Schlagwort: Qualitätssicherung

  • Gewalt in der Suchthilfe

    Gewalt in der Suchthilfe

    Dr. Elke Alsago
    Prof. Dr. Nikolaus Meyer

    1. Suchthilfe: Eine Einführung ins Arbeitsfeld aus Sicht Sozialer Arbeit

    Die Suchthilfe ist ein eigenständiges, zugleich hochdifferenziertes Handlungsfeld der Sozialen Arbeit (Kempster 2021), das eng mit weiteren sozial- und gesundheitspolitischen Systemen verknüpft ist (Hansjürgens 2016; Hansjürgens et al. 2025). Charakteristisch ist die Einbindung von Angeboten der Suchthilfe direkt wie indirekt in unterschiedliche Sozialgesetzbücher (SGB II, III, V, VI, VIII, IX, XII), was sowohl Zuständigkeiten als auch Handlungskonzepte prägt (Pauly 2024; Abstein 2012). Daraus ergibt sich ein multiprofessionelles Feld, in dem verschiedene Berufsgruppen in differenzierten Zuständigkeiten agieren (Deimel & Hornig 2024).

    Die ambulante Suchthilfe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vorrangig durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit professionalisiert (Helas 1997). Sie ist meist Teil kommunaler Daseinsvorsorge und folgt damit einer sozialarbeiterischen Logik. Demgegenüber ist die stationäre Suchthilfe im Gesundheitssektor verortet, dominiert von medizinischen Berufsgruppen und durch Regelungen der Renten- und Krankenversicherung (SGB V, VI) strukturiert (Deimel & Hornig 2024; Hansjürgens 2016).

    Das ambulante Hilfespektrum reicht von niederschwelligen Kontaktläden und Drogenkonsumräumen über psychosoziale Beratungsstellen – die mit rund 1.500 Einrichtungen den Hauptanteil ausmachen (Deimel & Hornig 2024, S. 20) – bis hin zu betreutem Wohnen und Nachsorgeprojekten. Die ambulanten Einrichtungen sind die erste Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige, sie bieten Motivationsklärung, Beratung und Vermittlung in weiterführende Hilfen. Fachkräfte übernehmen hier Einzelfallhilfe, Netzwerkarbeit, Arbeit im Gemeinwesen und in der Prävention (Hansjürgens 2015; Laging 2023). Die stationäre Suchthilfe umfasst qualifizierte Entzugsbehandlungen, Rehabilitation und sozialtherapeutische Wohnangebote. Zwar werden die beiden erstgenannten Leistungen primär medizinisch verantwortet, zunehmend wirken jedoch Sozialarbeiter:innen bei Reintegration, Krisenintervention und Nachsorge mit (Hansjürgens 2015; Hansjürgens 2016).

    Die Trägerlandschaft ist vielfältig: Neben kommunalen Einrichtungen dominieren freie Träger, insbesondere Wohlfahrtsverbände (Abstein 2012). Die Finanzierung erfolgt je nach Angebot über kommunale Mittel, gesetzliche Renten- und Krankenversicherung, Eingliederungshilfe, Landesmittel oder projektbezogene Förderungen. Diese Strukturvielfalt bringt zugleich erhebliche Steuerungsprobleme mit sich, insbesondere bei Übergängen zwischen Hilfeformen.

    Trotz multiprofessioneller Ausrichtung kommt Fachkräften der Sozialen Arbeit eine zentrale Rolle zu. In ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen machen sie mit 63,5 Prozent die größte akademische Berufsgruppe aus, während der Anteil an Psycholog:innen (8,3 Prozent) und Ärzt:innen (2,3 Prozent) deutlich geringer ist (Deimel & Hornig 2024, S. 20). Ihre Aufgaben umfassen die Bearbeitung sozialer Problemlagen, Fallsteuerung, Beziehungsgestaltung, sozialrechtliche Beratung und Netzwerkarbeit (Laging 2023). Insbesondere bei vulnerablen Gruppen (z. B. wohnungslose, migrantische oder psychisch erkrankte Personen) sind sie zentral, um Teilhabe zu ermöglichen (Hansjürgens 2016).

    Das Arbeitsfeld Suchthilfe ist nicht nur komplex, sondern auch fragmentiert (Deimel, Moesgen & Schecke 2024): Die Vielfalt an Sozialgesetzbüchern führt zu Überschneidungen, Leerstellen und Zuständigkeitskonflikten, etwa bei jugendlichen Konsument:innen oder Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Für Fachkräfte bedeutet das, auch zwischen Systemen zu agieren (Abstein 2012).

    2. Suchthilfe und verletzendes Verhalten

    Gewaltphänomene im Kontext Suchthilfe werden bisher primär bezogen auf das Verhalten von Klient:innen thematisiert (Laging 2023; Sommerfeld 2021). Eine systematische Differenzierung des Auftretens von Gewalt bleibt in vielen Beiträgen jedoch aus (Hornig 2023; Klein 2022; Vogt 2022; DHS 2021). Hier werden entweder einzelne Gewaltformen untersucht oder nur solche, die innerhalb einer spezifischen Gruppe oder zwischen zwei spezifischen Gruppen auftreten. Diese vorliegende Studie greift diese Forschungslücke auf und untersucht anhand einer bundesweiten Online-Befragung, wie häufig Beschäftigte in der Sozialen Arbeit – darunter auch in der Suchthilfe – mit Gewalt konfrontiert sind, wie sie diese bewerten und welche strukturellen Bedingungen verletzendes Verhalten begünstigen (Meyer & Alsago 2025a–e).

    Zur systematischen Erhebung wurden fünf Gewaltformen im Fragebogen definiert und mit Beispielen versehen (Bundschuh 2023):

    • Sexualisierte Gewalt: Dies sind schwerwiegende, nicht einvernehmliche Handlungen wie das Zeigen von Pornografie gegenüber Kindern, das Erzwingen sexueller Handlungen an sich selbst oder Dritten, exhibitionistische Handlungen, ungewollte Berührungen oder Penetration gegen den Willen der Betroffenen (ebd., S. 28).
    • Sexuelle Übergriffe: Dies sind gezielte, grenzüberschreitende Handlungen mit sexuellem Bezug, darunter anzügliche Bemerkungen, Witze über den Körper, unerwünschte Berührungen an Brust, Gesäß oder Genitalien sowie das Aufdrängen von Gesprächen über Sexualität (ebd., S. 30f.).
    • Sexuelle Grenzverletzungen: Diese umfassen unbeabsichtigte oder unangemessene Handlungen, die die Intimsphäre der Betroffenen verletzen (ebd., S. 28f.).
    • Physische Gewalt: Diese Gewaltform beinhaltet beispielhaft Schubsen, Ohrfeigen, Schlagen, hartes Anpacken oder das Werfen von Gegenständen (ebd., S. 26).
    • Psychische Gewalt: Sie umfasst Verhaltensweisen wie das absichtliche Ignorieren von Fragen, das Unterbinden sozialer Kontakte, soziale Isolation, aggressives Anbrüllen, Beschimpfungen, Drohungen oder anhaltendes Schweigen (ebd., S. 27).

    In der Online-Befragung wurden die verschiedenen Gewaltformen vorgestellt und mit Beispielen versehen. Die Befragung fand vom 18.09. bis 23.10.2024 statt und wurde von 6.383 Beschäftigten aus verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit beantwortet. Im Fokus standen Gewalterfahrungen der letzten zwölf Monate in der eigenen Einrichtung sowie das berufliche Alltagserleben. Nach der Bereinigung des Datensatzes – etwa durch den Ausschluss unvollständiger oder doppelter Fragebögen sowie von Personen mit weniger als einem Jahr Berufstätigkeit in der Einrichtung – blieben 3.234 auswertbare Fragebögen. Diese wiederum konnten durch die Angabe des Arbeitsfeldes nach diesen geclustert werden. Die Auswertung für die Suchthilfe basiert auf Angaben von 103 Beschäftigten. Trotz der geringen Größe der Stichprobe ist die Teilnehmendenzahl für den explorativen Charakter der Untersuchung zunächst ausreichend. Die Auswertung erfolgte mittels deskriptivstatistischer Verfahren.

    Innerhalb der Suchthilfe-Gruppe verfügen 69,5 Prozent der Befragten über mehr als sechs Jahre Berufserfahrung; 65,2 Prozent arbeiten in Teilzeit, 95,7 Prozent sind unbefristet angestellt. Die Befragten sind zu 86,4 Prozent weiblich. Bezüglich der Trägerschaft arbeiten 33,3 Prozent der Befragten bei freigemeinnützigen Trägern, ebenso viele bei kirchlichen Trägern, 23,8 Prozent sind bei öffentlichen, 9,5 Prozent bei privatwirtschaftlichen Anbietern beschäftigt. Die überwiegende Mehrheit (87 Prozent) arbeitet in ambulanten, 8,7 Prozent in stationären und 4,3 Prozent in teilstationären Einrichtungen. 78,3 Prozent der Befragten sind Sozialarbeiter:innen, gefolgt von Erziehungswissenschaftler:innen (8,7 Prozent) und Heilerziehungspfleger:innen (4,3 Prozent). Die größte Altersgruppe stellen mit 39,1 Prozent die 25- bis 34-Jährigen dar, während die 45- bis 54-Jährigen mit 8,7 Prozent die kleinste Gruppe bilden. Ob diese Verteilung der tatsächlichen Altersstruktur im Arbeitsfeld entspricht, lässt sich mangels amtlicher Daten – wie auch in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit – nicht abschließend klären (Meyer 2024).

    3. Gewalt in der Suchthilfe

    Bei den Angaben der Beschäftigten zur erlebten Gewalt in der eigenen Einrichtung während der letzten zwölf Monate zeigen auch die Beschäftigten aus der Suchthilfe, dass gewaltförmige Konstellationen im Alltag vorkommen.

    Abbildung 1: Gewalterfahrungen der Beschäftigten mit Schwerpunkt in der Sozialen Arbeit der Suchthilfe in den vergangenen zwölf Monaten (Angaben in Prozent, eigene Darstellung)

    Abbildung 1 verdeutlicht, dass insbesondere zwischen den Klient:innen alle Formen von Gewalt häufig auftreten, wobei psychische Gewalt mit 91,3 Prozent und physische Gewalt mit 56,5 Prozent besonders häufig genannt werden. Auch verletzendes Verhalten von Klient:innen gegenüber Beschäftigten wird häufig berichtet. Hier zeigt sich die gleiche Verteilung: Am häufigsten tritt psychische Gewalt auf (87 Prozent), gefolgt von physischen Übergriffen (45,5 Prozent) sowie sexuellen Grenzverletzungen (45,5 Prozent). Auch hier zeigt sich – ähnlich wie beim verletzenden Verhalten unter Klient:innen (sexuelle Grenzverletzungen 33,3 Prozent, sexuelle Übergriffe 31,6 Prozent und sexualisierte Gewalt 21,1 Prozent) –, dass sexuelle Gewaltformen keineswegs selten sind: 45,5 Prozent der befragten Beschäftigten berichten von sexuellen Grenzverletzungen durch Klient:innen, 13,6 Prozent von sexuellen Übergriffen und 4,5 Prozent von sexualisierter Gewalt.

    Auffällig sind Unterschiede zwischen den Settings: Psychische und physische Gewalt unter Klient:innen treten besonders häufig in teilstationären Einrichtungen auf. Sexualisierte Gewalt wird hingegen am häufigsten aus stationären Einrichtungen gemeldet – sowohl unter Nutzer:innen als auch in der Beziehung zwischen Nutzer:innen und Beschäftigten. Auch Gewalt durch Nutzer:innen gegen Fachkräfte sowie Gewalt durch Fachkräfte gegenüber Nutzer:innen zeigt sich stärker in stationären Kontexten. Zwischen Trägerarten (kirchlich, frei, öffentlich) ergaben sich hingegen keine signifikanten Unterschiede.

    Ein Vergleich mit der Gesamtstichprobe der Sozialen Arbeit (n = 6.380) macht deutlich, dass die Suchthilfe besonders stark belastet ist. Während im Gesamtdatensatz 80,5 Prozent der Befragten psychische Gewalt durch Nutzer:innen gegenüber Beschäftigten angaben, waren es in der Suchthilfe 87 Prozent. Im Verhältnis zur gesamten Sozialen Arbeit geringer waren dagegen die Angaben zu physischer Gewalt unter Klient:innen (66,1 Prozent vs. 56,5 Prozent).

    4. Gewalt, Belastungen und institutionelle Kontexte – Zusammenhänge und Wechselwirkungen

    Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung machen deutlich, dass gewaltförmige Dynamiken auch in der Suchthilfe eine reale und verbreitete Herausforderung darstellen. Eine vertiefende Auswertung der erhobenen Daten zeigt signifikante statistische Zusammenhänge auf mittlerem Korrelationsniveau zwischen gewaltbezogenen Erfahrungen und verschiedenen Aspekten der Arbeitsbedingungen. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Gewalt (psychische und physische Gewalt sowohl unter Klient:innen als auch durch diese Gruppe gegenüber Beschäftigten) und Faktoren wie Arbeitsüberlastung, unzureichende Beteiligung, fehlende fachliche Rückendeckung sowie strukturelle Defizite im Arbeitsumfeld.

    Psychische Gewalt durch Klient:innen tritt gehäuft dort auf, wo Beschäftigte regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit leisten und Arbeitsbedingungen als belastend empfunden werden. In solchen Einrichtungen sind oftmals auch die räumlichen Rahmenbedingungen unzureichend, der Arbeitsalltag ist durch hohen Zeitdruck geprägt (95,9 Prozent) und das Erleben von Ohnmacht und fehlender Wirksamkeit in der eigenen Tätigkeit ist weitverbreitet. 95,7 Prozent der Befragten geben an, sich regelmäßig an der Grenze ihrer Belastbarkeit zu bewegen, während 87 Prozent berichten, dass sie ihre professionellen Standards nicht in vollem Umfang aufrechterhalten können – vielfach (45,5 Prozent) könnte dies durch ein bis zwei zusätzliche Fachkräfte vermieden werden.

    Gewalt und mangelnde Beteiligungsstrukturen

    Ein besonders prägnanter Zusammenhang zeigt sich zwischen dem Erleben von Gewalt und mangelnden Beteiligungsstrukturen: Dort, wo Klient:innen kaum oder gar nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen werden (laut 94,1 Prozent der Befragten findet dies nicht statt) und wo Beschäftigte über relevante Veränderungen am Arbeitsplatz nur selten informiert werden (60,9 Prozent), sind psychische, physische und sexualisierte Übergriffe durch Klient:innen signifikant häufiger. Zugleich ist das Kommunikationsklima angespannt: Nur 45,4 Prozent der Beschäftigten geben an, offen über Probleme sprechen zu können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.

    Auch innerhalb von Teams, in denen es in den letzten zwölf Monaten verstärkt zu Konflikten mit Klient:innen oder häufigen Beschwerden gegen Mitarbeitende kam (45,5 Prozent), wird psychische Gewalt durch Klient:innen überdurchschnittlich häufig berichtet. Auffällig ist zudem, dass in nur 39,1 Prozent dieser Fälle eine systematische Aufarbeitung im Team erfolgt – ein Indikator für fehlende institutionelle Reflexionsräume.

    Die hohe Belastung spiegelt sich auch in einer auffälligen Personalfluktuation: Durchschnittlich bestand ein Team aus vier Personen, von denen zwei innerhalb eines Jahres die Einrichtung verlassen haben. Lediglich 30,4 Prozent der Teams blieben personell stabil. 30,3 Prozent der Beschäftigten beabsichtigen einen Arbeitsplatzwechsel, 4,3 Prozent zogen sogar einen vollständigen Berufsausstieg in Erwägung.

    Sexualisierte Gewaltphänomene lassen sich ebenfalls in Zusammenhang mit bestimmten institutionellen Rahmenbedingungen bringen. So treten sexuelle Grenzverletzungen durch Klient:innen besonders häufig dort auf, wo Nachtarbeit gefordert ist, wo Fachkräfte auch außerhalb ihrer Arbeitszeit erreichbar sein müssen (52,2 Prozent) und wo es an regelmäßiger Supervision oder externer Beratung mangelt. Auch eine fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte erhöht das Risiko: In Einrichtungen, in denen respektloses Verhalten durch Führungskräfte berichtet wird oder die Anerkennung für die geleistete Arbeit ausbleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit sexualisierter Gewalt gegen Beschäftigte signifikant.

    Darüber hinaus zeigen die Daten, dass auch Gewalt durch Fachkräfte gegenüber Klient:innen kein randständiges Phänomen darstellt. Insbesondere in Einrichtungen mit strukturellen Mängeln – etwa fehlenden Mitbestimmungsmöglichkeiten bei methodischen Entscheidungen, geringem Zugang zu Fortbildungen, fehlender Supervision, geringer kollegialer Unterstützung und intransparenten Leitungsentscheidungen – häufen sich Berichte über psychische oder sexualisierte Gewalt durch Beschäftigte. Diese Befunde deuten auf wechselseitige Dynamiken hin, strukturelle Defizite können sich in beide Richtungen der Interaktion gewaltsam entladen – ein Hinweis auf ein institutionell dysfunktionales System.

    Besonders verdichtet treten Gewaltphänomene – etwa sexuelle Übergriffe oder sexualisierte Gewalt zwischen Klient:innen – dort auf, wo schlechte Arbeitsbedingungen, Nachtarbeit sowie belastende Umweltfaktoren den Alltag bestimmen. Auch strukturelle Unklarheiten wie unzureichend geklärte Zuständigkeiten, das Fehlen von Rückzugsräumen (nur 5,8 Prozent der Einrichtungen bieten diese für Klient:innen, nur 4,3 Prozent für Beschäftigte) und ein Mangel an Risikoanalysen der Räumlichkeiten (nur in 15,3 Prozent der Schutzkonzepte enthalten) verschärfen die Gefährdungslage.

    Gewalt innerhalb des Teams

    Ein besonders bemerkenswerter Befund der vorliegenden Studie ist der hohe Anteil an Beschäftigten, die von Gewalt innerhalb des Teams, also zwischen Kolleg:innen, berichten. Mehr als jede zweite befragte Person (62,2 Prozent) gibt an, psychische Gewalt durch Kolleg:innen erlebt zu haben, weitere 15,2 Prozent berichten von sexualisierten Grenzverletzungen innerhalb des Teams. Diese Zahlen sind nicht nur auffällig, sondern auch professionspolitisch von Relevanz: Gewalt in der Arbeitsbeziehung zwischen Beschäftigten ist bislang kaum systematisch untersucht worden – weder in der Suchthilfe noch in der Sozialen Arbeit insgesamt.

    Dabei handelt es sich keineswegs um ein exklusives Phänomen der Sozialen Arbeit: Auch in anderen Bereichen wird deutlich, dass betriebsinterne Gewalt – insbesondere psychische Übergriffe – eine unterschätzte, oft tabuisierte Belastung darstellt. Laut Arbeitsunfallstatistik der DGUV werden etwa 30 Prozent der gemeldeten Gewaltunfälle durch betriebsinterne Personen verursacht, wobei davon ausgegangen werden muss, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt (DGUV 2023, S. 89; iwd 2021). Gerade Fälle von Mobbing, systematischer Ausgrenzung oder psychischem Druck bleiben häufig unsichtbar, weil sie nicht als meldepflichtige Unfälle erfasst oder von den Betroffenen aus Angst vor Repressalien nicht zur Anzeige gebracht werden (ebd.).

    Fachveröffentlichungen zeigen zudem, dass Gewalt zwischen Kolleg:innen häufig dort auftritt, wo Strukturen der Überforderung, Hierarchie und mangelnden Kommunikation vorherrschen. Wenn Rückhalt durch Leitung fehlt, Konflikte nicht bearbeitet und psychisch belastende Situationen nicht ausreichend reflektiert werden, entsteht ein Klima, in dem Eskalationen wahrscheinlicher werden (Paefgen-Laß 2021). Dies deckt sich mit den vorliegenden Befunden: In Einrichtungen mit angespanntem Kommunikationsklima, fehlender Supervision und geringem Vertrauen in die Leitung berichten Beschäftigte signifikant häufiger von psychischer Gewalt durch Kolleg:innen.

    Schutzkonzepte bekannt machen und umsetzen

    Aus den Daten lassen sich zusammenfassend klare Muster ableiten: Gewalt tritt besonders häufig dort auf, wo strukturelle Unterstützung fehlt, Partizipation unterbleibt, institutionelle Schutzsysteme nicht greifen und die personelle Ausstattung unzureichend ist. Zwar existieren in vielen Einrichtungen formal Schutzkonzepte, jedoch sind diese nur 52,2 Prozent der befragten Personen bekannt. Präventive Maßnahmen sind lediglich in 14 Prozent der Konzepte verankert, konkrete Interventionsstrategien finden sich in 13 Prozent. Systematische Risikoanalysen – bezogen auf räumliche Gegebenheiten sowie auf Interaktionen zwischen Klient:innen und Fachkräften – sind nur in 11,7 Prozent der Schutzkonzepte enthalten.

    Die Suchthilfe hebt sich von anderen Arbeitsfeldern ab, da sie Schutzkonzepten eine vergleichsweise hohe Bedeutung beimisst. Jedoch zeigt sich, dass Risikoanalysen zu zwischenmenschlichen Gefährdungslagen trotz hoher Prävalenz verletzenden Verhaltens nur selten vorgenommen werden (9,2 Prozent). Auch bleibt die praktische Umsetzung häufig unkonkret, was die Wirksamkeit dieser Konzepte erheblich einschränkt.

    Insgesamt wird deutlich: Gewalt stellt in der Suchthilfe kein individuelles, sondern ein strukturell verankertes Risiko dar. Ihre wirksame Reduktion erfordert daher tiefgreifende Reformen bei der Arbeitsorganisation, der Ausstattung mit personellen Ressourcen sowie der Trägerkultur.

    5. Fazit und Ausblick: Gewalt als strukturelle Herausforderung der Suchthilfe

    Die Daten machen deutlich, dass gewaltförmige Konstellationen in der Suchthilfe nicht nur punktuell auftreten, sondern mit hoher Regelmäßigkeit und unter bestimmten strukturellen Bedingungen gehäuft vorkommen. Die Suchthilfe stellt ein besonders vulnerables Handlungsfeld dar – nicht zuletzt aufgrund der häufigen Nähe zu akuten Krisen, zur existenziellen Not ihrer Nutzer:innen und zu enthemmenden Wirkungen psychotroper Substanzen. Hinzu kommen prekäre Arbeitsbedingungen, fragmentierte Finanzierungslogiken und institutionelle Unklarheiten in Zuständigkeit und Steuerung. Die Kombination aus diesen Faktoren schafft ein Spannungsfeld, in dem Fachkräfte mit komplexen Herausforderungen konfrontiert sind, jedoch gleichzeitig selten über ausreichende strukturelle Rückendeckung verfügen. Gewalt tritt besonders häufig dort auf, wo Personal fehlt, Partizipation eingeschränkt ist, Leitungskulturen autoritär oder konfliktmeidend sind und Schutzkonzepte nicht greifen oder unbekannt sind.

    Der Vergleich mit anderen Feldern Sozialer Arbeit bestätigt diese strukturelle Lesart: Auch in der Wohnungslosenhilfe berichten Beschäftigte von einer hohen Quote von verletzendem Verhalten (Meyer & Alsago 2025e). Doch die Daten zeigen zugleich arbeitsfeldspezifische Unterschiede. So ist das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Wohnungslosenhilfe noch deutlich höher.

