Schlagwort: Resilienz

  • Psychosoziale Belastungen und Suchtmittelkonsum von unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    Psychosoziale Belastungen und Suchtmittelkonsum von unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz
    Sabine Köhler

    Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre alt sind und ohne Eltern bzw. Erziehungsberechtigte in Deutschland einreisen, wurden zunächst „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ (umF) genannt. Seit 2015 wird der Begriff „unbegleitete minderjährige Ausländer/innen“ (umA) verwendet, das BAMF spricht von „unbegleiteten Minderjährigen“. Alle Bezeichnungen sind inhaltlich nicht zufriedenstellend. So vernachlässigt der Begriff „Ausländer/innen“, dass Jugendliche ihr Heimatland unfreiwillig verlassen haben und besonders schutzbedürftig sind. Die Bezeichnung „Flüchtling“ beinhaltet Verwechslungsgefahr mit dem asylrechtlichen Status. Unbegleitete minderjährige Ausländer/innen erhalten zunächst eine Duldung. Vielen der Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt und eine Flucht ohne Eltern bedeutet weit mehr als eine fehlende „Begleitung“. 

    Diese Kinder und Jugendlichen werden durch das Jugendamt in Obhut genommen und erhalten Leistungen der Jugendhilfe (SGB VIII). Dem Mediendienst Integration zufolge habe das Bundesfamilienministerium auf Anfrage mitgeteilt, dass Anfang 2018 rund 28.500 unbegleitete Minderjährige und 25.500 junge Volljährige in der Zuständigkeit der Jugendhilfe waren. Die Zahl der jungen Volljährigen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, da viele Jugendliche im Verlauf der Jugendhilfemaßnahme volljährig geworden sind („junge volljährige Ausländer/innen“). Ein Verbleib in der Jugendhilfe ist über das 18. Lebensjahr hinaus bis maximal zum 21. Lebensjahr nach § 41 SGB VIII möglich, wenn besondere Gründe dafür vorliegen, der bzw. die Jugendliche dies beantragt und das Jugendamt diesem Antrag zustimmt.

    Im Wissen um die oben beschriebenen und weitere Kritikpunkte wird zur besseren Lesbarkeit dennoch im Folgenden die Abkürzung „umA“ benutzt bzw. von Jugendlichen gesprochen. Darin sind auch die über 18-Jährigen eingeschlossen.

    Die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    Bei denjenigen, die als umA in Deutschland ankommen, handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe. Die überwiegend männlichen Kinder und Jugendlichen kommen aus verschiedenen Ländern, der Großteil stammt derzeit aus Afghanistan und Syrien. Vor ihrer Flucht waren sie in unterschiedlichem Ausmaß Bedrohung, Gewalt, Verfolgung, Folter, Krieg/Bürgerkrieg usw. ausgesetzt. Es gibt nicht wenige Jugendliche, die von erlebten Entführungen und/oder Foltermethoden wie Scheinhinrichtungen, Elektroschocks oder Aufhängen an den Füßen berichten.

    UmA unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Fluchtgründe, auf ihr Alter bei Beginn der Flucht, auf die Dauer der Flucht und deren Verlauf. Eine Flucht aus dem Sudan mit der Durchquerung der Sahara, einem Aufenthalt in Libyen und der Überquerung des Mittelmeers ist mit einer Vielzahl lebensbedrohlicher Situationen verbunden, meist auch mit anhaltender oder wiederholter schwerwiegender interpersoneller Gewalt – diese erleben sie selbst und/oder werden Zeuge davon, häufig auch von Todesfällen (z. B. Ertrinkende im Mittelmeer). UmA unterscheiden sich außerdem hinsichtlich ihrer Herkunftsfamilie, ihrer Familiensituation, der Schul- und beruflichen Ausbildung, ihrer Interessen und Kompetenzen etc. Vor diesem Hintergrund werden umA einerseits als besonders belastet, vulnerabel und schutzbedürftig beschrieben, andererseits als besonders resilient und flexibel.

    Für alle umA ist das Leben in Deutschland mit der Erfahrung verbunden, sich in einer bis dato fremden Kultur mit teilweise anderen Normen und Werten orientieren und zurechtfinden zu müssen. Dies verlangt das Erlernen einer neuen Sprache und etliche weitere gesellschaftliche, soziale und kulturelle Anpassungsleistungen (vgl. z. B. Eisbergmodell nach E. Hall in Müller & Gelbrich, 2014). Interkulturelle Schwierigkeiten und Akkulturationsstress (siehe auch Kulturschockmodell nach K. Oberg in Erll & Gymnich, 2013) sind die Regel, auch von Diskriminierungs­erfahrungen wird berichtet.

    Mehr oder weniger offensichtlich leiden umA unter dem Verlust wichtiger Bezugspersonen, vermissen die (Kern-)Familie und Freunde. Auch wenn mit Hilfe von Smartphones der Austausch leichter möglich ist als früher, bricht dieser häufig ab oder beinhaltet Nachrichten über den Tod von Verwandten, Freunden oder Nachbarn. Viele leiden unter Schuldgefühlen, selbst in Sicherheit zu sein. Hinzu kommt die Unmöglichkeit, die Trauerprozesse in der Familie mit zu vollziehen. Häufig besteht der Wunsch, die Familie zu unterstützen oder einen „Auftrag der Familie“ zu erfüllen.

    Im Gegensatz zur Idee, dass das Ankommen in Deutschland Sicherheit und Ruhe bedeutet, sind die Jugendlichen mit vielfältigen Unsicherheiten konfrontiert: Das Asyl- und Aufenthaltsrecht, die unterschiedlichen Aufenthaltstitel und die vielfachen Neuerungen und Veränderungen sind selbst bei verbessertem Sprachniveau kaum durchschaubar. Der unsichere Aufenthaltsstatus, das Warten auf die Anhörung und auf den Bescheid sowie eine prekäre soziale Situation und eine ungeklärte Zukunftsperspektive stellen weitere Belastungen dar.

    Der Schulbesuch ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden: Viele Jugendliche müssen eine neue Schrift und fast alle müssen die Sprache erlernen. Das deutsche Schul- und Ausbildungssystem mit seinen vielfältigen Wegen, das Verhalten der Lehrer/innen und  Schüler/innen und ihr Umgang miteinander, die Vermittlung des Unterrichtsgegenstands usw. unterscheiden sich von den Bedingungen im Herkunftsland und bergen vielfältige Anlässe für Missverständnisse. Häufig wird darauf bestanden, eine „richtige Schule“ besuchen zu können. Der Besuch der Regelschule ist aufgrund des Alters, der nicht ausreichenden Sprachkenntnisse und vielfach auch der Schulbildung oft nicht bzw. nicht sofort möglich. Zeitgleich haben umA Entwicklungsaufgaben zu bewältigen.

    Viele Jugendliche leiden unter Stress- und Trauma­folge­symptomen wie sich aufdrängenden unangenehmen Erinnerungen, Schlafstörungen sowie Kopf- und Bauchschmerzen, die die schulische und berufliche Entwicklung behindern. Zu beachten ist außerdem, dass u. a. Hoffnungslosigkeit, ein fehlendes Zugehörigkeitserleben, der Eindruck, anderen eine Last zu sein, und Schlafstörungen Risikofaktoren für Suizidalität sind (Teismann et al., 2016).

