klinisch ausgerichteten Studiums, problematisch ist, dass sich die Studierenden direkt zu Beginn ihres Studiums, also im Alter von ca. 19 Jahren, für die Fachrichtung Psychotherapie entscheiden müssen.

    Die Verlagerung von mehr Praxisausbildung in die Studienzeit wird Auswirkungen auf die Ausbildungsinstitute haben. Davon gibt es momentan um die 200. Sie werden in Zukunft nur noch Angebote für die Weiterbildung durchführen können, nicht mehr für die Ausbildung. Da die approbierten Psychotherapeut:innen nach der neuen gesetzlichen Regelung für ihre Tätigkeit am Ausbildungsinstitut fest angestellt und voll bezahlt werden müssen, werden  kleinere Institute möglicherweise Probleme mit der Kostenstruktur bekommen oder sogar schließen müssen. Somit könnten sich die Anzahl und die Kapazitäten der Weiterbildungsinstitute als Flaschenhals entwickeln und zu einer geringeren Anzahl an Fachpsychotherpeut:innen führen.

    Sehr zu begrüßen ist, dass die approbierten Psychotherapeut:innen einen arbeits- und sozialrechtlich gesicherten Status haben, der dem von Assistenzärzt:innen bzw. von Fachärzten entspricht. Damit einher geht der Anspruch auf eine angemessene Vergütung einer Kliniktätigkeit. Allerdings ist eine entsprechende Finanzierung durch die Krankenkassen und Kostenträger bis zum heutigen Tage noch nicht gegeben.  Zu erwarten ist aber, dass dadurch weniger Psychotherapeutenstellen besetzt werden. Psychotherapeut:innen mit der 1. Approbation können zwar schon vielfältig in den Kliniken eingesetzt werden, es ist aber anzunehmen, dass die DRV für bestimmte Tätigkeiten wie die Erstellung von Behandlungsplänen und Gutachten Psychotherapeut:innen mit Fachkundenachweis, also mit der 2. Approbation, fordert.

    Fachpsychotherapeut:innen werden teuer, wenn sie in einer Suchtrehaklinik bleiben sollen. Im ambulanten Bereich können sie ihre Arbeitszeiten flexibler gestalten, haben ein breiteres Spektrum an zu behandelnden Diagnosen und verdienen sehr gut. Ein Vorteil der neuen Aus- und Weiterbildung für die Suchthilfe ist die Öffnung für Präventionsangebote.

    Eine positive Vision für die Zukunft ist die enge Kooperation – z. B. in Form von Joint Ventures – zwischen stationären Einrichtungen und den Weiterbildungsinstituten, die Verschränkung zwischen dem stationären und ambulanten Bereich. Eine Schlüsselrolle spielen hierbei die Weiterbildungsbefugten. Für die Kliniken ist es sinnvoll, schon die Praktika während der Studienzeit zu nutzen, um potenzielle Weiterbildungskandidat:innen mit der Einrichtung vertraut und diese als Weiterbildungsstätte attraktiv zu machen.

    Um für die Zukunft ihr psychotherapeutisches Fachpersonal zu sichern, müssen die Kliniken flexibel sein und sich für die Zusammenarbeit mit ambulanten Zentren und Praxen öffnen. Es geht nur im Netzwerk und mit Kooperation. Und: Raus aus der Glasglocke!


    Manuela Schulze

    Manuela Schulze

    Geschäftsführerin, Tannenhof Berlin-Brandenburg gGmbH

    Seitdem durch den Bundesverband Suchthilfe (bus.) ausführliche Informationen über die neue Weiterbildungsordnung und auch zu den damit verbundenen Möglichkeiten für Rehabilitationseinrichtungen weitergeben wurden, beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema und wollen die Voraussetzungen für die Durchführung der Weiterbildung in unseren Rehabilitationseinrichtungen schaffen.

    Aktuell sehen wir die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen als große Chance, zumindest in dieser Berufsgruppe frühzeitig Fachkräfte als Bezugstherapeuten für die Arbeit in der Rehabilitation und mit Abhängigkeitserkrankungen zu gewinnen. Wir können die Weiterbildung stärker mitgestalten. Durch die Anerkennung der Master-Absolventen mit Approbation haben wir diese als Bezugstherapeuten für mindestens zwei Jahre im Rahmen ihrer Weiterbildung auszubilden und auch im Rahmen des Sollstellenplans zu beschäftigen. Das wertet den Tätigkeitsbereich Rehabilitation sehr auf, und wir können langfristig junge Fachkräfte für dieses Arbeitsgebiet gewinnen. Darin sehen wir nicht nur eine Chance, sondern vielleicht sogar eine „Rettung“ für einige Rehabilitationseinrichtungen, die besonders unter dem Fachkräftemangel leiden.

    Auch dass wir uns fachlich mehr in die Weiterbildung einbringen können, ist gut, weil damit die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen mehr Gewicht in der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in bekommen könnte. Die Aufwertung der Psychotherapeut:innen, als Weiterbildungsbefugte benannt werden zu können, kann man sehr positiv sehen, weil sie auch die Rolle und Expertise der Psychotherapeuti:innen in der Rehabilitation stärkt.

    Risiken sehen wir aber gleichzeitig in der Grundstruktur und Umsetzung. Wir bekommen als Weiterbildungsstätte die Verantwortung für die Erfüllung aller Anforderungen der Weiterbildungsordnung, was nicht nur personelle, sondern auch inhaltliche und finanzielle Aspekte umfasst. Dazu gehören dann auch die Theorievermittlung, Selbsterfahrung und Supervision. Es ist aus unserer Sicht nicht ausreichend geklärt, wie dies neben einer entsprechenden Vergütung der Tätigkeit zusätzlich finanziert und organisiert werden soll. Darunter könnte die Qualität der Ausbildung leiden. Arbeitgeber könnten sich entscheiden, zunächst auf die bereits ausgebildeten Psychotherapeut:innen zurückzugreifen, weil sie mit den neuen Regelungen überfordert sein könnten.

    Aber auch hier besteht durch den Zusammenschluss von Rehabilitationseinrichtungen gemeinsam mit dem bus. eine Chance, die Umsetzung der Weiterbildung zu organisieren und damit wiederum eine gute Basis zu schaffen und sich noch mehr zu vernetzen.

    In allen unseren Rehabilitationseinrichtungen wollen wir die Vorbereitungen treffen, um uns als Weiterbildungsstätte anerkennen zu lassen. Wir werden Weiterbildungsbefugte benennen, um Psychotherapeut:innen in Weiterbildung anstellen zu können. Ebenso haben wir schon einen Kooperationsvertrag mit einer Universität geschlossen, wollen dies mit weiteren Hochschulen erweitern, um bereits während des Masterstudiums Praktika anzubieten und die angehenden Psychotherapeut:innen mit unserem Arbeitsbereich vertraut zu machen.


    Dr. phil. Clemens Veltrup

    Dr. Clemens Veltrup

    Dipl.-Psych., Leitender Therapeut der Fachklinik Freudenholm-Ruhleben, Schellhorn, Geschäftsbereichsleiter „Suchthilfe“ im Landesverein für Innere Mission in Schleswig-Holstein

    Chancen:
    Endlich! Durch das neue Psychotherapeutengesetzt wird es den approbierten Psychotherapeut:innen möglich sein, die komplette stationäre Weiterbildungsphase in der stationären medizinischen Rehabilitation für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen („Suchtrehabilitation“) zu absolvieren. Bei den Suchthilfeträgern, die auch über ambulante Einrichtungen (z. B. Suchtberatung,) verfügen, können die psychotherapeutischen Kolleg:innen zusätzlich weitere zwölf Monate für ihre Weiterbildung anrechnen lassen.

    Die Rentenversicherungsträger werden die „neuen“ Psychotherapeut:innen in vollem Umfang für die psychotherapeutische Arbeit in den Rehabilitationskliniken anerkennen, so dass die Finanzierung der Personalstellen grundlegend gesichert ist. Die neuen Kolleg:innen können u. a. durch ihr aktuelles Fachwissen zur Verbesserung der psychotherapeutischen Arbeit in der Suchthilfe beitragen.

    Damit kann es gelingen, dem zunehmenden Fachkräftemangel im psychotherapeutischen Bereich in den nächsten Jahren erfolgreich zu begegnen. Die bisher mit Psychotherapeut:innen in Ausbildung besetzten Stellen werden ja nur unter Auflagen von den Rentenversicherungsträgern anerkannt, die Approbation als Psychotherapeut:innen ist bisher für die stationäre und ambulante Suchtrehabilitation zwingend. Die Psychotherapeut:innen in Weiterbildung (PtW) können helfen, das Angebot der ambulanten Suchtrehabilitation aufrechtzuerhalten bzw. auszubauen.

    Auch in der Eingliederungshilfe können die PtW im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit zu einer „wirksameren“ Hilfe für die Klient:innen beitragen.

    Risiken:
    In den nächsten Jahren ist damit zu rechnen, dass es mehr Bewerber:innen als Weiterbildungsstellen gibt. Vor dem Hintergrund des erkennbaren zunehmenden Mangels an Suchttherapeut:innen besteht dann die Gefahr, dass die bewährte interdisziplinäre Zusammenarbeit sich verändert und Suchttherapeut:innenstellen mit Psychotherapeut:innen besetzt werden. Damit würde ein tragendes Element einer erfolgreichen Suchtrehabilitation geschwächt werden.

    Somit gilt es, engagierte Sozialabeiter:innen/ Sozialpädagog:innen zu finden, die die Weiterbildung zum / zur Suchttherapeut:in beginnen. Auch hier müssen die Rentenversicherungsträger die bisherigen Auflagen für die Anerkennung kritisch überdenken und „bedarfsgerecht“ modifizieren.

    Auch die Möglichkeiten von Ärzt:innen in Weiterbildung in der Suchtrehabilitation sollten deutlich verbessert werden. Es ist zu prüfen, ob nicht auch hier (mindestens) zwei Jahre Weiterbildungszeit für verschiedene Fachärzt:innengruppen anerkannt werden könnten (z. B. Fachärzt:in für Innere Medizin, Fachärzt:in für Allgemeinmedizin, Fachärzt:in für Psychiatrie und Psychotherapie).

    Herausforderungen:
    Die Vermittlung von Theorie, Selbsterfahrung und die kontinuierliche Supervision müssen in den Kliniken neu organisiert werden. Es bietet sich aber die Möglichkeit und Chance an, dies z. B. über den bus. bundesweit zu organisieren.

    Es gilt, Weiterbildungsbefugte für die PtW zu finden und ihre Tätigkeit entsprechend zu vergüten. Erfahrene approbierte Psychotherapeut:innen können diese Aufgabe grundsätzlich übernehmen.

    Die Organisation der Weiterbildung für Psychotherapeut:innen bringt es mit sich, dass diese entweder nach Beendigung der Weiterbildungsphase die Klinik verlassen oder (nach Erhalt der Fachpsychotherapeut:innen-Qualifikation) eine Niederlassung in eigener Praxis anstreben. Diese Personalfluktuation muss im Rahmen der Personalplanung der Klinik angemessen berücksichtigt werden. Es gilt auch, angemessene Positionen für Fachpsychotherapeut:innen zu schaffen, z. B. als Leitende Psychotherapeut:innen für Abteilungen in der Klinik oder als Mitglied der Klinikleitung. Die neue Bereichsweiterbildung für „Sozialmedizin“ eröffnet den Fachpsychotherapeut:innen erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten in der medizinischen Rehabilitation.

    Vorgehen:
    So bald wie möglich werden wir die Anerkennung als Weiterbildungsstätte beantragen. Erfahrene Kolleg:innen werden wir motivieren, sich als Weiterbildungsbefugte bei der Psychotherapeutenkammer akkreditieren zu lassen. Und schon kann es losgehen!

  • Männlichkeiten und Sucht

    Männlichkeiten und Sucht

    Kaum ein Faktor beeinflusst die persönliche Identitätsentwicklung und Sozialisation so früh und grundlegend wie die geschlechtliche Zuordnung. Gesellschaftlich festgeschriebene Rollenbilder und damit verbundene Erwartungen stellen schon sehr früh die Weichen für den persönlichen Lebensweg. Anhand der uns umgebenden Vorbilder beginnen wir von klein auf, unser eigenes Verhalten zu entwickeln. Vorgelebte Rollen und ihre Merkmale werden als Normalität wahrgenommen, imitiert und gerade in der frühen Kindheit unreflektiert verinnerlicht. Daraus entwickeln sich Persönlichkeitsaspekte, die den Umgang mit anderen Menschen im weiteren Leben entscheidend mitbestimmen.

    Der Einfluss von Rollenbildern zeigt sich ebenso im Kontext von Suchterkrankungen, denn sowohl im Konsumverhalten als auch in den Motiven für den Konsum lassen sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede erkennen. „Beide Geschlechter leiden geschlechtstypisch und aus bipolar entgegengesetzten Gründen, denen die Einseitigkeit der Rollenverteilung zugrunde liegt.“ (Macha, Witzke 2008, S. 274) Als primäre Identifikationsfiguren gehören die Eltern zu den stärksten Einflussfaktoren, sie prägen die Auffassung der Geschlechterrollen entscheidend mit. Im Kontext von Männlichkeit kommt dem Vater als Rollenvorbild eine besondere Bedeutung zu. Stark sein, keine Schwäche zeigen, unbedingte Leistungsbereitschaft – dies sind Beispiele für Attribute, mit denen Klienten von Suchthilfeeinrichtungen ihre eigene Männerrolle häufig assoziieren. Es sind Attribute, die oftmals vom Vater vorgelebt und vom Sohn übernommen wurden. Auch das Trinken von Alkohol als männliche Verhaltensweise wird häufig vom direkten Rollenmodell abgeschaut und übernommen. Etwa ein Drittel der alkoholabhängigen Männer hatte selbst einen alkoholabhängigen Vater, was für eine generationsübergreifende Abhängigkeitsentwicklung spricht (vgl. Vosshagen 1997).

    „Reine Männersache?! – Suchthilfe in NRW“

    Um Fachkräfte für geschlechtsspezifische Perspektiven in der Arbeit mit suchtkranken Männern zu sensibilisieren und zu qualifizieren, startete die Koordinationsstelle Sucht des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe im Juni 2017 das Projekt „Reine Männersache?! – Suchthilfe in NRW“. Im Verlauf des Projektes, das im August 2019 endete, wurden insbesondere elf Lehrfilme entwickelt, die relevante Themen aus der praktischen Arbeit mit suchtkranken Männern aufgreifen. Diese und weitere Ergebnisse des Projekts werden im Folgenden vorgestellt.

    Filmreihe „Männlichkeiten und Sucht“

    Die Filmreihe „Männlichkeiten und Sucht“ gibt Einblicke in die Gedankenwelt suchtkranker Männer. Es geht um vorherrschende Rollenbilder, damit verbundene Erwartungshaltungen und auch darum, wie mit dem daraus entstehenden Druck umgegangen werden kann. In den gesellschaftlich verankerten sozialen Geschlechternormen gibt es oft sehr wenig Spielraum: Entspricht eine Verhaltensweise nicht dem vorherrschenden Männerideal, so wird sie schnell als weiblich deklariert. Dies kann bei Männern zu einem inneren Druck führen, vor allem, wenn sie das weibliche Geschlecht noch immer mit dem „schwachen Geschlecht“ assoziieren. Somit wird das nicht-männliche Verhalten nicht nur automatisch weiblich, sondern auch als schwach wahrgenommen. Und Schwäche gilt eben als genaues Gegenteil des starken und unbezwingbaren Idealmannes.

    Lust und Frust der Männerrolle

    Die elf Kurzfilme der Reihe betrachten den Zusammenhang von männlichem Geschlecht und Suchtverhalten sowohl aus fachlicher als auch persönlicher Perspektive und greifen Themen auf, die in Therapie und Beratung oft von besonderer Bedeutung sind. Experten aus der Sucht- und/oder Männerarbeit sowie Betroffene kommen zu Wort und geben Einblick in ihre Erfahrungen. Aspekte wie Sexualität, Gewalterfahrungen oder das Verhältnis von Arbeit und Freizeit sind zwar nicht ausschließlich Männerthemen, es handelt sich jedoch um Themenbereiche, in denen gesellschaftlich oft noch eine ziemlich feste und unflexible Vorstellung des idealen Mannes herrscht: Männer sind Verführer, nicht Verführte, manchmal Täter, nie Opfer, und immer ganz oben in Sachen Kompetenz im Arbeitsbereich. Auch wenn es mittlerweile einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess gibt, der mit einer Pluralisierung dieses Rollenbildes einhergeht, ist es noch immer weit verbreitet und bei Männern oft tief im Selbstverständnis verankert.

    Die Betrachtung von Suchtverhalten aus geschlechtsspezifischer Sicht bietet eine besondere Verständnisebene, die für den Therapieprozess förderlich sein kann. Oft genug dient das Suchtmittel als Ventil zum Abbau von Druck, der aus dem Gefühl heraus entsteht, dem gesellschaftlichen Rollenbild nicht gerecht werden zu können. Auch das Verständnis der familiären Rollenverteilung oder von Partnerschaft kann eng mit der verinnerlichten Geschlechterrolle zusammenhängen. Das Zusammenspiel von Geschlecht und dem Konsum von Rauschmitteln ist vielschichtig und oftmals tief im Unbewussten jedes Einzelnen verankert.

    Film: Modul 1 – Lust und Frust der Männerrolle 

    Sucht und Männlichkeit

    Seit rund 20 Jahren befasst sich die LWL-Koordinationsstelle Sucht schon mit dem Thema „Männlichkeiten und Sucht“. Die Relevanz des geschlechtsspezifischen Aspektes wird auch bei einem Blick auf folgende Zahlen deutlich: Weltweit lassen sich gravierende Unterschiede im Konsumverhalten von Männern und Frauen feststellen. So wurden in Deutschland im Jahr 2015 100.000 Fälle von Alkoholabhängigkeit bei Männern diagnostiziert, bei Frauen dagegen „nur“ 36.000 (Deutsches Krebsforschungszentrum 2017). In Suchteinrichtungen stellen Männer zwei Drittel der Klienten. Männer konsumieren in den meisten Kategorien (mit Ausnahme von Medikamenten) härter, häufiger und riskanter als Frauen und tun dies auch häufiger in der Öffentlichkeit. Alkohol und Tabak sind bekannte Beispiele für männlich konnotierte Suchtmittel: Jeder kennt das Bild des großgewachsenen, harten und natürlich rauchenden Cowboys oder das des Whisky trinkenden und Zigarre rauchenden erfolgreichen Geschäftsmannes. Dies sind nur zwei von vielen gängigen Klischees. Übertrieben männliche Rollenbilder gibt es in den Medien zuhauf. Das Ungleichgewicht im Konsumverhalten zwischen den Geschlechtern erstreckt sich über Tabak und Alkohol hinaus auch auf die meisten anderen Substanzen. Die Demonstration, viel vertragen zu können, dient der Darstellung von Macht und Stärke – und so eben auch von Männlichkeit. Das verinnerlichte Konstrukt der eigenen Geschlechterrolle ist dabei ebenso unflexibel wie empfindlich: Jede Abweichung vom vermeintlich männlichen Verhaltenskodex wird direkt mit Unmännlichkeit assoziiert und bietet so Angriffsfläche für Hohn und Spott der Geschlechtsgenossen.