    Gewalt ist in der Suchthilfe kein Ausnahmefall, sondern Ausdruck eines Systems, das unter struktureller Dauerbelastung steht. Für Praxis und Träger ergibt sich daraus ein klarer Handlungsauftrag: Um Klient:innen und Beschäftigte zu schützen und damit den Grundstein für gelingende Arbeitsbeziehungen zu legen, wird eine grundlegende Neuausrichtung der Rahmenbedingungen der Suchthilfe benötigt. Dazu gehören verbindliche Schutzstandards, ausreichende Personalausstattung, regelmäßige Supervision, niedrigschwellige Beschwerdestrukturen und vor allem eine Trägerkultur, die Gewalt als systemisches Problem anerkennt und aktiv bearbeitet. Die Stärkung von Beteiligung – sowohl der Nutzer:innen als auch der Beschäftigten – ist dabei ebenso zentral wie eine bessere Verzahnung von Schutz- und Unterstützungssystemen.

    Auch die verantwortlichen Politiker:innen sind gefordert. Die derzeitige Unterfinanzierung sowie die projektbasierte Struktur vieler Angebote in der Suchthilfe behindern nachhaltige Qualitätsentwicklung und erhöhen die strukturelle Verwundbarkeit des Systems. Eine auskömmliche, verlässliche und an Schutzstandards geknüpfte Finanzierung ist unerlässlich, wenn die Suchthilfe wirksam schützen und begleiten soll.

    Zur Weiterentwicklung und Reflexion des Systems ist weitergehende Forschung notwendig: Die hier vorgestellten Befunde eröffnen wichtige Einblicke, werfen aber zugleich neue Fragen auf. Künftige Studien sollten vertiefend analysieren, wie sich Gewalt in unterschiedlichen Teilbereichen der Suchthilfe zeigt, welche Rolle Leitung, Geschlecht oder biografische Vorerfahrungen spielen – und wie Schutzmechanismen konkret gestaltet sein müssen, um wirksam zu sein. Insbesondere die Perspektiven der Nutzer:innen und ihre Erfahrungen mit Macht, Grenzziehung und Sicherheit in Einrichtungen der Suchthilfe sind bislang weitgehend unerforscht.

    Weitere Informationen sowie Analysen aus anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit können hier aufgerufen werden: https://avasa.verdi.de

    Angaben zu den Autor:innen und Kontakt:

    Prof. Dr. Nikolaus Meyer ist Professor für „Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit“ an der Hochschule Fulda. Kontakt: nikolaus.meyer(at)sw.hs-fulda.de

    Dr. Elke Alsago ist Bundesfachgruppenleiterin Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft. Kontakt: elke.alsago(at)verdi.de

    Literatur
    • Abstein, H. J. (2012). Suchthilfe − ein klassisches Handlungsfeld der Sozialarbeit. In S. Gastiger & H. J. Abstein (Hrsg.), Methoden der Sozialarbeit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchthilfe (S. 7–18). Freiburg: Lambertus.
    • Bundschuh, C. (2023). Gewaltverständnisse und begriffliche Einordnungen. In C. Bundschuh & S. Glammeier (Hrsg.), Gewalt in Abhängigkeitsverhältnissen. Grundlagen und Handlungswissen für die Soziale Arbeit (Grundwissen Soziale Arbeit, Bd. 48, S. 15–35). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Deimel, D. & Hornig, L. (2024). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. In D. Deimel, D. Moesgen & H. T. Dirks (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch (utb Soziale Arbeit Suchthilfe, Bd. 6123, S. 16–43). Köln: Psychiatrie Verlag.
    • Deimel, D., Moesgen, D. & Dirks, H. T. (Hrsg.) (2024). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch (utb Soziale Arbeit Suchthilfe, Bd. 6123). Köln: Psychiatrie Verlag.
    • Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (Hrsg.). (2023). Arbeitsunfallgeschehen 2022. https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/4759. Zugegriffen: 20. Mai 2025.
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.). (2021). Sucht und Gewalt. Eine Arbeitshilfe für Fachkräfte und Freiwillige im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen mit Schwerpunkten auf Sucht(selbst)hilfe und Gewaltberatung. https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Broschueren/Sucht_und_Gewalt_BFREI.pdf. Zugegriffen: 25. April 2025.
    • Hansjürgens, R. (konturen-online, Hrsg.) (2015). Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – eine Arbeitsfeldanalyse. https://www.dg-sas.de/media/filer_public/63/e8/63e8d4b4-633d-4d59-8dc4-ffea30b2153f/konturen_01_2014.pdf. Zugegriffen: 25. April 2025.
    • Hansjürgens, R. (2016). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Soziale Arbeit 65 (9), 333–336. doi:10.5771/0490-1606-2016-9-333
    • Hansjürgens, R., Abderhalden, I., Arnold, T. & Sommerfeld, P. (2025). Suchthilfe und Soziale Arbeit. Baden-Baden: Nomos.
    • Helas, I. (1997). Über den Prozess der Professionalisierung in der Suchtkrankenhilfe. In E. Hauschildt (Hrsg.), Suchtkrankenhilfe in Deutschland. Geschichte – Strukturen – Perspektiven (S. 147–161). Freiburg im Breisgau: Lambertus.
    • Informationsdienst der deutschen Wirtschaft (Hrsg.). (2021). Arbeitsunfälle der besonderen Art. https://www.iwd.de/artikel/arbeitsunfaelle-der-besonderen-art-499576/. Zugegriffen: 20. Mai 2025.
    • Kempster, J. (2021). Vielfältige Erfahrungen als Vorteil. Das Handlungsfeld Suchthilfe. In N. Meyer & A. Siewert (Hrsg.), Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Der berufliche Alltag in Beschreibungen aus der Praxis (utb Soziale Arbeit, Bd. 5558, S. 96–103). Stuttgart: UTB; Verlag Barbara Budrich.
    • Klein, M. (2022). Substanzkonsum – Sucht – Gewalt: Zusammenhänge, Risiken, Prävention. Suchttherapie 23 (01), 11–17. doi:10.1055/a-1726-0157
    • Laging, M. (2023). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Grundlagen – Konzepte – Methoden (Grundwissen Soziale Arbeit, Band 28, 3., überarbeitete Auflage). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025a). Gewalt im Schulalltag: Arbeitsbedingungen und verletzendes Verhalten in multiprofessionellen Teams. Pädagogik, im Druck.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025b). Jugendhilfe unter Druck: Strukturmängel und verletzendes Verhalten. Forum Jugendhilfe (2), im Druck.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025c). Zwischen Schutzauftrag und Gefahr – Gewalterfahrungen im Jugendamt. Das Jugendamt, im Druck.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025d). Hilfe mit Nebenwirkungen: Wie schlechte Arbeitsbedingungen Gewalt verstärken. heilpaedagogik.de, im Druck.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025e). Zwischen Hilfe und Gewalt: Strukturelle Risiken und professionelle Belastungen in der Wohnungslosenhilfe. wohnungslos, im Druck.
    • Paefgen-Laß, M. (2021). Wenn unter Kollegen die Hand ausrutscht. https://www.springerprofessional.de/konfliktmanagement/gesundheitspraevention/wenn-unter-kollegen-die-hand-ausrutscht/18880346. Zugegriffen: 20. Mai 2025.
    • Pressel, H. (2024). Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz. Entstehung, Umgang und Prävention (2. aktualisierte und überarbeitete Auflage). Freiburg: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG.
    • Sommerfeld, P. (2021). Soziale Arbeit als massgebliche Kraft in der interprofessionellen Suchthilfe? In M. Krebs, R. Mäder & T. Mezzera (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht. Eine Bestandesaufnahme aus der Praxis (S. 279–302). Wiesbaden: Springer.
    • Vogt, I. (2022). Gewalttätigkeiten in Partnerschaften – Männer und Frauen mit Suchtproblemen als Opfer und Täter/Täterinnen. Suchttherapie 23 (01), 18–24. doi:10.1055/a-1694-1938
  • Wirkungsorientierung in der Sozialen Arbeit

    Wirkungsorientierung in der Sozialen Arbeit

    Sandra Schneider
    David Schneider
    Konstantin Loukas
    Frank Löbler

    Der Fachdiskurs der Sozialen Arbeit beschäftigt sich zunehmend mit dem Einsatz wirkungsorientierter Instrumente. Im folgenden Text plädieren wir dafür – trotz mitunter vorgetragener methodischer Bedenken –, mittels praktikabler Verfahren in die wirkungsorientierte Praxisforschung einzusteigen. Dabei wird auf den Vorzug teilhabe- und lebensqualitätsorientierter Instrumente im Kontext der Wirkungs­analyse verwiesen. Am Beispiel der Suchthilfe wird deutlich: Es geht um Beeinträchtigungen und Ressourcen in der gesamten Lebenswelt, in der auch die Soziale Arbeit mehrdimensional ansetzt.

    Auf Basis der Erfahrungen mit der Personal Outcomes Scale, einem teilhabeorientierten Interviewverfahren, wird deutlich, dass Wirkungsorientierung realistisch ist und das Interview als Instrument sich besonders dazu eignet, klienten- und organisationsbezogene Informationen zu erheben und auszuwerten. Die Träger Jugendberatung und Jugendhilfe e.V. in Frankfurt und das Sozialwerk St. Georg in Gelsenkirchen haben in den vergangenen Jahren mehrere Tausend Menschen in unterschiedlichen Betreuungssettings – wie der Eingliederungshilfe oder dem stationären Wohnen – zu ihrer Lebensqualität interviewt. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.

    Wirkungsorientierung als Chance

    Spätestens seit der Einführung des BTHG wird in der Eingliederungshilfe verstärkt über die Wirkung von Hilfeleistungen gesprochen. Aber nicht nur dort, sondern in der gesamten Sozialen Arbeit ist die Wirkungsorientierung seit Jahren ein mitunter kontrovers diskutiertes Thema. In der Praxis geht es allerdings oft schleppend voran. Die Gründe für eine stärkere Orientierung an der Wirkung sind bei alledem evident: Zunächst geht es um die Verpflichtung gegenüber interessierten Parteien wie den Leistungsträgern oder der öffentlichen Hand. Die Qualität der Angebote hat sich daran zu messen, ob die Angebote nachweislich die gesellschaftliche Teilhabe der Klientinnen und Klienten erhalten bzw. fördern. Eine evidenzbasierte Evaluation der Maßnahmen und Betreuungsformen dient aber auch der eigenen Positions­bestimmung und liefert Hinweise auf Veränderungs- und Verbesserungs­potentiale der angebotenen Leistungen (Sozial.de, 2020). Ebenso sollte die Erfassung und Interpretation von Veränderungen seitens der Klientel hinsichtlich ihrer Lebenswelt und Lebensqualität als Gradmesser für die Wirkung Sozialer Arbeit fungieren.

    Neben dem professionseigenen Anspruch der Sozialen Arbeit, wirksame Arbeit zu leisten, wird Wirkungsorientierung auch im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz und den Landesrahmenverträgen gefordert. Dennoch erfolgte bislang keine abschließende Definition der Begriffe Wirkung und Wirksamkeit und auch keine Benennung von Verfahren und Instrumenten, mit denen die Wirkungsanalyse bzw. Wirksamkeitsmessung seitens der Leistungserbringer durchgeführt werden könnte. Vielmehr finden sich bei der Durchsicht der Landesrahmenverträge unterschiedliche Begriffsinterpretationen und Ansätze (Deutscher Verein 2022, S. 6 ff.). Dass sich hier noch keine routinierte oder gar einheitliche Handhabung durchgesetzt hat, dürfte auch damit zusammenhängen, dass in der Eingliederungshilfe Erfahrungen mit dem Nachweis von Wirkung fehlen. Die Bunderegierung stellte im Dezember 2022 fest: „(…) knapp sechs Jahre nach der Verabschiedung des BTHG ist die angestrebte Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe (…) noch nicht vollständig in der Praxis umgesetzt.“ (Deutscher Bundestag 2022, S. 18) Diese Unschärfe verschafft den Leistungserbringern allerdings auch Gestal­tungs­spielräume, um eigene Positionen zur Wirkungsorientierung erfahrungs- und evidenzbasiert zu entwickeln.

    Wie lässt sich „Wirkung“ in der Eingliederungshilfe feststellen und beurteilen?

    Heute zweifelt niemand mehr daran, dass die Ergebnisse der Sozialen Arbeit messbar und die Prozesse steuerbar sind. Gestritten wird lediglich darüber, welche Verfahren angewandt werden und wie wissenschaftlich anerkannt diese sind. Es gibt gute Gründe für experimentelle Designs zum Nachweis kausaler Effekte: Randomisierte kontrollierte Studien und Metaanalysen gelten als Goldstandard der evidenzbasierten Forschung. Sie gelten als die sicherste Methode, Nutzen und Risiken von Therapien zu bewerten. Hier kann von „Wirkungsmessung“ gesprochen werden.

    Studien, die ohne Theoriebildung, Formulierung von Hypothesen, experimentelle Variation von Bedingungen, Kontrollgruppe und Randomisierung durchgeführt werden, sollten indes nicht von „Wirkungsmessung“ sprechen, denn dies suggeriert, dass bestimmte Effekte unmittelbar auf diese oder jene Intervention zurückzuführen sind. „Wirkungen in der sozialen Arbeit sind allerdings komplexer und lassen sich oft nicht im Sinne der korrelativen Rückführbarkeit auf einzelne Interventionen ‚messen‘“, heißt es im „Kursbuch Wirkung“ (Kurz & Kubek, 2013, S. 49 f.). Deshalb wird dort der Begriff „Wirkungsanalyse“ als der passendere vorgeschlagen.

    In diese Richtung argumentieren auch Ottmann, König und Gander (2021). Sie schlagen eine theoriebasierte „Wirkungsplausibilisierung“ vor. „Die Realisierung von klassisch experimentellen Studien erscheint innerhalb der Sozialen Arbeit und der Eingliederungshilfe meist als schwierig und ethisch bedenklich, da bei diesen nur der Zufall entscheiden kann, ob einer bestimmten Person eine bestimmte Maßnahme, also Hilfe, zugeteilt wird oder nicht.“

    Mit teilhabeorientierten Instrumenten Veränderungen darlegen

    Wirkungsorientiert, wirkungsanalytisch oder mit dem Ziel der Wirkungsplau­sibilisierung in der Eingliederungshilfe der Suchthilfe zu arbeiten, heißt, auf der Basis von Fall-, Text- und Dokumentanalysen sowie von klientenbezogenen Verlaufsbetrachtungen eine Einschätzung zu gewinnen, „ob und in welchem Umfang gefundene Effekte, also beobachtbare Veränderungen oder Stabilisierungen, auf die Angebotsformen oder Formen der Leistungserbringung (Art, Inhalt, Umfang) auch tatsächlich zurückgehen“ (Ottmann et al., 2021).

    Eine so verstandene Wirkungsorientierung wird dann ein erfolgreiches und nachhaltiges Projekt, wenn es gelingt, ein realistisches, sinnhaftes und vor allem auch praxiskompatibles Verfahren einzusetzen, um die Entwicklung der Lebensqualität der Klientinnen und Klienten zu dokumentieren und zu evaluieren. In diesem Sinn plädieren wir für eine im Dienst der Qualitätsentwicklung stehende Praxisforschung, die Veränderungen erfasst und plausibel macht, in welchem Verhältnis diese zu bestimmten Angeboten oder Settings stehen.

    Experimentelle Studien und qualitativ ausgerichtete Praxisforschung sollten nicht als Gegensätze verstanden werden. Im Gegenteil: Den Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft gilt es zu intensivieren, wozu beispielsweise auch seitens der Politik nachdrücklich aufgerufen wurde (Deutscher Suchtkongress, 2022). Zwingende Voraussetzung für die Praxisforschung in der Sozialen Arbeit sind Instrumente und Methoden, die darauf zielen, die psychosoziale Komplexität eines Falles sowie seine soziale bzw. gesellschaftliche Dimension zu erfassen. Teilhabeorientierte Instrumente bieten sich hierbei als Klammer für die Zusammenarbeit verschiedener Einrichtungen und Systeme in der Sozialen Arbeit an. Sie ermöglichen zudem Datenvergleiche zwischen Ländern, Disziplinen im Gesundheitswesen, Gesundheitsdiensten sowie im Zeitverlauf.

    Eine pragmatische wirkungsorientierte Arbeit muss in der Lage sein, Veränderungen plausibel und nachvollziehbar darzulegen. Dafür braucht es gut begründete theoretische Annahmen darüber, welche Wirkungen die jeweiligen Angebote in den Einrichtungen zur Folge haben sollten. Diese Annahmen können dann mit empirischem Material, das aus Verlaufsmessungen resultiert, abgeglichen werden.

    Wie werden diese Verlaufsmessungen durchgeführt? Ein geeignetes Instrument ist das Interview. Es ermöglicht die Erhebung und Auswertung subjektiver Deutungen und orientiert sich an individuellen und lebensweltlichen Besonderheiten. So kann qualitative Sozialforschung Lebensrealitäten erfassen, Problemlagen erkennen und Veränderungen anregen. Sie ermöglicht ferner Flexibilität ihren Gegenständen und Aufgaben gegenüber (Flick, 2012). Im Vergleich zu klassischen Fragebogen-Befragungen bieten Interviews den Vorteil, dass facettenreichere Aussagen gemacht werden. Die interviewende Person kann zudem flexibel nachhaken. Das Interview bietet die Möglichkeit, subjektive Deutungsmuster spezifisch zu thematisieren. Es existieren Vorannahmen und thematische Eingrenzungen, die aber gleichwohl die Möglichkeit offenlassen, im Interview Relevantes zu vertiefen. „Eigentliches Ziel des Interviews sind die subjektiven Erfahrungen der Personen, die sich in der vorweg analysierten Situation befinden.“ (Merton, 1979)

    Lebensqualität als Maßstab von Veränderung – die Personal Outcomes Scale (POS)

    In der Eingliederungshilfe werden die Kosten der Betreuung an die Ziele und Maßnahmen von Hilfeplänen geknüpft. Diese strikte Ableitung der Kosten von den Maßnahmen zur Zielerreichung führt in einem prospektiven System zwangsläufig zu Unschärfen, da sich die Bedarfe oft im Lauf der Unterstützung ändern. Das Erfahren von Teilhabe als Ausdruck von Wirkung ist nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit der Erreichung von Zielen in einem Hilfeplan. Daher müssen sich Instrumente zur Messung von Teilhabequalität auch nicht ausschließlich mit der Frage auseinandersetzen, wie der Grad der Zielerreichung gewesen ist. Vielmehr gilt hier das subjektive Teilhabeempfinden als Indikator für eine wirksame Eingliederungshilfe. Aber wie kann Teilhabe gemessen werden, wenn diese doch eine grundlegende subjektive Komponente hat? Dies funktioniert auf der Basis evidenzbasierter Interviewverfahren.

    Im Rahmen der Sozialen Arbeit spricht vieles für einen personen- und teilhabezentrierten Ansatz, bei dem die individuelle Verbesserung der Qualität des Lebens derjenigen Person, bei der Assistenz geleistet wird, das übergeordnete und primäre Wirkziel ist. Die Messung der individuellen Qualität des Lebens erfolgt mit dem Instrument der Personal Outcomes Scale (POS), einem wissenschaftlich fundierten, validen und reliablen und gleichzeitig praxistauglichen Messinstrument, welches im Rahmen eines iterativen Prozesses unter der Einbeziehung von Menschen mit Assistenzbedarf im Forschungskontext der belgischen Universität Gent entwickelt wurde (Claes et al., 2010).

    Qualität des Lebens ist dabei im Sinne von Robert L. Schalock und Miguel A. Verdugo als mehrdimensionales Phänomen zu verstehen, das sich aus Kernbereichen zusammensetzt, die von persönlichen Merkmalen, Werten und Umweltfaktoren beeinflusst werden. Im Rahmen von internationalen Forschungsarbeiten wurden acht Lebensbereiche, die sogenannten Domänen, identifiziert, welche die individuelle Qualität des Lebens einer Person ausmachen. Die acht Domänen (Schalock & Verdugo, 2019) sind in Tabelle 1 dargestellt.

    Tab. 1: Die acht Domänen der Qualität des Lebens. Quelle: Sozialwerk St. Georg (2021-2023)

    Die POS basiert auf den acht Domänen der Qualität des Lebens und beinhaltet insgesamt 48 Fragen, jeweils sechs pro Domäne. Seit der Veröffentlichung der POS im Jahr 2008 wurde das Instrument in zwölf Sprachen übersetzt – darunter auch ins Deutsche (vgl. DGQ, 2019, S. 15) – und findet international aktuell in elf Ländern Anwendung (van Loon et al., 2012).

    Die Qualität des Lebens wird im Rahmen eines von qualifizierten Interviewerinnen und Interviewern geführten Gesprächs mit der Person mit Assistenzbedarf erhoben. Hierfür stehen zur Unterstützung auch Piktogramme sowie eine Version des Fragebogens in Leichter Sprache zur Verfügung. Neben der subjektiven Selbsteinschätzung, der eine zentrale Bedeutung beigemessen wird, ist auch eine ergänzende fachliche Erhebung im Rahmen eines Interviews mit einer Person aus dem Unterstützungsnetzwerk möglich. Sollte ein POS-Interview nicht mit der Person selbst durchgeführt werden können, kann alternativ ein sogenanntes Report-by-Others-Interview durchgeführt werden. Hierbei handelt es sich um ein moderiertes Konsensgespräch zweier Vertrauenspersonen, die die eigentlich zu interviewende Person gut kennen, z. B. eine mitarbeitende Person (professionelles Netzwerk) und ein Familienmitglied (soziales Netzwerk).

    Wichtig für die Erhebung der Qualität des Lebens mittels der POS ist die Qualifizierung der Interviewerinnen und Interviewer. Dazu wurde ein Schulungskonzept entwickelt, welches zu einem international gültigen Zertifikat führt. Im Rahmen einer Grundlagenschulung wird den Interviewerinnen und Interviewern das Konzept der Qualität des Lebens vermittelt sowie der Einsatz und der Aufbau des Fragebogens mit den Indikatoren und den Antwortmöglichkeiten verdeutlicht. Darüber hinaus werden die Themen Interviewführung, Gesprächsablauf und Haltung besprochen. Die Interviewer:innen sollen befähigt werden, die Fragen methodisch so zu kommunizieren, dass sie von den Befragten inhaltlich verstanden werden und die Antworten den zur Verfügung stehenden Antwortmöglichkeiten zutreffend zugeordnet werden können. Ergänzt wird die Schulung durch begleitete Erst-Interviews.

    Voraussetzung dafür, dass die Qualität des Lebens erfolgreich erhoben und ausgewertet werden kann, ist, den gesamten Prozess der Einführung und Durchführung der POS in das Qualitätsmanagement zu integrieren. Der Einsatz der POS muss systematisch und kontinuierlich verfolgt werden. Darin eingebunden sind neben den Interviewerinnen und Interviewern die Prozessverantwortlichen ebenso wie das Analysenetzwerk, in dem die Ergebnisse aufbereitet und ausgewertet werden.