    Für diese psychischen Belastungen existieren wirksame Behandlungsmethoden, die z. T. adaptiert werden müssen (verändertes Setting aufgrund der Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen, unterschiedliche Krankheits- und Heilungskonzepte, kultursensibles Vorgehen, Auftreten aktueller Stressoren und kritischer Lebensereignisse infolge der Migration und der Situation im Heimatland usw.) Der Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung ist erschwert, da viele Jugendliche entsprechende Behandlungsangebote vor dem Hintergrund kultureller Zuschreibungen (zunächst) ablehnen, aber auch, weil viele Behandler/innen der Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen und Kulturvermittler/innen zurückhaltend bis skeptisch gegenüber stehen.

    Das Zusammenleben mit anderen umA ist teils hilfreich (Verständigung in der Muttersprache, Erklärungen und Unterstützung durch die „Erfahreneren“), teils aber auch eine Herausforderung für jeden Einzelnen. Allein die unterschiedliche Bedeutung von Gesten in verschiedenen Ländern (Reker & Grosse, 2010) bietet vielfältige Möglichkeiten für Missverständnisse. Auch Jugendliche aus demselben Land unterscheiden sich oft im Hinblick auf ihre (religiöse) Einstellung und ihre Sozialisation. Dementsprechend ist die Ausübung von sozialem Druck nicht selten und stellt für die persönliche Weiterentwicklung mitunter ein Hemmnis dar. Die erlebten Anforderungen an Eigenständigkeit während der Flucht erschweren mitunter das Einhalten der in den Jugendhilfeeinrichtungen geltenden Routinen und Regeln und andere Anpassungsleistungen.

    Explorative Untersuchung des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe

    Um Hinweise auf konkrete psychosoziale Belastungen, den Suchtmittelkonsum und die Ressourcen von unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Ausländer/innen zu erhalten, führte der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) eine explorative Untersuchung durch. Befragt wurden 140 Klienten/innen und ihre Bezugsbetreuer/innen in den eigenen stationären Jugendhilfeeinrichtungen. Der Verein bietet neben Jugend- und Suchtberatung, Betreutem Wohnen, Rehabilitation und Pflege auch Hilfen für Bildung und Erziehung sowie ambulante und stationäre Jugendhilfe an. In mehreren Einrichtungen besteht ein vollstationäres pädagogisches Betreuungsangebot auf der Grundlage des SGB VIII, Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27, 34, auch in Verbindung mit §§ 35a, 41 und 42.

    Die Erkenntnisse der Befragung sollen dazu genutzt werden, die Betreuungs- und Behandlungsangebote für junge Ausländer/innen mit Fluchthintergrund pass- und zielgenau weiterzuentwickeln. Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.

    Folgende Einrichtungen des Vereins waren an der vorliegenden Untersuchung beteiligt (Tab. 1):

    Tab. 1: Beteiligte Einrichtungen

    Methodik

    Stichprobe und Einschlusskriterien

    Zwischen dem 14. und 25. August 2017 wurden in den oben aufgelisteten stationären Jugendhilfeeinrichtungen insgesamt 140 Klienten/innen und ihre Bezugsbetreuer/innen befragt. Es handelt sich um eine Vollerhebung, es gab keine Ausschlusskriterien. 

    Messinstrumente

    Folgende Messinstrumente wurden eingesetzt:

    • ein selbst entwickeltes Fremdbeurteilungsinstrument zur Erfassung der Belastungen und des Suchtmittelkonsums der Jugendlichen, das von dem/der zuständigen Bezugsbetreuer/in auszufüllen war,
    • deutsche Version und Übersetzung (in die jeweilige Muttersprache) des SDQ (Strengths and Difficulties Questionnaire; Goodman, 2005). Dieser Fragebogen zu emotionalen und verhaltensspezifischen Stärken und Schwächen wurde von der/dem Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen bearbeitet. Subskalen: Emotionale Probleme, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen, Prosoziales Verhalten.

    Ergebnisse

    Das Datenmaterial besteht aus den Angaben der Bezugsbetreuer/innen zu 140 von ihnen betreuten unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Ausländer/innen.

    Soziodemographische Daten

    Die betreuten Jugendlichen sind im Alter von 13 bis 21 Jahren. Davon sind 95 Prozent männlich und fünf Prozent weiblich. 82,1 Prozent der umA sind zwischen 16 und 18 Jahre alt, zehn Prozent sind zum Erhebungszeitpunkt volljährig, und 7,9 Prozent sind jünger als 16 Jahre.

    Herkunft und Aufenthalt in Deutschland

    Ein Großteil der umA kommt ursprünglich aus Afghanistan (54,3 Prozent), gefolgt von Syrien (17,1 Prozent) und Eritrea (6,4 Prozent). Weitere Herkunftsländer sind Äthiopien (2,9 Prozent), Guinea (3,6 Prozent), Iran (2,1 Prozent), Myanmar (2,1 Prozent), Pakistan (2,1 Prozent), Somalia (2,9 Prozent) und weitere Länder (6,3 Prozent). 22 Prozent der Jugendlichen leben kürzer als ein Jahr in Deutschland, 56 Prozent seit einem bis zwei Jahren und 22 Prozent seit über zwei Jahren.

    Flucht

    Die Fluchtdauer der Jugendlichen variiert. Die meisten (58,2  Prozent) waren länger als einen Monat, 15,7 Prozent über sechs Monate und sechs Prozent über ein Jahr auf der Flucht. Bei etwas mehr als 20 Prozent der Jugendlichen dauerte die Flucht weniger als einen Monat (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Fluchtdauer (Angabe in Prozent)

    Der Anteil der Jugendlichen, die auf dem Landweg geflüchtet sind, beträgt 39,7 Prozent. 51,5 Prozent flüchteten mit dem Boot und auf dem Landweg, 8,5 Prozent kamen per Flugzeug nach Deutschland. 

    Lebensbedrohung

    Die Fachkräfte geben an, dass für 81,2 Prozent der Jugendlichen eine Lebensbedrohung im Heimatland und/oder auf der Flucht bestand. In 63,9 Prozent der Fälle gibt es zusätzlich zu den Schilderungen der Jugendlichen weitere Hinweise auf eine solche Bedrohung. Die Items „Lebensbedrohung des Jugendlichen im Heimatland bzw. auf der Flucht“ und das Item „Konfliktbewältigung“, mit dem die Fähigkeit beurteilt wird, in sozialen Konflikten zu bestehen, korrelieren signifikant negativ. Mit der „Lebensbedrohung“ korreliert außerdem das Item „emotionale Stabilität“. Je mehr Lebensbedrohung angegeben wird, desto schlechter wird die emotionale Stabilität und die Konfliktbewältigung bewertet.