    Obwohl Gender-Mainstreaming und die Berücksichtigung des sozialen Geschlechts mittlerweile weitgehend als förderlicher Aspekt in der Ansprache von Suchtkranken betrachtet werden, ist männerspezifische Suchtarbeit in vielen Einrichtungen nicht strukturell verankert (vgl. Stöver et al. 2017, S. 9). Für den Klienten können deshalb in Gesprächen Hemmschwellen entstehen, wenn es beispielsweise um ein sensibles Thema wie Sexualität geht. Um nicht in unangenehme Situationen zu kommen, werden wichtige Themen im Zweifel also lieber nicht angesprochen und können somit auch nicht erfolgreich bearbeitet werden.

    Um geschlechtersensibel arbeiten zu können, ist es für Fachkräfte notwendig, sich die eigene Geschlechtsauffassung bewusst zu machen. Verinnerlichte Rollenzuschreibungen müssen reflektiert und hinterfragt werden, vor allem auch unter Berücksichtigung der sich ständig verändernden gesellschaftlichen Realität: Rollenbilder wandeln sich zunehmend, neue und oftmals widersprüchliche Erwartungen und die damit einhergehenden Auswirkungen auf Sozialisationsprozesse und Wahrnehmungsmuster können zu mangelnder Orientierung und damit zu wachsender Unsicherheit führen. Ein klarer und konsequenter Standpunkt zur eigenen Geschlechterrolle ist für die Fachkraft daher notwendig, um dem Klienten eine zuverlässige Orientierungshilfe zu sein.

    Nicht nur für weibliche Fachkräfte kann männersensible Arbeit eine Herausforderung darstellen. Konkurrenzdenken und Imponiergehabe beispielsweise sind zwischen Männern oft Störfaktoren für eine konstruktive Gesprächsführung. Eine ausgeprägte Leistungsorientierung, bei der Erfolge hochgelobt und Rückschläge totgeschwiegen werden, kann effektives Arbeiten deutlich erschweren. Auch hier taucht schließlich wieder die Befürchtung auf: Wer Hilfe braucht, gilt als schwach und unmännlich. Leichter und unverfänglicher ist es da, eigene Leistungen zu betonen und sich zu profilieren. Die Erkenntnis, dass die Abweichung von männlichen Rollenklischees nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der eigenen Männlichkeit ist, muss häufig erst noch erarbeitet werden. Durch das Erkennen und Verstehen der mit dem Geschlecht verbundenen Gründe und Funktionen des Konsums kann der Klient dabei unterstützt werden, alternative und vor allem risikoärmere Verhaltensweisen zu entwickeln und das Ausleben seiner Männlichkeit vom Konsumverhalten zu trennen. Das Aufdecken von jungen- und männerspezifischen Mythen im Kontext des Suchtmittelkonsums ist  ein ebenso notwendiger Schritt wie das Umdenken von Leistungs- und Exzessorientierung zur Genussorientierung (vgl. Heckmann 2007).

    Film: Modul 2 – Sucht und Männlichkeit

    Praxishandbuch „Männlichkeiten und Sucht“

    In dem von der LWL-Koordinationsstelle Sucht herausgegebenen Praxishandbuch „Männlichkeiten und Sucht“ wurde das Thema für die ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe praxisorientiert aufbereitet. Die aktuelle dritte Auflage von 2017 berücksichtigt Ergebnisse der 2014 durch das Institut für Suchtforschung (ISF) erfolgten Evaluation und diente als Ausgangsbasis der Arbeit des Projektes „Reine Männersache?! – Suchthilfe in NRW“. Das Handbuch ist in elf Themenmodule gegliedert, welche neben dem grundsätzlichen Zusammenhang von Geschlecht und Sucht auch Aspekte wie Vaterschaft, Partnerbeziehungen, Familie, Freundschaften und Emotionalität behandeln. Die einzelnen Module werden ausführlich beleuchtet, und ausgewählte Methoden zur praktischen Gruppenarbeit mit Klienten werden vorgestellt und detailliert beschrieben. Die Methoden sind in unterschiedliche Schwierigkeitsstufen eingeteilt, welche dabei helfen sollen, sie entsprechend der Komplexität und Teilnahmebereitschaft der Arbeitsgruppe angemessen auszuwählen. Benötigte Arbeitsmaterialen für die Anwendung der Methoden werden auf der beiliegenden CD-ROM mitgeliefert.

    Fortbildungsprogramm

    Durch das im Rahmen des Projektes entwickelte Fortbildungsprogramm werden männliche Fachkräfte für die geschlechtsspezifische Arbeit mit suchtkranken Männern nicht nur sensibilisiert, sondern auch qualifiziert. Aufbauend auf den Modulen des Praxishandbuchs werden ihnen konkrete Methoden und Handlungsempfehlungen vermittelt, um durch geschlechtssensible Arbeit einen besseren Zugang zu ihren Klienten zu bekommen.

    Die Fortbildungen beinhalten Informationen zu männlicher Sozialisation, zu Abwehrmechanismen sowie männlichem (Sucht-)Verhalten und Erleben. Die Teilnehmer führen praktische Übungen in der Rolle des Gruppenleiters einerseits und in der Rolle des Klienten andererseits durch. Ziel der Fortbildungen ist es, Fachkräfte zu befähigen, mit unterschiedlichen Gruppendynamiken umzugehen und männerspezifische Angebote in ihren Arbeitsalltag zu integrieren.

    Im September und November 2018 sowie im Februar 2019 wurden die jeweils dreitägigen Fortbildungen mit insgesamt 36 Teilnehmern durchgeführt. Die im Rahmen der Projektförderung begrenzten Teilnehmerplätze waren schnell ausgebucht, sodass die Koordinationsstelle Sucht im April 2019 bereits einen Zusatztermin anbot. Die durchweg positive Evaluation der Fortbildungsveranstaltungen sowie die hohe Nachfrage zeigen deutlich, dass dem Thema in der praktischen Arbeit eine hohe Relevanz zukommt. Auch 2020 findet die Fortbildung „Männlichkeiten und Sucht“ daher wieder statt (9. bis 11. September 2020 in Freckenhorst).

    Arbeitskreis Mann & Sucht

    Neben den Fortbildungen bietet auch der Arbeitskreis Mann & Sucht männlichen Fachkräften in der Suchthilfe ein Forum zum kollegialen Austausch. Er gibt ausgewählte Impulse zur männerspezifischen Suchtarbeit, eröffnet Perspektiven und dient darüber hinaus als Plattform für aktuell relevante Themen aus den Einrichtungen der Teilnehmer.

    Weiteres Material

    Mit der Projektwebsite www.maennersache-sucht.de wurde eine Plattform gestaltet, über die sich Interessierte einen ersten Einblick in das Thema und die einzelnen Module des Handbuchs verschaffen können. Auch die im Projekt erstellten Filme sind hierüber abrufbar. Um das Thema darüber hinaus weiterzuverbreiten, wurden außerdem Poster, Postkarten und Taschentuchboxen mit speziell für den Kontext erstellten Motiven produziert. Obwohl die männlichen Fachkräfte im Fokus des Projektes stehen, sollen diese Materialien auch weiblichen Fachkräften als Aufhänger für den kollegialen Erfahrungsaustausch und als Einstiegsmöglichkeit im Klientenkontakt dienen. Die Projektaktivitäten zielen auf eine Verbesserung der gender- bzw. männersensiblen Arbeitsweisen in der Suchthilfe ab, wovon letztendlich vor allem suchtgefährdete und abhängigkeitserkrankte Jungen und Männer profitieren sollen.

    Ausblick

    Die Erfahrung, dass das Verständnis der eigenen Männlichkeitskonstruktion und  ihres Zusammenhangs mit der persönlichen Suchtbiografie wichtig und förderlich sein kann, unterstreichen auch die interviewten Männer der Filmreihe: „Ich kann einen gewissen Stolz empfinden, die Sucht überwunden zu haben. Und auch die Freiheit, machen zu können, was ich möchte, und nicht in der Sucht gefangen zu sein. Von daher fühle ich mich jetzt deutlich männlicher als zu abhängigen Zeiten.“ (F. Happel im Film „Modul 2: Sucht und Männlichkeiten“, ab 4:21).

    Mit Ende der 27-monatigen Laufzeit am 30. August 2019 ist das Projekt „Reine Männersache!? – Suchthilfe in NRW“ zwar abgeschlossen, das Thema jedoch bleibt  weiterhin relevant. Was heißt es heute, ein Mann zu sein? Wie erleben sich Männer mit männlichen Klienten in der Suchthilfe? Wie können Frauen von den bisherigen Erfahrungen und Ergebnissen profitieren? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Veranstaltung zum Projektabschluss am 12. Juni 2019, mit der im Rahmen des Projektes ein letzter Impuls gesetzt werden konnte. Zum einen wurden die gesammelten Projektergebnisse der Fachöffentlichkeit vorgestellt, zum anderen sollte vor allem das Thema sowohl männlichen als auch weiblichen Fachkräften zugänglich gemacht und dessen Wichtigkeit betont werden. Von Mitgliedern des Fachbeirats durchgeführte Workshops luden dazu ein, sich mit einzelnen Aspekten vertiefend zu beschäftigen, und boten die Möglichkeit zum kollegialen Diskurs. Die erstellten Informationsmaterialien, die in das Fortbildungsprogramm des LWL aufgenommenen Fortbildungen, die Projektwebsite sowie nicht zuletzt die Filmreihe „Männlichkeiten und Sucht“, welche nicht nur im Internet, sondern auch auf DVD erhältlich ist, sollen nachhaltig die Sensibilisierung für die besonderen Chancen und Herausforderungen männerspezifischer Suchtarbeit unterstützen.

    Das Projekt „Reine Männersache!? – Suchthilfe in NRW“ wurde gefördert vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales als Maßnahme des Aktionsplans gegen Sucht NRW.

    Kontakt:

    Sandy Doll, sandy.doll@lwl.org
    Maik Pohlmann, maik.pohlmann@lwl.org
    Markus Wirtz, markus.wirtz@lwl.org

    Projektkoordination „Reine Männersache!? – Suchthilfe in Nordrhein-Westfalen“
    Landschaftsverband Westfalen-Lippe
    Dezernat 50
    LWL-Koordinationsstelle Sucht
    48133 Münster

    Literatur:
    • Deutsches Krebsforschungszentrum (Hrsg.), Alkoholatlas Deutschland 2017. URL: http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/sonstVeroeffentlichungen/Alkoholatlas-Deutschland-2017_Doppelseiten.pdf  (Stand: 25.10.2018)
    • Heckmann, Gier, Macht, Ohnmacht: Männliches Suchtverhalten. In: W. Hollstein, M. Matzner (Hrsg.), Soziale Arbeit mit Jungen und Männern. München 2007, S. 155 – 173
    • Macha, M. Witzke, Familie und Gender. Rollenmuster und segmentierte gesellschaftliche Chancen. Frankfurt am Main 2008
    • Stöver, A. Vosshagen, P. Bockholdt, F. Schulte-Derne, Männlichkeiten und Sucht – Handbuch für die Praxis, Hrsg.: Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Münster 2017
    • Vosshagen, Geschlechtsspezifische Aspekte der Alkoholabhängigkeit bei Männern. Dissertation. Essen 1997
  • Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Länder der Region Zentralasien – Kasachstan, die Kirgisische Republik, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – umfassen mehr als 60 Millionen ethnisch, kulturell und religiös vielfältige Menschen und ein geografisches Gebiet, das doppelt so groß ist wie das von Kontinentaleuropa. Im Zentrum des eurasischen Kontinents befinden sich diese Binnenländer, die im Jahre 1991, als die Sowjetunion aufgelöst wurde, unabhängig wurden. Seit der Unabhängigkeit haben sie sich großen Herausforderungen gestellt. Eine davon ist der Handel mit Opiaten (vor allem Heroin) und die Opiatabhängigkeit von hunderttausenden Menschen (vgl. Abb. 1). Die Europäische Kommission unterstützt die fünf Partnerländer durch das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (Central Asia Drug Action Programme, CADAP) seit mehreren Jahren in dem Versuch, die negativen Folgen des Drogenkonsums zu lindern. CADAP befürwortet eine ausgewogene Drogenpolitik im Hinblick auf die Drogennachfrage und das (illegale) Drogenangebot im Einklang mit der EU-Drogenstrategie 2013–2020 und dem EU-Zentralasien-Drogenaktionsplan 2014–2020. CADAP zielt darauf ab, folgende Maßnahmen zu unterstützen:

    • Weitere Qualifizierung der Behandler und Schulung in psychotherapeutischen Methoden für Kurzinterventionen
    • Motivational Interviewing (MI)
    • Rückfallverhütung und soziale Rehabilitation
    • Opioidgestützte Behandlung (Opioid Substitution Treatment, OST)

    Mehr als 2.000 Experten und Regierungsvertreter wurden bereits zwischen 2010 und 2012 geschult. Der Zugang zu OST konnte in Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan (leicht) erhöht werden. In der laufenden 6. Phase des Programms wird eine bessere Institutionalisierung des Behandlungssystems angestrebt, und die Implementierung der Internationalen Standards der WHO/UNODC für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen wird unter Verwendung von Best Practices der EU geschult und systematisiert.

    Abb. 1: Drogensituation in Zentralasien – geschätzte Zahl von Heroinkonsumenten

    Das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (CADAP) verfolgt eine bessere Verbreitung von und Zugänglichkeit zu einer qualitativ hochwertigen Behandlung bei Drogenabhängigkeit, sowohl pharmakologisch als auch abstinenzorientiert, und ihre Kombination mit sozialer Rehabilitation und psychosozialer Unterstützung (wie Beratung, kognitive Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung). Das Programm soll die Schadensbegrenzung (Harm Reduction) verstärken, um die nachteiligen Konsequenzen des Drogenkonsums für Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes zu verringern, wobei es nicht nur um die Vermeidung von Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis B und C (vgl. Abb. 2) und Tuberkulose geht. Ziel ist es, ein offizielles Netzwerk von Fachleuten zu etablieren. Aber das stellt eine große Herausforderung dar, denn regionale Kooperation ist in den postsowjetischen Staaten weniger gewollt als ‚nationale‘ Selbständigkeit.

    Abb. 2: Prävalenz von HIV und Hepatitis C unter den (injizierenden) Drogenkonsumenten (in Prozent)

    Methoden des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms CADAP

    Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich führen zwei- bis viertägige Trainings mit Expertinnen und Experten aus der zentralasiatischen Region durch. Die Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich kommen überwiegend selbst aus Zentralasien oder Osteuropa, sprechen Russisch, kennen die Kultur der Länder und bringen langjährige Expertise aus ihrer Arbeit im deutschen und österreichischen Sucht- und AIDS-Hilfesystem mit. Es wird in unterschiedlichen Bereichen trainiert:

    1. Schulungen für Fachpersonal

    Training mit Suchtmediziner/innen in Bishkek: Oleg Aizberg (vorne Mitte) und Irina Zelyeni (vorne Zweite von rechts)

    Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte erhalten Schulungen zu folgenden Themen:

    • Psychosoziale Beratung und Behandlung Drogenabhängiger im Rahmen von ambulanter und stationärer Rehabilitation
    • Reintegration Drogenabhängiger in die Gesellschaft
    • Entwicklung von regionalen und überregionalen Suchthilfenetzwerken

    Es werden außerdem aktuelle Kenntnisse der Suchtmedizin vermittelt:

    • Allgemeine Prinzipien medizinischer Ethik
    • Besonderheiten der medizinischen Ethik bei der Behandlung von Suchtkranken und Besprechung verschiedener Beispielsituationen
    • Alkoholabhängigkeit als Begleiterkrankung bei Drogenabhängigen
    • Komorbide Störungen
    • Umgang mit Neuen psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • Notfallzustände bei Suchtkranken und psychisch Erkrankten
    • Sexuelle Störungen bei Suchtpatientinnen und Suchtpatienten

    2. Schulungen im Justizbereich

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    Für das Personal von Strafanstalten, für Richter, Staatsanwälte, NGOs und Fachleute, die auf dem Gebiet der Behandlung von Drogenabhängigen tätig sind, finden Schulungen statt. Dazu gehören auch Schulungen über Gesundheitsprogramme in Gefängnissystemen zur Verhütung von Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis C) und zur Opiat-Substitutionsbehandlung (OST) in Gefängnissystemen.

    Die zweitägigen Workshops, die in allen zentralasiatischen Ländern mit Unterstützung der jeweiligen Gefängnisverwaltungen für Gefängnismitarbeiter durchgeführt wurden, bestanden aus Präsentationen und Gruppenarbeit. Interessen und Vorlieben der Teilnehmer wurden dabei berücksichtigt. Als Ergebnis der Workshops ergab sich eine Liste priorisierter Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von drogenabhängigen Gefangenen. Diese Liste soll als Roadmap für die zukünftige Entwicklung dienen.

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    In der Kirgisischen Republik und in Tadschikistan wird im Gegensatz zu den anderen Ländern offen (an)erkannt, dass es injizierenden Drogenkonsum auch im Gefängnis gibt und dass deshalb sowohl Nadel- bzw. Spritzenaustauschprogramme als auch OST sinnvoll sind. Allerdings werden hier Infektionsschutzprogramme nur auf niedrigem Niveau und unter scharfen Kontrollmechanismen (die den Verlust der Anonymität bedeuten) angeboten. Substitutionsbehandlungen im Strafvollzug werden in Kirgistan gut umgesetzt, in Tadschikistan wurde damit gerade erst begonnen, nach jahrelanger Diskussion.