    Die Antworten zu den 48 Indikatoren werden mit Punktwerten von 1 bis 3 (3er Likert-Skala) hinterlegt. Aufsummiert ergeben sie einen POS-Wert zwischen 48 und 144 Punkten, der die individuelle Qualität des Lebens auf der Personal Outcomes Scale angibt. Tabelle 2 zeigt POS-Ergebnisse für zwei verschiedene Angebote des Sozialwerks St. Georg aus dem Jahr 2022. Um festzustellen, ob den vorhandenen Unterschieden eine Bedeutung beigemessen werden kann oder ob sie zufällig entstanden sind, wurden mittels des Statistikprogramms SPSS t-tests für unabhängige Stichproben bzw. bei gleichen Personen t-tests für verbundene Stichproben durchgeführt. Das Signifikanzniveau ist auf p < 0.05 festgelegt. Dies entspricht einer maximalen Irrtumswahrscheinlichkeit von fünf Prozent.

    Tab. 2: POS-Ergebnisse zweier Angebote im Vergleich; *=signifikant. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Darüber hinaus besteht im Rahmen der POS-Interviews die Möglichkeit, über qualitative Kommentare herauszustellen, welche Themen den Befragten besonders wichtig sind, welche Ziele und Wünsche (vgl. Tabelle 3) sie im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Qualität des Lebens haben und welche Unterstützung sie dahingehend noch benötigen.

    Tab. 3: Themenfelder der am häufigsten genannten Wünsche der Klientinnen und Klienten im Jahr 2022. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, über den Vergleich der POS-Interviews der gleichen Befragten über mehrere Jahre hinweg Entwicklungsverläufe und Veränderungen in der Qualität des Lebens zwischen verschiedenen Zeitpunkten nachzuweisen, sowohl für die einzelne befragte Person als auch aggregiert für ganze Einrichtungen oder Organisationen. Tabelle 4 zeigt die Zeitverlaufsanalyse 2020/2022 mit 298 Klientinnen und Klienten im Sozialwerk St. Georg.

    Tab. 4: Zeitverlaufsanalyse 2020/2022 mit 298 Klientinnen und Klienten; MW = Mittelwert; *=signifikant. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Den Einzelfall in den Blick nehmen

    In soziologischen Schriften zur Enttraditionalisierung und Flexibilisierung von gesellschaftlichen Lebensverhältnissen wird überzeugend argumentiert, dass Veränderungen der Lebensbedingungen auch Veränderungen der individuellen Wahrnehmung zur Folge haben (vgl. Menke, 2010; Honneth et al., 2005; Rosa, H., 2005; Busch, 2001; Beck 1986).

    Die immer individuelleren Lebensentwürfe der modernen Gesellschaft führen dazu, dass die Sozialforscher mit klassischen Kategorienbildungen die Dimensionen des Einzelfalls nicht mehr hinreichend erfassen. Daraus haben Vertreter der qualitativen Sozialforschung die Konsequenz gezogen, die lokalen und lebensweltlichen Besonderheiten des einzelnen „Falls“ verstärkt in den Blick zu nehmen, anstatt mittels standardisierter Verfahren davon zu abstrahieren. Dort, wo es um die realistische Unterstützung von Menschen geht, ist die Fokussierung auf konkrete subjektiv erlebte Teilhabebeeinträchtigungen besonders wichtig, sonst entstehen schnell Überforderung und Belastung.

    Die im Sozialwerk St. Georg durchgeführte Studie mit den POS-Interviews ist nicht als randomisierte kontrollierte Studie nach „Goldstandard“ konzipiert. Das POS-Verfahren begreifen wir als wirkungsorientierte Evaluation der Lebensqualität von Menschen mit Assistenzbedarf in der Eingliederungshilfe. Eine randomisierte Verteilung auf Interventions- und Kontrollgruppe ist hier praktisch ebenso wenig durchführbar wie eine Kontrollbedingung, bei der Abhängige nicht oder später behandelt werden (Warte-Kontroll-Bedingung). Die Aussagekraft der Studie wird dadurch begrenzt. Die Ergebnisse sind nicht generalisierbar, ebenso wenig behaupten wir kausale Nachweise im Sinne eines Ursache-Wirkungszusammenhangs (Treischl & Wolbring, 2020).

    Von der Veränderungsfeststellung zur Plausibilisierung

    Wirkung muss nachvollziehbar beschrieben werden (Weiland, 2019). Die systematische Messung der individuellen Qualität des Lebens gibt Aufschluss darüber, ob gewünschte Veränderungen erreicht werden konnten oder ob negative Entwicklungen eingetreten sind, die nicht intendiert waren. Zudem kann beurteilt werden, ob ein stabiler Zustand positiv, wie geplant, gehalten wurde oder ob sich die Lebensqualität verschlechtert hat. Die systematische Auseinandersetzung mit den erhobenen Daten ist Bedingung für eine Plausibilisierung von Veränderungen.

    Die plausibilisierte Beschreibung des Zustandekommens des Outputs – und seiner Bedeutung für die Person (persönliches Outcome) – ist wesentlich für die Messung der individuellen Qualität des Lebens. Dieses Wissen führt, sofern es reflektiert und genutzt wird, auch zur Erweiterung der Handlungskompetenz und stärkt die Selbstwirksamkeit. Der/die Betreffende lernt aus dem Prozess und ist für die Zukunft besser gewappnet. Somit entsteht ein langfristiger Nutzen.

    Auch für Einrichtungen und die Prozessbeteiligten ist es sinnvoll, Wirkungsorientierung zu etablieren. Es ist zu definieren, aufgrund welcher Faktoren sich Effekte manifestieren. Hier sind die Organisationen aufgefordert, herauszuarbeiten und zu gewichten, in welchen Kontexten sich Wirkung darstellt. Wirkung kann in drei Dimensionen festgestellt werden: auf der individuellen Ebene (Deutscher Verein, 2022, S. 9 u. 12), im Bereich des Sozialraums sowie innerhalb der Organisationskultur. Welchen Einfluss haben z. B. Fachkräftemangel und ÖPNV-Situation? Ferner wären Klientenbeiräte zu bilden, die sich an Fokusgruppen zur Auswertung beteiligen. Schließlich sind Managementteams gefragt, die die Ergebnisse der betrieblichen Planungsprozesse im Hinblick auf ökonomische, rechtliche, inhaltliche, aber auch organisationskulturelle Wirkfaktoren auswerten. Wie ist der Stand beim Thema „gelebtes Leitbild“, gibt es eine Organisationskultur, die Mitarbeitende einbezieht?

    Der Königsweg könnte also ein innerbetrieblicher Reflexionsprozess sein, der die wichtigsten und dringendsten Wirkannahmen herausarbeitet. Diese Annahmen sollten mit denjenigen empirischen Informationen abgeglichen werden, die man aus den POS-Interviews ziehen kann. Wo taucht z. B. Corona, Sozialraum, ÖPNV auf, welche Auswirkung hat dies individuell? Und auch mit 100 Interviews pro Jahr lässt sich eine Querschnittsanalyse erstellen, mit der die Organisation arbeiten kann, um einen Wirksamkeitsnachweis zu erhalten. (Die drei deutschen POS-Anwenderorganisation haben 2022 insgesamt 1.049 POS-Interviews durchgeführt.)

    Mut zur Wirkungsanalyse

    In der Praxis wird deutlich, dass die POS auf drei Ebenen ihre Wirkung entfaltet. Auf der Mikroebene liefert sie Ergebnisse über die individuelle Qualität des Lebens einer Person und ermöglicht es somit, konkrete Rückschlüsse auf die direkte Klientelarbeit zu ziehen. Aus den Einschätzungen und Aussagen der Klientel können Impulse für die Unterstützung, die Angebote und das Setting gewonnen werden. Diese Ebene betrifft die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen Klient:innen und Assistenz und dient dazu, die gewonnenen Informationen in die Klientelarbeit im Sinne eines individuellen Unterstützungsplans zu überführen und Veränderungen im Laufe der Jahre zu verstehen. Dabei sind insbesondere auch die qualitativen Anmerkungen von Bedeutung, die während des POS-Interviews zusätzlich zur Eintragung in die Skalen festgehalten werden.

    Im Hinblick auf die Organisationsentwicklung sollen die gewonnenen POS-Ergebnisse in Kombination mit anderen Evaluationsergebnissen zur Weiterentwicklung und Verbesserung der Angebote beitragen. Diesen Prozess gilt es konzeptionell zu planen und zu steuern. Er ermöglicht die passgenaue Ausrichtung von Strukturen und Prozessen auf die Teilhabewünsche und Teilhabeerfordernisse der Klientinnen und Klienten. Dabei verfolgen wir das Ziel, mithilfe von Fach- und Analyseteams Wirkfaktoren zu ermitteln, mit denen Veränderungen hinsichtlich der Lebensqualität der Klientel – empiriegestützt (vgl. z. B. die Corona-Studie von Sozialwerk St. Georg/XIT, 2021) und theoretisch plausibel – erklärt werden können. Zu diesen Wirkfaktoren gehören beispielweise Personalprobleme, die zu mehr Fremdarbeitseinsatz führen, oder die Kontinuität von Leitungen und Teams, die zu mehr oder weniger stabiler Teilhabearbeit führt, oder die Organisation der BTHG-Umsetzung, die Einfluss auf Ziele und Wirkungen hat.

    Im nächsten Entwicklungsschritt werden aggregierte Interviewergebnisse über mehrere Jahre hinweg erfasst, evaluiert und zur operativen und strategischen Entwicklung nutzbar gemacht.

    Ferner können auch die aggregierten, visualisierten qualitativen Kommentare zur Rückkopplung der Ergebnisse genutzt werden. Die Trends aus den Interviews können gemeinsam mit der Klientel (in Gruppensitzungen oder in Arbeitskreisen) konkretisiert und für die Assistenz fruchtbar gemacht werden.

    Auf der Makroebene geht es um das Benchmarking von gleichen oder unterschiedlichen Einrichtungstypen, um Erkenntnisse darüber, wie Einrichtungstypen sich auf die Teilhabequalität der Klientel auswirken und welchen Einfluss bestimmte (auch externe) Faktoren haben. Diese Informationen sind zunächst losgelöst von der praktischen Einrichtungsebene und können nach Auswertung wieder in die Einrichtungen zurückgeführt werden. Zudem können die gewonnenen Erkenntnisse Eingang in den sozialpolitischen Diskurs finden (Kurz & Kubek, 2013).

    Letztlich geht es darum, die gewonnenen Erkenntnisse für die Betreuungssituation nutzbar zu machen. Wenn keine kausalen Wirkungsnachweise erbracht werden können, ist die Darstellung von Wirkungsplausibilität das Mittel der Wahl. Ein teilhabeorientiertes Interview weist in diesem Kontext im Vergleich zu Fremdratings oder anderen Verfahren deutliche Vorteile auf, vor allem ist die Durchführung der POS-Interviews im Arbeitsalltag wesentlich unaufwändiger als eine andere im wissenschaftlichen Setting durchgeführte Untersuchung. Interviews liefern außerdem zusätzlich Anamnesedaten und Erkenntnisse über Bedarfe.

    Mit der POS steht ein Instrument zur Verfügung, welches Aussagen zur Teilhabe und Wirkungsorientierung liefert. Dieses Instrument gilt es nun in der Kombination von Wissenschaft und Praxis zum Wohle der Klientel nutzbar zu machen, damit wir uns endlich über Ergebnisse austauschen, nicht bloß über Annahmen.

    Kontakt und Angaben zu denAutor:innen

    Frank Löbler
    Sozialwerk St. Georg e.V.
    Ressortleiter Qualität/Qualitätsmanagementbeauftragter
    Master Trainer POS-Deutschland
    Uechtingstraße 87, 45881 Gelsenkirchen
    Telefon: 0209 7004 320
    f.loebler@sozialwerk-st-georg.de

    Sandra Schneider
    Sozialwerk St. Georg e.V.
    Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    Ressort Qualität
    Telefon: 0209 7004 322
    S.Schneider@sozialwerk-st-georg.de

    David Schneider, Dipl.-Soziologe
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Evaluation & Bildungskoordination
    Gutleutstraße 160-164, 60327 Frankfurt
    Telefon: 069 743480 13
    david.schneider@jj-ev.de

    Konstantin Loukas, Dipl.-Soziologe
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Fachbereichsleitung Eingliederungshilfe
    Telefon: 069 743480-49
    konstantin.loukas@jj-ev.de

    Literatur:
    • Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt am Main.
    • Bernshausen, G., Löbler, F. (2019): Innovation personenbezogener Dienstleistungen als Prozess.
    • Busch, Hans-Joachim (2001): Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Weilerswist
    • Claes, C., Van Hove, G., van Loon, J., Vandevelde, S., & Schalock, R. L. (2010): Quality of life measurement in the field of intellectual disabilities: eight principles for assessing quality of life-related personal outcomes. SOCIAL INDICATORS RESEARCH, 98(1), 61–72. https://doi.org/10.1007/s11205-009-9517-7
    • DGQ – Deutsche Gesellschaft für Qualität (2019). Wirkung sozialer Dienstleistungen erfassen. Fachkreis QM in der sozialen Dienstleistung. Whitepaper, November 2019.
    • Deutscher Suchtkongress (2022): Neue Wege in Behandlung, Prävention und Forschung. Programmheft, Lübeck, S. 3 f.
    • Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2022): Eckpunkte zu Wirkung und Wirksamkeit in der Eingliederungshilfe (DV26/10), verabschiedet vom Präsidium am 07.12.2022.
    • Deutscher Bundestag. Unterrichtung durch die Bundesregierung (2022): Bericht zum Stand und zu den Ergebnissen der Maßnahmen nach Artikel 25 Absatz 2 des Bundesteilhabegesetzes. Drucksache 20/5150 vom 23.12.2023.
    • Flick, U. (2012): Qualitative Sozialforschung (Bd. 5. Auflage). Hamburg, 37.
    • Kurz, B., Kubek, D. (2013): Kursbuch Wirkung. Das Praxishandbuch für alle, die Gutes noch besser tun wollen. In Kooperation mit der Bertelsmann-Stiftung. Berlin. Online verfügbar https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_PHINEO_Kursbuch_Wirkung.pdf; letzter Zugriff 09.12.2022
    • Honneth, A. (Hg.) 2005): Befreiung aus der Mündigkeit. Frankfurt am Main. 141-159.
    • Menke, C., Rebentisch, J. (Hg.) (2010): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt am Main. 2010.
    • Merton, R. K., Kendall, L. P. (1979). Das fokussierte Interview. In: Hopf, C., und Weingarten, E. Qualitative Sozialforschung, 171.
    • Ottmann, S. K., König, J., Gander, C. (2021). Wirkungsmodelle in der Eingliederungshilfe. Zeitschrift für Evaluation, 20. Jahrgang, Heft 2, 319.
    • Rosa, H., (2005). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
    • Schalock R. L., Miguel A. Verdugo M. A., (2012). Handbook on Quality of Life for Human Service Practioners. Washington.
    • Schalock, R.L., Keith, K., Verdugo, M.A. & Gomez, L.E. (2010). Quality of Life Model Development and Use in the Field of Intellectual Disability. In: R. Kober (Hrsg.), Enhancing the Quality of Life of People with Intellectual Disabilities (S. 17-32). Dordrecht, Heidelberg, London, New York, 2012.
    • Sozial.de. Das Nachrichtenportal (2020), Interview mit Axel Rothstein und Frank Löbler, „Wer die guten Ergebnisse seiner Arbeit nicht nachweisen kann, hat das größere Problem“, 15.09.2020; https://www.sozial.de/wer-die-guten-ergebnisse-seiner-arbeit-nicht-nachweisen-kann-hat-das-groessere-problem.html; letzter Zugriff 28.04.2023
    • Sozialwerk St. Georg e.V. (2023): Bericht 2022. Qualität des Lebens/Personal Outcomes Scale. Broschüre, Gelsenkirchen.
    • Sozialwerk St. Georg e.V./Xit (2021): Qualität des Lebens von Menschen mit Assistenzbedarf – trotz Corona-Krise. Empirische Analyse der Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Eingliederungshilfe: Messung der Qualität des Lebens im Sozialwerk St. Georg mit der personal Outcomes Scale. Nürnberg/Gelsenkirchen.
    • Treischl, E., Tobias Wolbring, T. (2020): Wirkungsevaluation, Juventa 2020, 55.
    • van Loon, J. B., Bernshausen, G., Löbler, F., Buchenau M. (2012): POS Personal Outcomes Scale. Individuelle Qualität des Lebens messen. Gelsenkirchen. BoD.
    • Weilandt, T. (2019). https://www.dashoefer.de/newsletter/artikel/. Abgerufen am 10. Oktober 2022 von https://www.dashoefer.de/newsletter/artikel/
  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil III

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil III

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Im dritten Teil des Artikels „Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation“ stehen die Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung sowie Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit im Mittelpunkt. In Teil I und Teil II (erschienen am 26.08. und 09.09.2020) wurden bereits die Themen Nachfrage und Zugang, Fachkräftemangel, Digitalisierung sowie Therapie und Konzepte behandelt.

    e) Modularisierung

    In den Jahren 2011 bis 2015 erfolgte eine zunehmende Modularisierung des Leistungsangebotes in der Suchtrehabilitation. Es wurden verschiedene neue bzw. ergänzende Behandlungsformen entwickelt und durch entsprechende Rahmenkonzepte der Leistungsträger definiert.

    Mit dem Rahmenkonzept zur ganztägig ambulanten Suchtreha wurden 2011 die Anforderungen für eine noch relativ neue Behandlungsform festgelegt, für die auch die Bezeichnungen Tagesreha oder teilstationäre Reha verwendet werden. Zahlreiche Einrichtungen wurden seither neu eröffnet, viele davon sind aber nicht ausgelastet, und einige wurden auch schon wieder geschlossen, weil diese sehr kleinen Einrichtungen (häufig nur zwölf Plätze) kaum wirtschaftlich zu führen sind. Besonders nachgefragt wird die sog. ganztägig ambulante Entlassungsform. Das bedeutet, dass sich an eine (häufig verkürzte) stationäre Phase eine in der Regel vierwöchige Phase im ganztägig ambulanten Behandlungssetting anschließt. Seit 2007 haben sich Einrichtungen der ganztägig ambulanten Suchtreha über ein jährliches Bundestreffen vernetzt und arbeiten gemeinsam an der Lösung spezifischer Probleme wie bspw. der passenden Indikationsstellung in Abgrenzung zur ambulanten und stationären Reha, der Etablierung von 6-Tages-Konzepten mit Angeboten am Wochenende, dem Vergütungsausfall durch Krankheitstage der Rehabilitanden, den notwendigen Suchtmittelkontrollen beim täglichen Übergang zum Alltag und der Eignung dieser Behandlungsform für Drogenabhängige.

    Das Rahmenkonzept zur Nachsorge im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trat 2012 in Kraft. Damit wird eine deutliche Trennung der (sozialtherapeutischen) Reha-Nachsorge von der (suchttherapeutischen) ambulanten poststationären Reha-Behandlung definiert, mit erheblichen Folgen für die Angebotsstruktur in diesem Bereich. Therapiegruppen in der ambulanten Nachsorge und in der ambulanten Reha müssen nun getrennt durchgeführt werden, was zu immer kleineren Gruppen und einer abnehmenden Wirtschaftlichkeit für die Anbieter führt. Insbesondere im ländlichen Raum droht eine deutliche Reduzierung dieses Leistungsangebotes. Es folgten im Jahr 2015 weitere Rahmenkonzepte zur ambulanten bzw. ganztägig ambulanten Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen (stationären) Phase. Damit wurden wieder mehr Optionen für eine suchttherapeutische ambulante poststationäre Behandlung geschaffen.

    Mit dem Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung wurde im Jahr 2014 eine sehr weitgehende Möglichkeit für die kombinierte Durchführung verschiedener Behandlungsmodule bzw. Behandlungsphasen im Rahmen einer Kostenzusage geschaffen. Die einzelnen Phasen können in stationärer, ganztägig ambulanter oder ambulanter Form durchgeführt werden. In der Regel erfolgt im Anschluss an eine stationäre Rehabilitation eine Fortführung im ambulanten Setting. Für die Durchführung ist ein gemeinsames Konzept der beteiligten Leistungsanbieter erforderlich. Die Fallzahlen für diese Behandlungsform sind bundesweit eher gering. Allerdings konnte mit dem Konzept „Kombi-Nord“ der drei norddeutschen Regionalträger der DRV eine noch flexiblere Möglichkeit der Kombination unterschiedlicher Module geschaffen werden, bei der ein zeitlicher Rahmen für die Gesamtbehandlung definiert, Übergabegespräche beim Phasenwechsel festgelegt und eine Fallsteuerung ergänzt werden.

    Besonders im Fokus steht derzeit die Ambulante Reha Sucht (ARS), für die seit 2008 ein Rahmenkonzept der Leistungsträger existiert. Diese Leistungsform wurde vor rund 25 Jahren als ergänzendes Angebot in Fach- und Beratungsstellen entwickelt. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass dieses Angebot bei einem bundesweit einheitlich vorgegebenen Kostensatz und definierten Personal- und Strukturanforderungen der Leistungsträger kaum noch kostendeckend realisiert werden kann. Seit 2017 finden intensive Verhandlungen zwischen den Suchtverbänden und den Leistungsträgern statt, und es konnten einige organisatorische und finanzielle Verbesserungen vereinbart werden, bspw. wurde die Federführung für die Leistungsanbieter dem jeweiligen Regionalträger der DRV zugeordnet, und der Kostensatz wurde deutlich angehoben. Ob damit die langfristige Überlebensfähigkeit dieses wichtigen Leistungsangebotes sichergestellt werden kann, bleibt abzuwarten.

    Eine weitere besondere Leistungsform in der Suchtreha ist die Adaptionsbehandlung als zweite bzw. letzte Phase der stationären medizinischen Rehabilitation. Sie ist stärker als die vorangehende Entwöhnungsbehandlung auf die Aspekte Wohnung und Arbeit fokussiert. Mit der Verfahrensabsprache zur Adaptionsbehandlung haben sich die Leistungsträger 1994 erstmalig auf gemeinsame Rahmenbedingungen für die Behandlungsform verständigt. Seit 2007 gab es sozialrechtliche Auseinandersetzungen mit Teilen der Gesetzlichen Krankenversicherung, die den medizinischen Charakter und die Zuständigkeit für die Kostenübernahme betrafen. Mit einem Urteil des LSG Baden-Württemberg von 2017 wurde diese Frage aber letztlich so entschieden, dass die Adaption eindeutig der medizinischen (und nicht der sozialen) Reha zuzuordnen ist. Zu dem Ergebnis, dass die GKV die Kosten für die Adaptionsbehandlung übernehmen muss, kommt auch ein ganz aktueller Beschluss des Sozialgerichtes Oldenburg (17.07.2020). Die Deutsche Rentenversicherung hat 2017 eine Erhebung unter den Einrichtungen zur Bestandsaufnahme durchgeführt, da die konzeptionelle Entwicklung in den letzten 20 Jahren zu regionalen Unterschieden geführt hat. 2019 wurde ein Rahmenkonzept veröffentlicht, das eine inhaltliche Einordnung der Adaption in das Leistungsspektrum der Suchtrehabilitation bieten sowie einheitliche strukturelle und personelle Anforderungen beschreiben soll.