    Die Items beziehen sich auf die „Zielerreichungsskala“, mit der in den umA-Einrichtungen von JJ gemessen wird, inwieweit die Jugendlichen in der Lage sind, eigenverantwortlich und gemeinschaftsfähig zu handeln. Diese Ziele der Jugendhilfemaßnahme leiten sich ab von § 1 SGB VIII. Um den jeweiligen individuellen Entwicklungsstand abzubilden, werden zu Beginn, halbjährig im Verlauf und am Ende der Maßnahme verschiedene Kompetenzen und Verhaltensweisen der Jugendlichen bewertet. Die Bewertung erfolgt anhand einer Punkteskala von 0 bis 10 Punkten, wobei mit verbessertem Entwicklungsstand oder Erfüllungsgrad der Anforderung die Punktzahl wächst. Die Bewertung findet jeweils in Kleingruppen von Mitarbeitern/innen statt.

    Kontakt zu Angehörigen

    Nach Angaben der Fachkräfte haben 63,5 Prozent der Jugendlichen Angehörige in Deutschland, 81,6 Prozent Angehörige im Heimatland. In den meisten Fällen besteht Kontakt zur Familie (67,6 Prozent). Bei 25,6 Prozent der Jugendlichen sind Angehörige gegenwärtig auf der Flucht und befinden sich somit in einer ungeklärten und oftmals gefährlichen Situation. 70,9 Prozent haben Freunde im Heimatland. Auch Freunde sind gegenwärtig auf der Flucht (18,1 Prozent). 36,5  Prozent haben keine Angehörigen in Deutschland (s. Tab. 2).

    Tab. 2: Angehörige und Freunde

    Suizidversuche und selbstverletzendes Verhalten

    17 Prozent der Jugendlichen äußerten im Rahmen der stationären Jugendhilfe einmalig oder mehrfach Suizidgedanken. 4,4 Prozent der Jugendlichen haben einmalig einen Suizidversuch unternommen. Einmaliges oder mehrfaches selbstverletzendes Verhalten liegt in 15 Prozent der Fälle vor (s. Tab. 3).

    Tab. 3: Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten

    Inanspruchnahme von Behandlungen

    14,5 Prozent der Jugendlichen nehmen seit Eintritt in die Einrichtung regelmäßig Termine im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung wahr. 14,3 Prozent der Jugendlichen nehmen regelmäßige Termine im Rahmen einer psycho­therapeutischen Behandlung wahr.   

    EVAS-Dokumentation

    Unabhängig von der dargestellten Untersuchung werden Verlaufsmessungen in allen JJ-Einrichtungen im Rahmen der EVAS-Dokumentation durchgeführt (EVAS = Dokumentationssystem für Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität in der Kinder- und Jugendhilfe). 

    Schule

    Fast 90 Prozent der Jugendlichen haben einen Schulplatz, 7,1 Prozent haben einen Ausbildungsplatz. Die meisten der Jugendlichen besuchen eine „InteA“-Klasse. Das hessische Integrationsprogramm InteA ist ein Angebot für Schülerinnen und Schüler, die erst grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben müssen. Jugendliche Flüchtlinge, die noch nicht volljährig sind, lernen zwei Jahre lang Deutsch und werden parallel dazu auf den Hauptschulabschluss vorbereitet. Von den umA in den Einrichtungen von JJ haben bisher sechs Prozent einen Schulabschluss erreicht.

    Suchtmittelkonsum

    Von den 140 Jugendlichen konsumierten nach Angaben der Bezugsbetreuer/innen in den letzten 30 Tagen insgesamt 39,3 Prozent Suchtmittel (inklusive Nikotin), 48,6 Prozent lebten abstinent, und bei 12,1 Prozent der Jugendlichen war keine Einschätzung möglich bzw. der Konsum unbekannt.

    Das im letzten Monat am häufigsten konsumierte Suchtmittel ist Nikotin mit 35,9 Prozent. Alkohol wurde von 17,8 Prozent der Jugendlichen konsumiert, Cannabis von 8,1 Prozent und Beruhigungsmittel von 3,6 Prozent der Jugendlichen. So genannte harte Drogen wurden nicht konsumiert. Auch Verhaltenssüchte wie Glücksspiel spielten keine Rolle.

    Abb. 2: Suchtmittelkonsum (Angabe in Prozent) in den letzten 30 Tagen, Angaben der Bezugsbetreuer/innen

    Cannabiskonsum

    Tabelle 4 stellt die Antworten der Bezugsbetreuer/innen zum Cannabiskonsum der Jugendlichen dar. Interessant sind sie im Vergleich zu den Ergebnissen einer Befragung von gleichaltrigen Schüler/innen in Frankfurt am Main (N = 1.509). Laut Angaben der Bezugsbetreuer/innen und soweit bekannt konsumieren die umA seltener Cannabis (7,8 Prozent) als Frankfurter Schüler/innen (23 Prozent; vgl. Werse et al. 2016).

    Tab. 4: Cannabiskonsum innerhalb der letzten 30 Tage: *Angaben der Bezugsbetreuer/innen und Befragung von Schüler/innen in Frankfurt am Main (Werse et al. 2016)

    Alkoholkonsum

    Zieht man die Vergleichszahlen zum Alkoholkonsum heran, ergibt sich das in Tabelle 5 dargestellte Bild:

    Tab. 5: Alkoholkonsum innerhalb der letzten 30 Tage: *Angaben der Bezugsbetreuer/innen und Befragung von Schüler/innen in Frankfurt am Main (Werse et al. 2016)

    Auffällig ist hier, dass nach Angaben der Bezugsbetreuer/innen in den Einrichtungen von JJ 61,4 Prozent der Jugendlichen keinen Alkohol konsumieren, wohingegen in der herangezogenen Vergleichsstichprobe (Schüler/innen aus Frankfurt/Main) nur 43 Prozent angeben, keinen Alkohol zu konsumieren.

    Vorfälle aufgrund von Alkohol oder illegalen Suchtmitteln

    Im Fragebogen sollten die Fachkräfte angeben, ob es seit Betreuungsbeginn Vorfälle aufgrund des Konsums von Alkohol oder illegalen Suchtmitteln gegeben hat, was bei 23 Prozent der Jugendlichen der Fall war (vgl. Tab. 6).

    Tab. 6: Vorfälle aufgrund von Suchtmittelkonsum seit Betreuungsbeginn

    Bei der Betrachtung aller umA, die durch Vorfälle im Zusammenhang mit Alkohol oder illegalen Suchtmitteln in der Einrichtung auffällig wurden, ergeben sich signifikante Unterschiede in den Kategorien Selbstfürsorge und Konfliktbewältigung. Bei ihnen wurden Selbstfürsorge und Konfliktbewältigung als noch nicht ausreichend eingeschätzt.