    3. Schulungen für NGOs

    Training mit Ludger Schmidt und NGO-Vertreter/innen in Kirgistan

    Ein weiteres Arbeitspaket wird in enger Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) durchgeführt, um Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu erreichen. NGOs spielen in Zentralasien eine zentrale Rolle bei der niedrigschwelligen Erreichbarkeit von Drogenabhängigen, bei der Infektionspräventionsarbeit, bei der Psychosozialen Betreuung (PSB) nach Entzugsbehandlungen und bei der Substitutionsbehandlung (OST). Die Hauptakteure von NGOs werden geschult, damit sie ihre Fähigkeiten erweitern, ein unterstützendes Umfeld für die Klienten zu entwickeln und ihnen zu helfen, sich behandeln zu lassen und in der Behandlung zu bleiben. NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von Programmen niedrigschwelliger Arbeit.

    Schwerpunkte der Trainings

    Training mit Inga Hart und Gerhard Eckstein

    Das theoretische Wissen über psychiatrische Erkrankungen und Suchterkrankungen ist bei den meisten Teilnehmern gut bis sehr gut. Gleichwohl zeigte sich bei den Trainings auch, dass wenige Grundkenntnisse in der Praxis der Psychiatrie vorliegen, u. a. weil Narkologie (= Suchtmedizin) und Psychiatrie getrennt sind und wenig kooperieren. Die praktische Umsetzung und Erfahrung ist zudem immer noch sehr unterschiedlich. Zudem war die Zeit für die Trainings sehr knapp bemessen.

    Es geht in den Trainings u. a. um die Vertiefung von Behandlungsmethoden der Kognitiven Verhaltenstherapie, der Familientherapie, des Motivational Interviews, der Rückfallprophylaxe sowie der psychosozialen Beratung, vor allem des Case Managements. Im Mittelpunkt der Seminare stehen weiterhin die Überprüfung, ob die westlichen Beratungs- und Behandlungskonzepte in der konkreten zentralasiatischen Praxis angewendet werden können, und die damit zusammenhängende Sicherung des Behandlungserfolges.

    In den Trainings werden die von den Seminarteilnehmern eingebrachten Erfahrungen, Anregungen und Vorschläge weitgehend berücksichtigt. Die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer effektiven therapeutischen Arbeit sowie den Wirkfaktoren der therapeutischen Beziehung stellt für die Teilnehmer einen Rahmen für berufliche Selbstreflektion dar. Beim Betrachten der Interaktionsbeiträge der Angehörigen und der möglichen therapeutischen Interventionen wurde deutlich, dass der kulturelle Hintergrund die Aufrechterhaltung sowohl der Abhängigkeit als auch der Co-Abhängigkeit unterstützt. Dies macht es den Experten schwer, passende Interventionen einzuleiten und sich von den Erwartungen der Angehörigen abzugrenzen.

    Herausforderungen in der Arbeit mit den NGOs

    Die NGO-Gruppen in Kirgistan und Tadschikistan sind sehr engagiert und interessiert, dabei aber nicht unkritisch. Die Skepsis gegenüber internationalen Trainingsmaßnahmen wird offen angesprochen und diskutiert. Die Erwartung gegenüber solchen Maßnahmen scheint mehrheitlich gedämpft zu sein. Ähnlich wie in Ländern Westeuropas oder Australiens, wo NGOs eine lange Tradition haben und Unterstützung auch von Regierungen erhalten, arbeiten viele Organisationen mit Wurzeln in der Selbsthilfe überraschend ‚professionell‘, sind kompetent und reflektiert in ihrem Arbeitsfeld.

    Überlegungen, wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Wissen, das sie im unmittelbaren Klientenkontakt benötigen, pragmatisch vermittelt werden kann, führte zur Idee der Adaption von „J Key Cards“ der dänischen NGO „Gadejuristen“ (Street Lawyers) an zentralasiatische Verhältnisse (insbesondere in Kirgistan und Tadschikistan). Die J Key Cards funktionieren nach dem Prinzip der FAQ (frequently asked questions) und beinhalten jeweils eine Frage mit einer Antwort zu häufig auftauchenden Themen und Problemen aus den Lebenswelten von Drogengebrauchenden. Die Karten sind thematisch in die Gebiete physische und psychische Gesundheit, Infektionsprävention, Substanzaufklärung, Safer Use und Recht unterteilt und werden kulturspezifisch und landestypisch illustriert. Als Vorteil für die ‚Ausbildung‘ von Peers wurde die leichte Handhabbarkeit des Formats, der spielerische statt verschulte Umgang mit Wissensinhalten (insbesondere angesichts der Ungeübtheit vieler Peers mit längeren Texten), die Konzentration auf eine konkrete Frage statt auf einen ganzen Wissensbereich sowie der unmittelbare Praxisbezug hervorgehoben. Die J Key Cards können überdies als Unterrichtsmaterial im Rahmen von Ausbildung/Qualifizierung genutzt werden.

    In Kirgistan und Tadschikistan werden entsprechende Kartensets hergestellt, um sie in der Straßensozialarbeit zu benutzen (vgl. Abb. 3 und 4).

    Abb. 3: Beispiel Kartenset Kirgistan
    Abb. 4: Beispiel Kartenset Tadschikistan

    Hauptergebnisse der Trainings

    In einigen Ländern und Regionen Zentralasiens ist das Suchthilfesystem gut entwickelt (etwa in Kasachstan, Usbekistan und auch in Kirgistan), sodass sowohl die Behandlung als auch die Rehabilitation sowie die poststationäre Weiterversorgung für die Abhängigen umfassend und auf einem hohen professionellen Niveau angeboten werden. Die Effektivität der Behandlung beruht aber auf einem vernetzten System, das in vielen anderen Regionen und Ländern noch sehr ausbaufähig ist, vor allem in Turkmenistan, Tadschikistan und den ländlichen Regionen von Kirgistan. Im Beratungs- und Behandlungssystem sind Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Ex-User und andere Fachkräfte verantwortlich integriert. Es existiert eine Übereinstimmung über Ziele und Konzepte der Resozialisierung. 

    In der Kirgisischen Republik, in Tadschikistan und Kasachstan wurden nationale Arbeitsgruppen gegründet mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Narkologie, Psychologie, Sozialarbeit und Selbsthilfe. Im Rahmen der Arbeitsgruppen fanden Vorlesungen und Diskussionen über folgende Themen statt:

    • Prinzipien der Behandlung von Drogenabhängigkeit
    • Prinzipien der Diagnose und Therapie der Opioidsucht
    • Leitlinien zur Opioidsubstitution
    • Opioidsubstitution in besonderer Situation (Schwangerschaft, komorbide psychiatrische Störungen, komorbides HIV-Syndrom)
    • abstinenzorientierte Therapie (Entgiftung, Psychotherapie, psychosoziale Hilfe, Opioid-Antagonisten)
    • aktuelle Situation bei Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • aktuelle Situation bei psychopathologischen und somatischen Erkrankungen

    Insgesamt scheint die Implementierung von Maßnahmen zur Motivierung und Behandlung und damit die Weiterentwicklung des Suchthilfesystems in Zentralasien durch die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie durch die kulturellen Hintergründe (starke Co-Abhängigkeitsstrukturen) deutlich erschwert zu werden. Bei den meisten Experten besteht ein Konsens über den Sinn und die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Suchthilfesystems im Hinblick auf Weiterqualifizierung und Vernetzung.

    Die praxisorientierte Gestaltung der Seminare und die Möglichkeit, die Anliegen aus dem Alltag in die Seminare einzubringen, werden von den Seminarteilnehmern besonders positiv bewertet. 

    Weitere Zielsetzungen

    Bei der Commission on Narcotic Drugs (CND) im März 2016 wurde eine Entschließung zur Entwicklung und Verbreitung der internationalen Standards für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen verabschiedet. Darin wird gefordert, dass der „Zugang zu einer angemessenen wissenschaftlichen evidenzbasierten Behandlung von Drogenkonsumstörungen, auch für Personen, die von Drogenkonsum im Gefängnissystem betroffen sind, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften, zu gewährleisten (ist)“.

    Im April 2016 wurden im Rahmen der UNGASS Special Session (United Nations General Assembly on the World Drug Problem) in New York die „WHO/UNODC International Standards for the Treatment of Drug Use Disorders“ offiziell eingeführt. Aufgabe ist nun, die Umsetzung der internationalen Standards zu unterstützen. Dies geschieht jetzt in Trainings in allen zentralasiatischen Ländern in Kooperation mit dem UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime).

    Alle Länder in Zentralasien teilen die gemeinsame Auffassung der UN-Organe (UN-Drogenübereinkommen 1961, Art. 38, und Politische Erklärung 2009), dass alle praktikablen Maßnahmen zu Prävention und Früherkennung und zur Behandlung, Bildung, Rehabilitation und Nachsorge sowie zur sozialen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen umgesetzt werden sollen. In Zusammenarbeit mit dem WHO- und dem UNODC-Hauptsitz in Genf und Wien wird diskutiert, wie die Zentralasien-Staaten in dieser Umsetzung durch Schulungen unterstützt werden können. Es wurde z. B. eine russischsprachige Version der Standards erstellt, um als Trainingsmaterial verwendet zu werden.

    Mit dem Ziel, die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterin im Bereich der Behandlung von Drogenkonsumstörungen zu unterstützen, richtete die Frankfurt University of Applied Sciences (Fachhochschule Frankfurt am Main) an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Vorschlag, mit Hochschulen in Zentralasien, die Sozialarbeiter ausbilden, intensiver zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit soll mit folgenden Hochschulen stattfinden:

    • Eurasische Nationale Gumiljow-Universität (Abteilung für Soziale Arbeit), Astana, Kasachstan
    • Tadschikische Nationaluniversität (Fakultät für Phliosophie, Abteilung für Soziale Arbeit), Duschanbe
    • Universität für Humanwissenschaften Bischkek (Abteilung für Soziale Arbeit und Psychologie), Kirgisische Republik

    Die Zusammenarbeit soll dem Austausch von Erfahrungen der Mitarbeitenden und Studierenden sowie zur Erstellung von Schulungs- und Ausbildungsunterlagen (Projekt InBeAIDS, Laufzeit bis Ende 2019) dienen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stimmte Anfang März 2017 dem Vorschlag der Frankfurter Universität zu, so dass nun die Kooperation vorbereitet wird. Eine erste „fact finding Mission“ fand dazu in den drei Partnerländern im Mai 2018 statt. Da die Unterstützung und die Ausbildung der Sozialarbeit ein wichtiger Bestandteil der Component 4-Aktivitäten des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms (CADAP) ist, passt dieses Projekt gut in die CADAP-Ziele und unterstützt die Leistungen des Programms.

    Fazit

    Es gibt in Zentralasien einige grundlegende strukturelle Probleme im Hilfesystem für suchtkranke Menschen, insbesondere für opiatabhängige Menschen. Dazu gehören:

    • der Ausschluss von injizierenden Drogenkonsumenten (IDUs) aus dem (öffentlichen) Gesundheitssystem außerhalb der Narkologie
    • ein nur begrenzter Zugang von IDUs zur Behandlung der Drogenabhängigkeit oder zur Prävention von Drogenabhängigkeit
    • ein nur begrenzter Zugang zur Behandlung von IDUs mit HIV oder Hepatitis C
    • eine nur begrenzte Anzahl von Sozialarbeitern, Psychologen oder Psychotherapeuten
    • das Fehlen eines Akkreditierungssystems für Psychotherapie
    • ein nur sehr beschränkter Zugang zur Substitutionsbehandlung (OST)
    • eine begrenzte Kooperation im Hinblick auf die Prävention und Behandlung von HIV und Hepatitis bei Drogenkonsumenten in (narkologischen) Rehabilitationszentren

    Schulungen zur Förderung des Aufbaus von Kapazitäten sind wirksam und effizient. Dennoch verlangen alle Partner auch finanzielle und technische Unterstützung. Es wird die Notwendigkeit für weitere Qualifikationen und Schulungen in den Bereichen psychotherapeutische Methoden für Kurzzeitinterventionen, Motivationsbefragung, Rückfallverhütung, soziale Rehabilitation, medikationgestützte Behandlung und Behandlung von HIV gesehen.

    Die Trainings wurden durchgeführt von einer Gruppe erfahrener Trainerinnen und Trainer:

    Heino Stöver, Professor für Sozialwissenschaftliche Suchtforschung, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main

    Gerhard Eckstein, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Suchtreferent Deutsche Rentenversicherung Schwaben, Psychotherapeutische Praxis, Augsburg

    Inga Hart, Dipl.-Sozialpädagogin (M.A., M.Sc.), stellvertretende Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz, München

    Oleg Aizberg, Assistenzprofessor, Belarussische Medizinische Akademie, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Minsk, Belarus

    Irina Zelyeni, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik am Kronsberg STEP, Hannover

    Katharina Schoett, Fachärztin für Psychiatrie / Psychotherapie, Chefärztin der Abt. für Suchtmedizin des ÖHK Mühlhausen

    Ludger Schmidt, Erziehungswissenschaftler, Deutsche AIDS-Hilfe (DAH), Berlin

    Jörg Pont, Professor, Medizinische Universität Wien, Österreich

    Ingo Ilja Michels, Soziologe, Fachberater für Suchtkrankenhilfe, langjähriger Leiter des Arbeitsstabes der Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Bundesministerium für Gesundheit; Internationaler Koordinator für CADAP (Behandlungsfragen)

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Ingo Ilja Michels
    Frankfurt University of Applied Sciences
    Nibelungenstraße1
    60318 Frankfurt am Main
    ingoiljamichels@gmail.com
    michels.ingo@fit.fra-uas.de

  • Spiritualität – eine neue therapeutische Modewelle?

    Spiritualität – eine neue therapeutische Modewelle?

    Es werden eine Menge therapeutischer Trüffelschweine durch die Dörfer der Behandlungsmethoden getrieben. Achtsamkeit, Schematherapie, traumatherapeutische Einzelmethoden, DBT und eine Fülle weiterer Neuentwicklungen werben um unsere Aufmerksamkeit.

    Der klassisch ausgebildete Verhaltenstherapeut bzw. der in einem psychoanalytischen Verfahren bewanderte Heilkundige kennt die beiden gängigen, wissenschaftlich fundierten Richtungen und schätzt die Weiterentwicklungen, wenn sie mit dem theoretischen Hintergrund kompatibel sind oder so gut nachvollziehbar, dass sie in die erprobten Denkmethoden Eingang finden können – wie etwa die Bindungstheorie vom Bowlby in die Psychoanalyse.

    Die Ökonomen des Gesundheitssystems liebäugeln mit Mischverfahren, deren einzelne Bestandteile als „evidenzbasiert“ gelten. Hier finden dann „modulgestützte Verfahren mit einem ganzheitlichen Ansatz“, die den Eindruck vermitteln wollen, die Addition verschiedener Techniken führe zum Erfolg, polypragmatische Interessenten. Diese Denkweisen überraschen nicht im Rahmen einer Medizin als Wirtschaftsbereich. Der psychischen Komplexität seelisch bedrängter Menschen werden sie jedoch nicht gerecht, der psychischen Störung schon gar nicht. Seit einiger Zeit taucht nun der Begriff der Spiritualität im Zusammenhang mit Psychotherapie auf. Wieder eine Modeerscheinung? Tatsächlich findet man in den Angeboten verschiedener Kliniken jetzt eine spirituell betonte Psychotherapie. Davon soll aber hier nicht die Rede sein.

    Spiritualität ist die Verbindung von Realität und Transzendenz

    Sigmund Freud hatte sein Leben lang ein Problem mit der Religion. Deshalb konnte die Psychoanalyse über lange Zeit wenig Zugang zu der Bedeutung von Religiosität und Spiritualität entwickeln. Romain Rolland, ein mit Freud befreundeter Schriftsteller, machte den Begründer der Psychoanalyse darauf aufmerksam, dass er sich der Religiosität im eigentlichen Sinne nicht zugewandt habe: Religion sei ein Gefühl des unbegrenzt Schrankenlosen, des Ozeanischen. Freud konnte eingestehen, dass ihm der Sinn dafür fehlte.

    Damit weist der Schriftsteller auf eine Dimension des Ich hin, die über die Grenzen des Nachvollziehbaren hinausgeht. Diese Dimension wird häufig erst in der Depression spürbar, wenn das Sicherheitsgefühl des „zu einem Ganzen Gehörens“ verloren geht. Spiritualität ist die Verbindung von der Realität zur Transzendenz und dem Unerklärbaren am Ende der weltlichen Existenz. Mit philosophischem oder religiösem Inhalt gefüllte Spiritualität führt das Kontinuum des Lebens über die Zeit hinaus.

    Spiritualität schafft Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz

    In der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung wird die Psychotherapie als Wandlung des Sterblichen in ein Unsterbliches im Menschen bezeichnet. Viktor Frankl formuliert: „Der Mensch ist auch nur Mensch in dem Maße, als er sich von der Transzendenz her versteht. Er ist nur in dem Maße Person, als er von ihr durchtönt wird: durchtönt vom Anruf der Transzendenz, vom Anruf Gottes.“

    Spiritualität ist deshalb nicht eine dem Über-Ich zuzuschreibende Komponente, sondern das aus dem Erlebten entstandene Grundgerüst des Selbst mit einem Welt- und Menschenbild, aus dem das Individuum seine Kriterien für die Beurteilung der Welt bezieht. Diese Weltsicht generiert sich aus einer nicht zu ambivalenten Grundhaltung der beziehungskonstanten Bezugspersonen, deren konsistentes Bild von Werden und Sein als umfassende Repräsentanz integriert werden konnte.

    Die von Freud beschriebene pathologische Religiosität begegnet uns als sadistisches Introjekt (= ohne echte Identifikation angenommene innere Vorstellung) ebenfalls in unseren Therapien. Häufiger aber finden wir besonders unter den suchtkranken Patienten eine weitgehende Abwesenheit des Gefühls und des Erlebens einer inneren Heimat, die Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz zur Verfügung stellen würde. Hier dominiert oft ein rigides Über-Ich mit polarisierenden Wertungen, in denen die Kategorien der Verantwortlichkeit nur rudimentär, reduziert auf die Frage nach Schuld oder Nichtschuld vorkommen.

    Wir finden bei Menschen ohne ethisch nachvollziehbare Weltanschauung häufig das Phänomen, dass sie sich in ihrer frühen Sozialisationen nicht angenommen fühlten. „Der Glanz in den Augen der Mutter“ (Kohut) scheint für die Entwicklung der Spiritualität von Bedeutung zu sein. Ein sicher geerdetes Ich kann die hinter der konkretistischen Weltsicht lebende Transzendenz erkennen und im Jetzt und Hier spüren.