    Die folgende Übersicht (Tabelle 1), die 2016 von den Suchtverbänden als Hilfestellung für Träger und Einrichtungen erstellt wurde, zeigt die unterschiedlichen Leistungsformen im Gesamtzusammenhang:

    Tab. 1: Kombinationsmöglichkeiten von Behandlungsformen in der Suchtrehabilitation

    Vor dem Hintergrund dieser Modularisierung der Leistungsangebote können in der Suchtrehabilitation inzwischen sehr individuelle Behandlungsverläufe gestaltet werden, die allerdings erhebliche Anforderungen an das modul- bzw. phasenübergreifende Fallmanagement stellen. Das wirft für die Zukunft verstärkt die Fragen auf, wer dieses Fallmanagement leistet und wie diese zusätzliche Leistung vergütet werden soll. Eine mögliche weiterführende Perspektive könnte auch die Kombination mit Angeboten außerhalb der medizinischen Rehabilitation im Rahmen einer integrierten Versorgung sein. Ein sehr gutes Beispiel dafür, dass eine solche Vernetzung möglich ist und erhebliche Vorteile für die Leistungsberechtigten, die Leistungserbringer und die Leistungsträger bringt, ist das Modell „Alkohol 2020“, das in Wien erprobt wurde und mittlerweile in der Regelversorgung umgesetzt wird (vgl. Reuvers 2017: „Alkohol 2020“. Eine integrierte Versorgung von alkoholkranken Menschen in Wien).

    f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung

    Seit 2009 existiert in der medizinischen Reha eine gesetzliche Verpflichtung zur Zertifizierung der Systeme für das interne Qualitätsmanagement. Es gab es schon um das Jahr 2000 herum erste Überlegungen, wie die eher industriell geprägten Ansätze zur Umsetzung von Qualitätsmanagement für das Gesundheitswesen und die Sozialwirtschaft angepasst und praxisgerecht umgesetzt werden können. Ein Beispiel dafür ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie (deQus), die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert (www.dequs.de). Mittlerweile ist Qualitätsmanagement aus der Suchtrehabilitation nicht mehr wegzudenken und ein selbstverständlicher Teil des Arbeitsalltages geworden: Prozess- und Dokumentenmanagement helfen bei der Strukturierung der Arbeit, Patienten- und Mitarbeiterbefragungen werden als wichtige Rückmeldungen und Impulse für die Weiterentwicklung der Einrichtung gesehen, und in der Management-Bewertung werden jährlich Kennzahlen und andere wichtige Informationen zur Lage der Einrichtung bewertet. In den letzten Jahren haben der Umfang und die Komplexität der normativen Anforderungen, die nachweisbar zu erfüllten sind (Arbeitssicherheit, Brandschutz, Hygiene, Datenschutz, Risikomanagement etc.), deutlich zugenommen. Die Umsetzung wird in der Regel in das vorhandene QM-System integriert. Diese Anforderungen belasten die kleinen und mittelgroßen Einrichtungen in der Suchtrehabilitation deutlich mehr als größere Krankenhäuser, weil der Umsetzungsaufwand unabhängig von der Einrichtungsgröße ähnlich hoch ist: Die Personalausstattung ist jedoch sehr begrenzt, und für diese Sonderaufgaben sind in der Regel keine zusätzlichen Ressourcen im refinanzierten Stellenplan vorgesehen.

    In den Jahren 2014 bis 2016 erfolge eine umfassende Weiterentwicklung im Bereich der Verfahren für die externe Qualitätssicherung, die auch erhebliche Auswirkungen auf die Suchtrehabilitation haben. Die unterschiedlichen Instrumente im Reha-QS-Programm der Deutschen Rentenversicherung wurden an aktuelle fachliche und organisatorische Anforderungen angepasst: Anforderungen zur Strukturqualität (2014), einheitliches Visitationskonzept (2014), grundlegende Überarbeitung der Klassifikation Therapeutischer Leistungen (2015), Auswertungen zur KTL-Statistik (2015), neue Checkliste für die Bewertung im Peer-Review-Verfahren (2016) und Aktualisierung der Reha-Therapiestandards (2016). Darüber hinaus werden mit der Rehabilitanden-Befragung Daten zur Rehabilitanden-Zufriedenheit und zum subjektiven Behandlungserfolg erhoben. Zusammen mit der Laufzeit der Entlassungsberichte und der Beschwerdequote steht somit ein sehr umfangreiches Bewertungssystem für die Qualität von Reha-Einrichtungen zur Verfügung. Die meisten Kennzahlen werden in ein 100-Punkte-System umgerechnet, so dass die Kennzahlen verschiedener Einrichtungen unmittelbar verglichen werden können. Zusätzlich wurde 2017 das Verfahren des „Strukturierten Qualitätsdialoges“ eingeführt, bei dem Einrichtungen zu Stellungnahmen aufgefordert werden, falls absolute oder relative Schwellenwerte unterschritten werden.

    Die Ergebnisse der externen Qualitätssicherung sollen zukünftig immer stärker in die Belegungssteuerung und die Vergütungsverhandlungen einbezogen werden. Dabei sind allerdings einige Probleme zu bedenken:

    • Die QS-Daten bilden nur einen Teil der tatsächlichen Qualität der Einrichtungen ab, bspw. werden Behandlungsergebnisse kaum berücksichtigt.
    • Für kleine Einrichtungen liegen wegen der geringen Fallzahlen tw. nur unvollständige QS-Daten vor.
    • Die Auswertungen zu den QS-Daten enthalten immer wieder Fehler, die bei der Übertragung oder Aggregation der Daten entstehen und nur mit großen Aufwand zu identifizieren sind.
    • Die QS-Daten sind nicht immer aktuell, weil bspw. nach einer Visitation Mängel, die zu einer geringen Punktzahl geführt haben, unmittelbar abgestellt werden, aber keine Neubewertung erfolgt.

    Die Suchtrehabilitation hat außerdem eine lange Tradition im Bereich Dokumentation und Statistik, weil der Nutzen der Auswertung von Behandlungsdaten früh erkannt wurde. 1974 erfolgte die erste gemeinsame, einrichtungsübergreifende Dokumentation in der ambulanten Suchthilfe mit dem System EBIS. Der Deutsche Kerndatensatz (KDS) für eine einheitliche Dokumentation in psychosozialen Beratungsstellen und stationären Einrichtungen der Suchthilfe wurde 1998 eingeführt. Damit wurde die Grundlage für eine bundesweit einheitliche Datenerfassung und statistische Analyse geschaffen (Deutsche Suchthilfestatistik www.suchthilfestatistik.de). Für den ab 2017 gültigen KDS 3.0 wurden vom Fachausschuss Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) umfangreiche Überarbeitungen des KDS vorgenommen. Der neue KDS berücksichtigt nun die nationalen, kommunalen, regionalen und einrichtungsseitigen Anforderungen umfassender und integriert auch die Spezifikationen, die sich aus den europäischen Vorgaben ergeben. Die Dokumentation ist insgesamt aufwändiger geworden, weil versucht wurde, die zunehmende Komplexität der Hilfen und Angebote in der Suchthilfe besser abzubilden. Das hat zunächst dazu geführt, dass die Vollständigkeit und Qualität der in den Einrichtungen erhobenen und in der Suchthilfestatistik zusammengeführten Daten leider nicht besser geworden ist.

    Während die Suchthilfestatistik vor allem die Basisdaten abbildet, d. h. es werden Informationen zu Beginn und am Ende der Behandlung abgefragt, führen viele Einrichtungen zusätzlich katamnestische Befragungen ein Jahr nach Behandlungsende durch. Damit liegen wichtige und umfangreiche Daten zur Ergebnisqualität und zur Wirksamkeit der Suchtbehandlung vor. Die ergänzenden Analysen und Statistiken zu diesen Katamnesedaten sind auf den Internetseiten der Suchtverbände (buss/Basis- und Katamnesedaten, FVS/Wirksamkeitsstudien, FVS/Basisdokumentation) zu finden. Ein zentrales Problem bei katamnestischen Befragungen ist der häufig geringe Rücklauf und die Einschätzung der Situation (bspw. Abstinenz, soziale und berufliche Integration) bei den sog. Non-Respondern. Dazu wurde in den vergangenen Jahren ein aus Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit gefördertes Forschungsprojekt am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité durchgeführt, das wichtige Erkenntnisse und wertvolle Hinweise für die zukünftige Durchführung der Katamnese-Befragungen gebracht hat.

    g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit

    In den letzten Jahren wurde u. a. vom Bundesrechnungshof und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) das Leistungsgeschehen im Bereich der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung analysiert und in diesem Zusammenhang eine fehlende Transparenz im „Reha-Markt“ kritisiert. Dabei wurde auch die Frage diskutiert, ob die Beschaffung von Rehabilitationsleistungen durch die Deutsche Rentenversicherung nicht dem öffentlichen Vergaberecht unterliegt und möglicherweise im Rahmen von Ausschreibungen erfolgen muss. Auf der Grundlage der „verbindlichen Entscheidung zur Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ wurde daher 2017 ein zweistufiger Prozess mit folgenden Regelungen definiert:

    • Offenes Zulassungsverfahren – Jeder geeignete Anbieter erhält nach einer Qualitätsprüfung einen Belegungsvertrag und wird von einem federführenden Träger der DRV betreut. Mit dem Belegungsvertrag ist allerdings keine Belegungsgarantie verbunden.
    • Transparentes Belegungsverfahren – Die Einrichtungsauswahl für einen konkreten Fall nach Bewilligung eines Rehaantrages folgt einem definierten Algorithmus (u. a. medizinische Indikation, Komorbidität, Sonderanforderungen, Wunsch- und Wahlrecht, Setting) und wird nachvollziehbar dokumentiert. Stehen mehrere Einrichtungen zur Verfügung, erfolgt die Zuweisungsentscheidung nach einem Bewertungssystem mit den Kriterien Qualität, Preis, Wartezeit und Entfernung zum Wohnort.

    Aus Sicht der Leistungserbringer muss dieser Prozess allerdings um eine weitere, dritte Stufe ergänzt werden, die die Vereinbarung einer angemessenen und leistungsbezogenen Vergütung regelt und dabei auch die Kostenstrukturen im Einrichtungsvergleich berücksichtigt. Bislang wurden von den Leistungsträgern nur Rahmenbedingungen für eine jährliche relative Anpassung der Vergütungssätze (Orientierung an einem „Reha-Index“ und an einer „Marktpreisbandbreite“) festgelegt.

    Mit dem 2018 erschienenen Gutachten „Angemessene Vergütung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Zuständigkeitsbereich der Deutschen Rentenversicherung“ wurde ein Vorschlag zur Festlegung einer angemessenen Vergütung vorgelegt. Da aus Sicht der Gutachter wegen der Marktmacht der Rentenversicherungsträger das vom Gesetzgeber gewollte Wettbewerbskonzept versagt, ist die Vergütung der Rehabilitationsleistungen nach Maßgabe eines zweistufigen Verfahrens aus Kostenprüfung und Vergütungsvergleich zu ermitteln, welches das Bundessozialgericht für andere nicht wettbewerblich strukturierte Leistungserbringermärkte entwickelt hat.

    Das BMAS hat im Dezember 2019 den Referentenentwurf für ein Gesetz zur Regelung der Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Weiterentwicklung des Übergangsgeldanspruchs – Medizinisches Rehabilitationsleistungen-Beschaffungsgesetz (MedRehaBeschG) vorgelegt. In der Einführung zu dem Entwurf wird hervorgehoben, dass das bislang praktizierte offene Zulassungsverfahren die im Europäischen Vergaberecht eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten bereits genutzt hat, nun aber eine entsprechende gesetzliche Grundlage geschaffen werden soll. Diese bezieht sich insbesondere auf

    • die Zulassung und die konkrete Inanspruchnahme (Belegung) von Rehabilitationseinrichtungen nach objektiv festgelegten Anforderungen,
    • die Regelung des „Federführungsprinzips“ sowie
    • die Entwicklung eines verbindlichen, transparenten, nachvollziehbaren und diskriminierungsfreien Vergütungssystems zur Ermittlung, Bemessung und Gewichtung der an die Rehabilitationseinrichtungen zu zahlenden Vergütungen (bis Ende 2025).

    Am 26. August 2020 wurde der „Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen (Gesetz Digitale Rentenübersicht)“ innerhalb der Bundesregierung beschlossen, in dem auch die o. g. Regelungen zur Beschaffung von medizinischen Rehabilitationsleistungen enthalten sind. Darin ist festgelegt, dass die DRV Bund bis 30. Juni 2023 verbindliche Entscheidungen zu folgenden Regelungen vorlegen muss:

    • Anforderungen für die Zulassung von Reha-Einrichtungen
    • Ausgestaltung des Vergütungssystems
    • Kriterien für die Inanspruchnahme von Reha-Einrichtungen
    • Daten der externen QS und deren Veröffentlichung

    Die Entwicklung des Vergütungssystems soll zusätzlich wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Dabei sind folgende Kriterien zu beachten, wobei die Bewertungsrelation gegenüber dem Referentenentwurf neu hinzugekommen ist:

    • die Indikation,
    • die Form der Leistungserbringung,
    • spezifische konzeptuelle Aspekte und besondere medizinische Bedarfe,
    • ein geeignetes Konzept der Bewertungsrelationen zur Gewichtung der Rehabilitationsleistungen und
    • eine geeignete Datengrundlage für die Kalkulation der Bewertungsrelationen.

    Es wird außerdem festgelegt, dass bei der Vereinbarung der Vergütung zwischen dem Federführer und der Reha-Einrichtung folgende Aspekte zu berücksichtigen sind (neu ist in dem Regierungsentwurf der regionale Faktor):

    • leistungsspezifische Besonderheiten, Innovationen, neue Konzepte, Methoden,
    • der regionale Faktor und
    • tariflich vereinbarte Vergütungen sowie entsprechende Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen.

    Bei den Verfahren für die Zulassung und die Belegung sind keine wesentlichen Änderungen zum bisherigen Vorgehen der DRV erkennbar. Von besonderem Interesse für die Leistungserbringer wird allerdings die Ausgestaltung des Vergütungssystems sein, denn neben der Belegung ist die Vergütung der zweite wesentliche Faktor für die Wirtschaftlichkeit einer Reha-Einrichtung.

    Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind für die Träger und Einrichtungen in der Suchtrehabilitation in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Auf der einen Seite werden von den Leistungsträgern hohe Qualitätsanforderungen in den Bereichen Struktur, Personal und Konzept formuliert, deren Erfüllung teilweise unter Androhung von Sanktionen eingefordert wird. Auf der anderen Seite existieren durch die „Macht-Asymmetrie“ im Reha-Markt nur begrenzte Möglichkeiten zur Verhandlung von kostendeckenden Vergütungen. Damit bleibt den Betreibern von Einrichtung nur ein geringer ökonomischer Handlungsspielraum.

    Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es in der Suchtrehabilitation (traditionell) viele kleine Einrichtungen gibt, mit einer deutlich geringeren Platzzahl als üblicherweise in der somatischen oder psychosomatischen Rehabilitation. Wenn man als „klein“ eine Einrichtung mit bis zu 50 Betten bzw. Plätzen definiert, dann macht das bei den Fachkliniken ca. 100 von 180 Einrichtungen (60 Prozent) und ca. 4.000 von 13.000 Plätzen (30 Prozent) aus. Tagesreha- und Adaptionseinrichtungen sind mit durchschnittlich zwölf Plätzen noch kleinere Organisationseinheiten. Diese Einrichtungen genießen eine hohe Wertschätzung bei Leistungsträgern, Zuweisern und Rehabilitanden, weil sie ein „familiäres“ Therapiesetting bieten, bei dem viele positive Effekte einer „therapeutischen Gemeinschaft“ ihre Wirkung entfalten können. Sie sind häufig auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet und können ein deutliches konzeptionelles Profil zeigen. Und für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist die Arbeit in einem übersichtlichen Team sehr attraktiv. Allerdings gibt es auch einige erhebliche Nachteile, die letztlich auch zu wirtschaftlichen Problemen führen und zu der Frage, ob diese Einrichtungen noch eine Zukunft haben:

    • hoher Anteil an Fixkosten (bspw. für Nachtdienste oder Qualitätsmanagement), die sich in größeren Einrichtungen besser verteilen lassen,
    • minimale und deshalb nicht attraktive und kaum zu besetzende Stellenanteile bei einigen sehr spezialisierten Berufsgruppen,
    • geringe personelle Redundanz und somit Vertretungsprobleme insbesondere bei längeren ungeplanten Abwesenheiten,
    • hohe Anfälligkeit für Belegungsschwankungen, weil ein einzelnes Aufnahme- oder Entlassungsereignis relativ gesehen stärker ins Gewicht fällt.

    In den vergangenen Jahren konnte neben der Schließung von Einrichtungen vor allem auch vermehrt die Zusammenlegung von Einrichtungen, die Übernahmen von Einrichtungen durch größere Träger oder auch die Fusion von Trägern beobachtet werden. Wichtig ist dabei zum einen, dass es sich bei den Schließungen nicht um eine „Marktbereinigung“ handelt, denn die Nachfrage folgt bei Abhängigkeitserkrankungen nicht den üblichen Marktgesetzen. Es sind bereits dort regionale Versorgungslücken entstanden, wo ambulante und stationäre Angebote unabhängig vom Bedarf bzw. der Nachfrage eingestellt werden mussten. Zum anderen führen Fusionen nicht automatisch zu einer besseren Wirtschaftlichkeit von Trägern und Einrichtungen, Größe allein ist kein Erfolgsfaktor. Das Profil einer Einrichtung, die speziellen therapeutischen Angebote und eine klare Definition der Zielgruppen sind wichtige Faktoren für die Zusammenarbeit mit Zuweisern. Erfolgreich sind in der Regel die Träger, die eine Diversifizierung der Angebote betreiben, die verschiedene Leistungsbereiche integrieren und die in der Lage sind, selbst oder in Kooperation mit anderen Träger funktionierende Behandlungsketten zu etablieren.

    Wie könnte es weitergehen?

    Die vorstehende Beschreibung von aktuellen Trends und Themen, die die Arbeit in der Suchtrehabilitation aktuell und zukünftig beeinflussen, ist lang und komplex, aber vermutlich nicht umfassend. Für die Führungskräfte, die in den Trägern und Einrichtungen Verantwortung für viele Menschen und Arbeitsplätze tragen, ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

    Es wurde bereits eingangs erwähnt, dass die Suchthilfe im Allgemeinen und die Suchtreha im Besonderen einen traditionell hohen Organisationsgrad haben, d. h., es existieren zahlreiche Kooperationen, Netzwerke, Verbände und Fachgesellschaften. Dadurch wird eine besondere Kooperationskultur geprägt, die ein altes Prinzip der Suchtselbsthilfe aufgreift und auf die Ebene von Einrichtungen überträgt: Im kollegialen Austausch lassen sich viele Probleme deutlich besser lösen, und durch ein gemeinsames Auftreten lässt sich die Vertretung der eigenen Interessen „schlagkräftiger“ organisieren. Daher kann es hilfreich sein, bei der Bearbeitung der angesprochenen Zukunftsthemen und Herausforderungen eine individuelle Ebene (Einrichtung, Träger) und eine gemeinschaftliche Ebene (Netzwerke, Verbände) zu unterscheiden und die anstehenden Aufgaben entsprechend zu verteilen (vgl. Tabelle 2).

    Tab. 2: Individuelle und gemeinschaftliche Handlungsebenen in der Suchtreha

    Natürlich muss jede verantwortliche Führungskraft die eigenen „Hausaufgaben“ machen. Aber es ist eine gute Tradition in der Suchthilfe, sich Rat von anderen „Peers“ zu holen, und manche Probleme werden allein schon durch die Erkenntnis kleiner, dass andere auch keine bessere Lösung haben.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Anforderungen an ein Bewertungs-
    und Steuerungssystem im Bereich der medizinischen Reha

    Stellungnahme der AG MedReha: 
    Grundsätzliche Anforderungen an ein Rehabewertungs- und Steuerungssystem im Bereich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation der Rentenversicherung aus Sicht der Verbände der Leistungserbringer

    Vom Grundsatz her befürworten die Verbände der Leistungserbringer die Weiterentwicklung einer qualitätsorientierten Steuerung und Belegung im Bereich der medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherungsträger. Diese sollte alle Rehabilitationseinrichtungen gleich welcher Trägerschaft betreffen. Grundlage dafür ist, dass verlässliche und ausreichende Beurteilungsgrundlagen über die Qualität von miteinander vergleichbaren Rehabilitationseinrichtungen vorliegen. Hierbei sind die verschiedenen Dimensionen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zu berücksichtigen, wobei perspektivisch der Ergebnisqualität eine wesentlichere Bedeutung zugeteilt werden sollte. Anforderungen an ein Reha-Bewertungssystem werden aus Sicht der Leistungserbringer im Weiteren beschrieben.

    1. Repräsentativität des Verfahrens

    Die Rentenversicherungsträger müssen dafür Sorge tragen, dass alle von ihnen federgeführten Rehabilitationseinrichtungen am Reha-Bewertungssystem teilnehmen und sich (möglichst) alle Rehabilitationseinrichtungen in allen Qualitätsdimensionen im Rahmen der externen Qualitätssicherung abbilden lassen. Dies ist derzeit noch nicht in allen Indikationsbereichen gewährleistet. Voraussetzung für die Abschätzung der Repräsentativität des Verfahrens ist es, die indikationsspezifischen Grundgesamtheiten der Fachkliniken/Abteilungen zu kennen und diese auch in den jeweiligen Qualitätsberichten von den Herausgebern anzugeben. Es stellt keine praktikable Lösung dar, eine Rehabilitationseinrichtung bei fehlenden Werten zu einer spezifischen Qualitätsdimension auf den Durchschnittswert zu stellen, zumal derzeit lediglich fünf Qualitätsdimensionen erfasst werden (Patientenzufriedenheit, subjektiver Behandlungserfolg, Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL), Reha-Therapiestandards [nur bei einzelnen Indikationen], Peer-Review-Verfahren). Mit einer zu geringen Abbildung einer Einrichtung in den verschiedenen Qualitätsdimensionen fehlt für diese eine entsprechende Grundlage für qualitätsorientierte Einrichtungsvergleiche. Zudem kann eine entsprechende Einrichtung dann auch keine zusätzlichen Konsistenzpunkte erreichen. Von daher sind die Realisierung sowohl der technischen Voraussetzungen innerhalb der Rentensicherung zur elektronischen Datenübermittlung wie auch die Ausweitung der Datenbasis für Einrichtungen, die derzeit nur ungenügend mittels des QS Verfahrens abgebildet werden, von zentraler Bedeutung für die Erweiterung der Vergleichsbasis.

    Von daher ist auch die Repräsentativität der einrichtungsbezogenen Stichproben bei der Patientenbefragung zu gewährleisten. So sind Mindestquoten für die erforderlichen Rückläufe einer Einrichtung bei der Patientenbefragung festzulegen, auf deren Basis dann aussagefähige Schlüsse gezogen werden können.