    Die Gruppe der Konsumierenden

    Um herauszufinden, ob die Gruppe der Suchtmittel-Konsument/innen Besonderheiten aufweist, wurde ein Gruppenvergleich vorgenommen: Als Konsumierende wurden diejenigen klassifiziert, die laut Bezugsbetreuung in den letzten 30 Tagen einmalig oder mehrfach Cannabis konsumiert haben und/oder öfter als einmal – d. h. wöchentlich oder mehrfach wöchentlich – Alkohol konsumiert haben (n=21). Als Vergleichsgruppe wurden diejenigen herangezogen, bei denen kein Cannabiskonsum vorliegt und die während der letzten 30 Tage höchstens einmal Alkohol getrunken haben (n=117; von diesen 117 umA haben 106 während der letzten 30 Tage gar keinen Alkohol getrunken, elf haben während der letzten 30 Tage einmal Alkohol getrunken). Folgende Unterschiede konnten festgestellt werden:

    • Herkunftsland: 76,2 Prozent der Konsumierenden kommen aus Afghanistan. Der Anteil der Afghanen ist auch in der Vergleichsgruppe hoch, aber mit 49,6 Prozent deutlich geringer.
    • Geschlecht: Der Frauenanteil ist in der gesamten Stichprobe gering, die Gruppe der Konsumierenden besteht jedoch ausschließlich aus männlichen umA. Die sechs weiblichen umA befinden sich allesamt in der Vergleichsgruppe. Auch wenn es sich um eine geringe Anzahl handelt
    • Dauer des Aufenthalts in Deutschland: Die Konsumierenden leben seit durchschnittlich 26 Monaten in Deutschland, die anderen erst seit 19,1 Monaten.
    • Suizidgedanken: Von den Konsumierenden hatten 46 Prozent einmal oder mehrfach Suizidgedanken. In der Vergleichsgruppe ist der Anteil der umA, die Suizidgedanken hatten, mit 15 Prozent deutlich geringer.
    • Selbstverletzendes Verhalten: Von den Konsumierenden zeigten 10 Prozent einmal und 19 Prozent mehrfach selbstverletzendes Verhalten (zusammen: 29 Prozent). In der Vergleichsgruppe waren es 5 Prozent (einmal) und 8 Prozent (mehrfach), zusammen waren es 13 Prozent.
    • Psychotherapeutische Behandlung seit der Aufnahme in der Einrichtung: Die Konsumierenden haben seit Betreuungsbeginn häufiger eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen: 45 Prozent vs. 27 Prozent.

    EVAS-Dokumentation

    Hierbei zeigen erste Messungen positive Entwicklungen in verschiedenen Bereichen. Der Anteil der Jugendlichen, die gut, sehr gut bzw. fließend Deutsch sprechen, erhöht sich innerhalb des ersten Betreuungsjahres von 15,2 Prozent auf 54,8 Prozent. Ebenso verbessert sich die Bleibeperspektive, was sich günstig auf die gesamte Betreuung auswirkt: Während zu Beginn der Maßnahme bei nur drei Prozent der Jugendlichen eine Anhörung bei der zuständigen Behörde schon erfolgt war und nur bei 6,3 Prozent ein Bescheid bereits vorlag, ist zum Hilfeende bei 21,4 Prozent eine Anhörung erfolgt und bei 16,7 Prozent liegt ein Bescheid vor. Bei 59,5 Prozent ist zum Hilfeende die „Aktenanlage erfolgt / Asylanatrag gestellt“.

    Mit der Ressourcenskala, die im EVAS-Dokumentationssystem zentral ist, werden verschiedene soziale, kommunikative und gesundheitliche Fähigkeiten des jeweiligen Jugendlichen eingeschätzt und abgebildet. Die Ressourcen der Jugendlichen konnten gestärkt werden. Besonders deutlich ist die Verbesserung in den folgenden Bereichen:

    • Soziale Integration (Fähigkeit, Freundschaften und Beziehungen zu pflegen oder Verantwortung in Gruppen zu übernehmen)
    • Selbstkonzept und Selbstsicherheit (Selbstbewusstes Bewältigen von Lebensaufgaben unter Berücksichtigung der eigenen Interessen)
    • Soziale Attraktivität (Beliebtheit bei Gleichaltrigen, Körperkonzept, Modeorientierung)

    Befragung der Jugendlichen mit dem SDQ

    Mit dem Fragebogen „Strengths and Difficulties Questionnaire“( SDQ) wurden die Jugendlichen selbst befragt. Der SDQ soll Auskunft über emotionale und verhaltensspezifische Stärken und Schwächen liefern. Für ihn liegen den Autoren keine Normwerte oder Vergleichswerte einer deutschen Normpopulation Jugendlicher vor. Zudem ist das Instrument mit methodischen Mängeln versehen, die Zurückhaltung bei der Interpretation notwendig machen (z. B. dreistufiges Nominalskalenniveau). Die Autoren haben den Fragebogen einerseits eingesetzt, da er in verschiedenen Übersetzungen vorlag, was eine Bearbeitung auch bei noch fehlenden Deutschkenntnissen ermöglicht und die laut hinzugezogener Dolmetscher/innen sorgfältig vorgenommen wurden, und andererseits, um Hinweise auf deutliche Besonderheiten zu erhalten.

    Als Vergleichsstichprobe wurden 27 Jugendliche einbezogen, die zum Erhebungszeitpunkt in der stationären Rehabilitationseinrichtung „Therapeutische Einrichtung Eppenhain“ wegen einer diagnostizierten Suchterkrankung behandelt wurden.

    Die Unterschiede in den Subskalen „Emotionale Probleme“, „externalisierende Verhaltensauffälligkeiten“, „Probleme mit Gleichaltrigen“ und „Prosoziales Verhalten“ sind nicht signifikant, was vor dem Hintergrund zu betrachten ist, dass die Vergleichsstichprobe eine klinische Stichprobe (Drogenabhängigkeit) ist. Nur in der Subskala „Hyperaktivität“ bestehen deutliche Unterschiede. Die umA erreichen deutlich geringere Hyperaktivitätswerte als die Vergleichsgruppe. Dieses Ergebnis lässt sich sinnvoll interpretieren, da für die meisten suchtmittelabhängigen Jugendlichen zusätzlich eine ADHS-Diagnose vorliegt.

    Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

    Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Mehrzahl der umA, die in den stationären Jugendhilfeeinrichtungen von JJ betreut werden, belastende Erfahrungen im Herkunftsland gemacht haben und in Deutschland vielfachen Anforderungen und Unsicherheiten gegenüberstehen. Es gelingt den meisten umA, in den Jugendhilfeeinrichtungen aktiv mitzuwirken, soziale Netzwerke aufzubauen, regelmäßig die Schule zu besuchen, Deutsch zu lernen und Suchtmittel nicht bzw. nicht in riskanter oder schädigender Weise zu konsumieren.

    Es gibt jedoch nach Einschätzung der Bezugsbetreuer/innen auch Jugendliche, deren emotionale Stabilität und Selbstfürsorge als nicht ausreichend eingeschätzt werden, die selbstverletzendes Verhalten oder Suizidalität zeigen oder im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum auffallen. Es liegen Zusammenhänge zwischen zurückliegenden Erfahrungen und aktuellen Problembewältigungsmustern vor.

    Obwohl es deutliche Hinweise auf Traumata gibt, nimmt die Mehrheit der Jugendlichen zu Beginn der Behandlung keine regelmäßigen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsangebote wahr, was damit zusammenhängen könnte, dass zu Beginn der Betreuung andere Probleme, wie z. B. die Frage des Aufenthalts, dominieren.