    Damit verbunden ist ein erleichterter Zugang zum inneren Erleben über emotional getönte Rituale wie Gebete und Gesang mit Gleichgesinnten. Die Gewissheiten des durch die Integrität geschützten Ich können so erhalten und im Krisenfall geschützt werden. Diese protektive Wirkung der Weltanschauung ist relativ unabhängig von deren Inhalt, wenn dieser nicht durch sadistische Vorbilder geprägt ist. Wichtiger als der Inhalt der Weltanschauung ist die Passform zum individuellen Ich.

    Spiritualität im psychotherapeutischen Feld

    Für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen ist deshalb die Erkundung spiritueller Reste, welche nicht pathologisiert sind, ein möglicherweise stabilisierender Wert. Für dieses sensible Thema gibt es bereits Hilfen zur Exploration, die sich auf den Erfahrungshintergrund beziehen. Insbesondere Menschen aus Kulturkreisen mit mystischen Vorstellungen haben unerwartete Ressourcen, wenn sie denn entdeckt werden. Der Umgang mit spiritueller Erfahrung bedarf des besonderen Takts, weil viele Menschen befürchten müssen, dass in einer rationalen Welt wie der westlichen transzendente Inhalte ausschließlich belächelt werden.

    Die Aufgabe im psychotherapeutischen Feld ist zunächst die Offenheit für Spiritualität. Erst in einem weiteren Schritt kann darüber nachgedacht werden, wie ein intrapsychisches Gerüst entwickelt werden kann, das spirituelles Erleben als Voraussetzung für die Entwicklung einer tragenden Weltanschauung ermöglicht.

    Psychotherapie ist aus Gründen der therapeutischen Abstinenz nicht für die Inhalte von Religiosität und Spiritualität verantwortlich, sondern hat sich ausgesprochen zurückhaltend zu verhalten. Bei sonst distanzierter Äußerung zu privaten Fragen, wie etwa dem Urlaubsziel, gibt es offenbar einen inneren Drang zur Äußerung der eigenen Weltanschauung, wenn sie bewusst ist. Mit dem Wissen um die Idealisierung des Therapeuten scheint auch hier die therapeutische Abstinenz die angemessene Reaktion zu sein, um pathologische Introjekte zu vermeiden.

    Es ist eine Tugend christlicher Kultur, das Verhältnis des Mitmenschen zu Gott deren beider Angelegenheit sein zu lassen. Spiritualität ist also keine therapeutische Modeerscheinung, sondern eine bisher oft nicht gewürdigte mögliche Dimension des Selbst, die Ressourcen für die Resilienz enthält.

    Literatur beim Verfasser

    Weiterführende Literatur:
    • Wilfried Ruff (Hg.): Religiöses Erleben verstehen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-61405-5
    • Michael Utsch, Raphael M. Bonelli, Samuel Pfeifer (Hg.): Psychotherapie und Spiritualität. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-02552-8
    Kontakt:

    Dr. Andreas Dieckmann
    Brüderstraße 38
    13595 Berlin
    dr.a.dieckmann@gmx.de
    www.psychotherapiedieckmann.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Andreas Dieckmann ist Ärztlicher Psychotherapeut in freier Praxis und Sprecher der Dozenten der Suchttherapeutenausbildung/psychoanalytisch orientiert beim GVS. Er war langjähriger Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum, Berlin.

  • Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit

    Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit

    Dr. Matthias Brecklinghaus
    Dr. Matthias Brecklinghaus

    Die letzten beiden Jahrzehnte waren geprägt von einem Boom der Hirnforschung und der Neurowissenschaften. In einer fast schon euphorischen Aufbruchsstimmung wurde die Hoffnung genährt, bald die komplexen Hirnfunktionen besser verstehen zu können. Berechtigt zu dieser Hoffnung sah man sich u. a. durch moderne bildgebende Verfahren wie der Magnetresonanztomographie. Mit dieser Technik können nicht nur die Strukturen des Gehirns, sondern auch – in Verbindung mit bestimmten Blutmarkern – seine Funktionen detailliert dargestellt und erforscht werden. Man glaubte, durch ein vertieftes und umfassendes Verständnis der Hirnfunktionen schließlich auch krankhafte Zustände des Gehirns besser behandeln zu können. Insbesondere in der Neurologie und Psychiatrie erwartete man zahlreiche neue (medikamentöse) Behandlungsmöglichkeiten, z. B. bei Demenz, Depression, Psychosen sowie bei Suchterkrankungen.

    Grenzen der Neurowissenschaften

    Zwischenzeitlich ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Die Wissenschaft hat zwar eine enorme Menge an neuem Detailwissen hervorgebracht. Jedoch taten sich mit jedem Wissenszuwachs auch wieder zahlreiche neue Fragen auf. Und so bleibt die Erkenntnis, dass es eher schwieriger als einfacher wird, die Komplexität der Hirnfunktionen umfassend zu begreifen, je tiefer man in die Materie eindringt.

    Für die Sucht beispielsweise werden oft und gerne die Modelle vom ‚Belohnungssystem‘ und vom ‚Suchtgedächtnis‘ bemüht, um bestimmte Phänomene der Abhängigkeitserkrankung verständlich zu machen. Und in der Tat haben diese Modelle durchaus einen didaktischen Wert. Da sie jedoch nur eine starke Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit darstellen, bleibt es eine Illusion, zu glauben, man könne mit ihnen eine Suchterkrankung umfassend erklären. Beispiel: Man kann mit dem ‚Belohnungssystem‘ und ‚Suchtgedächtnis‘ zwar plausibel machen, wie ein Suchtmittelverlangen getriggert wird. Jedoch erklären diese Modelle nicht, wieso jemand bei gleichem Suchtmittelverlangen in einer Situation widerstehen kann, in einer anderen jedoch nicht.

    Bei der Sucht handelt es sich um eine Erkrankung, die in einem vielschichtigen Bedingungsgefüge von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren entsteht. Angesichts dieser Tatsache erscheint es grundsätzlich unrealistisch, dass Suchterkrankungen allein medikamentös erfolgreich behandelt bzw. überwunden werden können. Denn wie soll ein Medikament, das sich biologischer Wirkmechanismen bedient, die psychosozialen Faktoren beeinflussen können? Es liegt auf der Hand, dass ein Medikament dazu nicht in der Lage ist. Dennoch hält sich hartnäckig die Hoffnung, man könne vielleicht in Zukunft die Suchterkrankung mit einem Medikament heilen.

    Medikamente zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit

    Derzeit sind fünf Medikamente auf dem Markt, die zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit – genauer gesagt zur Rückfallvorbeugung und/oder zur Trinkmengenreduktion – zur Verfügung stehen:

    • Disulfiram (Handelsname z. B. Antabus®)
    • Acamprosat (Handelsname z. B. Campral®)
    • Naltrexon (Handelsname z. B. Adepend®)
    • Baclofen (Handelsname z. B. Lioresal®)
    • Nalmefen (Handelsname z. B. Selincro®)

    Im Folgenden sollen die genannten Medikamente im Detail dargestellt und bewertet werden.

    Disulfiram

    Die Substanz wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in der Gummiherstellung benutzt. Es ist zu lesen, dass bei den Arbeitern der Gummiherstellung eine gewisse ‚Alkoholunverträglichkeit‘ festgestellt und so die Wirkung des Disulfiram entdeckt worden sei. Fakt ist, dass Disulfiram durch enzymatische Hemmung den Abbau von Acetaldehyd – ein Abbauprodukt des (Ethyl)Alkohols – blockiert. So kommt es bei Alkoholkonsum und gleichzeitiger Medikation mit Disulfiram zu einer inneren Vergiftung mit Acetaldehyd, was sich in Symptomen wie Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwitzen, Herzrhythmusstörungen und Kollapsneigung äußert. Diese Symptome sind äußerst unangenehm. Betroffene, die das Medikament erhalten, werden über die Wirkung bei gleichzeitigem Alkoholkonsum aufgeklärt. Behandler und Betroffene erhoffen sich über den abschreckenden Effekt der unangenehmen Wirkung (bei gleichzeitigem Alkoholkonsum) ein Vermeiden des Alkoholkonsums.

    1949 wurde der Wirkstoff erstmals in der Schweiz als Medikament eingesetzt. Breite Anwendung fand er vor allem in den USA, in Frankreich, Großbritannien und in Osteuropa, dort vor allem auch in Form eines unter die Haut eingesetzten Medikamentendepots mit Langzeitwirkung. In Deutschland blieb der Einsatz auch unter Experten umstritten und hat sich bis heute nicht etabliert. Lediglich in einzelnen Zentren wurde mit dem Medikament gearbeitet, zum Teil auch in Verbindung mit wissenschaftlicher Forschung. Ein Teil der Zurückhaltung mag darin begründet sein, dass es in den 50er und 60er Jahren vereinzelt Todesfälle unter hochdosierter Disulfiram-Medikation gab. Ein weiterer Grund für den zögerlichen Einsatz sind wohl auch grundsätzliche Bedenken, inwiefern das Prinzip der Abschreckung mit dem Ziel eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgangs mit der Suchterkrankung vereinbar ist.

    Sollte man sich trotz dieser grundsätzlichen Bedenken für eine Behandlung mit diesem Medikament entscheiden, ist – allein schon aufgrund der potenziellen medizinischen Gefahren – auf jeden Fall ein engmaschiger Kontakt des Patienten zum behandelnden Arzt erforderlich. Kritiker dieser Medikation argumentieren auch damit, dass ein Teil des nachgewiesenen abstinenzstabilisierenden Effektes wohl eher auf den engen Arzt-Patienten-Kontakt als auf die eigentliche Wirkung des Medikamentes zurückzuführen sei. Befürworter dieser Medikation argumentieren, dass nicht für alle Betroffenen das Ideal eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgangs mit der Suchterkrankung zu erreichen sei und dass für diese Gruppe von Betroffenen das Medikament – bei sorgfältiger ärztlicher Führung – eine durchaus hilfreiche Option darstellen könne.

    Wie auch immer man sich als Behandler hier positionieren will: Die Herstellerfirma hat zwischenzeitlich die Produktion für den deutschen Markt eingestellt. Die Konsequenz dieser Entscheidung ist, dass 2011 die Zulassung für Disulfiram in Deutschland nicht mehr verlängert wurde. Zwar ist das Medikament nach wie vor über internationale Apotheken erhältlich, jedoch stellen die beschriebenen Umstände naturgemäß eine deutliche Hürde für die Verordnung dar.

    2015 wurde erstmals eine S3-Leitlinie – eine S3-Leitlinie ist die qualitativ hochwertigste Form einer Leitlinie – mit dem Titel „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ veröffentlicht. Sie entstand in einem aufwendigen, methodisch festgelegten und von einer neutralen Person moderierten Verfahren unter Beteiligung von Fachgesellschaften, Experten sowie von Selbsthilfe- und Angehörigenverbänden. Die in der Leitlinie enthaltenen Empfehlungen stellen somit keine Einzelmeinung dar, sondern sind wissenschaftlich fundiert und im Konsens der Beteiligten formuliert und können somit als derzeit gültiger Orientierungsrahmen für eine ‚kunstgerechte‘ Behandlung gelten. Dabei wird auch eine Empfehlung zur Medikation mit Disulfiram abgegeben. Sie lautet:

    „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken kann bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Disulfiram im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans angeboten werden, wenn andere zugelassene Therapieformen nicht zum Erfolg geführt haben.“

    In der Terminologie der Leitlinien ist die „kann“-Formulierung eine offene Empfehlung. Genau genommen handelt es sich nicht um eine Empfehlung, sondern um die Feststellung einer Option unter definierten Voraussetzungen. Somit bleibt die Empfehlung zum Einsatz von Disulfiram insgesamt recht zurückhaltend und eben begrenzt auf Situationen, in denen andere Behandlungsformen ausgereizt sind.

    Acamprosat

    Acamprosat wurde in Frankreich entwickelt und 1989 zugelassen. In Deutschland kam es 1995 mit der gezielten Indikation „Rückfallprophylaxe nach Alkoholentgiftung“ auf den Markt. Der genaue Wirkmechanismus der Substanz im Gehirn ist noch nicht vollständig verstanden, zumal sie Einfluss auf mehrere Rezeptorsysteme hat. Bei Markteinführung des Medikamentes wurde von der Herstellerfirma behauptet, das Medikament verhindere oder reduziere das Suchtmittelverlangen. Dies ließ sich in den hierzu durchgeführten Studien jedoch nicht belegen.

    Studienergebnisse zur Häufigkeit von Rückfällen unter Medikamenteneinnahme waren widersprüchlich, d. h. manche Studien zeigten eine Minderung der Rückfallhäufigkeit, andere nicht. Die widersprüchliche Datenlage wird heute so erklärt, dass Acamprosat offenbar doch einen nachweisbaren Effekt auf die Rückfallhäufigkeit hat, aber dass von diesem Effekt nicht alle Behandelten profitieren. Zwischenzeitlich bemüht sich die Forschung um Klärung der Frage, welche Kriterien Einfluss darauf haben, ob das Medikament in der gewünschten Weise wirkt oder nicht. Darauf stützt sich die Hoffnung, das Medikament in Zukunft passgenauer einsetzen zu können. Die Erwartungen dürfen jedoch nicht sehr hoch geschraubt werden, da selbst die Studien, die die gewünschte Wirkung nachgewiesen haben, keinen besonders großen Effekt zeigen konnten. Eine Kennzahl, die dies zum Ausdruck bringt, ist die NNT (number needed to treet), die mit 9 angegeben wird. Das heißt, dass durchschnittlich neun Patienten mit Acamprosat behandelt werden müssen, bis einer der Behandelten vom gewünschten Effekt profitiert.

    Trotz dieser sehr ernüchternden Zahlen gibt die S3-Leitlinie immerhin eine (einfache) Empfehlung ab, die Möglichkeiten des Medikamentes zu nutzen; allerdings unter klar formulierten Voraussetzungen und Einschränkungen:

    „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken sollte bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Acamprosat oder Naltrexon im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“

    Naltrexon

    Naltrexon wird schon seit den 90er Jahren unterstützend in der Entwöhnung Opiatabhängiger eingesetzt. Seit 2010 ist es in Deutschland auch zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans zugelassen. Chemisch gesehen ist die Substanz dem Opium ähnlich und kann daher auch die im Gehirn befindlichen Opiatrezeptoren besetzen. Dies tut die Substanz allerdings, ohne die weiteren Wirkungen des Opiums auszulösen. Medizinisch gesehen wird die Substanz daher als Opiatrezeptor-Antagonist (Antagonist = Gegenspieler) bezeichnet. Die gewünschte Wirkung als Medikament kann man sich in etwa so vorstellen: Naltrexon besetzt die Opiatrezeptoren, dadurch können die körpereigenen Opioide, die für den angenehmen, rauschartigen Effekt des aktivierten ‚Belohnungssystems‘ verantwortlich sind, nicht mehr zur Geltung kommen. Daher spürt der Alkoholkonsument auch nicht mehr die sonst so positiv und angenehm erlebte Alkoholwirkung. Der ausbleibende ‚Belohnungseffekt‘ soll dafür sorgen, dass der Betroffene nicht mehr so ein starkes Verlangen nach Alkohol verspürt und im Idealfall daher keinen Alkohol mehr trinkt.

    Soweit die Theorie. Die Praxis zeigt allerdings – wie so oft – ein komplizierteres und uneinheitlicheres Bild. Ähnlich wie bei Acamprosat nämlich sind die Studienergebnisse kontrovers. Effekte im Hinblick auf eine aufrechterhaltene Abstinenz wurden kaum gefunden, wohl aber Effekte bezogen auf eine Vorbeugung übermäßigen Trinkens bzw. eine Trinkmengenreduktion. Aber selbst diese Effekte sind nicht sehr stark ausgeprägt. Es müssen neun Patienten mit Naltrexon behandelt werden, um bei einem Patienten einen gewünschten Effekt festzustellen (NNT = 9). Und ebenso wie bei Acamprosat bemüht sich die Forschung derzeit, Kriterien herauszufinden, mit denen man ein ‚Ansprechen‘ auf das Medikament besser vorhersagen kann. Bei so viel Ähnlichkeit bezüglich der wissenschaftlichen Evidenz erstaunt es nicht, dass die S3-Leitlinie für beide Medikamente in einem Atemzug dieselbe Empfehlung gibt (s. o.).

    Baclofen

    Die Geschichte der Entdeckung von Baclofen als Medikament zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit ist eine außergewöhnliche. Als Medikament wurde es erstmals 1962 als Mittel gegen Krampanfälle eingesetzt. Dabei war das Medikament jedoch nicht sehr erfolgreich. Später entdeckte man seine Wirksamkeit gegen eine Erhöhung des Muskeltonus, z. B. bei einer Spastik. Mit dieser Indikation wurde es jahrzehntelang in der Behandlung bestimmter neurologischer Erkrankungen angewendet.

    2009 machte ein französischer Arzt, Oliver Ameisen, in einem Selbstversuch die Erfahrung, dass ihm das Medikament bei der Überwindung seiner Alkoholabhängigkeit half. Nach erfolgreichem Eigenversuch setzte er das Medikament schließlich auch bei seinen Patienten zur Behandlung von Alkoholproblemen ein und war dabei – nach seiner Darstellung – ebenfalls erfolgreich. Er schrieb darüber ein Buch („Das Ende meiner Sucht“, Verlag Kunstmann), das viel Aufmerksamkeit erntete. In der Folge wurde das Medikament in Frankreich (und inzwischen auch außerhalb Frankreichs) vermehrt nachgefragt und eingesetzt. Überzeugende wissenschaftliche Belege der Wirkung bei Alkoholabhängigkeit stehen jedoch noch aus. Drei bisher durchgeführte Studien zeigen widersprüchliche Ergebnisse: Während zwei von ihnen eine geringere Rückfallhäufigkeit (im Vergleich zu Placebo) zeigen konnten, ließ eine dritte Studie dieses Ergebnis vermissen. Insgesamt fehlen noch aussagekräftige Studien mit ausreichend vielen Teilnehmern.

    Da Baclofen nicht offiziell zur Behandlung bei Alkoholabhängigkeit zugelassen ist, entstehen für den behandelnden Arzt, der das Medikament bei Alkoholabhängigkeit einsetzen will (so genannter Off-Label-Use), mögliche Haftungsprobleme. Schon aus diesem Grund ist – ungeachtet der noch ausstehenden wissenschaftlichen Belege der Wirksamkeit – von ärztlicher Seite her Zurückhaltung geboten. In der S3-Leitlinie wird Baclofen gar nicht erst erwähnt.