    2. Bildung von Vergleichsgruppen (auf Einrichtungs- und Patientenebene)

    Die Bildung gerechter Vergleiche von Einrichtungen erfordert, dass diese sich hinsichtlich der Einrichtungsmerkmale und der behandelten Patientengruppen nicht bzw. nur geringfügig voneinander unterscheiden dürfen. Von daher wäre die Bildung von Fachabteilungsschlüsseln für möglichst homogene Patientengruppen eine wesentliche Voraussetzung dafür, gerechte Vergleiche ziehen zu können. Hierbei sind auch die ICD-Haupt- und Nebendiagnosen zu beachten sowie die spezifischen Teilhabebedarfe der jeweiligen Patienten. Beispielsweise befinden sich in den Abteilungen der Inneren Medizin oder auch der Psychosomatik heterogene Patientenklientel, die einer differenzierten Betrachtung hinsichtlich der Definition von Qualitätsparametern und der Beurteilung eines Rehabilitationserfolges bedürfen. Bei der Bildung möglichst differenzierter Vergleichsgruppen ist dabei immer auch die Anzahl der in den jeweiligen Vergleichsgruppen befindlichen Fachabteilungen im Blick zu behalten, um eine ausreichende Datengrundlage gewährleisten zu können.

    Wir begrüßen es, dass eine Risikoadjustierung bereits bei der Patientenbefragung erfolgt und die entsprechende Methodik derzeit überprüft und angepasst wird. Wir schlagen zudem vor, – sofern erforderlich – auch die Qualitätsvorgaben hinsichtlich spezifischer Bedarfe von Patientengruppen zu spezifizieren (z.B. erforderliche Anzahl und Inhalte von Leistungen für rehabilitationsbedürftige Mütter mit Kindern in der Rehabilitationseinrichtung bei KTL).

    3. Visitationen und Transparenz der Ergebnisse

    Visitationen spielen im Kontext des QS-Programms der Rentenversicherung eine sehr zentrale Rolle, denn diese finden vor Ort in der Rehabilitationseinrichtung statt und bieten damit die Möglichkeit, sich ein realistisches Bild der Rehabilitationseinrichtung zu verschaffen und Ergebnisse des QS- Programms sowie weitere qualitätsrelevante Aspekte zu besprechen.

    Sicherzustellen ist, dass erfolgte Nachbesserungen nach einer durchgeführten Visitation oder einem strukturierten Qualitätsdialog in die entsprechenden Datenbanken der Leistungsträger direkt eingepflegt werden. Die zuweisungsrelevante Datenlage muss immer auf dem aktuellen Stand sein, eventuelle Nachbesserungen müssen zeitnah berücksichtigt werden. Zudem müssen aus Sicht der Leistungserbringer unter dem Aspekt der Transparenz die dokumentierten und in den entsprechenden Datenbanken hinterlegten Visitationsergebnisse und alle weiteren Daten den Einrichtungen voll vollumfänglich zugänglich gemacht werden.

    4. Aktualität der QS-Ergebnisse

    Erforderlich ist die Gewährleistung einer möglichst hohen Aktualität der QS-Ergebnisse der Rentenversicherung in allen Qualitätsdimensionen. Aus Sicht der Verbände der Leistungserbringer sollten die entsprechenden QS-Daten mindestens jährlich erhoben werden, um eine Festschreibung einer Rehabilitationseinrichtung auf bereits veraltete Werte nach Möglichkeit zu verhindern.

    5. Validität der Qualitätsergebnisse

    Es ist zu gewährleisten, dass die von der DRV erhobenen Qualitätsergebnisse valide sind. Im Falle erforderlicher Korrekturen auf Basis plausibler Rückmeldungen einer Rehabilitationseinrichtung ist sicherzustellen, dass die in den Datenbanken der Leistungsträger dokumentierten QS-Ergebnisse auch unmittelbar entsprechend verändert werden.

    6. Erweiterung der Qualitätsdimensionen

    Erforderlich ist aus Sicht der Verbände der Leistungserbringer, dass die Qualitätsdimensionen im Rahmen des QS-Programms der Rentenversicherung erweitert werden, zumal zu erwarten ist, dass bei verschiedenen derzeitigen Qualitätsdimensionen (KTL, RTS) zukünftig „Deckeneffekte“ eintreten werden. Dies bedeutet, dass hier mit einer Nivellierung der Unterschiede in naher Zukunft zu rechnen sein wird.

    Die Dimension „Ergebnisqualität“ wird derzeit nur rudimentär im QS Programm abgebildet. Vorgeschlagen wird im Rahmen der zukünftigen Weiterentwicklung ein zusätzliches indikationsbezogenes QS- Instrument für diese Qualitätsdimension zu schaffen, mit dem sich nicht nur Unterschiede zu Beginn und am Ende der medizinischen Rehabilitationsleistung, sondern auch der längerfristige Behandlungserfolg erfassen und abbilden lassen. Bei der Erfolgsmessung ist zudem eine spezifische Risikoadjustierung erforderlich.

    7. Personelle Ressourcen und Einbezug der Verbände der Leistungserbringer

    Die Weiterentwicklung und Umsetzung des QS-Programms erfordert gerade auch vor dem Hintergrund, dass Qualität steuerungsrelevant sein soll, erhebliche personelle und strukturelle Ressourcen – auch auf Seiten der Leistungsträger. Zudem sollte die Weiterentwicklung eines qualitätsorientierten Steuerungs- und Bewertungssystems in gemeinsamer Kooperation der Rentenversicherungsträger mit den Verbänden der Leistungserbringer auf Augenhöhe erfolgen. Die Vertreter der Leistungserbringer sollten als Reha-Experten dabei unbedingt von Beginn an einbezogen und auch an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden.

    Quelle: AG MedReha, 24.01.2019

  • Wie wirksam ist die Suchtrehabilitationsbehandlung?

    Zur Wirksamkeit der abstinenzorientierten Suchtrehabilitationsbehandlung liegen zwar keine randomisierten Kontrollgruppenstudien vor, aber die in den großen Fachverbänden zusammengeschlossenen Rehabilitationseinrichtungen führen regelmäßige Katamnesebefragungen der entlassenen Patientinnen und Patienten durch. Die aktuellen Daten vermitteln ein differenziertes Bild der Rehabilitationsbehandlung.

    Standards zur Berechnung der Erfolgsquote

    Katamnesebefragungen in der Suchthilfe orientieren sich in Deutschland seit vielen Jahren an den Katamnesestandards der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Diesen Standards zufolge sollen Katamnesebefragungen regelmäßig ein Jahr nach der Entlassung aus der Behandlung als Vollerhebung durchgeführt werden. Zur Berechnung der Erfolgsquote werden vier verschiedene Standards errechnet, die sich hinsichtlich der Bezugsgröße (nur regulär entlassene Patientinnen und Patienten oder alle Patientinnen und Patienten) und hinsichtlich der Behandlung unklarer Fälle und so genannter Non-Responder (Entlassene, die sich nicht an der Katamnesbefragung beteiligt haben) unterscheiden. Die höchsten Erfolgsquoten berechnen sich mit dem DGSS-Standard 1, der sich nur auf reguläre Entlassungen und nur auf die Responder bezieht. Die niedrigste Erfolgsquote ergibt DGSS-Standard 4, der sich auf alle Patientinnen und Patienten (also auch auf nicht regulär entlassene) bezieht und alle unklaren Fälle und Non-Responder als Rückfälle und somit nicht erfolgreiche Fälle behandelt.

    In der abstinenzorientierten Rehabilitation gilt als erfolgreich, wer ein Jahr nach der Entlassung dauerhaft abstinent oder nach einem oder mehreren Rückfällen mindestens seit 30 Tagen abstinent lebt. Standard 1 führt zu einer Überschätzung, Standard 4 zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Anzahl abstinent lebender ehemaliger Patientinnen und Patienten. Da Standard 4 dem international üblichen intention-to-treat-Konzept entspricht, beziehen sich alle folgenden Erfolgsdaten auf diesen Standard.

    Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige

    Der Fachverband Sucht e.V. (FVS) hat 2017 die Katamnesedaten für den Entlassjahrgang 2014 veröffentlicht. In den Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt die katamnestische Erfolgsquote für den konservativen Standard 4 bezogen auf 11.033 ehemalige Patientinnen und Patienten bei 40,9 Prozent. Betrachtet man die katamnestische Erfolgsquote über einen längeren Zeitraum, so zeigt sich ein langsamer, aber stetiger Rückgang. Um ältere Katamneseergebnisse vergleichen zu können, muss man sich dabei auf das frühere Erfolgskriterium „Abstinenz nach Rückfall drei Monate“ beziehen. In den 1990er Jahren lag die Erfolgsquote danach über oder um die 50 Prozent, zwischen 2000 und 2009 über 40 Prozent und seit 2010 unter 40 Prozent, für den Entlassjahrgang 2014 nach diesem älteren Kriterium bei 37,4 Prozent.

    Frauen sind erfolgreicher als Männer, über 40-Jährige erfolgreicher als Jüngere. Am höchsten liegt die katamnestische Erfolgsquote bei einer Behandlungsdauer von zwölf bis 16 Wochen, sowohl bei kürzerer als auch bei längerer Behandlungsdauer geht die Erfolgsquote zurück. Weitere Faktoren, die mit einer höheren Erfolgsquote korrelieren, sind feste Partnerschaften, Erwerbstätigkeit vor der Aufnahme sowie ein planmäßiger Behandlungsabschluss. Die Abhängigkeitsdauer steht nicht in einem signifikanten Zusammenhang mit dem Behandlungserfolg. In knapp 85 Prozent der Fälle ist die Rentenversicherung der Kostenträger und in rund 13 Prozent eine Krankenkasse. Die Arbeitsunfähigkeit geht zwischen Therapiebeginn und Katamnesezeitpunkt deutlich zurück (von 62 auf 39 Prozent), während der Anteil der Erwerbstätigen nur moderat (von 46 auf 52 Prozent) steigt.

    Vom Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) liegen seit August 2017 die Katamnesedaten für den Entlassjahrgang 2015 vor. Die katamnestische Erfolgsquote liegt diesen Daten zufolge bei 38,6 Prozent.

    Tageskliniken

    In Tageskliniken, in denen eine ganztägige ambulante Suchtrehabilitationsbehandlung angeboten wird, liegen die katamnestischen Erfolgsquoten bei der Auswertung des FVS (Entlassjahrgang 2014) bei einer Gesamtzahl entlassener Patientinnen und Patienten von 336 bei 40,5 Prozent, beim buss (Entlassjahrgang 2015) bei einer Gesamtzahl von 183 bei 37,7 Prozent, insgesamt also ungefähr auf dem Niveau der stationären Behandlung in den Fachkliniken. Die Merkmale der Klientel unterscheiden sich allerdings: In der ganztägig ambulanten Rehabilitation der FVS-Einrichtungen sind mehr Frauen, mehr Ältere, mehr Erwerbstätige und mehr Klientinnen bzw. Klienten, die in einer festen Partnerschaft leben, als in den Fachkliniken des FVS.

    Ambulante Suchtrehabilitation

    Bereits 2016 haben Caritas und Diakonie Ergebnisse ihrer Katamnesebefragung zur ambulanten Suchtrehabilitation in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen für den Entlassjahrgang 2014 vorgestellt. Befragt wurden 2.791 Personen, von denen 85 Prozent wegen einer Alkohol- oder Medikamentendiagnose und der Rest wegen illegaler Drogen oder pathologischem Glückspiel in Behandlung waren. Je nachdem, ob alle Einrichtungen oder nur diejenigen mit einem Rücklauf von mindestens 45 Prozent betrachtet werden, lag die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS-4-Standard zwischen 49,6 und 52,4 Prozent und damit höher als in der stationären und ganztägig ambulanten Rehabilitation. In der ambulanten Rehabilitation waren mehr Frauen, mehr Erwerbstätige, weniger Bezieher von Arbeitslosengeld 1 und 2 und mehr Patientinnen in festen Beziehungen als in den Fach-kliniken und in den Tageskliniken.

    Fachkliniken für Drogenabhängige

    Deutlich niedriger liegt die katamnestische Erfolgsquote in der stationären abstinenzorientierten Drogenrehabilitation. Bei einer deutlich geringeren Rücklaufquote als in den Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt der Anteil der Abstinenten (dauerhaft und 30 Tage nach Rückfall) auf der Basis von 253 Fällen in der buss-Katamnese in Drogeneinrichtungen bei 22,5 Prozent. Die FVS-Katamnese errechnet auf der Grundlage von 1.508 Fällen eine Erfolgsquote von 23,8 Prozent. Dabei differenziert die Katamnese des Fachverbandes Sucht in Fachkliniken für Drogenrehabilitation zwischen verschiedenen Substanzen. Während die Erfolgsquote bei Cannabis, Kokain und Stimulanzien zwischen 24,6 und 27,6 Prozent schwankt, liegt sie für Opioide bei 11,9 Prozent. Wie nicht anders zu erwarten, unterscheiden sich die Merkmale der Rehabilitand/innen in Drogeneinrichtungen deutlich von den Merkmalen der Rehabilitand/innen in Alkoholeinrichtungen: In den Drogeneinrichtungen war das Durchschnittsalter mit 29,8 Jahren gut 16 Jahre jünger als in den Alkoholeinrichtungen (46,2 Jahre). Der Anteil der Erwerbstätigen, der regulären Beendigungen und der Patientinnen und Patienten mit einer festen Partnerbeziehung liegt in den Drogeneinrichtungen jeweils deutlich niedriger als in den Alkoholeinrichtungen.

    Quelle: HLS-Forschungsbrief, Ausgabe 48/Dezember 2017
    Download des gesamten Forschungsbriefes sowie früherer Ausgaben unter:
    https://www.hls-online.org/service/materialien/hls-forschungsbriefe/

    Literatur:
    • Bachmeier, R., Feindel, H., Herder, F. et al. (2017): Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2014 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht-Aktuell, 24: 53-69.
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Alkoholeinrichtungen. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Tageskliniken. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Drogeneinrichtungen. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Fischer, M., Kemmann, D., Domma-Reichart, J. et al. (2017): Effektivität der stationären abstinenzorientierten Drogenrehabilitation. FVS- Katamnese des Entlassjahrgangs 2014 von Fachkliniken für Drogenrehabilitation. SuchtAktuell, 24: 70-78.
    • Medenwaldt, J. (2016): Katamnesen Ambulante Rehabilitation Sucht von DCV und GVS – Wesentliche Ergebnisse aus vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016. Online unter: http://www.sucht.org/angebote/publikationen/dokumentation/ergebnisse-der-katamnesen-ambulante-rehabilitation-sucht-wirkungsdialog-und-daraus-abgeleitete-perspektiven/
    • Schneider, B., Mielke, D., Bachmeier, R. et al. (2017): Effektivität der Ganztägig Ambulanten Suchtrehabilitation – Fachverband Sucht – Katamnese des Entlassjahrganges 2014 aus Einrichtungen Alkohol- und Medikamentenabhängiger. SuchtAktuell, 24: 90-100.
  • Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht

    Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht

    Renate Walter-Hamann
    Dr. Theo Wessel

    Der Deutsche Caritasverband (DCV) und der Gesamtverband für Suchthilfe – Fachverband der Diakonie Deutschland (GVS) haben im Jahr 2012 mit der Einführung von Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) begonnen und mittlerweile Ergebnisse aus vier Erhebungsjahrgängen (2013 bis 2016 = Entlassjahrgänge 2011 bis 2014) vorliegen. Im „Jahrbuch Sucht 2015“ (hrsg. v. DHS) sind die Ergebnisse der beiden ersten Entlassjahrgänge 2011 und 2012 dargestellt (S. 199–213). Im Rahmen des verbandsübergreifenden Fachtages „Ergebnisse der Katamnesen Ambulante Rehabilitation Sucht – Wirkungsdialog und daraus abgeleitete Perspektiven“ am 15.11.2016 in Frankfurt am Main wurden die Ergebnisse aller vorliegenden Entlassjahrgänge bei alkoholbezogener Störung (F10, ICD-10) dargestellt. Vorgestellt wurden außerdem Katamnesedaten zur ambulanten Rehabilitation bei Pathologischem Glückspiel (F63, ICD-10) und bei Illegalen Drogen (F11, F12, F14, F15, F16 und F19, ICD-10). In weiteren Tagungsbeiträgen wurden die Ergebnisse einer Umfrage bei den beteiligten Einrichtungen zur Bewertung der Implementierung der Katamnesen ARS dargestellt sowie Sonderauswertungen zu Veränderungen im Erwerbsstatus im Rahmen von ARS. Vorträge zur Bewertung der Katamnesen ARS von einem Leistungsträger (DRV) und aus internationaler Perspektive ergänzten und vertieften die Ergebnisse. Eine Podiumsdiskussion unter Beteiligung von Vertretern der Leistungsträger VdEK und DRV Schwaben, der beiden Verbände DCV und GVS und des Referenten aus Amsterdam, der die internationale Perspektive vertrat, rundeten den Fachtag ab. Die Resonanz der Teilnehmenden zu diesem Fachtag war außerordentlich positiv.

    Einführung

    Schätzungen aus verschiedenen Quellen weisen auf eine Gesamtzahl von etwa 8.000 Fällen ARS (ohne ambulante Nachsorge) pro Jahr in Deutschland hin. Die Deutsche Rentenversicherung weist 369 anerkannte ambulante Fachstellen aus, die ARS anbieten. Etwa 220 Fachstellen sind in Caritas oder Diakonie organisiert. Von diesen Fachstellen konnten bis zu 95 im Rahmen des Katamnese-Projektes erreicht werden (45 Prozent). Die technische Unterstützung des Projektes erfolgt durch Redline-Data, Ahrensbök (Jens Medenwaldt). Die Ziele des Implementierungsprojektes konnten weitgehend erreicht werden.

    Ergebnisse der Katamnesen ARS aus den Entlassjahrgängen 2011 bis 2014

    In den Jahren 2011 bis 2014 bewegten sich die Fallzahlen ARS zwischen 2.350 und 3.150 pro Jahr. Davon waren etwa 41 Prozent ARS ohne stationäre Beteiligung, 23 Prozent mit stationärer Beteiligung und 36 Prozent ambulante Nachsorge. 80 bis 85 Prozent der Fälle wiesen die Hauptdiagnose Alkohol (F10) auf, sieben bis acht Prozent die Hauptdiagnose Illegale Drogen (F11, F12, F14, F15, F16, F19) und fünf bis sieben Prozent die Hauptdiagnose Pathologisches Glücksspiel (F63). Eine starke Beteiligung am Projekt erfolgte aus den Bundesländern Niedersachsen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen.

    Die ARS weist bei der Diagnose F10 (Alkohol) und einem Rücklauf ab 45 Prozent Abstinenzquoten nach DGSS 4 von 50 bis 54 Prozent für alle im Kalenderjahr Entlassenen auf, wenn keine stationäre Rehabilitationsmaßnahme beteiligt war. Mit stationärer Beteiligung (Kombinationsbehandlungen) liegt die Erfolgsquote bei 43 bis 52 Prozent.

    Die soziodemographischen Merkmale der Rehabilitanden in der ARS ohne stationäre Beteiligung werden deutlich günstiger beschrieben als die der Rehabilitanden in der ARS mit stationärer Beteiligung – mit den entsprechenden unterschiedlichen Auswirkungen auf die Ergebnisqualität. Somit werden verschiedene Zielgruppen erreicht. Insgesamt zeigt sich, dass die indikative Zuweisung der Rehabilitanden zum ambulanten und/oder stationären Setting zielgruppengerecht erfolgt.

    Bewertung der Implementierung von Katamnesen ARS

    Die am Katamnese-Projekt beteiligten Einrichtungen wurden gefragt, wie sie die Implementierung der Katamnesen ARS bewerten. Insgesamt haben sich 56 Einrichtungen an der Umfrage beteiligt, 43 davon haben kontinuierlich zu allen Entlassjahrgängen Daten zur Verfügung gestellt. 80 Prozent geben an, dass die Implementierung von Katamnesen ARS gelungen ist. 68 Prozent benutzen die Ergebnisse als einrichtungsbezogene Auswertung. Insgesamt haben Katamnesen eine hohe Relevanz für die eigene Arbeit (Erfolgskontrollen, Konzeptverbesserungen usw.). 44 Prozent der Umfragebeteiligten wünschen sich auch zukünftig verbandliche Unterstützung bei der Durchführung von Katamnesen (Austausch, Schulungen, Forum usw.).

    Zusatzauswertungen „Illegale Drogen“ und „Pathologisches Glücksspiel“

    In den vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016 gab es 630 ARS-Fälle „Illegale Drogen“, davon waren 65 Prozent ohne und 35 Prozent mit stationärer Beteiligung. Die Hauptdiagnose Cannabis (F12) hat einen Anteil von etwa 40 Prozent, Opioide machen 20 bis 30 Prozent aus und Kokain zwölf bis 14 Prozent.

    Der Anteil Arbeitsloser reduzierte sich bis zum Behandlungsende im Vergleich zum Behandlungsbeginn um sieben bis zwölf Prozent, der Anteil Erwerbstätiger erhöhte sich um acht bis zwölf Prozent. Zum Katamnesezeitpunkt (ein Jahr nach Beendigung ARS) reduzierte sich der Anteil Arbeitsloser nochmals um drei Prozent bei ARS ohne stationäre Beteiligung und um zehn Prozent bei ARS mit stationärer Beteiligung (Kombibehandlung).

    Insgesamt gab es 70 bis 80 Prozent planmäßige Beendigungen der ARS-Maßnahmen. Die Katamnese-Rücklaufquote lag bei etwa 30 Prozent. Bei ARS ohne stationäre Beteiligung war die Rücklaufquote höher und die Abstinenzquote nach DGSS 4 lag bei 38 Prozent. Bei ARS mit stationärer Beteiligung lag die Abstinenzquote nach DGSS 4 bei 30 Prozent. Die Gruppe der „definiert Rückfälligen“ (Nichterreichte) betrug bei ARS ohne stationäre Beteiligung 34 Prozent und bei ARS mit stationärer Beteiligung 37 Prozent.

    In den vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016 gab es 373 ARS-Fälle „Pathologisches Glücksspiel“, davon waren 75 Prozent ohne und 25 Prozent mit stationärer Beteiligung. Auch hier zeigt sich am Behandlungsende eine deutliche Reduktion des Anteils Arbeitsloser von sieben bis zwölf Prozent und eine Zunahme des Anteils Erwerbstätiger von neun bis 13 Prozent.

    Insgesamt gab es auch hier etwa 70 bis 80 Prozent planmäßige Beendigungen der ARS-Maßnahmen. Die Katamnese-Rücklaufquote lag bei acht Prozent. So sind die Fallzahlen zu gering für eine Berechnung der Abstinenzquote bzw. der Veränderungen im Erwerbsstatus zum Katamnesezeitpunkt.

    Veränderungen im Erwerbsstatus: Interferenzstatistische Analysen

    92 Prozent der zu Beginn der ARS Erwerbstätigen verbleiben in der Erwerbstätigkeit, während der ARS-Maßnahme werden acht Prozent arbeitslos. Etwa 25 Prozent der zu Beginn der ARS Arbeitslosen gelangen während der ARS-Maßnahme in Erwerbstätigkeit. Die Merkmale dieser Gruppe: Die Menschen sind jünger, beziehen häufiger ALG I als ALG II, beenden die ARS-Maßnahme regulär, bewerten die ARS-Maßnahme als erfolgreich und sie weisen weniger Vorbehandlungen auf (Entzug). Ihre Alkoholstörung war weniger schwer ausgeprägt und die Dauer der Arbeitslosigkeit war geringer. Etwa zehn Prozent der zu Beginn der ARS-Maßnahme Nichterwerbstätigen sind am Ende der Maßnahme erwerbstätig (Schüler, Studenten).