    Der Kontakt zu Freunden und Angehörigen hat einen messbaren Einfluss auf die aktuelle Lebenssituation und die Zukunftsängste in Deutschland. Außerdem zeigte sich, dass es einen Zusammenhang zwischen „Angehörige in Deutschland“ und „emotionale Stabilität“ gibt: Jugendliche, die Angehörige in Deutschland haben, erzielen höhere Werte bei der Zielerreichung im Bereich „emotionale Stabilität“. Das Gleiche gilt für die Befähigung zur Konfliktbewältigung.

    Der Kontakt zu Angehörigen – in Deutschland oder im Herkunftsland – hat positive Auswirkungen auf die Jugendlichen, weshalb sie darin unterstützt werden sollten, den Kontakt zu pflegen und aufrechtzuhalten.

    Suchtmittel sind Thema in der Betreuung, jedoch in der gegenwärtigen Situation zunächst nicht das dominierende Problem, auch wenn der Suchtmittelkonsum durchaus in Teamsitzungen und Gesprächen mit den Jugendlichen eine Rolle spielt. Durch die im Abschnitt „Suchtmittelkonsum“ beschriebenen Ergebnisse lässt sich veranschaulichen, dass die Dauer der Flucht einen Einfluss auf das Ausmaß des Cannabiskonsums der Jugendlichen hat. Auffällig ist, dass die hohen Werte im Bereich „Vorfälle mit Suchtmitteln oder Alkohol in der Einrichtung“ nicht gedeckt werden von den konkreten Benennungen zum Suchtmittelkonsum durch die Fachkräfte. Dies ist ein Hinweis darauf ist, dass der tatsächliche Konsum möglicherweise höher ist als der bekannte.

    Schlussfolgerungen für die Praxis

    Ein Teil der  unbegleiteten minderjährigen bzw. jungen Ausländer/innen leidet an psychischen Erkrankungen, viele werden noch nicht entsprechend behandelt. Sowohl das Gesundheitssystem als auch die Suchthilfe sind gefordert, entsprechende Konzepte für die Behandlung von umA anzuwenden bzw. weiterzuentwickeln. Vielen umA ist das deutsche Versorgungssystem nicht bekannt, und viele der hiesigen Angebote sind im Herkunftsland unbekannt. Deshalb gibt es in den Einrichtungen von  Jugendberatung und Jugendhilfe e.V. z. B. suchtspezifische Informationsangebote in den umA-Einrichtungen sowie Suchtberatungsstellen mit Angeboten für Geflüchtete, die unterschiedlich gut angenommen werden.

    Für einen Einstieg in den deutschen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind das Erlernen der deutschen Sprache sowie das Erreichen eines Schulabschlusses entscheidende Voraussetzungen. Hinsichtlich der schulischen Vorbildung und der sprachlichen Kenntnisse haben die Jugendlichen ungleiche Ausgangslagen. Dementsprechend benötigen sie unterschiedliche, flexible und ihrer individuellen Ausgangslage gerecht werdende Unterstützungsangebote. 

    Suchtmittelkonsum spielt im Betreuungsalltag eine Rolle, ist für die Mehrheit der Jugendlichen jedoch kein vordringliches Problem. Es stehen zunächst andere Probleme im Vordergrund. Zudem fällt das Reden über Suchtmittelkonsum oftmals schwer, z. B. weil das Thema Sucht schambesetzt ist oder Suchtmittelkonsum im Herkunftsmilieu als Sünde gilt. Hier helfen Prävention und Aufklärung. Informationsorientierte Suchtpräventions­veranstaltungen sind sinnvoll, auch um weiterführende (möglicherweise unbekannte) Unterstützungsangebote transparent und zugänglich zu machen. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass diese von vielen Jugendlichen angenommen und mit Interesse verfolgt werden. Im Falle derjenigen Jugendlichen, die regelmäßig konsumieren, kommt es darauf an, ein Problembewusstsein zu schaffen und ihnen das Suchthilfesystem gegebenenfalls überhaupt erst näher zu bringen.

    Aufgrund der Gegebenheiten in der Jugendhilfe (z. B. Ausgangsregelungen) ist bei einem Gutteil der Jugendlichen unklar, ob und in welchem Umfang sie Suchtmittel konsumieren, auch wenn die Bezugsbetreuer/innen meist eine sehr enge Arbeitsbeziehung zu den Betreuten haben. Daher plant der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe im nächsten Jahr eine Befragung der Jugendlichen zu ihrem Suchmittelkonsum.

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Sabine Köhler
    Dipl.-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin
    Villa Anna – Stationäre Jugendhilfe-Einrichtung, Eppstein
    Theodor-Fliedner-Weg 5
    65817 Eppstein
    sabine.koehler@jj-ev.de
    Tel. 069/06198 5746-0

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13 

    Literatur
    • Donath, C., Gräßel, E., Baier, D., Hillemacher, T. (2013). The prevalence of suicidal thoughts and attempts in a representative sample of German adolescents. Vortrag am XIV. International Congress of the International Federation of Psychiatric Epidemiology: 6. Juni 2013. Leipzig
    • Kunz, D., Schneider, D. (2017). Flucht und Sucht, in: SuchtAktuell, Heft 02.17, https://www.sucht.de/heft-22017-746.html
    • Lohbeck, A., Schultheiß, J., Petermann, F., Petermann, U. (2005). Die deutsche Selbstbeurteilungsversion des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ-Deu-S). Diagnostica, 61, 222-235. Online (2015): https://econtent.hogrefe.com/doi/full/10.1026/0012-1924/a000153
    • Müller, S., Gelbrich, K. (2014): Interkulturelle Kommunikation. München: Vahlen
    • Oberg, K. (1960): Culture Shock: adjustment to new cultural environment. Practical Antropology 7, 177-182. In: Erll, A. & Gymnich, M. (2013): Interkulturelle Kompetenzen. Stuttgart: Klett
    • Reker, J., Grosse, J. (2010). Versteh mich nicht falsch! Gesten weltweit. Das Handbuch. München: Bierke
    • Teismann, T., Koban, C., Illes, F. & Oermann, A. (2016). Psychotherapie suizidaler Patienten. Göttingen: Hogrefe.
    • Werse et al. (2016). Jahresbericht 2015 Monitoring System Drogentrends. Frankfurt am Main: 2016
  • Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil II

    Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil II

    Robert Meyer-Steinkamp

    Wie hoch sind die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz in der Suchthilfe? Die Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) ermittelte mithilfe einer „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ die Situation der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In Teil I dieses Artikels (erschienen am 15. April 2019) berichtete Robert Meyer-Steinkamp über den Anstoß dazu und die Durchführung der ersten Phase, einer Mitarbeiterbefragung mit Fragebogen. In Teil II stellt er die zweite Durchführungsphase dar, in der aufbauend auf den Befragungsergebnissen in Workshops Maßnahmepläne erarbeitet wurden.