    Nalmefen

    Nalmefen ist chemisch gesehen dem Naltrexon sehr ähnlich und wirkt auch als Opiatrezeptor-Antagonist. Dementsprechend ist der Wirkmechanismus identisch: fehlender ‚Genuss- bzw. Belohnungseffekt‘ bei Alkoholkonsum durch besetzte Opiatrezeptoren. Im Vergleich zu Naltrexon hat Nalmefen allerdings ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und wirkt sich insbesondere nicht schädigend auf die Leber aus. Das Medikament wurde bereits in den 70er Jahren entwickelt, jedoch erst 2014 in Deutschland für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen.

    Neu ist, dass bei diesem Medikament erstmals als Ziel die Trinkmengenreduktion angegeben wird. Dies schlägt sich auch in der Art der Einnahme nieder. Nalmefen soll nicht regelmäßig eingenommen werden, sondern nur in Situationen, in denen der Betroffene ein verstärktes Trinken befürchtet bzw. vorhersieht. Das Medikament soll dann bei Bedarf ein bis zwei Stunden vor dem erwarteten Trinken eingenommen werden.

    Die wissenschaftliche Evidenz ist bislang noch recht dürftig: Es liegen drei Studien mit insgesamt 2.000 Teilnehmern vor. Untersucht wurden die Anzahl der Trinktage sowie die durchschnittlich konsumierte Alkoholmenge pro Tag. Die Ergebnisse der Studien sind nicht einheitlich. Wenn statistisch signifikante Ergebnisse (im Sinne einer Trinkmengenreduktion) vorlagen, dann waren die Effekte im Vergleich zur Placebo-Gruppe insgesamt nur gering ausgeprägt (z. B. pro Monat 1,6 Trinktage weniger bzw. pro Tag 6,5 Gramm Alkohol weniger als die Kontrollgruppe). Dementsprechend zurückhaltend ist die Empfehlung der S3-Leitlinie:

    „Wenn das Ziel die Trinkmengenreduktion ist, kann nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Nalmefen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“

    Wie die „kann“-Formulierung zu verstehen ist, wurde oben bereits erläutert. Bei den Empfehlungen der S3-Leitlinie fällt auf, dass alle medikamentösen Behandlungsoptionen nur „außerhalb der stationären Entwöhnung“ empfohlen werden. Diese Formulierung ist so zu verstehen, dass der Entwöhnungsbehandlung – nach vorliegender wissenschaftlicher Evidenz und Expertenkonsens – der Vorrang vor einer möglichen medikamentösen Behandlung gegeben wird.

    Lebenszyklus neuer Medikamente

    Medikamente, die neu auf den Markt kommen (egal, in welchem medizinischen Fachgebiet), unterliegen generell einem gesetzmäßig ablaufendem Zyklus. Die Markteinführung stellt die erste Phase dar. In dieser Phase betreibt die Pharmaindustrie einen großen Werbeaufwand. Systematisch werden bei Behandlern und Behandelten Hoffnungen und Erwartungen geweckt, und in der Folge wird das Medikament häufig verordnet. In einer zweiten Phase kommen Zweifel an der (behaupteten) Wirksamkeit auf, es werden eventuell noch nicht bekannte Nebenwirkungen festgestellt und der (zusätzliche) Nutzen des neuen Medikamentes wird zunehmend in Frage gestellt. In dieser Phase streiten die Experten über die wissenschaftliche Evidenz, da es hierzu in aller Regel widersprüchliche Daten gibt. Es werden schließlich aufwendige und methodisch anspruchsvolle Studien durchgeführt, um die Widersprüche zu klären. Dieser Prozess benötigt oft etliche Jahre. In der dritten Phase ist die wissenschaftliche Evidenz weitgehend geklärt und die Mehrzahl der Experten einigt sich auf eine gemeinsame Bewertung. Diese Bewertung fällt dann in aller Regel deutlich ungünstiger aus als die anfangs propagierten Hoffnungen und Erwartungen. Eine Ernüchterung tritt ein, und die Bedeutung des Medikamentes relativiert sich. Manche Medikamente werden in dieser Phase wieder vom Markt genommen oder in ihrer Indikation eingegrenzt, und etliche Medikamente werden aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr so häufig verordnet, da der zusätzliche Nutzen in keinem Verhältnis zu dem (bei neuen Medikamenten regelhaft) hohen Preis steht. Bis es soweit kommt, vergehen meist fünf bis zehn Jahre. In dieser Zeit hat die Pharmafirma gut an dem Medikament verdient, so dass die dann rückläufigen Verordnungen in aller Regel gut verkraftet werden bzw. schon einkalkuliert sind.

    Hier sollen beispielhaft die monatlichen Behandlungskosten der fünf besprochenen Medikamente in der Reihenfolge ihrer Markteinführung genannt werden:

    • Disulfiram (Markteinführung 1949): 15 Euro/Monat
    • Baclofen (Markteinführung 1962): 13 Euro/Monat
    • Acamprosat (Markteinführung 1989): 71 Euro/Monat
    • Naltrexon (Markteinführung 2010): 125 Euro/Monat
    • Nalmefen (Markteinführung 2014): 80 Euro/Monat

    Vor dem Hintergrund des beschriebenen Lebenszyklus neuer Medikamente ist es nicht verkehrt, neu auf den Markt gebrachten Medikamenten generell mit einer gewissen Skepsis zu begegnen und im Zweifel die Phase 3 abzuwarten, bevor man sich als Behandler für oder gegen den Einsatz des Medikamentes entscheidet.

    Rolle der Pharmaindustrie

    Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Medikamente kommt nicht ohne die Betrachtung der Rolle der Pharmaindustrie aus. Die Unternehmen präsentieren sich zwar (durch Werbung und ihr Auftreten) als Organisationen im Dienste der Gesundheit, aber die Triebfeder ihres Handelns ist nicht primär der gesundheitliche Nutzen, sondern vor allem der ökonomische Erfolg, was für Wirtschaftsunternehmen auch ganz selbstverständlich ist. Die Wirksamkeit eines Medikamentes muss vom Hersteller gegenüber den nationalen Gesundheitsbehörden nachgewiesen werden. Wirksamkeitsnachweise durch klinische Studien sind aufwändig und teuer, sie lohnen sich nur, wenn mit einem Medikament ein entsprechender Gewinn erzielt werden kann. Dabei spielen vor allem betriebswirtschaftliche Überlegungen des Herstellers eine Rolle und nicht eine volkswirtschaftliche bzw. gesundheitsökonomische Kosten-Nutzen-Betrachtung.

    Rolle der Forschung

    Schnelle Ergebnisse

    Nicht nur die Pharmaindustrie gehört auf den Prüfstand, sondern auch die Forschung. Wie andere gesellschaftliche Bereiche auch, ist sie von einem harten Konkurrenzkampf geprägt. Die Expertise eines Wissenschaftlers wird gemessen an der Zahl seiner Veröffentlichungen. Wer nicht fleißig Ergebnisse produziert, ist sehr schnell ‚out‘ und gehört nicht mehr zur Elite. Dieses Prinzip führt – das liegt auf der Hand – zu Masse statt Klasse. Qualitativ hochwertige und methodisch anspruchsvolle Forschung braucht jedoch viele Studienteilnehmer und Mitarbeiter und damit viel Zeit und Geld sowie ein hohes Maß an Koordinationsarbeit und Durchhaltevermögen.

    ‚Positive‘ Ergebnisse

    Ein weiteres Phänomen ist psychologischer Natur. Die menschliche Wahrnehmung ist so gestrickt, dass ‚positive‘ Studienergebnisse (z. B.: „Die Studie konnte nachweisen, dass Medikament A besser wirkt als Medikament B“) aufmerksamer registriert werden und interessanter wirken als ‚negative‘ Ergebnisse (z. B.: „Die Studie konnte nicht nachweisen, dass Medikament A besser wirkt als Medikament B“). Dies führt dazu, dass ‚positive‘ Studienergebnisse auch viel lieber veröffentlicht werden als ‚negative‘. Letztere landen daher häufig in der Schublade. Damit kommt es bei Literaturrecherchen zu einer systematischen Verzerrung zugunsten ‚positiver‘ Studienergebnisse. Dieses Phänomen ist schon länger bekannt. Man versucht dem entgegenzuwirken, indem die Forscher aufgefordert werden, alle begonnenen und laufenden Studien zu listen und auch alle Ergebnisse zu veröffentlichen. Damit diese Bemühungen Früchte tragen, müsste diese Aufforderung allerdings zur Pflicht und international umgesetzt und kontrolliert werden. Offen bleibt, wie das realisiert werden kann.

    Interessegeleitete Auftraggeber

    Schon der Volksmund weiß: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dies bei von der Pharmaindustrie bezahlter Forschung anders ist. Die Möglichkeiten, die Ergebnisse einer Studie so darzustellen, dass sie dem gewünschten Ergebnis entsprechen, sind zahlreich und für den Nicht-Eingeweihten kaum zu entdecken. Aus diesem Grund wird in Deutschland zunehmend gefordert, dass die Auftraggeber einer Studie von den Autoren benannt werden müssen, ebenso wie ggf. vorhandene Interessenskonflikte der Autoren. Auch hier wäre es dringend anzuraten, diesen Anspruch zu einem international gültigen (und kontrollierten) Standard zu machen. Wünschenswert – aber utopisch – wäre es, die Forschung ausschließlich durch weitgehend neutrale Auftraggeber (z. B. Hochschule, Staat) zu finanzieren.

    Komplexität des Forschungsgegenstandes

    Ein grundlegendes Dilemma der Therapieforschung besteht darin, dass psychotherapeutische Fragestellungen generell schwierig zu untersuchen sind. Das liegt in der Natur der Psychotherapie, deren Wirkung ja nicht nur allein von der Methode, sondern auch von der Persönlichkeit des Therapeuten und der daraus resultierenden Therapeuten-Patienten-Beziehung abhängt. Gegenstand der Untersuchung ist somit ein sehr komplexes System von sich gegenseitig beeinflussenden Variablen. Dadurch ist es fast unmöglich, trennscharf eine einzige Variable aus dem System herauszulösen und gezielt zu untersuchen. Bei der Medikamentenforschung hingegen wird ein deutlich weniger komplexes System untersucht. Zudem können bestimmte Variablen, die das System verkomplizieren (z. B. bestimmte psychologische Effekte einer medikamentösen Behandlung) durch Placebo-Kontrollgruppen und Verblindung teilweise herausgefiltert werden. Es handelt sich also um eine vergleichsweise einfache Fragestellung mit einem (vermeintlich) klaren Ergebnis. Das ist der Grund, weshalb es auch in der Suchttherapieforschung ein Ungleichgewicht zugunsten medikamentenbezogener Fragestellungen gibt. Die innerhalb der Forschung generierte Dynamik wirkt sich schließlich auch auf die Wahrnehmung der (Fach)Öffentlichkeit aus. Indem gehäuft neue Erkenntnisse aus der Medikamentenforschung bekannt gemacht werden, entsteht der Eindruck, dass Suchttherapie immer mehr Medikamententherapie sei.

    Psychologische Effekte in der Medikamentenforschung

    Es wird allgemein anerkannt, dass jede Medikation auch psychologische Wirkungen mit sich bringt, so z. B. den Placebo-Effekt. Dieser hat dazu geführt, dass Placebo-Kontrollgruppen und Verblindung (zur Trennung der psychologischen von den biologischen Wirkungen) zum Standard wissenschaftlicher Medikamentenforschung geworden sind. Ein anderer, vermutlich genauso Einfluss nehmender psychologischer Effekt einer Medikation hingegen wird in der Forschung grundsätzlich außer Acht gelassen: die Auswirkung der Medikation auf die Selbstwirksamkeitserwartung des Behandelten. Selbstwirksamkeitserwartung ist die Überzeugung, die Erkrankung mit den eigenen Möglichkeiten bewältigen und überwinden zu können. Gerade bei Sucht- und psychischen Erkrankungen trägt eine positive Selbstwirksamkeitserwartung in starkem Maße zum Erfolg einer Behandlung bei. Zum Zeitpunkt, an dem Sucht- und psychisch Erkrankte in Behandlung kommen, ist ihre Selbstwirksamkeitserwartung in aller Regel stark beschädigt. Schließlich haben die meisten von ihnen zahlreiche vergebliche Selbstheilungsversuche hinter sich. Daher gehört es regelhaft zu den therapeutischen Zielsetzungen, die beschädigte Selbstwirksamkeitserwartung wieder aufzubauen. Eine Medikamentenbehandlung kann dies allerdings kaum leisten. Denn im Grunde signalisiert sie dem Hilfesuchenden genau das Gegenteil von Selbstwirksamkeit, nämlich dass er angewiesen ist auf eine chemische Substanz, weil die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Unter diesem Aspekt ist es fraglich, ob ein Medikament hilfreich ist oder den Betroffenen nicht vielmehr festschreibt auf seine Rolle als Hilfe- und Behandlungsbedürftiger mit der Folge einer Aufrechterhaltung der beschädigten Selbstwirksamkeitserwartung. Aber das wird von der Medikamentenforschung nicht untersucht.

    Fazit

    Es versteht sich von selbst, dass die Erforschung und Weiterentwicklung medikamentöser Behandlungsoptionen in der Suchttherapie grundsätzlich sinnvoll und gewünscht sind. Aus dem Gesagten ergeben sich hierfür als Fazit aber folgende Ansprüche:

    • Die Erwartungen an medikamentöse Behandlungsstrategien sollten realistisch bleiben. Es ist auch in Zukunft nicht damit zu rechnen, dass eine Suchterkrankung medikamentös geheilt werden kann.
    • Die Suchttherapieforschung sollte sich nicht einseitig auf medikamentöse Fragestellungen fokussieren, sondern mit mindestens ebenso großer Anstrengung nicht-medikamentöse (z. B. psychotherapeutische) Fragestellungen untersuchen.
    • Die Forschung sollte auch psychologische Nebenwirkungen von medikamentösen Maßnahmen untersuchen und in die Gesamtbeurteilung von Medikamenteneffekten einbeziehen.
    • Die Forschung sollte vermehrt der Frage nachgehen, welche Patienten von einer bestimmten Medikation profitieren und welche nicht.
    • Bei nur geringen Effekten einer Medikation sollte von neutraler Seite festgelegt werden, wie stark ein nachgewiesener Effekt mindestens sein muss, damit eine Behandlung zu Lasten der Solidargemeinschaft der Versicherten berechtigt ist.
    • Vor einer Einführung grundsätzlich neuer Behandlungsziele und -strategien sollte ein Expertendiskurs über deren Sinnhaftigkeit erfolgen – und nicht umgekehrt!

    Literatur beim Verfasser

    Der Text wurde als Vortrag verfasst, den der Autor im September 2015 bei der Jubiläumsveranstaltung der Suchtberatung der Diakonie in Lübbecke gehalten hat.

    Kontakt:

    Dr. Matthias Brecklinghaus
    m.brecklinghaus@ak-neuss.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Matthias Brecklinghaus, Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachkunde „Suchtmedizinische Grundversorgung“, war von 1999 bis 2016 ärztlicher Leiter der Fachklinik Curt-von-Knobelsdorff-Haus und seit 2009 auch Klinikleiter. Seit April 2016 arbeitet er im „Memory-Zentrum“ der St. Augustinus-Kliniken Neuss.

  • Schematherapie in der Suchtbehandlung?

    Schematherapie in der Suchtbehandlung?

    Dr. Eckhard Roediger
    Dr. Eckhard Roediger

    Das deutsche Suchtbehandlungssystem ist das mutmaßlich weltweit am besten ausgebaute, und die Abstinenzquoten gelten als durchaus befriedigend. Was kann eine Psychotherapiemethode wie die Schematherapie da noch zu einer Verbesserung beitragen? Die Frage ist durchaus berechtigt, denn es gibt mehrere Untersuchungen von Samuel Ball aus den USA, in denen eine von ihm entwickelte Kombination aus suchtspezifischen Behandlungselementen und einem Schematherapieansatz (Ball 1998) zu keinen besseren, und in der letzten Studie (Ball et al. 2011) bei einer allerdings recht schwierigen Klientel sogar zu schlechteren Ergebnissen führte als eine suchtspezifische Behandlung allein. Vielleicht sind diese Ergebnisse ein Grund, warum bisher kaum jemand in der deutschen ‚Suchtbehandlungsszene‘ diesen Ansatz aufgegriffen hat.

    Die bisherigen Forschungsergebnisse sind zwiespältig

    Kurz zusammengefasst haben die Studien von Ball auf das deutsche Suchtbehandlungssystem übertragen aber nur eine begrenzte Aussagekraft, denn es wurde vergleichsweise kurz (sechs bis 14 Sitzungen über max. ein halbes Jahr), mit einer recht belasteten Klientel (z. B. teilweise wohnsitzlose Drogenabhängige oder zwangseingewiesene Patienten mit einem Anteil von ca. 50 Prozent paranoider oder antisozialer Persönlichkeitsstörung) und vor allem mit einem älteren Schemaansatz gearbeitet. Dagegen wurde in den erfolgreichen Studien der Forschergruppe um Arnoud Arntz in den Niederlanden der neuere Modusansatz angewendet. Damit konnten nämlich sowohl bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Giessen-Bloo et al. 2006) als auch mit verschiedenen anderen Persönlichkeitsstörungen (Bamelis et al. 2014) sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Allerdings bei einer zweijährigen Behandlung, wenn auch in der letztgenannten Studie mit nur 50 Sitzungen (40 wöchentliche Sitzungen im ersten und monatliche Sitzungen im zweiten Jahr). In den Niederlanden wurde gerade eine Studie mit ca. 150 forensischen Patienten (die fast alle schwere Persönlichkeitsstörungen hatten) abgeschlossen, und die ersten Ergebnisse sind auch hier positiv (Bernstein et al. 2012), allerdings wurde über mehrere Jahre behandelt. Die endgültigen Ergebnisse werden für diesen Sommer erwartet. Bei ausreichend langer Behandlung sind also auch diese schwierigen Patienten zu erreichen.

    Diese Mischung aus unterschiedlich ermutigenden Ergebnissen gilt es genauer zu betrachten, um das Potenzial der Schematherapie für die Suchtbehandlung differenziert einzuschätzen. Dazu sollen nun die wichtigsten Elemente einer Schematherapie kurz umrissen werden.