    Bewertung des Katamnese-Projektes und der Ergebnisse aus Sicht eines Rehabilitationsträgers

    Die vier gängigen Formen der ARS sind: ARS ohne stationäre Beteiligung, ambulante Entlassform zum Ende einer stationären Rehabilitation, Wechsel in die ambulante Rehabilitationsform nach Abschluss der stationären Rehabilitation, ARS als Bestandsform von Kombitherapie (ARS mit stationärer Beteiligung).

    Teilhabeaspekte stehen bei der ARS im Vordergrund, insbesondere gilt es, mit den ICF-Kontextfaktoren des sozialen Feldes des Rehabilitanden zu arbeiten. Zentrale Aufgaben der Teilhabe-Leistungen sind die Verbesserung der Erwerbsfähigkeit und das Erreichen von Erwerbstätigkeit. In diesem Zusammenhang spielen arbeitsbezogene Interventionen während der ARS-Maßnahme eine wichtige Rolle. Ein sozialmedizinischer Jahresverlauf von Rehabilitanden aus dem Jahr 2010 zeigt, dass 90 Prozent der Rehabilitanden im Erwerbsleben verbleiben (59 Prozent lückenlose Rentenversicherungsbeiträge, 31 Prozent lückenhafte Rentenversicherungsbeiträge).

    Die Rehabilitandenbefragung nach Beendigung einer ambulanten Suchtrehabilitation mit 4.287 Beteiligten in den Jahren 2013 bis 2015 zeigt, dass die subjektiv wahrgenommenen Erfolge der Rehabilitationsleistungen auf deutliche Verbesserungen in den Bereichen Gesundheitszustand, Leistungsfähigkeit und kurzzeitige Abstinenz hinweisen. Insgesamt geben 90 Prozent der Beteiligten deutliche Verbesserungen an.

    Etwa die Hälfte der Rehabilitanden gibt an, während der ARS keine Beratung und Hilfe bekommen zu haben, um die Situation am Arbeitsplatz zu erleichtern. 60 Prozent sind zu Beginn der ARS und zum Befragungszeitpunkt bei Behandlungsende voll berufstätig, 24 Prozent sind zum Befragungszeitpunkt arbeitslos. 81 Prozent geben an, dass sich die berufliche Leistungsfähigkeit durch die ARS-Maßnahme deutlich verbessert hat. Für die Zukunft gilt die Empfehlung, bei ARS-Verlängerungsanträgen die therapeutische Unterstützung für eine stabile Erwerbssituation der Rehabilitanden mehr als bisher zu berücksichtigen.

    Die Bewertung von Katamnesen aus internationaler Perspektive

    Seit etwa 30 Jahren gibt es deutsche und internationale Studien zur Bewertung von Wirkungen suchttherapeutischer Maßnahmen. Als evidenzbasierte Faustregel kann angenommen werden, dass nach stationärer oder ambulanter Suchtrehabilitation 50 Prozent der Alkoholabhängigen ein Jahr nach der Behandlung durchgehend alkoholabstinent sind. Amerikanische Studien weisen auf 19 Prozent Einjahresabstinenz hin, im ambulanten Behandlungszweig kommt es im Jahr nach der Behandlung zu etwa 80 Prozent abstinenten Tagen.

    In den Niederlanden zeigte sich in dem Projekt „Resultaten scoren“ (fünf Jahreskohorten 2005 bis 2009 mit insgesamt 15.786 behandelten und 8.326 telefonisch erreichten Klienten) eine Abstinenzrate von 23 Prozent in den letzten 30 Tagen vor dem Befragungszeitpunkt (Schippers, Nabitz, Buisman, 2009). Im Vergleich hat Deutschland eine Abstinenzquote von 75 Prozent in den letzten zwölf Monaten (Katamnesebefragung) bei 693 erreichten Klienten (nach DGSS 3).

    So kann die Suchthilfe in Deutschland, insbesondere im Bereich der ARS, ihre Effektivität mittels Routine-Katamnesen nachweisen. Mehr als 50 Prozent der Klienten sind nach der Therapie abstinent. Im internationalen Vergleich ist das ein herausragendes Ergebnis.

    Strukturelles Monitoring und Benchmarking sind ein Weg zur weiteren Verbesserung von Suchthilfe. Die Katamnese-Methodik kann der Anfang einer europäischen Standardisierung sein. Eine schnelle Rückmeldung der Katamneseergebnisse an die Einrichtungen kann zur Verbesserung der ARS-Maßnahmen führen.

    Podiumsdiskussion

    Die abschließende Podiumsdiskussion verlief sehr lebhaft und informativ. Stichworte aus der Diskussion: ARS hat eine gute Wirksamkeit, Kombitherapien sollten mehr genutzt werden, die berufliche Orientierung in der ARS sollte weiter gestärkt werden, eine Veröffentlichung der Katamneseergebnisse ist weiterhin wichtig, Verlängerungsanträge ARS sind die Regel und nicht die Ausnahme, das ARS-Rahmenkonzept aus 2008 ist überarbeitungsbedürftig, die Katamnese-Durchführung liegt im Interesse der Leistungserbringer, insgesamt steht die ambulante Suchthilfe sehr unter Druck.

    Fazit: Auch zukünftig sollten Fachveranstaltungen dieser Art durchgeführt werden.

    Kontakt:

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.
    Renate Walter-Hamann ist Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe und Leiterin des Referats Basisdienste und besondere Lebenslagen beim Deutschen Caritasverband e.V. in Freiburg.

  • Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz

    Die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF; WHO, 2005) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization/WHO) erstellte und herausgegebene Klassifikation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren von Menschen. Mit der ICF liegt ein personenzentriertes und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt berücksichtigendes Instrument der Hilfeplanung vor, mit dem sich alltagsrelevante Fähigkeiten und Einschränkungen in vereinheitlichter Sprache konkret beschreiben lassen.

    Durch eine detaillierte Klassifikation von Beeinträchtigungen ist es möglich, den Bedarf an professioneller Hilfe konkret zu beschreiben und eine passgenaue Hilfeplanung einzuleiten. Die ICF berücksichtigt individuelle Ressourcen und hat gesellschaftliche Teilhabe zum Ziel, zwei Aspekte, denen auch in der Arbeit mit Suchtkranken eine entscheidende Bedeutung zukommt. Konsumentinnen und Konsumenten illegaler Drogen erreichen nicht zuletzt aufgrund einer besseren medizinischen und psychosozialen Betreuung ein durchschnittlich höheres Lebensalter. Abhängigkeitserkrankungen gehen oftmals mit funktionalen Problemen und Einschränkungen im Bereich der Alltagsbewältigung, der sozialen Beziehungen und der Erwerbstätigkeit einher (Schuntermann, 2011). Mit der Dauer der Abhängigkeit und den damit zusammenhängenden physischen und psychischen Begleiterscheinungen steigen auch die Beeinträchtigungen von individuellen, sozialen und beruflichen Aktivitäten. Im Bereich der Suchthilfe ist eine ausschließlich auf Psychodiagnostik basierende Betreuung/Behandlung in der Regel nicht ausreichend, da der Hilfebedarf der Klientel nicht adäquat abgebildet wird. Die Diagnose Sucht sagt alleine wenig über die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen eines Menschen aus. Selbst beim Vorliegen weiterer Diagnosen bei derselben Person lassen sich nur schwer valide Aussagen hinsichtlich der individuellen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung ableiten. Instrumente wie der Addiction Severity Index (ASI), der lange Zeit zur Standarddokumentation des Suchthilfeträgers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) in Frankfurt am Main zählte, liefern zwar Hinweise auf Belastungen und Beeinträchtigungen, jedoch keine auf den konkreten Hilfebedarf.

    ICF in der Suchthilfe

    Es geht im Versorgungssystem der Suchthilfe um das Gesamtbild der negativen Auswirkungen, die die Sucht auf das Leben eines Betroffenen ausübt, also auf die Mobilität, die Kommunikation, die Selbstversorgung, das häusliche Leben, die Interaktionen mit anderen Menschen und Behörden und das Erwerbsleben. Die Gesamtheit der Auswirkungen sowie das Zusammenwirken von Aktivitätsbeeinträchtigungen und Rollenanforderungen sollten im Rahmen einer professionellen Hilfeplanung berücksichtigt werden. Eine wirksame Rehabilitation benötigt umfassende Daten, um die Betreuung/Behandlung planen zu können. „Die kurative Medizin ist da zu Ende, wo es um die Behebung gesundheitlicher Probleme aufgrund von Schädigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe – unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren – geht. Insofern wird der Suchtkranke auch als Behinderter bzw. von Behinderung Bedrohter angesprochen.“ (Fleischmann, 2011)

    Es geht nicht darum, nur Defizite zu lokalisieren, sondern auf der Grundlage der individuellen Ressourcen des Beurteilten die soziale Reintegration und gesellschaftliche Teilhabe unter Berücksichtigung der aktuellen Fähigkeiten zu fördern. Eine „Beeinträchtigung“ wird im Rahmen des ICF-Gesundheitsbegriffes nicht als Eigenschaft der Person interpretiert, sondern als funktionale Störung im Wechselverhältnis von Mensch und Umwelt, was die Veränderbarkeit (gesundheits-)politischer und sozialer Verhältnisse miteinschließt.

    Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung, einem der zentralen Ziele der medizinischen Rehabilitation, wie es auch in den Empfehlungen zur „Beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) dargestellt wird (Koch, 2015). Wenn von Erwerbsbezug in der Rehabilitation die Rede ist, dann spielen berufsspezifische Fähigkeitsprofile eine wichtige Rolle, die sich mithilfe der ICF in sehr konkreter Weise abbilden und für den beruflichen Wiedereingliederungsprozess nutzbar machen lassen.

    Von Vorteil ist die ICF weiterhin in professionstheoretischer Hinsicht. Die einheitliche Sprache ermöglicht eine verbesserte Kommunikation zwischen verschiedenen Einrichtungen, Disziplinen und Versorgungsbereichen sowie die Evaluation der Hilfemaßnahmen hinsichtlich der Zielerreichung und der Verringerung des Schweregrades der Beeinträchtigungen. Die ICF kann aufgrund ihres bio-psycho-sozialen Ansatzes die interdisziplinäre Kommunikation verbessern. Insofern bietet sie die Chance einer systemübergreifenden ‚Sprache‘ mit der Möglichkeit, das medizinische, suchtpsychiatrische und suchthilfespezifische Versorgungssystem stärker zu integrieren. Damit lässt sich eine bessere Nutzung von Synergien erreichen statt der Verfolgung ressourcenzehrender Optimierung von Einzelsystemen.

    Vor diesem Hintergrund wird seit April 2015 in den Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) der ICF-basierte Fremdratingbogen Mini-ICF-APP („Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen“; Linden, Baron, Muschalla, 2009) eingesetzt. Erste Erfahrungen mit diesem Instrument werden im Folgenden vorgestellt.

    Datenerhebung und Auswertung

    Ziel des Einsatzes des Mini-ICF-APP ist es, Hinweise darauf zu bekommen, welche Teilhabe- und Aktivitätsbeeinträchtigungen im Vordergrund der betreuten/behandelten Klientel stehen. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, individuelle und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung weiterzuentwickeln.

    Zudem soll festgestellt werden, ob zwischen unterschiedlichen Einrichtungstypen (stationäre Rehabilitation, ambulante Betreuung/Behandlung, Betreutes Wohnen), unterschiedlichen Konsummustern und den Konsument/innen verschiedener Hauptsuchtmittel (Cannabis, Opiate, Stimulanzien) signifikante Unterschiede hinsichtlich der im Alltag auftretenden Beeinträchtigungen deutlich werden. Am Ende des Artikels werden die Ergebnisse mit Blick auf die Suchthilfepraxis zur Diskussion gestellt.

    Das Instrument: Mini-ICF-APP

    Zwischenzeitlich liegen einige ICF-basierte Instrumente für den Indikationsbereich psychische Störungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen vor (Breuer, 2015). Eines dieser Instrumente ist das Mini-ICF-APP, ein Fremdbeurteilungsinstrument mit 13 Items zur Beschreibung und Quantifizierung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen. Die maßgebliche Bewertung des jeweiligen Klienten bzw. der Klientin in den 13 Fähigkeitsdimensionen findet durch den geschulten Bezugsbetreuer/die geschulte Bezugsbetreuerin statt. Beim Ausfüllen des Fragebogens werden alle zur Verfügung stehenden Informationen genutzt: anamnestische Angaben, fremdanamnestische Angaben, psychologische und testpsychologische Befunde ebenso wie Beobachtungen der Bezugsbetreuer/innen oder Mitteilungen durch den Klienten/die Klientin. Das Verfahren ermöglicht die einfache Erfassung des Hilfebedarfs in wesentlichen Bereichen. So kann mit dem Instrument eingeschätzt werden, in welchem Ausmaß die betreffende Person in ihrer Fähigkeit zur Ausübung lebens- und berufsrelevanter Tätigkeiten beeinträchtigt ist.

    Das Mini-ICF-APP liefert neben der Erfassung des Hilfebedarfs auch die Möglichkeit, über eine Wiederholungsmessung die Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen zu überprüfen. Die Skalierung zur Einschätzung der Fähigkeitseinschränkungen ist wie folgt strukturiert: 0 = keine Beeinträchtigung, 1 = leichte Beeinträchtigung, 2 = mittelgradige Beeinträchtigung, 3 = erhebliche Beeinträchtigung, 4 = vollständige Beeinträchtigung. Zusätzlich zum Mini-ICF-APP wird ein Deckblatt eingesetzt, das von JJ extra für den Arbeitsbereich der Suchthilfe entwickelt wurde. Mit dem Deckblatt werden soziodemografische Angaben, Angaben zum Erwerbsleben und zum Suchtmittelkonsum erfasst.

    Beschreibung der Stichprobe

    Seit Mitte 2015 wird in allen Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) das Mini-ICF-APP eingesetzt. Dazu zählen stationäre und ambulante Suchthilfeeinrichtungen sowie Einrichtungen des Betreuten Wohnens. Der Rücklauf verwertbarer Fragebögen lag bis zum September 2016 bei N=1.243. Alle Bögen wurden in die Untersuchung miteinbezogen, es gab keine Ausschlusskriterien.

    Die ICF-basiert beurteilten Klient/innen aller JJ-Einrichtungen sind im Durchschnitt 35,3 Jahre alt. 78,1 Prozent sind männlich, 21,9 Prozent weiblich. Nur 26,4 Prozent gingen im letzten Jahr einer beruflichen Tätigkeit nach. Eine psychiatrische Zusatzdiagnose liegt bei 31,2 Prozent der Personen vor. Die durchschnittliche Dauer der Abhängigkeit beträgt 14,9 Jahre. 38,4 Prozent der Befragten wurden zum Zeitpunkt der Messung substituiert. Das am häufigsten genannte Hauptsuchtmittel ist Heroin (45,9 Prozent), gefolgt von Cannabis (20,6 Prozent), Alkohol (13,9 Prozent), Amphetaminen (7,3 Prozent), Kokain (5,3 Prozent) und Sonstige (2,5 Prozent).

    Ergebnisse

    Im Folgenden (Tabelle 1) werden die Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen dargestellt (N=1.243).

    Tabelle 1: Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen

    Die Mittelwerte liegen größtenteils zwischen einer leichten und mittelgradigen Beeinträchtigung. Das impliziert, dass bei einem Teil der untersuchten Gruppe deutliche Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen vorliegen, die in vielen Fällen interventionsbedürftig sind. Am höchsten sind die Beeinträchtigungen in den Bereichen „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „ Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“. Vergleicht man die Beeinträchtigungswerte mit den Daten von Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken (N=213; Linden et al., 2015), die in den empirischen Studien zur Entwicklung des Mini-ICF-APP untersucht wurden, so treten die hohen Fähigkeitsbeeinträchtigungen der Klientel aus den Suchthilfeeinrichtungen von JJ noch deutlicher hervor. Während der Globalwert der 13 Items in der JJ-Untersuchung bei 1,58 liegt, ist er in der genannten Vergleichsgruppe mit 0,84 nur etwa halb so hoch.

    Beispiel: Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    Am Beispiel des Items „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, das am höchsten geratet wurde, lässt sich aufzeigen, wie schwer die Beeinträchtigungen konkret eingeschätzt wurden (Tabelle 2).

    Tabelle 2: Einschätzung des Items Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    34,6 Prozent der beurteilten Klient/innen sind in diesem Bereich mittelgradig beeinträchtigt, 21,5 Prozent sogar erheblich bzw. 3,7 Prozent vollständig. Die Einschätzung „mittelgradige Beeinträchtigung“ verweist auf „deutliche Probleme, die beschriebenen Fähigkeiten/Aktivitäten auszuüben“ (Linden et al., 2015, S. 5). Erhebliche und vollständige Beeinträchtigungen in den jeweiligen Bereichen bedeuten, dass die Beeinträchtigungen in der alltäglichen Lebensführung so auffällig sind, dass die Unterstützung von Dritten notwendig ist.

    Bezogen auf das Item „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ bedeutet eine mittelgradige Beeinträchtigung nach der Definition der Autor/innen des Mini-ICF-APP: „Der Proband kann keine volle Leistungsfähigkeit über die ganze Arbeitszeit hin zum Einsatz bringen. Sein Durchhaltevermögen ist deutlich vermindert. Durch Nichterfüllung von Aufgaben ergibt sich ein reduziertes Leistungsniveau und gegebenenfalls Ärger mit dem Arbeitgeber oder Partner.“ Eine erhebliche Beeinträchtigung (21,5 Prozent der Klient/innen) bedeutet: „Um die Aufgaben in der vorgesehenen Zeit zu erfüllen, ist immer wieder Unterstützung von Kollegen, Vorgesetzten oder vom Partner erforderlich, die ihn auffordern oder ermutigen, bei der Sache zu bleiben oder weiterzumachen, oder die selbst gelegentlich eingreifen und zeitweise Arbeiten von ihm übernehmen.“ (Linden et al., 2015, S. 14)

    Folglich besteht in vielen Fällen Unterstützungsbedarf hinsichtlich des individuellen Leistungsvermögens und vor allem auch hinsichtlich der Eigeninitiative. Dieser Unterstützungsbedarf ist in der individuellen Hilfeplanung zu berücksichtigen. Die Kenntnis solcher Fähigkeitsbeeinträchtigungen soll nicht nur zur Auswahl adäquater Hilfemaßnahmen führen, sondern auch zur realistischen Einschätzung der Fähigkeiten des Betreffenden beitragen, um zu verhindern, dass durch zu hohe Erwartungen – insbesondere im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung – strukturelle Überforderungssituation entstehen, die ihrerseits neue negativen Auswirkungen nach sich ziehen.

    Eine interne JJ-Untersuchung (N=189) mit dem ICF-basierten Selbstrating-Instrument ICF AT 50-Psych (Nosper, 2008), das ebenfalls die Dimensionen der Aktivität und Partizipation abbildet, zeigt ferner, dass die befragten Patient/innen sich selbst als deutlich weniger beeinträchtigt einschätzen. Mit Blick auf den therapeutischen Alltag bietet sich an, die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung der Patient/innen und der Wahrnehmung der Mitarbeiter/innen zu thematisieren und die unterschiedlichen Einschätzungen der Fähigkeitsdimensionen für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen.

    Gruppenunterschiede

    Das Geschlecht und das Alter haben auf den Mini-ICF-Globalwert keinen signifikanten Einfluss, lediglich in einzelnen Bereichen: Männer sind im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ (1,47 vs. 1,17) sowie „Planung und Strukturierung von Aufgaben“ (1,71 vs. 1,43) höher belastet. Ältere haben höhere Beeinträchtigungen im Bereich „Selbstpflege“ und „Mobilität und Verkehrsfähigkeit“. Jüngere haben im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ größere Schwierigkeiten. Der Zusammenhang beschränkt sich auf einzelne Items. Einen globalen Einfluss auf den Schweregrad hat die Dauer der Abhängigkeit. Zwölf der 13 Items korrelieren in signifikanter Weise. Lediglich beim Item „Selbstbehauptungsfähigkeit“ ist die Dauer der Abhängigkeit nicht entscheidend.

    Tabelle 3: Einfluss der Dauer der Abhängigkeit auf den Beeinträchtigungsgrad

    Einfluss auf den Globalwert hat auch der Berufsstatus: Diejenigen, die während der letzten zwölf Monate vor Behandlungsbeginn keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, weisen signifikant höhere Beeinträchtigungswerte auf. Ferner korrelieren die BORA-Stufen, denen insbesondere im Rahmen der stationären Rehabilitation eine wachsende Bedeutung zukommt, mit dem Schweregrad der ICF-spezifisch gemessenen Beeinträchtigungen.

    Globalwerte nach Einrichtungstypen

    Der Einsatz ICF-basierter Instrumente soll zur verbesserten Hilfeplanung beitragen. Insofern wurde auch untersucht, ob in verschiedenen Einrichtungen mit unterschiedlichen Zielgruppen und Hilfsangeboten spezifische Beeinträchtigungen festzustellen sind (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Globalwerte in verschiedenen JJ-Einrichtungen

    Die Werte entsprechen den Erwartungen und zeigen, dass die Einschätzungen in realistischer Weise erfolgen, was auch hohe Interrater-Reliabilität bestätigt. Ambulant betreute Klient/innen sind weniger beeinträchtigt als stationär Behandelte, was der Indikationsstellung entspricht. Besonders hoch sind die Beeinträchtigungswerte im Drogennotdienst, einer Einrichtung mit ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten, und in der Tagesstätte Rödelheimer Bahnweg. Zur Zielgruppe dieser Einrichtung zählen suchtkranke Männer und Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren, die in einem schlechten Allgemeinzustand und/oder chronisch krank sind und bei denen auf Grund der chronifizierten Suchtmittelabhängigkeit die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit meist nicht mehr möglich erscheint.

    Praktisch hilfreich wird das Ganze, wenn man sich die Einrichtungswerte in den einzelnen Fähigkeitsdimensionen anschaut. Unterschiede in den einzelnen Items zeigen an, wo der einrichtungsspezifische Hilfebedarf am größten ist. In der Einrichtung Rödelheimer Bahnweg mit dem höchsten Globalwert (2,18) liegt die Beeinträchtigung im Bereich „Proaktivität und Spontanaktivität“ bei 2,32. Dies verdeutlicht nicht nur, in welchem Bereich große Schwierigkeiten bestehen, sondern verweist zugleich darauf, dass Unterstützungs- und Förderungsleistungen im Bereich der Eigeninitiative, der häuslichen Aktivitäten und der Freizeitgestaltung anstehen.

    Im Betreuten Wohnen ist der Beeinträchtigungswert im Bereich „Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen“ mit 1,85 am höchsten. Der Verlust stützender familiärer und partnerschaftlicher Beziehungen, die Vernachlässigung sozialer Kontakte und fortwährende gesellschaftliche Isolation prägen nicht selten die Lebenslage von langjährig Abhängigen. Im Betreuten Wohnen soll solchen Vereinsamungstendenzen entgegengewirkt und die gesellschaftliche Reintegration bewerkstelligt werden. Entsprechende Hilfsangebote sind zu forcieren.

    In der stationären Rehabilitation wurden die höchsten Beeinträchtigungswerte im Bereich „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ (2,06) festgestellt, was auf die Ambivalenz in Bezug auf Abstinenzbemühungen verweist. Bei der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit geht es darum, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, rational zu urteilen und unter Abwägung der Sachlage differenzierte Schlussfolgerungen zu ziehen – Fähigkeiten also, die im Falle einer Abhängigkeitserkrankung stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Die anspruchsvolle und mitunter von Rückschlägen begleitete Aufgabe, sich gegen die Sucht und für ein abstinentes Leben zu entscheiden, scheint hier zum Ausdruck zu kommen.