    Psychische Belastung und psychische Beanspruchung

    Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (baua) bemängelt in ihrer Broschüre „Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufsleben: Erkennen – Gestalten“ (2010) begriffliche Unklarheiten und gibt eine Definition für „psychische Belastung“ und „psychische Beanspruchung“ an. In Anlehnung daran lässt sich zusammenfassen:

    „Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken.“ (DIN EN ISO 10075-1 (1a); baua 2010, S. 9)

    Psychische Belastung, ob beruflicher oder außerberuflicher Natur, wird dabei zunächst als wertneutral und nicht zwangsläufig als negativ betrachtet. Grundsätzlich ist psychische Belastung Teil aller Tätigkeiten und betrifft alle Menschen. Darüber hinaus ist sie notwendig, um die psychischen Funktionen aufrechtzuerhalten, analog den körperlichen Funktionen, die schwinden, wenn z. B. nach einem Beinbruch eine längere Ruhigstellung erfolgt und anschließend die Muskulatur erst wieder trainiert werden muss, bevor der Betroffene wieder regulär gehen oder womöglich sportlich aktiv sein kann.

    „Psychische Beanspruchung ist die unmittelbare (nicht langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien.“ (DIN EN ISO 10075-1; baua 2010, S. 10)

    Die psychische Belastung durch einen aufregenden Film kann als beängstigend oder anregend erlebt werden und damit eine unterschiedliche Beanspruchung erzeugen. Zwei Teammitglieder in gleicher Funktion können auf die gleiche Belastung durch die Arbeitsumgebung sehr unterschiedlich reagieren und sich unterschiedlich beansprucht fühlen. Der eine fühlt sich im positiven Sinne herausgefordert und angespornt, führt Auseinandersetzungen, sucht Lösungen und bezieht Kollegen ein. Der andere fühlt sich überfordert, unter Druck, entwickelt Stresssymptome und zieht sich zurück. Zu einem anderen Zeitpunkt, ein Jahr später, könnte die Reaktion aufgrund veränderter individueller Voraussetzungen jeweils ganz anders ausfallen.

    Auswirkungen psychischer Beanspruchung

    Positive psychische Beanspruchung im Sinne von Anreiz und adäquater Herausforderung wird als ein Motor für die menschliche Entwicklung allgemein und auch im Hinblick auf arbeitsbezogene Kompetenzen gesehen. Gleichzeitig kann psychische Belastung die mit diesem Begriff eher assoziierten negativen Folgen wie Erschöpfung, somatoforme Erkrankungen, Burnout-Symptome oder weiterreichende psychische Erkrankungen auslösen. In diesem Fall spricht  man von Fehlbeanspruchung. Positive Beanspruchung führt tendenziell zu individueller Weiterentwicklung und Zufriedenheit sowie betrieblich zu höherer Produktivität und Geschäftserfolg. Fehlbeanspruchung führt tendenziell zu Stress und Krankheit  sowie auf betrieblicher Ebene zu Fehlern, Mehrkosten und geschäftlichem Misserfolg (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Modell für Zusammenhänge hinsichtlich psychischer Belastung und Beanspruchung

    Die Belastungen am Arbeitsplatz, das wird bei dieser Betrachtung deutlich, sind eine wesentliche, aber durchaus nicht die einzige Quelle möglicher psychischer Fehlbeanspruchung. Lebensgeschichtlich erworbene persönliche Stärken und Schwächen und aktuelle außerbetriebliche Belastungen können dazu führen, dass die ‚normale‘ Arbeitssituation bei einzelnen Mitarbeiter/innen in psychischer Fehlbeanspruchung mit all ihren Auswirkungen mündet, obwohl diese Situation bei 95 Prozent der Kolleg/innen keine negativen Auswirkungen hat. Außerbetriebliche oder in der Persönlichkeit liegende Quellen für Fehlbeanspruchung lassen sich durch eine Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen nicht erfassen und sind mit betrieblichen Mitteln auch nicht zu steuern. Somit ist es unwahrscheinlich, eine betriebliche Situation herstellen zu können, in der die psychische Fehlbeanspruchung und deren negative Auswirkungen bei null liegen. 

    Betriebliche Quellen psychischer Belastung

    Dennoch füllt Arbeit einen erheblichen Teil des Alltags  aus und stellt somit eine bedeutsame Quelle psychischer Belastung dar. Die baua (2010) differenziert diese Quelle in die Bereiche:

    • Arbeitsaufgabe (z. B. viel Verantwortung, schwierige Klientel, Monotonie)
    • Arbeitsumgebung (z. B. physikalisch: Lärm, Temperatur; oder sozial: Betriebsklima, Führungsverhalten)
    • Arbeitsorganisation/Arbeitsablauf (z. B. Informationsfluss, Dienstplanung)
    • Arbeitsmittel (z. B. allgemeine technische Ausstattung, Computersysteme)
    • Arbeitsplatz (z. B. direkte Arbeitsumgebung des Einzelnen)

    Alle Bereiche werden durch den in Teil I des Artikels beschriebenen Mitarbeiterfragebogen angesprochen und in den 13 Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit abgebildet:

    1. Führungs- und Unternehmenskultur
    2. Arbeitsbelastung
    3. Direkte Vorgesetzte
    4. Beschäftigungsbedingungen
    5. Strukturen & Prozesse
    6. Kollegen
    7. Patientenversorgung
    8. Arbeitsumgebung/Ausstattung
    9. Dienstplanung
    10. Personalqualifizierung
    11. PC-Arbeitsplätze
    12. IT
    13. Schnittstellen

    Phase 1: Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung

    Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung stehen in der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) den Mitgliedern der AG Gefährdungsanalyse, der Leitung und dem Betriebsrat in allen Details zur Verfügung. Außerdem erhalten die externen Moderatorinnen der Workshops – die Betriebsärztin (Hanseatisches Zentrum für Arbeitsmedizin hanza) sowie eine auf Gefährdungsanalysen psychischer Belastungen spezialisierte Psychologin (hanza ressources) – die Ergebnisse, um die Workshops vorzubereiten.

    Eine erste genauere Betrachtung der Befragungsergebnisse obliegt der Leitung und dem Betriebsrat mit dem Ziel, die zentralen Punkte auf einer Betriebsversammlung zu präsentieren und so den Kolleg/innen eine zeitnahe Rückmeldung zu ihrer Teilnahme an der Befragung zu geben. Dabei werden sowohl Stärken als auch Problemfelder, die sich abzeichnen, benannt.

    Hinsichtlich der allgemeinen Arbeitszufriedenheit ergab sich für die TGJ gesamt, auch im Benchmark mit sieben anderen Einrichtungen der Suchthilfe, ein sehr erfreuliches Bild. Unzufrieden waren nur ca. drei Prozent (s. Abb. 2).

    Abb. 2: „Wie zufrieden sind Sie insgesamt mit Ihrem Arbeitsplatz?“

    Wir gehen davon aus, dass die Mitteilung dieses Stimmungsbildes im Rahmen der Ergebnispräsentation das Bewusstsein für die positiven Aspekte des Arbeitsplatzes weiter steigert und sich daraus wiederum positive Einflüsse auf das betriebliche Geschehen entwickeln.

    Auf der Ebene der Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit zeichnete sich dagegen beim Faktor PC-Arbeitsplätze eine deutliche Verschlechterung gegenüber der Befragung von 2014 ab. 2014 betrug die Problemhäufigkeit drei Prozent, 2017 waren es 16 Prozent (s. Abb. 3).