    Die Bedeutung der Basisemotionen

    Das Modell der Schematherapie orientiert sich stark an dem Modell der Bindungsforschung (Bowlby 1976). Demzufolge haben Kinder Grundbedürfnisse, die im Kern das Bedürfnis nach wohlwollenden Bindungen einerseits und den Aufbau von Selbstbehauptungsfähigkeit und Kontrolle andererseits umfassen. Bei Frustrationen dieser Bedürfnisse in den frühen Beziehungserfahrungen werden als Signal sog. Basisemotionen (Ekman 1993) aktiviert. Das sind zunächst einmal Angst, Trauer, Ekel und Wut. Sie zeigen an, dass dem Kind emotional etwas fehlt. Vielen Lesern werden diese Basisemotionen aus dem Film „Alles steht Kopf“ vertraut sein, bei dessen Entstehung Paul Ekman beratend mitwirkte. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass Frustration des Bindungsbedürfnisses primär Angst oder Trauer auslöst und die Bedrohung der Selbstbehauptung Ekel (was sich im Seelischen eher als ‚Genervt-Sein‘ zeigt) bzw. Wut. Eine Bindungsfrustration kann aber sekundär auch Ärger auslösen, was häufig bei Narzissten zu beobachten ist. Hinter der sekundären Wut steckt dann eine primäre Trauer oder Angst, die aber nicht wahrgenommen wird (Greenberg et al. 2003). Dann gibt es noch die Basisemotionen „Überraschung“, die aber emotional neutral ist, und „Freude“, die auftritt, wenn alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt sind. In dem oben genannten Film kann man jedoch sehen, dass die Freude gegenüber den anderen Basisemotionen eine eher aktive bzw. organisierende Rolle einnimmt.

    Das Schematherapiemodell

    Starke bzw. häufige Frustrationen der Grundbedürfnisse in der Kindheit und Jugend führen dem Schematherapiemodell zufolge dazu, dass in der neuronalen Matrix des Gehirns  sog. Schemata angelegt werden. Werden diese im Erwachsenenalter in ähnlicher Weise aktiviert (z. B. durch Beschämung, Zurücksetzung und Verlassen-Werden), kommen die Patienten in einen komplexen Aktivierungszustand (einen  sog. Modus), der dem damaligen Erleben entspricht. Sie fühlen dann einerseits emotional wieder wie als Kind (sog. Kindmodus), andererseits werden auch Bewertungen und Lernerfahrungen von damals aktiviert, die als innere Instanz eine heute angemessene Bewertung verzerren (sog. innere Bewerter, oft auch innere Elternmodi genannt – siehe Abbildung 1). Die aktuelle Situation versuchen die Patienten dann durch die Strategien zu bewältigen, die sie in diesen Situationen in der Kindheit erlernt haben (sog. Bewältigungsmodi). Sie betrachten die Welt in Schemaaktivierungssituationen sozusagen aus Kinderaugen und setzen automatisch die alten Lösungen ein. Die innere Beweglichkeit ist deutlich eingeschränkt, und die Patienten haben keinen Zugriff auf die Möglichkeiten bzw. Ressourcen, die sie inzwischen als Erwachsene entwickelt bzw. erworben haben. Dadurch wirkt das Bewältigungs- oder Problemlöseverhalten maladaptiv oder sogar ‚kindisch‘. Sie sitzen mit einem ‚Tunnelblick‘ bzw. ‚Scheuklappen‘ in einer Lebensfalle fest (Young et al. 2005).

    Ziel der Therapie ist, die Schemata und die typischen Auslösesituationen (oft zwischenmenschliche Konfliktsituationen) kennenzulernen, die aktuellen Modusaktivierungen auf die mutmaßlichen biographischen Entstehungssituationen zu beziehen, sich emotional zu distanzieren und eine wohlwollende, neue Perspektive des sog. gesunden Erwachsenenmodus einzunehmen. Aus dieser Haltung heraus soll anstatt der automatischen, maladaptiven Bewältigung eine funktionale Lösung gefunden und umgesetzt werden. Die Therapeuten übernehmen dabei eine Rolle, die der von Eltern oder einem Trainer ähnelt.

    Abb. 1: Modusmodell
    Abb. 1: Modusmodell

    Suchtverhalten im Schematherapiemodell

    In der Regel wird die Einnahme psychotroper Substanzen oder das Ausführen selbstberuhigender bzw. selbststimulierender Aktivitäten als „Modus des distanzierten Selbstberuhigers“ eingeordnet. Das trifft in der Regel auch zu, denn das Verhalten dient dazu, eine unangenehme innere Spannung, die aus einer Grundbedürfnisfrustration entsteht, aktiv oder passiv abzubauen. In einer Schematherapie wird man aber immer gemeinsam die Auslösesituation im Einzelfall analysieren, um die Funktion des Suchtverhaltens vor dem Hintergrund der emotionalen Aktivierungen (Kindmodi) und der aktivierten Bewertungen (Elternmodi) individuell zu verstehen. Dabei sind folgende Grundtypen beispielhaft beobachtbar (siehe Abbildung 1):

    1. Ein Arzt nimmt Aufputschmittel, um einen Nachtdienst durchzustehen und seine Aufgaben zu schaffen. Dann erhält das Suchtmittel einen Aufopferungs– bzw. Unterordnungsmodus aufrecht.
    2. Eine Prostituierte nimmt Heroin, um passiv ihr Elend nicht mehr zu spüren. Das wäre ein sog. distanzierter Selbstschutzmodus.
    3. Ein arbeitsloser junger Mann spielt mehrere Stunden am Tag Online-Spiele, um sich aktiv abzulenken. Dann hätte das Spielen die Funktion eines distanzierten Selbstberuhigers. Auch z. B. Entspannungstrinken, exzessives Einkaufen, Cannabiskonsum oder Selbstverletzungen können in dieser Weise eingesetzt werden.
    4. Menschen setzen Psychostimulanzien ein, um ihr Selbstwertgefühl, ihre Erlebensintensität oder ihre sexuelle Leistungsfähigkeit zu steigern. Das wäre ein Selbststimulierer.
    5. Manche Menschen gehen aus Frustration in einen anklagend-vorwurfsvollen Selbsterhöhungsmodus und rechtfertigen damit ihr Suchtverhalten. Sie fühlen sich als Opfer, und die anderen sind schuld. Dann unterstützen die Suchtmittel einen überkompensierenden Selbsterhöhungsmodus.

    Das übergeordnete Therapieziel

    Die wesentliche Erweiterung des therapeutischen Blickwinkels besteht darin, von den vordergründigen Bewältigungsmodi zu den hintergründigen emotionalen Kindmodi und aktivierten Bewertern (innere Elternmodi) zu kommen. Man kann von einem Schritt von der ‚vorderen‘, symptomatischen Ebene zu einer persönlichkeitsbedingten, motivationalen Ebene sprechen. Diese Einteilung in zwei Ebenen erweitert das klassische Modusmodell von Young. Die störungsspezifischen Interventionen setzen an der Symptom- bzw. unmittelbaren Verhaltensebene an, die schematherapiespezifischen Interventionen haben das Ziel, die Bewerter zu identifizieren und zu ‚entmachten‘ und das emotionale Erleben des Kindmodus mit Selbstmitgefühl zu betrachten und die Grundbedürfnisse so gut wie möglich zu befriedigen. Das ist die Aufgabe des gesunden Erwachsenenmodus, der im Laufe der Therapie mehr und mehr aufgebaut wird. Dieser Modus entspricht der ‚Regiefunktion‘, die die Freude in dem oben genannten Film in den Augen des Autors fälschlicherweise einnimmt. Die Basisemotion Freude ist nämlich das Ergebnis, wenn der Erwachsenenmodus seine Aufgabe gut erfüllt.

    Der Erwachsenenmodus wird in den erlebnisaktivierenden Übungen (s. u.) durch inneren Perspektivwechsel darin unterstützt, die Schemaaktivierungssituation wie von außen mit den Augen einer wohlwollenden anderen Person anzuschauen. Durch die emotionale Distanz sinkt das Erregungsniveau, der mentale Blickwinkel weitet sich, und die Patienten können wieder auf vorhandene Ressourcen zurückgreifen. Aus diesem Abstand heraus ist eine ausbalancierte Grundbedürfnisbefriedigung leichter möglich. Wo das nicht möglich ist, bauen Therapeut und Patient schrittweise diese Ressourcen auf. Abhängig von dem Ausmaß, in dem das notwendig ist, dauern die Therapien dann entsprechend länger.

    Die innere Balance in der Suchtbehandlung

    Der Konsum von Suchtmitteln als Bewältigungsmodus dient generell dazu, die sich im Hintergrund andeutenden Basisemotionen ‚aufzulösen‘. Dadurch wird aber deren Signalcharakter zugedeckt und eine nachhaltige Befriedigung verhindert. Schaut man auf die oben genannten fünf Grundtypen von Suchtverhalten vor dem Hintergrund der aktivierten Kind- und Elternmodi, zeigen diese jeweils eine andere Form des Ungleichgewichts bei der Grundbedürfnisbefriedigung:

    Typ 1 tut für Bindung und Anerkennung (fast) alles und vernachlässigt darüber sein Selbstbehauptungsbedürfnis, was langfristig zu Ärgergefühlen führt, in denen sich diese Frustration zeigt. Er müsste sein ‚Selbstbehauptungs-Bein‘ stärken, um in eine innere Balance zu finden.

    Typ 4 und 5 als Gegenpol leben ihr Selbstbehauptungsbedürfnis übertrieben aus und ignorieren, dass sie auch Bindung brauchen, was sich später in Einsamkeitsgefühlen oder auch Panik zeigen kann. Sie müssten in Kontakt mit ihrer verletzbaren Seite kommen, um motiviert zu sein, sich einzuordnen und zu kooperieren, damit sie nicht nur durch Vorwürfe oder Kontrolltendenzen, sondern auch in vertrauensvollen Beziehungen Sicherheit (und Annahme bzw. Liebe) finden.

    Typ 2 und 3 nehmen eine Mittelstellung ein und zeigen ein mehr passives (Typ 2) bzw. aktives (Typ 3) Vermeidungsverhalten. Sie gehen weder enge Bindungen ein noch zeigen sie erfolgreiches  Selbstbehauptungsverhalten. Sie ziehen sich gewissermaßen zu stark in sich selbst zurück. Dadurch bleiben beide Grundbedürfnisse weitgehend unbefriedigt, was die Suchtdynamik verstärkt. Diese Situation trifft für die meisten Menschen mit Abhängigkeiten zu. Sie müssten in einer Therapie sowohl modellhaft Vertrauen in Bindungen zu anderen Menschen aufbauen als auch in den Therapiebeziehungen Selbstbehauptung üben. Zudem sind für sie funktionale Wege zur inneren Distanzierung und Selbstberuhigung hilfreich, um das Suchtverhalten zu ersetzen.

    Die schematherapeutische Beziehung

    Wie aus den oben genannten Studien hervorgeht, ist die Schematherapie keine Kurzzeittherapie, denn das ‚erste Bein‘, auf dem sie steht, ist eine recht intensive therapeutische Beziehung, die von dem Begründer, Jeffrey Young (Young et al. 2005), „begrenzte Nachbeelterung“ (engl.: limited reparenting) genannt wurde. Der Name deutet an, was die Schematherapie-Beziehung erreichen will, nämlich eine Beziehungsdichte, die für eine begrenzte Zeit und im therapeutisch möglichen Rahmen die Intensität einer Eltern-Kind-Beziehung besitzt, um in der Kindheit ‚eingebrannte‘ negative Beziehungserfahrungen (die Schemata) zu ‚heilen‘. Um diese Beziehungsintensität in der Stunde zu erreichen, aber die Patienten dennoch ausreichend stabil aus der Therapiestunde entlassen zu können, setzt sie sog. erlebnisaktivierende Techniken ein, die überwiegend dem Psychodrama und der Gestalttherapie entlehnt sind. Diese stellen das ‚zweite Bein‘ einer Schematherapie dar.

    Die erlebnisaktivierenden Techniken

    Dabei handelt es sich zum einen um die sog. Imaginationstechniken, zum anderen um sog. Modusdialoge auf mehreren Stühlen. Beide Techniken folgen einem relativ klar vorgezeichneten Ablauf, der natürlich an die einzelnen Patienten und den jeweiligen Verlauf der Übung angepasst wird, der aber den Therapeuten eine klare Orientierung gibt, ‚wohin die Reise geht‘. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu weniger direktiven Ansätzen, die mehr mit einem ‚geleiteten Entdecken‘ arbeiten. Unter http://www.schematherapie-roediger.de/blatt/index_blatt.htm können Abläufe für die wichtigsten Therapiesituationen im Detail angeschaut werden. Zur Anwendung dieser Techniken bei einem alkoholabhängigen Patienten siehe Roediger (2016a). Die Therapeuten nehmen bei den erlebnisaktivierenden Techniken mitunter anfangs eine sehr aktive Rolle ein und haben dadurch eine gute Kontrolle über den Verlauf der Stunde. Sie können entsprechend der Fähigkeiten der Patienten zunächst die Auflösung einer von den Patienten eingebrachten schwierigen Situation modellhaft vormachen, und die Patienten übernehmen schrittweise eine aktivere Rolle. Eben ganz ähnlich, wie es in alltäglichen Lernsituationen auch geschieht. Damit ist die Schematherapie deutlich ‚pädagogischer‘ als die meisten anderen Therapien.

    Die Fallkonzeption

    Die erlebnisaktivierenden Techniken und die Therapiebeziehung werden immer bezogen auf eine zu Beginn der Therapie von Therapeut und Patient gemeinsam erarbeitete Fallkonzeption eingesetzt. Zum besseren Verständnis der eigenen Situation bezogen auf das Schematherapiemodell gibt es mehrere Bücher für Patienten (Jacob et al. 2011; Roediger 2014, 2015). Die Fallkonzeption stellt das ‚dritte Bein‘ einer Schematherapie dar. Dadurch haben Patienten und Therapeuten jederzeit im aktuellen Prozess in der Stunde einen gemeinsamen Bezugspunkt, der Orientierung und einen Überblick gibt. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn wenn die emotionale Aktivierung zu stark zu werden droht oder um die aktuellen Schemaaktivierungen in die Fallkonzeption einzuordnen, können Therapeut und Patient ganz konkret aufstehen und nebeneinander stehend in die Rolle eines ‚Beraterteams‘ wechseln. Folgende Fragen klären dann die Situation: „In welchem Bewältigungsmodus sind Sie jetzt?“, „Was sagen die Stimmen der inneren Bewerter dazu?“, „Welche Gefühle löst das in Ihrem Inneren aus (Kindmodus)?“, „Wie würde ein gesunder Erwachsener in dieser Situation reagieren?“. Das reguliert die Emotionen herunter und stabilisiert die therapeutische Arbeitsbeziehung. Näheres dazu bei Roediger (2016b).

    Auf diesen drei Beinen stehend, verbindet die Schematherapie die Beziehungsintensität und das biographische Verständnis einer psychodynamischen Therapie mit der Transparenz und zielgerichteten Lösungsorientierung von Verhaltenstherapien. Sie liefert einen übergeordneten Rahmen dafür, die Persönlichkeitsmuster der Patienten biographisch zu verstehen und das Suchtverhalten als maladaptiven Bewältigungsversuch einzuordnen, und sie gibt den Patienten einen Kompass für eine ausbalancierte und nachhaltige Grundbedürfnisbefriedigung.

    Anwendung des Schemamodells in der Suchtbehandlung: Schematherapie und „SchemaBeratung“

    Die oben umrissene Schematherapie ist als Langzeittherapie konzipiert und evaluiert, könnte aber an unser Suchtbehandlungssystem in verschiedener Weise angepasst werden:

    1. Die hohe Therapieintensität in einer stationären Suchtbehandlung erlaubt den Einsatz einer speziellen Gruppenschematherapie (Farrell & Shaw 2013), die in einer geschlossenen Gruppe über zwölf Wochen eine familienartige ‚Zweitsozialisation‘ mit tiefgehenden korrigierenden Beziehungserfahrungen ermöglicht. Bei Patientinnen mit Borderline-Störungen führte dies zu sehr starken Therapieeffekten (Farrell et al. 2009). Kombiniert mit Einzelgesprächen ist so ein intensiver Einstieg in eine schematherapeutisch-fundierte Suchtbehandlung auch für Patienten mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen möglich. Ein solches Modell befindet sich in der Fachklinik Wilhelmsheim in der Implementierung. Die schematherapeutische Behandlung sollte idealerweise ambulant fortgesetzt werden.
    2. In Kliniken, die eine solche Gruppe (noch) nicht anbieten können, kann im Rahmen der Einzelgespräche das Schematherapiemodell als Erklärungsmodell für die Suchtentstehung und -behandlung dienen, und in einzelnen erlebnisaktivierenden Übungen kann eine Motivation zur ambulanten Weiterbehandlung aufgebaut werden. In vielen Gegenden Deutschlands sind schematherapeutisch qualifizierte niedergelassene Therapeuten verfügbar, um die Therapie in der notwendigen Länge und Intensität weiterzuführen.
    3. Für Patienten ohne komorbide Persönlichkeitsstörung erscheint die beschriebene Beziehungsdichte nicht unbedingt notwendig. Sie könnten im Sinne des oben genannten Balancemodells dennoch von der Schematherapie und den erlebnisaktivierenden Techniken in einem eher ressourcenorientierten Behandlungssetting, z. B. in der ambulanten Rehabilitation, profitieren. Ein entsprechender Ansatz kann als „SchemaBeratung“ auch von Therapeuten ohne ärztliche oder psychologische Approbation erlernt werden (Handrock et al. 2016; Infos unter http://www.eroediger.de/coach/index_coach.htm). Damit wäre eine Kombination aus stationärer Behandlungseinleitung und ambulanter Fortführung im Rahmen einer Rehabilitationsbehandlung möglich.
    4. Menschen, die mit Suchtproblemen erstmalig in Beratungsstellen kommen, bietet die SchemaBeratung einen allgemeinpsychologisch verständlichen Zugang, ihr Suchtproblem zu verstehen und sich vor diesem Hintergrund auf eine Beratung einzulassen. Das Schemamodell ist vollständig mit dem Ansatz der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 2009) kompatibel und kann diesen um eine biographische Dimension erweitern.