    Hauptsubstanz

    Untersucht wurde außerdem, ob sich im Zusammenhang mit dem Hauptsuchtmittel Unterschiede hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades feststellen lassen (Tabelle 4). Verglichen wurden die Konsument/innen der Hauptsuchtmittel Opiate, Cannabis und Stimulanzien (Amphetamine und Kokain).

    Tabelle 4: Einfluss des Hauptsuchtmittels auf den Beeinträchtigungsgrad

    Auffällig ist zunächst, dass sich die Globalwerte kaum unterscheiden. Diese liegen bei 1,47 (Opiate), 1,44 (Cannabis) und 1,35 (Stimulanzien). Überraschend sind die Ergebnisse, weil in der Bezeichnung von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Drogen die Vorstellung mitschwingt, dass Cannabis eine in den Auswirkungen zu vernachlässigende Droge sei. Dies ist nach den hier angegebenen Werten nicht der Fall, im Gegenteil: Mehrere Beeinträchtigungen der Cannabiskonsument/innen werden im Vergleich mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit sogar höher eingeschätzt (s. Markierung in Tabelle 4).

    Verlaufsmessungen

    Das Mini-ICF-APP ermöglicht die Evaluation der Hilfemaßnahmen. Durch Verlaufsmessungen kann festgestellt werden, ob es zu Veränderung des Beeinträchtigungsgrades in den jeweiligen Fähigkeitsdimensionen kommt. Sofern der Klient/die Klientin längere Zeit in der Einrichtung betreut oder behandelt wird, findet drei bis fünf Monate nach der Ersterhebung eine Wiederholungsmessung statt. Eine erste Auswertung der Verlaufsmessung zeigt positive Veränderungen (Tabelle 5). Bei denjenigen, die eine längere Behandlung/Betreuung in Anspruch nehmen, bilden sich in allen Bereichen positive Trends ab, die – bis auf die Verkehrsfähigkeit – signifikant sind.

    Tabelle 5: Auswertung der Wiederholungsmessung

    Zusammenfassung

    Als Resümee der Einführung des Mini-ICF-APP ist zunächst festzuhalten, dass es einen erfreulich hohen Rücklauf von Fragebögen gibt. Das spricht nicht nur für die Akzeptanz des Instruments, sondern auch für seine Praktikabilität. Die Bögen sind weitgehend korrekt ausgefüllt, es gibt wenig Datenverlust.

    Die untersuchte Gruppe zeigt deutlich höhere Beeinträchtigungswerte als die Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken ohne Suchtdiagnose. Die Beeinträchtigungen sind in den Bereichen „Widerstand- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ am höchsten. Geschlechts- und altersspezifische Differenzen gibt es keine wesentlichen. Die Dauer der Abhängigkeit beeinflusst den Schweregrad der gemessenen Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen in direkter Weise. Berufsstatus und Schweregrad der Beeinträchtigung korrelieren ebenfalls. Auffällig hoch waren die Beeinträchtigungswerte der Cannabiskonsument/innen, was sich mit anderen Untersuchungen in diesem Bereich deckt. In den Einrichtungstypen lassen sich unterschiedliche Belastungen feststellen. Verlaufsmessungen zeigen, dass es zu Verbesserungen während der Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen kommt.

    Diskussion

    1.) Das ICF-basierte Instrument Mini-ICF-APP ist im Suchtbereich einfach anwendbar, das bestätigen die Rückläufe sowie die Rückmeldungen der Einrichtungen. Insgesamt bietet die Implementierung des Mini-ICF-APP ein positives Beispiel der ICF-Umsetzung im Suchtbereich. Die standardisierte Routinebeschreibung der funktionalen Gesundheit stellt eine sinnvolle Ergänzung zur medizinischen und psychologischen Diagnostik dar.

    2.) Der Hilfebedarf kann konkret beschrieben werden. Es werden Fähigkeitsbeeinträchtigungen hinsichtlich der Aktivitäten und Teilhabe erfasst, beschrieben und bei der Betreuung bzw. Behandlung berücksichtigt, die bei einer rein medizinischen oder psychologischen Diagnostik nicht im Fokus stehen. Es kann auf der Grundlage des umfangreichen Datenmaterials differenziert werden nach:

    • Konsummustern
    • Dauer der Abhängigkeit
    • Einrichtungstypen
    • BORA-Stufen

    Die Aufbereitung der vereinsweit gesammelten Daten ermöglicht den Datenvergleich zwischen verschiedenen Behandlungsgruppen und Gesundheitsbereichen.

    3.) Die Beschreibung und Differenzierung des Hilfebedarfs erleichtert nicht nur die individuelle Hilfeplanung, sondern ermöglicht es auch, diesen Hilfebedarf bei der Etablierung schwerpunktmäßiger Angebote zu berücksichtigen. Mittelfristiges Ziel ist eine verbesserte Zuweisungspraxis bei der Weitervermittlung in passgenaue Behandlungsangebote. ICF-basierte Instrumente sollten bei der Feststellung des adäquaten Behandlungsbedarfs standardmäßig eingesetzt werden.

    4.) Mit Blick auf die zunehmend wichtiger werdende Erwerbsorientierung und berufliche Wiedereingliederung der Klientel in der Suchthilfe lassen sich mit dem Mini-ICF-APP die aus einer Krankheit resultierenden Fähigkeits- und Aktivitätsstörungen – im Zusammenhang mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen einer beruflichen Tätigkeit – konkret beschreiben. Dadurch, dass die Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ der ICF abgebildet wird, können Fähigkeiten beurteilt werden, die im Erwerbsleben zentral sind.

    5.) Die Aktivitäten und Fähigkeitsbeeinträchtigungen eines Suchtkranken hängen stark mit seinem Konsumstatus zusammen. Dadurch, dass das Mini-ICF-APP keine explizit suchtspezifischen Items beinhaltet, kann der Einfluss des Konsumverhaltens auf die aktuellen Aktivitäten nicht abgebildet werden. Abhilfe schafft das zusätzlich eingesetzte JJ-Deckblatt. Außerdem entwickelt eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitarbeiter/innen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und der Suchtverbände ein „Core Set Sucht“. Einige Items lassen sich insbesondere bei neu betreuten Klient/innen im Fremdrating nur schwer beurteilen, der zusätzliche Einsatz von Selbstbeurteilungsinstrumenten wird empfohlen.

    6.) Die Verlaufsmessungen zeigen, dass Hilfemaßnahmen zur Verringerung des Schweregrades der Fähigkeitsbeeinträchtigungen führen. Die Evaluation und der Wirksamkeitsnachweis der durchgeführten Maßnahmen werden von den Leistungs- und Kostenträgern zunehmend erwartet. Die international anerkannte und standardisierte ICF-Diagnostik stellt eine große Hilfe dabei dar, durchgeführte Maßnahmen zu evaluieren.

    Literatur:
    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13

  • Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Dr. Peter Degkwitz

    In diesem Artikel werden ausgewählte Ergebnisse einer Evaluation der Eingliederungshilfe Sucht in Hamburg vorgestellt. Die Studie wurde von der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) in Hamburg in Auftrag gegeben und vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) realisiert. Der entsprechende Studienbericht liegt seit April 2016 vor (Degkwitz et al. 2016).

    Eingliederungshilfe als Versorgungsbereich bei Abhängigkeitserkrankungen

    Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) für Menschen mit Suchterkrankungen erhalten Personen, „die durch eine Behinderung (…) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind“ (SGB XII, §53). Diese Leistungen werden nach § 54, SGB XII, nachrangig zu Rehabilitationsmaßnahmen der Kranken-, Renten- und Unfall­versicherung (als den vorrangig verpflichteten Kostenträgern) gewährt. Die EGH Sucht hat sich ab Mitte der 1970er Jahre als spezialisierter Leistungsbereich für Abhängigkeitserkrankte mit kooperierenden Einrichtungen in Hamburg und Umgebung als eine wichtige Säule der Hamburger Sozial- und Gesundheitspolitik etabliert. Die Angebote der EGH Sucht dienen als Vorbereitungsmaßnahmen zur medizinischen Rehabilitation (Vorsorge) sowie als sich anschließende Übergangsmaßnahmen nach einer Rehabilitation bzw. Adaption (Nachsorge). Unter die EGH fallen auch langfristige stationäre, teilstationäre und ambulante Maßnahmen für chronisch be­einträchtigte Abhängigkeitserkrankte, sofern der Anspruch auf medizinische Rehabilitation nicht oder nicht mehr besteht (BGV 2014).

    Fragestellung und Design

    Die Zunahme an Personen pro Jahr, die Neu- bzw. Weiterbewilligungen erhalten, der Anstieg der Gesamtdauer bewilligter Maßnahmen sowie die generelle Kostensteigerung der EGH für Suchtkranke sind der Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Die Studie sollte Hintergründe der genannten Entwicklungen klären sowie die Zielerreichung der Maßnahmen der Eingliederungshilfe Sucht untersuchen.

    Die besondere Aufgabe oder Zielsetzung der Eingliederungshilfe besteht darin, „den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen“ (SGB XII, §53) und dabei „möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände“ zu lassen und Selbstbestimmung zu fördern (SGB IX, §9, Abs. 3). Das zeigt sich an Kriterien wie finanzieller Unabhängigkeit, eigenem Wohnraum, der Fähigkeit zur Selbstversorgung und dem Nachgehen einer Beschäftigung. Bei Klientinnen und Klienten mit multiplen und chro­nischen Problemlagen, die sich häufig in Maßnahmen der Eingliederungshilfe befinden, nachdem vorrangige Kostenträger ausgeschieden sind, ist die Erreichung dieser Ziele allerdings nicht in einem Schritt, sondern nur koordiniert in der Versorgungskette möglich. Bei der Evaluation der Maßnahmen der EGH gelten daher die folgenden Verläufe am Ende einer Maßnahme als wichtige Indikatoren von Zielerreichung: der dauerhafte Maßnahmeabschluss (ohne Wiedereintritt), die Vermittlung in Maßnahmen vorrangiger Träger sowie die Vermittlung in Maßnahmen, die den Übergang in eine selbstbestimmte Lebensführung unterstützen.

    Die Fragestellungen zur Zielerreichung in der EGH sowie zu maßnahme- und personenbezogenen Faktoren der Zielerreichung wurden insbesondere durch den Vergleich von Gruppen mit unterschiedlich intensiver Inanspruchnahme (gemessen in Tagen der Nutzung von EGH-Maßnahmen über fünf Jahre) retrospektiv un­tersucht.

    In einer zusätzlichen prospektiven Untersuchung von Klientinnen und Klienten, die neu in Maßnahmen der EGH eingetreten sind, geht es vorrangig um die Wirksamkeit bezogen auf vereinbarte Ziele der Maßnahmen innerhalb eines 6-Monats-Zeitraums.

    Die Evaluation der Eingliederungshilfe erfolgt anhand dreier Untersuchungsmodule: retrospektiv auf Grundlage der Dokumentation aller Maßnahmen der Eingliederungshilfe der letzten fünf Jahre (A), vertiefend aufgrund einer Aktenanalyse intensiverer Nutzer (B) sowie prospektiv für Neuaufnahmen in Maßnahmen der EGH (C).

    A) Inanspruchnahme der Eingliederungshilfe Sucht über fünf Jahre (Gesamtübersicht)

    Die Untersuchung des Versorgungsgeschehens erfolgte retrospektiv über einen 5-Jahres Zeit­raum (2010 bis 2014). In dieser Zeit wurden in Hamburg fast 10.000 Maßnahmen der Eingliederungshilfe von etwa 3.000 unterschiedlichen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung in Anspruch ge­nommen. Dabei wurden pro Jahr knapp 2.000 Maßnahmen der EGH von 1.100 bis 1.200 verschiedenen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung genutzt (Abbildung 1). Die Anzahl der Personen erhöht sich, aber noch stärker steigt die Anzahl an Tagen, die pro Per­son pro Jahr insgesamt in EGH-Maßnahmen verbracht wurden. Die durchschnittliche Maßnahmedauer pro Person steigt im 5-Jahresverlauf von 148 auf 181 Tage an.

    Abbildung 1: Entwicklung der Maßnahmedauer in Tagen (MW) pro bewilligter Maßnahme und pro Person sowie Entwicklung der Anzahl von Maßnahmen und Personen über die Jahre 2010 bis 2014

    Hinsichtlich der Art der Beendigungen von Maßnahmen wird insgesamt, bezogen auf den 5-Jahres-Zeitraum, ein Drittel der Maßnahmen regulär beendet, und bei einem weiteren Drittel folgen fortgesetzte Maßnahmen in der Eingliederungshilfe. Das übrige Drittel der EGH-Maßnah­men wird abgebrochen (durch den Klienten oder durch die Einrichtung). Im Verlauf der fünf Jahre geht der Anteil regulärer Beendigungen zurück, und es steigt der Anteil an Maßnahmen, die in der EGH fortgesetzt bzw. verlängert werden.

    Die Fortsetzung von Maßnahmen konzentriert sich auf be­stimmte Maßnahmetypen. Die Typen von Maßnahmen werden in der Eingliederungshilfe Sucht traditionell unterteilt nach dem Inhalt, und zwar nach Vorsorge, Nachsorge, Übergang sowie nach der Art der Erbringung: stationär, teilstationär oder ambulant. Bei den fortgesetzten Maßnahmen handelt es sich eher um Maßnahmen am Ende der Versorgungskette der Ein­gliederungshilfe, bei denen, wenn der Übergang in eine selbstbe­stimmte Lebensführung oder die Vermittlung an vorrangige Kostenträger noch nicht gelingt, weitere Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfolgen, die längerfristig angelegt sind. Ein fortlaufender, dauernder Verbleib in Maßnahmen der Eingliederungshilfe betrifft etwa ein Zehntel des Personenkreises mit Abhängigkeitsstörungen in der EGH.

    B) Merkmale intensiver Nutzer der Eingliederungshilfe

    Die Frage nach personenbezogenen Merkmalen von Menschen, die EGH intensiver in Anspruch nehmen, sollte durch eine Analyse von Personenakten untersucht werden. Die vorliegenden Akten wurden konsekutiv nach folgenden Kriterien einem Screening unterzogen: innerhalb der letzten fünf Jahre mindestens zwei Jahre ununterbrochen in Maßnahmen oder im selben Zeitraum mehr als dreimalige Inanspruchnahme von Maßnahmen in Einrichtungen der EGH.

    Es wurden 302 Akten nach den genannten Kriterien zufällig ausgewählt. Die betroffenen Personen waren im Durchschnitt in den letzten fünf Jahren 902 (±538) Tage in EGH-Maßnahmen. Bei den Personen, deren Akten nicht in die Analyse einbezogen wurden, waren es 221 (±294) Tage, woraus erkennbar wird, dass sich die hier untersuchten intensiven Nutzerinnen und Nutzer im Ver­gleich zu der übrigen Klientel seit 2010 viermal länger in EGH-Maßnahmen befanden.

    Die intensiven Nutzer wurden nochmal anhand des Kriteriums über/unter 730 Tage (also zwei Jahre) Inanspruchnahme im Verlauf von fünf Jahren in zwei Gruppen „intensive“ und „sehr intensive Nutzer“ unterteilt. Damit sollten personen- und maßnahmebezogene Aspekte identifiziert werden, die mit einer besonders intensiven Inanspruchnahme assoziiert sind.

    Die „sehr intensiven Nutzer“ waren bei einer Gesamtzahl von 1.312 Auf­enthaltstagen seit 2010 (das sind mehr als drei von fünf Jahren) gegenüber den „intensiven Nutzern“ mit durchschnittlich 404 Tagen (etwas über einem Jahr) erheblich länger in EGH-Maßnahmen (Tabelle 1). Sie sind im Durchschnitt fast fünf Jahre älter. Andere personenbezogene Faktoren, darunter Primärdroge, Störungsbeginn und ‑dauer, Komorbiditäten (psychiatrisch, körperlich), Kinder sowie Partnerbeziehung, differenzieren nicht zwischen den Gruppen, d. h., bezogen auf diese Aspekte haben beide Gruppen gleich problematische Ausgangsbedingungen. Nur in gesetzlicher Betreuung sind die „sehr intensiven Nutzer“ signifikant häufiger.

    Die letzte Maßnahme in der Eingliederungshilfe dauerte bei der Klientel, die sich durch eine „sehr intensive“ Inanspruchnahme auszeichnet, mit durchschnittlich 29 Monaten (also 2,5 Jahren) deutlich länger als in der Vergleichsgruppe (ein halbes Jahr). Während „intensive“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger zuletzt Maßnahmen der stationären Vorsorge und Nachsorge wahrgenom­men haben, befinden sich die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger in teilstationären Übergangsein­richtungen und ambulanten Maßnahmen, in denen vermehrt die längerfristig angelegten Betreuungen erfolgen.

    Unter den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern beträgt der Anteil derer, die die Maßnahme dauerhaft beenden („Beendigung der Maßnahme“) 30 Prozent und ist damit geringer als bei den „intensiven“ Nutzern (70 Prozent). Das heißt, die Maßnahme wird mehrheitlich über den letzten Bewilligungszeitraum hinaus verlängert. Bei diesem Verbleib der „sehr intensiven“ Nutzer in Maßnahmen handelt es sich, wie oben angedeutet, häufig um Aufenthalte in längerfristig angelegten teilstationären und ambulanten Maßnah­men wie z. B. die Betreuung im eigenen Wohnraum.

    Hinsichtlich der zu erreichenden Zielsetzungen zeigen sich in den wiederholten längerfristigen Maßnahmen positive Effekte. Das gilt z. B. für funktionale Beeinträchtigungen nach ICF, die zu Beginn und am Ende von Maßnahmen dokumentiert werden. Das Ausmaß an „funktionalen Beeinträchtigungen insgesamt“ bezogen auf die letzte Maßnahme nimmt im Verlauf in bei­den Gruppen signifikant ab. Dabei verbessern sich die „sehr intensiven Nutzer“ etwas weniger (Tabelle 1).

    Die vereinbarten Zielsetzungen der beiden Gruppen unterscheiden sich kaum. Am häu­figsten werden in beiden Gruppen suchtmittelbezogene Ziele zur Einleitung bzw. Sicherung der Abstinenz vereinbart. Inhaltlich geht es für die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger um gesundheitsbezogene Ziele und um Ziele im Hinblick auf die grundlegende Bewältigung von Alltag und Haushalt. Bei den „intensiven Nutzern“ geht es häufiger um Ziele, die sich auf das eigenständige Wohnen beziehen. Eine Verbesserung in den Zielbereichen Sucht und Alltagsbewältigung ist im Rahmen des letzten Bewilligungszeitraums insgesamt häufiger bei den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern zu beobachten. Bei „intensiven Nutzern“ finden sich zu einem geringeren Anteil Verbesserungen (und damit häufiger Verschlechterungen) in den Zielbereichen persönliches Ziel, Alltagsbewältigung, Wohnen und Sucht (Tabelle 1).

    C) Prospektive Untersuchung der Wirksamkeit

    Mit der prospektiven Untersuchung wurde für neu in die Eingliederungshilfe eintretende Kli­entinnen und Klienten die Wirk­samkeit einzelner Maßnahmen hinsichtlich der vereinbarten suchtbezo­genen und teilhabebezogenen Zielsetzungen untersucht. Für die Erhebung konnten über einen Zeitraum von zwölf Monaten 255 Klientinnen und Klienten erreicht werden, von de­nen in der Nach- bzw. Abschlusserhebung 247 Klienten durch die Fachkräfte wieder erreicht wurden, wobei nur von einem Teil (N=136) auch der selbst ausgefüllte Klientenfragebogen vorlag.

    Die Mehrheit der Unter­suchungsteilnehmer befand sich in einem stationären Setting, nur ein Zehntel war in einer teil­stationären Maßnahme. Bei über der Hälfte der Maßnahmen handelt es sich um Vorsorge, womit dieser Maßnahmetyp in der prospektiven Untersuchung aufgrund des Einschlusskriteriums des Neueintritts überrepräsentiert ist. Zu Maßnahmebeginn waren die Klienten im Durchschnitt gut 40 Jahre alt und liegen damit nur leicht unter dem Durchschnittsalter der Klienten der Eingliederungshilfe in Hamburg insgesamt (41,7 Jahre). Mehr als vier Fünftel sind Männer. Bei zwei Dritteln geht es vorrangig um Alkoholprobleme, etwa ein Fünftel gab ‚harte‘ illegale Drogen wie Heroin oder Kokain als Hauptproblemsubstanz an.

    Die Evaluation zeigt, dass die Zielsetzungen mehrheitlich erreicht werden. So haben aus Sicht der Fachkräfte mehr als zwei Drittel der Untersuchungsteilnehmer ihre suchtbezo­gene Zielsetzung überwiegend oder sogar vollständig erreicht (Abbildung 2, linke Seite). Bei mehr als zwei Dritteln hat sich der Umgang mit Suchtmitteln verbessert (Abbildung 2, rechte Seite).

    Abbildung 2: Erreichung suchtbezogener Zielsetzung (links) und Umgang mit Suchtmitteln (rechts) wäh¬rend der Maßnahme aus Sicht der Betreuer (N=246)

    In zentralen Lebensbe­reichen wie z. B. Gesundheit, Freizeitaktivitäten oder sozialen Beziehungen kam es während der Maßnahme aus Sicht der Klientinnen und Klienten sowie der Fachkräfte zu deutlichen Verbesserun­gen.

    Gefragt nach dem Grad der Zielerreichung bei den von den Klientinnen und Klienten persönlich formulierten „zwei wichtigsten“ Zielset­zungen, gab die Mehrheit für beide Ziele an, dass eine Erreichung „eher“ oder sogar „völlig“ zutreffe. Insbesondere das erstgenannte Ziel, das sich vorrangig auf die Bewältigung ihrer Suchtproblematik bezieht, wurde von fast zwei Dritteln vollständig erreicht (Abbildung 3, linke Seite). Nur knapp sechs Prozent teilten mit, dass dies nicht zutrifft. Bezogen auf das zweite persönliche Ziel ist es ein Zehntel, das angab, dieses nicht erreicht zu haben (Abbildung 3, rechte Seite). Schaut man auf die Ziele, die nicht erreicht wurden, so sind es unter den wichtigsten hauptsächlich wohnungsbezogene Zielsetzungen (zu 40,0 Prozent) und unter den zweitwichtigsten ebenfalls wohn- (zu 46,7 Prozent) und arbeitsbezogene Ziele (zu 37,5 Prozent).

    Abbildung 3: Erreichung der zwei wichtigsten persönlichen Zielsetzungen während der Maßnahme aus Sicht der Klienten

    In fast allen standardisiert erhobenen Untersuchungsbereichen sind statistisch signifi­kante positive Veränderungen während der Eingliederungshilfemaßnahme eingetreten. Die Leistungsbeeinträchtigungen nach ICF sind zurückgegangen, und die gesundheitsbezogene Lebensqualität hat sich im kör­perlichen und psychischen Bereich während der Maßnahme signifikant verbessert. Auch die psychische Symptombelastung hat sich insgesamt verringert. In der prospektiven Untersuchung zeigt sich eine hohe Zufriedenheit bei den Teilnehmern mit den Bereichen Ausstattung und Atmosphäre, Betreuung, Behandlungsverlauf sowie Vorbereitung auf die Zeit nach der Betreuung.