    Mit 16 Prozent Problemhäufigkeit steht die TGJ im Vergleich zu anderen Einrichtungen zwar gut da – eine deutliche Verschlechterung des eigenen Wertes, so hatten wir es in der AG Gefährdungsanalyse festgelegt, sollte aber immer ein Anlass zu Diskussionen und möglichst Verbesserungen sein. Letzteres wurde für die Jahre 2018/19 dann auch als Zielsetzung formuliert und im weiteren Verlauf mit konkreten Maßnahmen unterlegt.

    Abb. 3: Problemhäufigkeiten der Faktoren PC-Arbeitsplätze und Beschäftigungsbedingungen im Vergleich

    Der Faktor Beschäftigungsbedingungen wiederum verzeichnete eine deutliche Verbesserung von 25 auf 13 Prozent Problemhäufigkeit (s. Abb 3). Hintergrund dafür war vor allem die Umwandlung von Nebenabreden in nunmehr feste Stellen. Bei einer größeren Zahl von Mitarbeitern waren ergänzend zu einer fest vereinbarten Teilzeitstelle weitere wöchentliche Arbeitsstunden durch jährlich zu erneuernde Nebenabreden geregelt. Für die Kollegen war damit ein nicht unerhebliches Maß an längerfristiger Einkommensunsicherheit verbunden. Die Mitarbeiterbefragung von 2014 war ein Anlass gewesen, diese Nebenabreden zu diskutieren. Die erfolgreiche Veränderung ist ein Beispiel dafür, dass eine Einflussnahme durch die Mitarbeitenden möglich ist.

    Phase 2: Workshops und die Entwicklung von Maßnahmeplänen

    Die Betriebsärztin und die auf Gefährdungsanalysen psychischer Belastungen spezialisierte Psychologin moderieren die Workshops. Sie nehmen an der Präsentation der Befragungsergebnisse teil und notieren dabei auftauchende Fragen und Anmerkungen aus der Kollegenschaft. Diese Notizen und eine eigene Sichtung der Befragungsergebnisse dienen zur thematischen Vorbereitung der Workshops. Die Workshop-Teilnehmer werden von den Berufsgruppen nach eigener Wahl entsandt. Die Workshops finden ohne die jeweilige Bereichsleitung statt. Die Bereichsleitungen besuchen einen eigenen Workshop, um Themen im Kontext ihrer Leitungsaufgabe ansprechen zu können (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Teilnehmerzahl und Dauer der Workshops

    Gut konstruierte Fragebögen sprechen möglichst alle Aspekte an, die für die zu untersuchende Thematik wesentlich sind. Bei den 102 Fragen des verwendeten Picker-Fragebogens geschieht das relativ detailliert. (Das Picker Institut wurde zwischenzeitlich vom Institut BQS übernommen. Zur Vermeidung von Irritationen ist in beiden Teilen des Artikels durchgängig von Picker die Rede.) Dennoch werden weitere möglicherweise wichtige Aspekte nicht wahrgenommen. Diese anderen Aspekte können z. B. arbeitsbereichsspezifisch sein oder in Besonderheiten der Einrichtung liegen. Zwei im Picker-Fragebogen enthaltene offene Fragestellungen gehen auf dieses Problem ansatzweise ein, können es aber nicht lösen.

    Die moderierten Workshops dagegen bieten die Möglichkeit, sich jenseits der feststehenden Fragestellungen zu bewegen und, ausgehend von den Befragungsergebnissen, weitere Themen zu diskutieren. Außerdem wird in den Workshops geprüft, welche Maßnahmen, die aus der letzten Mitarbeiterbefragung bzw. den damaligen Workshops hervorgegangen sind, mit welchem Erfolg umgesetzt wurden. Dazu beziehen die Teilnehmer Stellung.

    Die Moderatorinnen verfassen über den Verlauf der Veranstaltung einen Abschlussbericht, der die diskutierten Punkte wiedergibt und einen Maßnahmeplan zu den als problematisch erachteten Punkten enthält. Der Abschlussbericht wird nach Erstellung zunächst von den Teilnehmern gegengelesen und freigegeben. Danach erhält der Bereichsleiter für die jeweilige Gruppe die Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Diese wird ggf. auch aufgenommen, und erst dann wird der fertige Bericht an die AG Gefährdungsanalyse übergeben.

    Maßnahmepläne

    Die Maßnahmepläne sind lange Vorschlagslisten, die an die AG Gefährdungsanalyse gerichtet sind. In der AG Gefährdungsanalyse werden alle Vorschläge sorgsam diskutiert und abgewogen, und es wird letztlich entschieden, was umsetzbar ist bzw. was versucht werden soll. Soweit es sich nicht um gesetzlich geregelte Sachverhalte handelt, bleibt die letzte Entscheidung bei der Leitung, die Kolleg/innen besitzen aber einen starken Einfluss. Als Beispiel für einen Maßnahmeplan ist in Abb. 5 der anonymisierte Vorschlag zum bereits erwähnten Thema Nebenabreden abgebildet.

    Abb. 5: Maßnahmevorschlag zum Thema Nebenabreden

    Die Gefährdungsanalysen finden in drei- bis vierjährigen Abständen statt. 2014 wurde vorgeschlagen, die Belastung durch interne Fortbildungen und Veranstaltungen zu reduzieren. Abb. 6 zeigt ein Beispiel für die Überprüfung der Umsetzung durch den Workshop im Jahr 2018:

    Abb. 6: Überprüfung der Umsetzung von Maßnahmevorschlägen

    Die AG Gefährdungsanalyse

    Die Arbeitsgruppe Gefährdungsanalyse der TGJ setzt sich zusammen aus je einem Vertreter aller Arbeitsbereiche (Therapie, Verwaltung, Haustechnik, etc.), Betriebsrat und Leitung. Die nach Bedarf tagende AG ist im weiteren Verlauf das zentrale Organ zur prozessualen Umsetzung der Gefährdungsanalyse. Alle in den Workshops vorgeschlagenen Maßnahmen, alle negativen Unterschiede zu anderen Suchteinrichtungen (Benchmark) oder zu vorherigen Befragungen im eigenen Haus und alle Problemhäufigkeiten über zehn Prozent werden diskutiert. Bei einigen Fragen ist es notwendig, zusätzliche Informationen einzuholen oder mit einzelnen Bereichen oder Mitarbeitern zu sprechen, um das Problem richtig zu verstehen. Manche Vorschläge müssen abgelehnt werden, nicht nur aus Leitungssicht, sondern häufiger auch, weil Argumente aus anderen Bereichen des Hauses gegen eine Umsetzung sprechen. In der Regel geschieht dies im Konsens oder zumindest mit Verständnis für die gegenläufigen Argumente.