    Zusammenfassung

    Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse aus den Studien von Samuel Ball erscheint ein differenzierter Einsatz schemabasierter Ansätze in Therapie und Beratung sinnvoll, um die positiven Erfahrungen aus den von Arnoud Arntz geleiteten Studien auch für Patienten im Suchtbehandlungssystem in verschiedenen Settings nutzbar zu machen. Im Gegensatz zu den Studien von Ball sollte dabei auf eine ausreichend lange Gesamtbehandlungszeit und den systematischen Einsatz erlebnisaktivierender Techniken im Rahmen einer modusbasierten Fallkonzeption geachtet werden. Auch der Einsatz des Modells und der Techniken im Rahmen einer ressourcenorientierten Beratungsarbeit erscheint möglich. Entsprechende Ansätze sollten evaluiert werden, um den Ergebnissen Balls hoffentlich bessere Ergebnisse entgegensetzen zu können.

    Kontakt:

    Dr. Eckhard Roediger
    Institut für Schematherapie-Frankfurt
    Alt Niederursel 53
    60439 Frankfurt
    kontakt@eroediger.de
    http://www.eroediger.de/

    Angaben zum Autor:

    Dr. Eckhard Roediger ist in freier Praxis als Ärztlicher Psychotherapeut tätig. Er ist Leiter des Instituts für Schematherapie-Frankfurt (IST-F) und Präsident der internationalen Schematherapiegesellschaft (ISST).

    Literatur:
    • Ball SA (1998). Manualized treatment for substance abusers with personality disorders: Dual focus schema therapy. Addict Behav. 23: 883–891.
    • Ball SA, Maccarelli LM, LaPaglia DM, Ostrowski MJ (2011). Randomized Trial of Dual-Focused versus Single-Focused Individual Therapy for Personality Disorders and Substance Dependence. J Nerv Ment Dis. 2011 May; 199(5): 319–328.
    • Bamelis L, Evers S, Spinhoven P, Arntz A (2014). Results of a multicenter randomized controlled trial of the clinical effectiveness of schema therapy for personality disorders. American Journal of Psychiatry 171: 305–322.
    • Bernstein DP, Nijman H, Karos K, Keulen-de Vos M, de Vogel V, Luker T (2012). Schema therapy for forensic patients with personality disorders: design and preliminary findings of multicenter randomized clinical trial in the Netherlands. International Journal of Forensic Mental Health 11: 312–324.
    • Bowlby J (1976). Trennung. Psychische Schäden als Folgen der Trennung von Mutter und Kind. München: Kindler.
    • Ekman P (1993). Facial expression and emotion. Am Psychol 48: 384–92.
    • Farrell JM, Shaw IA (2009). A schema-focused approach to group psychotherapy for outpatients with borderline personality disorder: a randomized controlled trial. J Behav Ther Exp Psychiatry 40: 317–28.
    • Farrell J, Shaw I (2013). Schematherapie in Gruppen. Therapiemanual für die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Weinheim: Beltz.
    • Giessen-Bloo J, van Dyck R, Spinhoven P, van Tilburg W, Dirksen C, van Asselt T, Kremers I, Nadort M, Arntz A (2006). Outpatient psychotherapy for borderline personality disorder: a randomized trial for schema-focused-therapy versus transference focused psychotherapy. Arch Gen Psychiatry 63: 649–58.
    • Greenberg LS, Rice LN, Elliot R (2003). Emotionale Veränderung fördern. Grundlagen einer prozess- und erlebensorientierten Therapie. Paderborn: Junfermann.
    • Handrock A, Zahn C, Baumann M (2016). Schemaberatung, Schemacoaching, Schemakurzzeittherapie. Weinheim: Beltz.
    • Jacob G, van Genderen H, Seebauer L (2011). Andere Wege gehen. Lebensmuster verstehen und verändern – ein schematherapeutisches Selbsthilfebuch. Weinheim: Beltz.
    • Miller WR, Rollnick S (2009). Motivierende Gesprächsführung (3. Aufl.). Freiburg: Lambertus.
    • Roediger E (2014a). Wer A sagt … muss noch lange nicht B sagen. Lebensfallen und lästige Gewohnheiten hinter sich lassen. München: Kösel.
    • Roediger E (2015a). Raus aus den Lebensfallen. Das Schematherapie-Patientenbuch. Paderborn: Junfermann.
    • Roediger E (2016a). Was kann die Schematherapie zur Suchtbehandlung beitragen? Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie 20 (1) (im Druck).
    • Roediger E (2016b). Ressourcenaktivierung durch Perspektivwechsel. Stehen Sie doch einfach einmal auf! Ein Plädoyer für mehr Bewegung(en) in der Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie 26 (2)  (im Druck).
    • Young JE, Klosko JS, Weishaar ME (2005). Schematherapie – ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn: Junfermann.
  • TaKeTiNa-Rhythmustherapie

    TaKeTiNa-Rhythmustherapie

    Frank Rihm
    Frank Rihm

    Suchtpatienten und Patienten in psychosomatischen Kliniken zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie in ihrem Leben zu selten die Erfahrung von Sicherheit und Vertrauen gemacht haben. Sie haben in der Regel nicht das Gefühl, dass sie im Leben und in der Gesellschaft einen Platz haben, dass der Boden unter den Füßen trägt und sie das eigene Leben in die Hand nehmen und gestalten können. Jahrelange therapeutische Erfahrung hat gezeigt, dass für Menschen, die das Grundgefühl des Nicht-Dazu-Gehörens in sich tragen, die so genannte TaKeTiNa-Rhythmustherapie sehr hilfreich sein kann und zur Genesung beiträgt.

    Die Grundidee: Sich vom Rhythmus tragen lassen

    TaKeTiNa ist der Name einer Methode, die es Menschen ermöglicht, Rhythmus mit dem Körper ganzheitlich zu erleben. Der Lehrer bedient sich dabei einer ausgefeilten Rhythmussprache bestehend aus Rhythmussilben. Er spricht dem Kursteilnehmer vor, was dieser auf dem Instrument spielen soll. Die Silben „ta“, „ke“, „ti“ und „na“ haben sich dazu als besonders geeignet erwiesen.

    Der TaKeTiNa-Prozess vermittelt Rhythmus so, wie ihn der Mensch von Natur aus am besten erfassen und lernen kann. Er führt den Teilnehmer direkt zur körperlichen Erfahrung rhythmischer Urbewegungen und damit zu jenen Grundbausteinen, aus denen sich die Rhythmik jeder Musik zusammensetzt. Der Körper selbst wird zum Musikinstrument, die Begegnung mit Rhythmus ist daher entsprechend direkt und intensiv. Mit Stimme, Klatschen und Schrittbewegungen werden gleichzeitig drei unterschiedliche Rhythmusebenen aufgebaut. Das damit verbundene „Aus dem Rhythmus fallen“ und wieder „In den Rhythmus zurückfinden“ ist das Prinzip, mit dem die Teilnehmer lernen, sich immer tiefer vom Rhythmus tragen zu lassen. Intention und Hingabe, Machen und Geschehen-Lassen, Aktiv- und Passivsein verbinden sich spielerisch miteinander, sodass die Teilnehmer immer mehr den Zustand im „Hier und Jetzt“ erleben können. Die Heiligenfeld Kliniken in Bad Kissingen setzen TaKeTiNa als Rhythmustherapie seit 25 Jahren erfolgreich ein. „Die Erfahrung, von den Grundstrukturen des Rhythmus in der Gruppe getragen zu sein, sich zu verlieren, sich wiederzufinden und sich sicherer in sich selbst zu verankern, sind fundamentale und enorm bereichernde Komponenten im Rahmen einer psychosomatischen stationären Behandlung“, erklärt Dr. Joachim Galuska, leitender ärztlicher Direktor, Geschäftsführer und Mitbegründer der Heiligenfeld Kliniken.

    TaKeTiNa in der Psychotherapie

    Viele Patienten fühlen sich in Folge von Traumatisierung oder Bindungsstörungen immer wieder oder ständig bedroht. Wenn sie die Augen schließen, fühlen sie sich, als würden sie in eine dunkle, unendliche Tiefe fallen, ohne jeglichen Halt und ohne die Chance einer Stabilisierung. Häufig leiden diese Patienten unter Depersonalisation oder Derealisation und nehmen sich selbst, ihre Umwelt und andere Menschen als unwirklich wahr. Für diese Patienten kann der TaKeTiNa-Prozess sehr hilfreich sein, indem er zu einer verbesserten Körperwahrnehmung führt und zwanghaft kreisende Gedanken unterbricht. Viele Patienten fühlen sich durch die körperliche Erfahrung des Rhythmus seit langer Zeit zum ersten Mal wieder sicher und geborgen, und die sonst so belastende Trennung zwischen ihnen und ihrer Umwelt weicht für Momente dem Gefühl der Verbundenheit. TaKeTiNa arbeitet mit der elementarsten Kraft des Lebens – mit Rhythmus. Dieser ist in TaKeTiNa Spiegel und zugleich die Kraft, mit der behindernde Verhaltensweisen aufgelöst und Qualitäten entwickelt werden können, die die Essenz menschlichen Lebens ausmachen: Intuition und Kreativität, innere Stille und mentale Stärke, Angstlosigkeit und das Vertrauen, in komplexen Situationen die Übersicht zu behalten.

    Frank Rihm mit TaKeTiNa-Schülern
    Frank Rihm mit TaKeTiNa-Schülern

    TaKeTiNa wurde von dem Wiener Musiker, Komponist, Autor und weltweit agierenden Seminarleiter Reinhard Flatischler begründet und gilt als einer der effektivsten Lernprozesse unserer Zeit. In den Heiligenfeld Kliniken wurde TaKeTiNa so modifiziert, dass auch Patienten mit Persönlichkeitsstörungen oder mit neurotischen Problemen das Verfahren sehr erfolgreich nutzen können. TaKeTiNa wird ganz besonders dazu genutzt, Menschen, die schwerwiegende und durch verbale Interventionen nur bedingt erreichbare Probleme haben, in eine positive Entwicklung zu bringen. Die Patienten verstehen das Verfahren intuitiv sehr schnell und nehmen das Angebot deshalb auch sehr gerne wahr. Sie erfahren, dass TaKeTiNa ein effektiver Weg sein kann, ihnen tiefe Entwicklungs- und Veränderungsprozesse zu ermöglichen. Ein Weg, der sie einerseits mit Episoden aus ihrer Vergangenheit in Berührung bringt, der sie andererseits aber auch in die Gegenwart und zu einer besseren Selbsteinschätzung führt. Sie können die im Rhythmus innewohnende Kraft und das Zusammenspiel in der Gruppe nutzen, um vermisste Qualitäten und Fähigkeiten nachreifen zu lassen. Gleichzeitig konfrontiert sie die Arbeit mit dem Rhythmus mit den ihr Leben behindernden Mustern und Verhaltensweisen. Mit TaKeTiNa erfahren die Patienten, wie sie inmitten von persönlichen Krisen wieder Lebensfreude, Humor, Hoffnung und Lust am Leben verspüren.

    Wissenschaftliche Evaluation

    Ein Team von Ärzten und Wissenschaftlern untersucht und bestätigt diese positiven klinischen Resultate seit mehr als zehn Jahren. Herzratenvariabilitätsmessungen belegen beispielsweise, dass TaKeTiNa vorhersehbar und wiederholbar ideale Bedingungen für die Regeneration des Nervensystems herstellt und daher die Grundlage dafür schafft, die Gesundheit auf psychischer Ebene zu fördern. Im Forschungsrahmen gemachte EEG-Messungen zeigen, dass die regelmäßige Anwendung von TaKeTiNa das Gehirn effektiver arbeiten lässt. Laut Dr. Gerhard Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, wirke TaKeTiNa heilend, gerade bei chronisch kranken Menschen. Im Göppinger Projekt mit Hochschmerzpatienten sei TaKeTiNa für die Patienten eine essentielle Hilfe gewesen, die ihnen ermöglichte, ihre Medikation zu reduzieren und den Umgang mit Schmerz zu verbessern. Derzeit läuft in den Heiligenfeld Kliniken eine Untersuchung zur Therapie mit komplex-traumatisierten Patienten. Die ersten Ergebnisse dieser gerade angelaufenen Untersuchung sind vielversprechend und zeigen schon jetzt, dass diese Patienten ihre Heilungserfolge während der stationären Therapie besonders auch auf die in der Rhythmustherapie gemachten Erfahrungen zurückführen.

    Ausbildung zum TaKeTiNa-Rhythmustherapeuten

    Heiligenfeld Kliniken TaKeTiNa wird mittlerweile als begleitende Maßnahme in unterschiedlichen Therapiebereichen in Kliniken und Praxen erfolgreich eingesetzt. Die Arbeit, die in den Heiligenfeld Kliniken mit der TaKeTiNa-Rhythmustherapie seit mehr als zwei Jahrzehnten geleistet wird, zählt zu den langjährigsten Projekten. Die psychotherapeutischen Resultate sind so überzeugend, dass über die Akademie Heiligenfeld nun erstmals eine eigenständige Ausbildung zum TaKeTiNa-Rhythmustherapeuten angeboten wird. Diese soll die Teilnehmer dazu befähigen, Rhythmus im therapeutischen Kontext kompetent und effektiv einzusetzen. Geleitet wird diese Ausbildung von Frank Rihm (leitender Kreativtherapeut der Fachklinik Heiligenfeld), Reinhard Flatischler (Begründer von TaKeTiNa) und Bettina Berger (HAKOMI-Lehrtherapeutin und Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie). Die Dozenten verfügen über große praktische Erfahrung in der Integration von Rhythmus in die Psychotherapie und werden den Teilnehmern zeigen, wie effektiv dieser Weg sein kann. Voraussetzung zur Teilnahme ist die Ausübung eines Grundberufes, der dazu berechtigt und befähigt, mit Menschen heilend bzw. therapeutisch zu arbeiten.

    Ein Einführungsworkshop mit Reinhard Flatischler und Frank Rihm findet vom 24. bis 26. April 2015 in Bad Kissingen statt. Weitere Informationen und eine Anmeldemöglichkeit finden Sie im Internet unter www.akademie-heiligenfeld.de.

    Kontakt und Informationen:

    Akademie Heiligenfeld
    Altenbergweg 6
    97688 Bad Kissingen
    Tel. 0971/84-4600
    www.akademie-heiligenfeld.de
    info@akademie-heiligenfeld.de

    Angaben zum Autor:

    Frank Rihm ist leitender Kreativtherapeut in der Fachklinik Heiligenfeld. Der Dipl.-Musiktherapeut, TaKeTiNa-Rhythmuspädagoge (Advanced Level) und Gestalttherapeut hat darüber hinaus Weiterbildungen in Somatic Experiencing (Traumatherapie nach Peter Levine) und verschiedenen Verfahren der Humanistischen Psychotherapie absolviert.

  • Psychotherapie bei Internetsucht

    Psychotherapie bei Internetsucht

    Michael Dreier
    Michael Dreier
    Dr. Klaus Wölfling
    Prof. Manfred Beutel
    Kai W. Müller

     

     

     

     

    Seit 2013 findet sich die so genannte Internet Gaming Disorder (zu Deutsch: Internetspielsucht, auch: Computerspielsucht), eine häufige Variante internetsüchtigen Verhaltens, als vorläufige Diagnose im Anhang der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5; APA, 2013). Die American Psychiatric Association (APA) reagierte damit auf die stetig anwachsende Zahl wissenschaftlicher Literatur, welche Internetsucht im Allgemeinen und Computerspielsucht im Speziellen als ernstzunehmendes Gesundheitsproblem darstellt. Auf der Grundlage aktueller Prävalenzschätzungen ist davon auszugehen, dass in Deutschland zwischen ein und zwei Prozent der Allgemeinbevölkerung unter Internetsucht leiden, wobei die Prävalenzraten unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit bis zu vier Prozent nochmals höher zu beziffern sind (vgl. z. B. Müller et al., 2014a,b; Rumpf et al., 2013).

    Internetsucht und Psychotherapieforschung

    Das Problemverhalten selbst ist aktuell nosologisch noch nicht endgültig klassifiziert. Jedoch deuten insbesondere neurowissenschaftliche Befunde darauf hin, dass ähnlich wie beim Pathologischen Glücksspiel von deutlichen Parallelen zu Substanzabhängigkeiten ausgegangen werden kann (Thalemann, Wölfling & Grüsser, 2007; Ko et al., 2013) und viele Kliniker und Forscher deshalb das Störungsbild als substanzungebundene Abhängigkeitserkrankung bzw. Verhaltenssucht auffassen. Auch auf diagnostischer Ebene wird die Ähnlichkeit zu anderen Abhängigkeitserkrankungen unterstrichen. Dies zeigen die von der APA definierten diagnostischen Kriterien für Computerspielsucht: Craving, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Fortführung des Konsums trotz negativer Konsequenzen, Interessensverlust, Täuschung von Angehörigen oder Therapeuten, die Gefährdung relevanter Lebensbereiche, Emotionsregulation und Erleben entzugsähnlicher Symptome bei Konsumverhinderung.

    Internationale Studien ebenso wie Erhebungen im deutschen Suchthilfesystem zeigen, dass Internet- und Computerspielsucht mit einer deutlich erhöhten psychosozialen Symptombelastung und komorbiden Erkrankungen einhergeht. Insbesondere depressive Verstimmungen, erhöhte Ängstlichkeit und Stressbelastung sowie ein schlechteres allgemeines psychosoziales Funktionsniveau treten in Verbindung mit Internetsucht auf (vgl. z. B. Wölfling et al., 2013; Yang et al., 2008).

    Aus der aktuell fehlenden Anerkennung der Internetsucht als Störungsbild ergibt sich, dass derzeit nur sehr wenige Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Wirkungsweise (psycho-)therapeutischer Verfahren vorliegen. In einer Evaluation bisher vorliegender Psychotherapiestudien zur Internetsucht stellen King und Kollegen (King, Delfabbro & Griffiths, 2011) entsprechend fest, dass keine der von der Autorengruppe analysierten acht Interventionsstudien den umfassenden Qualitätsstandards klinischer Studien entspricht. Identifizierte Mängel betreffen hier z. B.:

    • Fehlende Definition von Ein- und Ausschlusskriterien für den Einschluss in die Studien
    • Keine ausreichende inhaltliche Beschreibung des Interventionsprogramms
    • Unzureichende Qualität der statistischen Analysen zur Bestimmung der Therapieeffekte
    • Unangemessener methodischer Zugang zur Hypothesentestung (z. B. Fehlen von Kontrollgruppen)

    Trotz des Mangels an standardisierten Behandlungsmanualen ergibt sich aus verschiedenen publizierten Arbeiten jedoch eine Schnittmenge verschiedener Verhaltensdomänen, die in der Therapie aufgegriffen werden. Dazu gehören Maßnahmen wie eine Problemanalyse des Internetnutzungsverhaltens, Abstinenzfokussierung, die Aneignung von Strategien der Kontrolle des Konsums sowie von Motivationstechniken, das Erarbeiten von Tagesstruktur bzw. Online-Zeitmanagement und die Verbesserung sozialer Beziehungen bzw. die Verbesserung der Partnerschaftlichkeit (vgl. King et al., 2011).