    Ferner erhöhte sich die Selbstwirk­samkeitserwartung unter der Betreuung deutlich, was für eine Stabilisierung der eingetretenen Veränderungen von Bedeutung sein dürfte. Bezogen auf die Ziele der Eingliederungshilfe erweisen sich die hier untersuchten Maßnahmen überwiegend als erfolgreich.

    Mit der prospektiven Untersuchung konnte im Rahmen einer externen Evaluation für die Eingliederungshilfe gezeigt werden, dass die definierten Ziele zu einem großen Anteil vollständig erreicht werden. Das bekräftigt die Stellung der Eingliederungshilfe als ein Versorgungssegment für Menschen mit Ab­hängigkeitsproblemen, die im Rahmen der regulären Gesundheitsversorgung sowie des Rehabilitationswesens nicht erreicht werden bzw. denen die (vorwiegend stationären) Behand­lungsmaßnahmen der Regelversorgung nicht zugänglich sind.

    Kontakt:

    Dr. Peter Degkwitz
    Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS)
    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
    Martinistraße 52
    20246 Hamburg
    Tel. 040/74 10 57 904
    p.degkwitz@uke.de
    www.zis-hamburg.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Peter Degkwitz, Sozialwissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), Hamburg. Er arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre in epidemiologischen Projekten sowie zur Evaluation von harm reduction-Maßnahmen und Substitutionsbehandlung. Sein besonderes Interesse gilt interdisziplinaren Suchtmodellen.

    Literatur:
  • Den Datenschatz kompetent befragen

    Den Datenschatz kompetent befragen

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Karl Lesehr

    Wohl in keinem anderen Bereich psychosozialer oder medizinischer Hilfen – sowohl in Deutschland wie auch im internationalen Vergleich – werden routinemäßig derart viele Versorgungsdaten erfasst wie in der Deutschen Suchthilfestatistik. Viele dieser Daten bilden die Grundlage für die europäische Drogenberichterstattung, stellen wichtige Bezugswerte für Forschungsarbeiten dar oder sind Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung von Therapiekonzepten und Versorgungsstrukturen.

    Dennoch stellt sich nach der intensiven Überarbeitung des KDS die Frage, ob und inwieweit die damit dokumentierenden Einrichtungen diese differenzierte Fülle ihrer Daten nun auch besser für die eigenen fachlichen und versorgungspolitischen Interessen werden nutzen können. Die bekannten riesigen Tabellen der bisherigen Standardauswertungen haben mit ihrer Datenfülle vermutlich mit dazu beigetragen, dass viele Tätigkeitsberichte vor allem von ambulanten Einrichtungen sich seit Jahren unverändert auf nur wenige Daten zur Gesamtklientel und auf einzelne, meist behandlungsorientierte Maßnahmendaten beschränkten. Dabei ist sicher jedem Praktiker bewusst, wie wenig aussagekräftig solche Gesamtdaten in aller Regel für eine Einrichtung sind: Je offener der Zugang zur Einrichtung ist, je vielfältiger die Problemlagen und aktuellen Bedürfnisse der Hilfe suchenden Menschen sind und je differenzierter dann auch das Leistungsangebot der Einrichtung ist, desto inhaltsleerer sind zwangsläufig statistische Aussagen zur Gesamtklientel und zur Gesamtheit der Maßnahmen.

    Interne Qualitätsentwicklung und fachlich sinnvolles Controlling

    Mit der Aktualisierung zum KDS 3.0 wurde nun die bisherige Datenfülle ganz gezielt auf mehreren Ebenen noch ausdifferenziert und erweitert. Damit sollen den Einrichtungen bessere und auch neue Möglichkeit an die Hand gegeben werden, ihre dokumentierten Daten für Prozesse der internen Qualitätsentwicklung, aber auch für ein fachlich sinnvolles Controlling und für nutzerorientierte (politische) Steuerungen einzusetzen. Solche Dokumentationsdaten sind ja als Merkmalskombinationen ‚Indikatoren‘ für Versorgungswirklichkeiten und damit Bezugspunkte für notwendige fachliche und versorgungsorientierte Diskurse.

    Ein wesentliches Element dieser Differenzierung ist die Trennung von Einrichtungstyp und Leistungsangebot im KDS-E, die an verschiedenen Stellen im KDS-E und im KDS-F aufgegriffen wird. Damit soll der zunehmenden Komplexität des Suchthilfesystems Rechnung getragen werden: Es werden immer mehr und immer neue Hilfeangebote und Leistungsmodule entwickelt, die zu möglichst sinnvollen und individuellen ‚Behandlungsketten’ zusammengefügt werden müssen. Diese Komplexität noch zu beherrschen, ist zu einer zentralen Herausforderung für die Leistungsanbieter in der Suchthilfe geworden. In den kommenden Jahren werden die auf der Basis des KDS erfassten Daten der Deutschen Suchthilfestatistik eine sehr viel differenziertere Analyse der Entwicklungen im Hilfesystem ermöglichen.

    Lebenslagen, Teilhabe und Konsumveränderung

    Die Items zu psychosozialen Problemlagen bieten insbesondere den nicht ausschließlich mit Suchtbehandlung befassten Einrichtungen die Möglichkeit, Lebenslagen und aktuelle Hilfebedarfe ihrer Klienten differenziert abzubilden. Damit können in Relation zu Dauer und Intensität eigener Maßnahmen auch mögliche Wirkungen auf die Gesundheit und die Verbesserung sozialer oder beruflicher Teilhabe dieser Klienten in den Blick genommen werden – und zwar auch unabhängig von Änderungen in der Suchtdiagnostik.

    Gleichzeitig wurde mit der getrennten Erfassung von Konsumdaten und Suchtdiagnosen die Möglichkeit geschaffen, graduelle Verbesserungen im Konsumverhalten genauso zu erfassen wie Entwicklungen hin zu riskanten oder schädigenden Konsummustern. Diese Option ist keineswegs nur für die ambulante Suchthilfe mit ihren Angeboten zur Konsumreduzierung oder der Substitutionsbehandlung von Bedeutung, sondern eröffnet auch für die katamnestische Auswertung von Behandlungsleistungen eine differenziertere und alltagsrelevante Sicht.

    Die mit der Aktualisierung des KDS entwickelte systematische Abbildung der Versorgungslandschaft im Vorfeld, während und im Anschluss an die aktuelle Betreuung schafft schließlich die Möglichkeit, über den eigenen Einrichtungshorizont hinaus das Ausmaß von Vernetzungen in der Versorgungslandschaft differenziert zu betrachten und – auch unabhängig von definierten Behandlungspfaden – die Notwendigkeit und Funktionalität dieser Vernetzung zu thematisieren: Wenn die öffentliche Hand an der besseren Wirksamkeit von Sozialleistungen und anderen gesellschaftlichen Maßnahmen sowie an der Verbesserung der beruflichen Teilhabe suchtkranker Menschen interessiert ist, dann muss über das Behandlungssystem hinaus auch die Leistungsfähigkeit des gesamten Netzwerks psychosozialer Hilfen und Institutionen in den Blick genommen werden.

    Relation von Aufwand und Wirkung

    In den letzten Jahren hat es zahlreiche Ansätze zur politischen Steuerung der ambulanten Suchthilfe gegeben, die zwar in ihrer fachlichen Qualität höchst unterschiedlich waren, die aber letztlich alle aufgrund der bisherigen Datenbasis auf eine Steuerung nach „Leistungsmengen“ und damit Fallkosten hinausliefen. Mit den genannten Erweiterungen des KDS 3.0 gibt es nun in der Deutschen Suchthilfestatistik erste Ansätze auch zu fundierten Aussagen über die Relation von Aufwand und Wirkung für einzelne Klientengruppen oder einzelne Maßnahmen. Eine solche Entwicklung zu „wirkungsorientierten Steuerungskonzepten“ ist für die ambulante Suchthilfe als Leistung der Daseinsvorsorge sicher nicht unproblematisch. Umso wichtiger wird sein, dass die Fachkräfte dieser Einrichtungen eine möglichst hohe Kompetenz darin entwickeln, an die Fülle ihrer eigenen Daten fachlich sinnvolle und politisch relevante (wirkungsorientierte) Fragen zu stellen, ohne dabei die individuellen Interessen der Hilfe suchenden Menschen und die Abhängigkeit der einzelnen Einrichtung von Vernetzungsstrukturen aus dem Blick zu verlieren. Nach der erfolgreich beendeten Aktualisierung des KDS 3.0 müsste es deshalb im Interesse der Suchthilfeverbände liegen, ihre Mitglieder bei einem solchen Kompetenzerwerb bestmöglich zu unterstützen.

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zu den Autoren:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr und hat noch die fachliche Leitung zweier Landesprojekte (Projekt Su+Ber zur suchtrehabilitativ gestützten Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblemen und Projekt VVSub zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • Die Mitarbeitenden mitnehmen

    Die Mitarbeitenden mitnehmen

    Hildegard Winkler
    Hildegard Winkler

    Viele Krankenhäuser haben sich in den letzten Jahren nach KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen, www.ktq.de) zertifizieren lassen, so auch alle Kliniken in Trägerschaft des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), ausgenommen die Einrichtungen der Suchtrehabilitation, die nach dem DIN-ISO-basierten deQus-Modell zertifiziert sind. Nun hat das LWL-Klinikum Gütersloh für den Krankenhausbereich – als Pilot im LWL – zur DIN EN ISO 9001:2008 gewechselt. Das LWL-Klinikum umfasst die Kliniken für Allgemeine Psychiatrie, Gerontopsychiatrie, Psychosomatische Medizin, Suchtmedizin sowie die Kliniken für Innere Medizin und Neurologie. Insgesamt handelt es sich um 449 Betten/Tagesklinik-Plätze, drei Ambulanzen und ca. 500 Stellen.

    Ziel der Zertifizierung nach DIN ISO war es, Qualitätsmanagement (QM) als effektives Managementinstrument auszubauen, die Mitarbeitenden einzubeziehen und dabei ressourcensparend vorzugehen.

    Warum DIN ISO?

    Ein QM-System zu implementieren, macht Arbeit, unabhängig davon, an welchen Vorgaben eine Einrichtung sich orientiert. Aufbau- und Ablauforganisation müssen geklärt sein, regelmäßige Überprüfungen und Verbesserungen im Sinne des PDCA-Zyklus nach Deming (Plan – Do – Check – Act) sind nachzuweisen. Im LWL-Klinikum Gütersloh haben wir die DIN ISO gewählt, weil sich deren Anforderungen konkret auf diejenigen Prozesse richten, die tatsächlich in der Einrichtung ablaufen. Kernaufgabe ist es, in einem QM-Handbuch die wesentlichen Arbeitsabläufe und die sicherheitsrelevanten Prozesse darzustellen. Geregelt werden die Prozesse mit dem Ziel, ein reibungsloses Ineinandergreifen und Funktionieren zu gewährleisten, möglichen Risiken vorzubeugen und Schnittstellen zu optimieren.

    Wir haben bei der Beschreibung der Prozesse die Sichtweisen der mit den Abläufen vertrauten Mitarbeitenden einbezogen, um die Regelungen wirklich an der Arbeitsrealität auszurichten. Ein solches Vorgehen erleichtert es zugleich, die Mitarbeitenden für das QM zu gewinnen, denn i. d. R. empfinden es Mitarbeitende als Wertschätzung, wenn sie gefragt werden, was ihre Arbeit ausmacht. In jährlichen internen Audits wird dann geprüft, ob die realen Arbeitsabläufe den Regelungen des Handbuchs entsprechen und ob die Regelungen geeignet sind, die Qualitätsziele der Einrichtung zu erfüllen. Gleichzeitig dienen die Audits dem Austausch zwischen der/dem Qualitätsmanagementbeauftragten (QMB) und den Mitarbeitenden, Hinweise auf Verbesserungsbedarf gelangen dem Qualitätsmanagement zur Kenntnis, Maßnahmen werden mit den Mitarbeitenden vereinbart. Unmittelbare Praxisrelevanz erhält das QM-Handbuch aber erst dann so richtig, wenn Mitarbeitende sich damit aktiv auseinandersetzen und z. B. selbst darauf hinweisen, dass ein Arbeitsablauf zu Unsicherheiten, Konflikten oder Doppelarbeiten führt und deshalb geregelt werden sollte. Dann stehen wirklich diejenigen Prozesse im Fokus, bei denen Handlungsbedarf besteht, und die Kernfragen der QM-Arbeit sind „Was brauchen wir?“, „Was nützt unserer Einrichtung?“.

    Zentral werden diese Fragen jährlich im Management-Review der obersten Führungsebene gestellt. Im Rahmen dieses strategischen Management-Instruments wird das gesamte QM-System überprüft und bewertet. Die Ergebnisse der Audits fließen ebenso mit ein wie die des Beschwerde-, Fehler- und Risikomanagements, und auf der Grundlage der Bewertung werden Qualitätsziele festgelegt und zukünftige Entwicklungsschwerpunkte definiert.

    Zertifizierung als ‚Sahnehäubchen‘?

    Die Mitarbeitenden in die Erarbeitung von Prozessbeschreibungen einbeziehen, sich in internen Audits regelmäßig über die Vorgaben austauschen, gemeinsam Verbesserungen erarbeiten – das sind wichtige Bausteine eines lebendigen Qualitätsmanagements. Die Zertifizierung selbst sollte dann einen weiteren Motivationsschub geben und keinesfalls als übermäßige Belastung erlebt werden.

    Bei einer DIN-ISO-Zertifizierung werden alle Bereiche einer Einrichtung einbezogen. Uns besuchten zwei Auditoren vier Tage lang. Im Anschluss an ein dreistündiges Audit des Direktoriums und der Personalleitung auditierten sie nahezu alle Stationen sowie die Tageskliniken und Ambulanzen aller Klinken. Insgesamt waren 109 Mitarbeitende beteiligt. Sie alle haben eine direkte Rückmeldung über ihre Arbeit bekommen, da die Auditoren zum Abschluss eines jeden Audits die Stärken und die Verbesserungshinweise detailliert benannten.

    Im Mittelpunkt des Zertifizierungsaudits stand die Patientin/der Patient im Krankenhaus, d. h. die beiden Auditoren haben versucht, den ‚Weg des Patienten‘ in seiner individuellen Behandlung nachzuvollziehen. Darüber hinaus stand das Sicherheits- und Risikomanagement im besonderen Fokus. Die Bewertungsperspektive der Auditoren war einerseits auf das Risikomanagement der Prozesse ausgerichtet, mit dem Ziel, uns Hinweise auf mögliche ‚blinde Flecken‘ zu geben und auf Gefahren hinzuweisen: ein nicht abschließbarer Medikamentenschrank, Risiken bei der Medikamentenvergabe, fehlende CE-Zeichen auf den älteren Geräten der Physiotherapie – durchaus wertvolle Hinweise, die unsere eigenen Ziele unterstützen, Risiken zu verringern und Qualität weiterzuentwickeln. Gleichzeitig fokussierten die Auditoren immer wieder die Ergebnisqualität und gaben Denkanstöße, wie die Qualität der Behandlung besser gemessen werden könnte. Dies ist bekanntermaßen gerade auch im Hinblick auf das neue Vergütungssystem PEPP ein sehr wichtiger Aspekt. Immer wieder ging die Reflexion dahin, wie Ergebnisse noch stärker in das Qualitätsmanagement einfließen können.

    Im Audit der Leitung stand das Management von Qualität im Mittelpunkt der Betrachtung. Das Direktorium erhielt Hinweise darauf, wie Qualitätsmanagement noch konsistenter als Führungsinstrument zur strategischen Planung genutzt werden kann.

    Wie erlebten die Mitarbeitenden das Audit?

    Nach Abschluss des Zertifizierungsprozesses haben wir die beteiligten Mitarbeitenden gebeten, das Audit anhand eines Fragebogens zu bewerten. 65 Bögen wurden zurückgegeben, die Rücklaufquote beträgt 60 Prozent. An der Befragung beteiligten sich alle Berufsgruppen, Antworten aus Pflege, Medizin und Therapie sind in nahezu gleicher Anzahl vertreten.

    Etwa drei Viertel der Antwortenden bewerteten den Auditprozess als „sehr gut“ oder „gut“ und hatten den Eindruck, dass die Auditoren das Arbeitsfeld gut verstanden haben.

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    Weitere Fragen an die Mitarbeitenden waren:

    Was hat Ihnen in dem Audit besonders gut gefallen?

    Mitglieder der obersten Führungsebenen bewerteten positiv, dass nahezu alle Organisationseinheiten begangen wurden, dass das Audit einerseits keinen Prüfungscharakter hatte, andererseits aber Schwachstellen aufdeckte, und dass ein besonderer Fokus auf messbare Ergebnisqualität gelegt wurde.

    Die Mitarbeitenden hoben die wertschätzende Haltung der Auditoren und ein authentisches Interesse für das jeweilige Arbeitsfeld durchweg als positiv hervor. Sie berichteten, dass ein direkter Praxisbezug hergestellt wurde, die Fragen am ‚Weg des Patienten‘ orientiert waren, Arbeitsabläufe kritisch hinterfragt wurden und verbesserungsbedürftige Prozesse zielgerichtet aufgedeckt wurden. Es sei ein offener und kommunikativer Austausch mit den Auditoren entstanden. Die Auditoren hätten positive Rückmeldungen gegeben, die Verbesserungsvorschläge seien konstruktiv und gut annehmbar gewesen.

    Was hat Ihnen nicht gefallen?

    Einzelne kritische Stimmen waren auch zu vernehmen: Der Auditor habe das Leistungsspektrum der Abteilung nicht genau gekannt. Der Ablauf des Audits sei etwas unübersichtlich gewesen. Drei ärztlich-therapeutischen Mitarbeitenden genügten die Psychiatriekenntnisse des Auditors nicht. Einem Antwortenden hat es nicht gefallen, dass sein Bereich keine Verbesserungsvorschläge erhalten hat.

    Probleme mit dem Zeitmanagement wurden öfter genannt: Einigen war die Zeit zu knapp, anderen hat das Audit zu lange gedauert, in einem Fall wurde der geplante Zeitrahmen erheblich überzogen, in anderen Fällen begann das Audit mit Verspätung und es entstanden Wartezeiten für die Mitarbeitenden.

    Haben Sie Verbesserungshinweise bekommen?

    Mehr als drei Viertel der Antwortenden waren mit den Verbesserungshinweisen zufrieden. Ein Viertel bewertete die Verbesserungshinweise als „wenig nützlich“. Als Beispiele wurden angeführt: eine hohe Anspruchshaltung in Bezug auf die Visitenführung, Kritik an Fluchtwegen, obwohl diese feuerbehördlich abgenommen worden sind, die Fokussierung auf den Medikamentenschrank.

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    Welche Anregungen haben Sie bekommen?

    Die Mitglieder der obersten Führungsebenen hoben die stärkere Nutzung des Qualitätsmanagements als Führungsinstrument, die weitergehende Adaptierung von Expertenstandards und Hinweise zum Risikomanagement als wertvolle Anstöße hervor. In den Bewertungen der Teammitglieder lassen sich folgende Schwerpunkte erkennen:

    • Schnittstellenmanagement: Verbesserung der Zusammenarbeit mit anderen Bereichen und Berufsgruppen, Abstimmung von Abläufen, Überprüfung von Kommunikationsstrukturen
    • Dokumentation: rechtssichere Dokumentation in den Ambulanzen, stärkere Strukturierung der Dokumentation im Krankenhausinformationssystem (KIS)
    • Risikomanagement: Hygiene und Desinfektion, Medikamentenvergabe, Aufklärungspflicht, Sicherheit auf der Station
    • Nachweis von Ergebnisqualität: Evaluierung der Arbeit, Erarbeitung von Soll- und Ist- Kriterien, Erarbeitung von Leistungskennziffern

    Was halten Sie von den jährlichen Überwachungsaudits?

    In den beiden Jahren bis zur Rezertifizierung kommen die Auditoren ebenfalls ins Haus, um Überwachungsaudits durchzuführen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass begonnene Entwicklungen kontinuierlich weitergeführt und die vereinbarten Maßnahmen verbindlich umgesetzt werden. Qualitätsmanagement kann so nachhaltig alle Organisationsbereiche einer Einrichtung durchdringen und die Entwicklung eines Qualitätsbewusstseins bei den Mitarbeitenden fördern.

    Mehr als drei Viertel der Antwortenden finden es „sehr gut“ und „gut“, wenn die Auditoren jährlich ins Haus kommen. Wer die Verbesserungshinweise als nützlich bewertet, hofft, dass die jährliche Auditierung die Kontinuität der Qualitätsentwicklung unterstützt.

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    Es wurde der Wunsch geäußert, Qualitätsmanagement möge tatsächlich gelebt werden und ein authentischer Prozess mit einer fruchtbaren, berufsgruppenübergreifenden Diskussion möge entstehen.

    Wir empfehlen: DIN ISO!

    Unsere KTQ-Zertifizierung vor drei Jahren war erfolgreich – wir erreichten eine hohe Punktzahl und bekamen viel Lob von den Visitoren (so heißen die Auditoren bei der KTQ). Aber zusätzlich zum ganz normalen Aufbau eines QM-Systems hatten wir rund 250 Arbeitstage für das Verfassen von Berichten aufgewandt und etwa 800 Dokumente (sechs übervolle Aktenordner) kopiert und zur Einsichtnahme für die Visitoren zusammengestellt (und nach der Zertifizierung wieder entsorgt). Unsere Mitarbeitenden hatten wir mit Probevisitationen nervös gemacht, sodass sie versuchten, Prozessbeschreibungen und Berichte auswendig zu lernen. Visitiert wurden letztlich aber nur drei (!) Stationen (von 19). Nach der Zertifizierung war dann die Luft raus, und mit QM wollte keiner mehr etwas zu tun haben.

    Unsere Befragungsergebnisse zeigen nun deutlich, dass die Mitarbeitenden an der Weiterentwicklung von Qualität in ihrem Arbeitsfeld interessiert sind und die Instrumente des Qualitätsmanagements akzeptieren, wenn sie den Nutzen für ihre Arbeit erkennen. Geregelte Abläufe und nachvollziehbare Risikostandards geben Mitarbeitenden Sicherheit. Die Begehung nahezu aller Organisationseinheiten bei der Zertifizierung, die direkten und wertschätzenden Rückmeldungen und Anregungen der Auditoren und im Ergebnis eine überschaubare Anzahl relevanter Verbesserungshinweise motivieren zur Bearbeitung und lassen Qualitätsmanagement in der gesamten Einrichtung erlebbar und lebendig werden.

    Die Bernhard-Salzmann-Klinik (Suchtrehabilitation) ist seit 2003 nach dem deQus-Verfahren zertifiziert, daher waren wir von den Stärken einer DIN-ISO-Zertifizierung überzeugt. Überrascht und erfreut hat uns jedoch die positive Einschätzung der Mitarbeitenden auch im Krankenhausbereich.

    Kontakt:

    Hildegard Winkler
    LWL-Klinikum Gütersloh
    Buxelstraße 50
    33334 Gütersloh
    Hildegard.Winkler@lwl.org

    Angaben zur Autorin:

    Hildegard Winkler ist Qualitätsmanagerin im LWL-Klinikum Gütersloh und in der Bernhard-Salzmann-Klinik.