    Als positiv ist zu bewerten ist zudem, dass mittlerweile eine erste Meta-Analyse bisheriger Psychotherapiestudien zur Internetsucht veröffentlicht wurde (Winkler et al., 2013). Natürlich sind die Ergebnisse dieser ersten wichtigen Analyse immer vor dem Hintergrund der von King und Kollegen (2011) dokumentierten Schwächen bisheriger Studien zu bewerten, jedoch erlaubt sie eine erste Abschätzung der Wirksamkeit verschiedener Therapiemethoden. In die Studie von Winkler und Kollegen (2013) flossen insgesamt 16 klinische Studien zur Internetsucht aus verschiedenen Kulturkreisen, hauptsächlich jedoch Asien, ein, welche eine Patientenzahl von insgesamt 670 Personen beinhalteten. Die angewandten Interventionsformen bestanden in der überwiegenden Anzahl aus multimodalen Therapieprogrammen mit einem Schwerpunkt auf kognitiv-behavioralen Ansätzen. Zusätzlich wurden drei psychopharmakologische Studien berücksichtigt. Die Autoren verzeichneten unterschiedliche Effektstärken je nach Art der angewandten Intervention. Kognitiv-behaviorale Ansätze waren in Bezug auf die Reduktion der Onlinezeiten und der Symptome der Internetsucht anderen psychotherapeutischen Verfahren überlegen. Die Effektstärken für die kognitive Verhaltenstherapie variierten hier auf einem hohen Niveau zwischen d=0.84 und 2.13, was auf eine gute bis sehr gute Wirksamkeit hindeutet.

    Im Vergleich zwischen der Verhaltenstherapie und der Psychopharmakotherapie ergaben sich keine signifikanten Wirkunterschiede. Die medikamentöse Behandlung der Internetsucht (insbesondere basierend auf selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und Methylphenidat) erwies sich mit Effektstärken zwischen d=0.28 und 2.23 ebenfalls als wirksam. Auch hinsichtlich der Wirkung auf assoziierte Problemlagen und psychosoziale Symptome (z. B. depressive Verstimmung) ging die kognitive Verhaltenstherapie mit den höchsten Effektstärken einher.

    Die Analyse der Drop-Out-Quoten ergab, dass fast 20 Prozent der Patienten die Behandlung vorzeitig beendeten. Zusätzlich wurde eine – jedoch auf Grund der geringen Datenmenge als vorläufig anzusehende – Analyse einzelner Wirkfaktoren vorgenommen. Hier erwies sich, dass von höheren Therapieeffekten bei weiblichen und älteren Patienten auszugehen ist. Ein therapeutisches Einzelsetting erwies sich der Gruppentherapie als moderat überlegen.

    Insgesamt deuten die Daten dieser ersten übergreifenden Analyse darauf hin, dass psychotherapeutische und psychopharmakologische Interventionen bei Internetsucht eine gute Wirksamkeit aufweisen, wobei nochmals der vorläufige Charakter der präsentierten Daten unterstrichen werden muss. Ungeklärt bleibt hingegen, inwieweit die erzielten Therapieeffekte über das unmittelbare Setting hinaus zeitliche Stabilität aufweisen. Daneben lassen sich auch noch keine Aussagen darüber treffen, inwieweit die gefundenen Effekte gleichermaßen auf unterschiedliche Formen internetsüchtigen Verhaltens (z. B. Computerspielsucht, Onlinesexsucht, suchtartige Nutzung von sozialen Netzwerken) generalisiert werden können.

    Studie zur Behandlungswirksamkeit im deutschen Sprachraum

    Pilotstudie der Ambulanz für Spielsucht

    Im Jahre 2014 wurde von Wölfling, Beutel, Dreier und Müller eine deutsche Studie zur Behandlungswirksamkeit unter Einschluss von 37 männlichen Patienten mit Internetsucht im ambulanten Setting veröffentlicht. Nach Beendigung des manualisierten und standardisierten Therapieprogramms der Arbeitsgruppe um Wölfling (2012) schlossen 26 Patienten die verhaltenstherapeutische Intervention mit positivem Ergebnis ab. 89 Prozent dieser Patienten, die die Therapie regulär beendet hatten, wiesen in der Abschlussmessung ein unauffälliges Internetnutzungsverhalten auf (d. h. die Symptome der Internetsucht waren nicht mehr vorhanden), was in den meisten Fällen eine Abstinenz von der zuvor suchtartig genutzten Internetanwendung beinhaltete. Zudem zeigte sich eine signifikante Verminderung der zuvor beobachteten zusätzlichen psychopathologischen Symptombelastung im SCL-90R. Es handelt sich hierbei um ein Inventar, welches psychische Symptome und Stressbelastungen abbilden kann. Insbesondere in den Bereichen Depressivität, Angstsymptome, Unsicherheit im Sozialkontakt und Zwanghaftigkeit waren hohe Effektstärken zu verzeichnen, d. h. die jeweiligen Symptome waren nach Beendigung der Therapie signifikant zurückgegangen. Insgesamt elf Patienten brachen die Therapie vorzeitig ab, was einer Drop-Out-Quote von 29 Prozent entspricht.

    Multicenter-Studie zur Behandlungswirksamkeit im deutschen Sprachraum

    Um für den deutschen Sprachraum eine erste Abschätzung der Wirksamkeit eines standardisierten verhaltenstherapeutischen Behandlungsmanuals zu dokumentieren und die im vorigen Abschnitt vorgestellten Daten aus der Pilotstudie in größerem Umfang zu erhärten, führt die Ambulanz für Spielsucht der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz derzeit im Zusammenschluss mit drei weiteren Zentren (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Universitätsmedizin Tübingen, Anton Proksch Institut Wien) eine klinische Studie durch.

    Bei dem von der DFG und dem BMBF geförderten Projekt STICA (Short-term Treatment of Internet and Computer game Addiction) handelt es sich um die Weiterführung der oben genannten Pilotstudie im Rahmen einer multizentrischen randomisierten klinischen Kontrollstudie (RCT). Mit dieser Studie sollen Wirksamkeit und Wirkmechanismen der an der Ambulanz für Spielsucht entwickelten verhaltenstherapeutischen Behandlung für Computerspiel- und Internetsucht überprüft werden (Wölfling et al., 2012). Insgesamt sollen 192 Patienten mit Internet- und Computerspielsucht behandelt werden. Zielgruppe für das Behandlungskonzept sind Männer im Alter von 17 bis 55 Jahren. Das Studiendesign für STICA orientiert sich am Verhaltenssuchtansatz von Computerspiel- und Internetsucht in ihren unterschiedlichen Manifestationen. So ist Internetsucht als Sammelbezeichnung zu verstehen und beinhaltet eine Vielzahl verschiedener Aktivitäten im Internet, die von Betroffenen unkontrolliert bzw. exzessiv ausgeübt werden. Ihre Haupterscheinungsformen beziehen sich auf Computer- bzw. Online-Spiele (z. B. Browsergames, Online-Rollenspiele), die Nutzung von sozialen Netzwerken und Chats, das Surfen auf Erotikseiten, die Teilnahme an Online-Glücksspielen (z. B. Poker, Online-Casinos), das Ansehen und Sammeln von Videos bzw. Filmen (z. B. Streaming-Angebote), ausuferndes Einkaufen (z. B. Online-Auktionen) oder das ziellose Recherchieren und Sammeln von Informationen (z. B. Online-Informationsplattformen oder Lexika).

    In den beteiligten Studienzentren werden die Patienten zufällig entweder der Therapiegruppe oder der Wartekontrollgruppe zugeordnet. Mit dem Vergleich dieser beiden Gruppen soll die Wirksamkeit der speziellen verhaltenstherapeutischen Kurzzeitintervention geprüft werden. Die Behandlung besteht aus 15 Gruppensitzungen (wöchentlich je 100 Minuten), welche unten näher beschrieben werden, und acht Einzelsitzungen (alle 14 Tage 50 Minuten). Acht Patienten stellen die Ideale Gruppengröße dar. Letztendlich erhalten alle in die Studie eingeschlossenen Patienten die Behandlung – für die Wartegruppe beginnt die Therapie jedoch erst nach einer Wartezeit von vier Monaten.  Das genaue Vorgehen bei der Studiendurchführung kann Abbildung 1 entnommen werden (Jäger et al., 2012).

    Abb. 1: STICA Studiendesign
    Abb. 1: STICA Studiendesign

    Ein störungsspezifisches Therapieprogramm bei Internetsucht

    Struktur der Gruppensitzungen

    Bevor die einzelnen Phasen der Therapie skizziert werden, soll vorab  die Struktur der Sitzungen an sich beschrieben werden: Die Gruppensitzungen beinhalten eine Begrüßung und einen Rückblick auf die Ereignisse der letzten Sitzung. Anschließend berichten die Patienten in einer Abstinenzrunde den Verlauf der letzten Woche. Während der Patientenberichte soll der Therapeut/die Therapeutin positive Veränderungen verstärken, Rückfälle und negative Ereignisse werden direkt in der Gruppe besprochen. Zur nachhaltigen Zielerreichung ist eine Ressourcenaktivierung notwendig, welche der Therapeut/die Therapeutin nach den Bedürfnissen der Patienten entwickeln und anwenden muss. Die jeweiligen sitzungsspezifischen Gruppenthemen werden mit ca. 50 Minuten veranschlagt. Sie bestehen aus einer Einführung sowie der Erarbeitung des Themas anhand von Diskussionen, Arbeitsblättern und Übungen. Offene Fragen werden jeweils in der gemeinsamen Zusammenfassung geklärt. Der Therapeut/die Therapeutin entlässt die Gruppenmitglieder, nachdem er/sie einen Ausblick auf die nächste Sitzung gegeben hat.

    Aufbau des Therapiemanuals

    Die folgende Beschreibung basiert auf dem Therapiemanual von Wölfling und Kollegen (2012). Die verhaltenstherapeutische Kurzzeitintervention ist in drei Phasen unterteilt: 1) Psychoedukation und Motivation, 2) Intervention und 3) Transfer und Stabilisierungsphase.

    Die erste Phase (Psychoedukation und Motivation) umfasst die ersten drei Sitzungen und thematisiert eine individuelle störungsspezifische Psychoedukation, vermittelt ein individuelles bio-psychosoziales Erklärungsmodell für die Entstehung von Internetsucht, klärt bzw. fördert die Motivation für eine dauerhafte Verhaltensveränderung (u. a. Abstinenz von der suchtartig genutzten Internetaktivität) und definiert zusammen mit den Patienten weiterführende Therapieziele.

    Die zweite Phase (Intervention) erstreckt sich von Sitzung 4 bis 11 und erarbeitet basierend auf Wochenprotokollen eine Problem- und Verhaltensanalyse nach dem Prinzip des SORCK-Schemas (Stimulus, Organismus, Reaktion, C/Konsequenz, Kontingenz). Es werden funktionale Bewältigungsstrategien im Bereich alternativer Freizeit- bzw. Lebensgestaltung vermittelt, und es soll ein alternativer Umgang mit Emotionen und Stress erlernt werden. Essenzieller Teil dieser Therapiephase ist die Steigerung des Selbstwertes. Diese erfolgt im ständigen Abgleich zur individuellen Biographie anhand spezifischer Problemsituationen mit Selbstwertrelevanz. Darüber hinaus wird mit den Patienten eine angeleitete Exposition mit Reaktionsverhinderung durchgeführt (s. u. bei Sitzung 8).

    Die dritte Phase (Transfer und Stabilisierung) vermittelt in Sitzung 12 bis 15 Maßnahmen für die Rückfallprophylaxe, erstellt einen Notfallplan, reflektiert den Therapieerfolg und durch die Abstinenz eingetretene Veränderungen.

    Inhalte ausgewählter Sitzungen

    In Ergänzung zum bereits dargestellten Ablauf der einzelnen Phasen werden nun ausgewählte Sitzungen näher erläutert.

    Sitzung 1 beinhaltet das Kennenlernen, das Unterzeichnen eines Therapievertrages und das schriftliche Fixieren von Therapiezielen. Nachdem ein Überblick über das Therapieprogramm gegeben wurde, kommt es zur Vereinbarung eines Abstinenzversuches und zur Festlegung einzelner Therapieziele. Unterstützend werden Arbeitsblätter für Wochenprotokolle ausgehändigt, anhand derer die Patienten Situationen aufzeichnen sollen, in denen es in jüngster Vergangenheit zu Spielverlangen gekommen ist. Hier wird vermerkt, welche Emotionen, Kognitionen, körperliche Empfindungen und konsequenten Handlungen bzw. Konsequenzen sich daraus für den Patienten ergaben. Einige Sitzungen, wie beispielsweise die erste Sitzung, bergen „Stolpersteine“ und methodische Schwierigkeiten, auf die es zu achten gilt. So ist es besonders wichtig, dass es nicht zu einer Ausgrenzung Einzelner (beispielsweise Patienten mit bereits initiierter Abstinenz vs. noch stark in der Nutzung verhafteter Patienten) oder einem Ungleichgewicht zwischen den Redeanteilen der Gruppenteilnehmer kommt.

    Aufgabe des Therapeuten/der Therapeutin ist es, auf Einwände und Bedenken der Teilnehmer hinsichtlich eines Abstinenzversuches würdigend einzugehen und diese dennoch gleichzeitig kritisch zu hinterfragen (Prinzip des geschmeidigen Widerstandes). Die zunächst mündlich formulierten und erörterten Ziele sollten realistisch und im konkreten individuellen Fall umsetzbar sein. Es zeigt sich bei der Einführung der Wochenprotokolle, dass es Patienten stellenweise schwer fällt, die Differenzierung zwischen Situationen, Gedanken und Gefühlen vorzunehmen. Hier können Elemente aus Emotionsdiskriminations-Trainings von Nutzen sein.

    Sitzung 6 hat die Entwicklung eines individuellen SORCK-Schemas (Stimulus, Organismus, Reaktion, C/Konsequenz, Kontingenz) zum Thema. Während der Abstinenzrunde werden wieder positive Veränderungen zur Vorwoche aufgegriffen. Es schließt sich die Erarbeitung des individuellen Störungsmodells an. Dabei werden Zusammenhänge zwischen internalen und/oder externalen Risikosituationen, suchtspezifischen Grundannahmen und automatischen Gedanken, die das Verlangen auslösen können, anhand eines Arbeitsblattes zur Mikroanalyse inhaltlich vertieft (individuelles SORCK-Modell).

    In Sitzung 8 werden die Patienten ohne Vorankündigung von Bildreizen bezüglich ihres jeweiligen Störungsbildes empfangen, die sie selbst gewählt und vorab zur Verfügung gestellt haben. Dies kann beispielsweise ein Avatar sein oder eine typische Situation, die Nutzungsverlangen auslöst (z. B. der eigene hochgerüstete PC). Es handelt sich hierbei um eine Exposition mit Reaktionsverhinderung. Die Gruppensitzung startet wieder mit einer Abstinenzrunde, welche positive Veränderungen zur Vorwoche aufgreift und verstärken soll. Der Therapeut/die Therapeutin hat die Aufgabe, mit den Patienten die Emotionen und Kognitionen zu verbalisieren und zu analysieren, die durch den Expositionsstimulus hervorgerufen wurden. Gleichzeitig ist es unerlässlich, den Grad des ausgelösten Nutzungsverlangens zu quantifizieren (auf einer Skala von 0/kein Verlangen bis 100/maximales Verlangen) und dieses im Verlauf der Stunde zu einem merklichen Absinken zu bringen. Positive Gefühle, Kompetenzerwartung und Lernerfahrungen, die auf der Erfahrung basieren, dem Spieldruck nicht nachgegangen zu sein, sind als wichtige Ergebnisse dieser Sitzung anzustreben. Das Expositionsrational wird durch den Einsatz von Notfallkärtchen und konkreten individuellen Handlungsanweisungen in Verführungssituationen abgerundet. Die Gruppe betrachtet gemeinsam den Verlauf des Expositionstrainings aus einer Meta-Perspektive. Hierbei sollte die biographische Einordnung als vertiefende Verarbeitung der Exposition (z. B. Verfassen eines Abschiedsbriefes an den Avatar) mit einbezogen werden. Das Aufgreifen der Erfahrungen in der Exposition und deren therapeutische Nachbearbeitung sollten in anschließenden Einzelsitzungen auf individueller Ebene erfolgen. Typische Schwierigkeiten dieser Sitzung sind das Verständnis des Konfrontationsrationals und v. a. die Gefahr eines gesteigerten Verlangens, welches zu einer erhöhten Rückfallgefährdung beitragen kann.

    In Sitzung 10 und 11 wird ein Modell zur Entwicklung der eigenen Medienaffinität erarbeitet. Die Abstinenzrunde verstärkt wieder positive Veränderungen und greift potenzielle Rückfälle auf. Zielstellung für die Patienten ist es, Zusammenhänge zwischen Lebensereignissen, Lebenszufriedenheit und ihrer Mediennutzung zu erarbeiten und die identifizierten Entwicklungsverläufe in der Gruppe zu besprechen.

    Nach Beendigung der letzten Gruppensitzung folgt eine Zeit von sechs Wochen, in welcher in der Regel kein therapeutischer Kontakt erfolgt. Nach Ablauf dieser Frist werden alle Gruppenteilnehmer zu einer sog. Booster-Session eingeladen, in welcher besprochen wird, inwiefern die Integration der in der Therapie erlernten Techniken in die Lebensumwelt des Patienten gelungen ist und wo unter Umständen Nachbesserungsbedarf besteht.

    Kontakt:

    Michael Dreier
    Ambulanz für Spielsucht
    Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    Michael.Dreier@uni-mainz.de
    www.unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Die Dipl.-Psychologen Dr. Klaus Wölfling, Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel​​​ und der Dipl.-Soziologe Michael Dreier forschen und arbeiten an der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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