    Im ersten Durchlauf 2014 waren diese Diskussionen teilweise sehr emotional, haben sich aber mit einkehrender Routine zunehmend versachlicht. Die gegenseitigen Perspektiven und Positionen werden verständlicher. Im zweiten Durchlauf 2017/2018 gelingt die Abarbeitung der Aufgabenstellung sehr viel schneller als in der ersten Runde. Es ergibt sich trotz allem eine Vielzahl von Maßnahmen, deren Umsetzung teilweise auch andere Akteure im Haus einbezieht. Die Überprüfung der Ergebnisse erfolgt in zeitlicher Hinsicht nach Festlegung durch die AG, spätestens allerdings mit der nächsten Durchführung der Gefährdungsanalyse.

    Mit Blick auf das in Teil I des Artikels eingeführte Prozessmodell lässt sich zusammenfassen, dass die AG die Belastungen, die sich in den Befragungsergebnissen und den Workshop-Protokollen zeigen, beurteilt. Sie prüft die Maßnahmenvorschläge und entscheidet, ob sie umgesetzt werden sollen oder nicht. Bei Bedarf werden zusätzliche Maßnahmen geplant. Je nach Sachlage erfolgt die Umsetzung durch die Teilnehmer der AG oder es werden weitere Kolleg/innen einbezogen. Die Wirksamkeit wird, soweit sinnvoll, im Verlauf geprüft. Den Schlusspunkt und gleichzeitig Neustart des Prozesses bildet dann die erneute Gefährdungsanalyse nach ca. drei Jahren.

    Kosten

    Die Workshops und deren Vor- und Nachbereitung kosteten  3.600 Euro. Zusammen mit der Summe für die schriftliche Befragung ergeben sich Gesamtkosten von 4.800 Euro. Die Summe verteilt auf drei Jahre ergibt 1.600 Euro im Jahr. Hinzurechnen muss man sicherlich auch die Arbeitszeit, die für den geschilderten Prozess aufgewendet wird. Diese Investition erscheint aus unserer Perspektive angesichts der vielen positiven Effekte für die betriebliche Situation gut vertretbar.

    Fazit

    Der ursprüngliche Gedanke, dass eine eingehende Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen für eine so kleine Einrichtung wie die TGJ (50 Mitarbeiter) eine übertriebene Maßnahme darstellt, hat sich als falsch erwiesen. Nicht, weil wir auf ungeahnte Problematiken gestoßen wären, im Gegenteil: Unsere Gefährdungsanalyse zeichnete insgesamt ein sehr positives Bild vom Arbeitsplatzerleben der Kolleg/innen. Diese Rückmeldung, wiederholt diskutiert, kann dazu beitragen, die positiven Seiten des Arbeitsplatzes bewusster zu machen und die Zufriedenheit weiter zu steigern.

    Gleichzeitig bleiben wichtige Hinweise auf ‚Baustellen‘, die es zu bearbeiten gilt. Übermäßige Belastungen durch die Arbeitssituation lassen sich mit der beschriebenen Methodik lokalisieren. Die systematische Befragung und Diskussion garantieren eine Gründlichkeit, die sich durch die, wenn auch häufigen, alltäglichen Kontakte nicht erreichen lässt. So gefundene Quellen übermäßiger psychischer Belastung im Betrieb lassen sich häufig abstellen. Präventiv können Ressourcen z. B. in Form von Rückzugsräumen, phasenweiser Minderbelastung, Supervision, Coaching, flexibler Arbeitszeit usw. im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. In Reaktion auf belastende Ereignisse können Maßnahmen entwickelt werden. So rückte im Rahmen der Gefährdungsanalyse ein bisher nicht deutlich wahrgenommenes grenzüberschreitendes Verhalten von Klienten gegenüber Mitarbeiterinnen der Hauswirtschaft und Haustechnik in den Vordergrund. Zum Abbau übermäßiger Belastungen in diesem Kontext sollen u. a. Fortbildungen stattfinden, die den Kolleg/innen die Hintergründe solcher Verhaltensweisen verständlicher machen, damit Orientierung bieten und darauf fußend geeignete praktische Handlungsstrategien vermitteln.

    Neben den praktischen Verbesserungen erscheint insbesondere das kontinuierliche Gespräch über die erlebte Belastung wesentlich. Die Kolleg/innen nehmen wahr, dass es eine Auseinandersetzung mit den Beschwerden gibt und, soweit möglich, auch mit dem Ziel der Verbesserung gehandelt wird. Gründe, nicht zu handeln, lassen sich ggf. durch die Diskussion nachvollziehen und werden nicht als Mangel an Interesse und Fürsorge erlebt.

    Positiv gewendet erlebt der Einzelne sich handlungsfähiger in Bezug auf psychisch belastende Aspekte der Arbeit. Wenn Rahmenbedingungen wie z. B. Kostenträgervorgaben oder tarifliche und gesetzliche Regelungen psychische Belastungen mit verursachen, werden sie im Zuge der fortlaufenden Gespräche leichter als Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten für alle Beteiligten im Betrieb verstanden. Man erschöpft sich nicht unnötig in Auseinandersetzungen über Bedingungen, die auf dieser Ebene nicht zu beeinflussen sind.

    Kontakt:

    Robert Meyer-Steinkamp
    Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld
    Jenfelder Straße 100
    22045 Hamburg
    Tel. 040/65 40 96-66
    meyerst.tgj@alida.de

    Angaben zum Autor:

    Robert Meyer-Steinkamp, Dipl.-Psychologe / Psychologischer Psychotherapeut:
    Therapeutische Leitung der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld
    Ausbildungsleitung Suchttherapie VT (DRV-anerkannt) am Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung (HIGW)

    Literatur:
  • Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil I

    Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil I

    Robert Meyer-Steinkamp

    Mit circa 50 Beschäftigten ist die Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) eine relativ kleine Einrichtung, in der sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr regelmäßig begegnen und miteinander sprechen. Das Gespräch beinhaltet auch aktuelle Probleme und Belastungen aus dem Arbeitsalltag, für die wir, das Leitungsteam, versuchen, befriedigende Lösungen zu finden. Unabhängig von aktuellen Problemen sind wir bemüht, die Arbeitszusammenhänge für alle so zu gestalten, dass Belastung und Entlastung sich die Waage halten (z. B. durch Entscheidungsfreiräume, möglichst flexible Arbeitszeiten, Supervision, Entspannungsangebote usw.). Die Notwendigkeit einer Mitarbeiterbefragung war uns bis zum Auftauchen des Themas „Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen“ nicht in den Sinn gekommen. 

    Der Anstoß

    Im Rahmen einer Betriebsversammlung im Jahr 2012 startete der damalige Betriebsrat der TGJ unter den anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unerwartet eine auf wenige Fragen begrenzte, anonyme Umfrage zur erlebten psychischen Belastung im Arbeitsalltag. Die Ergebnisse der noch während der Versammlung erfolgenden Auswertung waren nicht spektakulär, die Aktion brachte aber Bewegung in das bis dahin in der TGJ eher am Rande behandelte Thema.

    Historischer und theoretischer Hintergrund

    Das 1996 von der Bundesregierung verabschiedete Arbeitsschutzgesetz gab Impulse für einen systematischen Arbeitsschutz und trug den Arbeitgebern auf, regelhaft eine Gefährdungsbeurteilung bezüglich gesundheitlicher Risiken und Belastungen durch betriebliche Arbeitsbedingungen vorzunehmen. Wenn es aufgrund der Bewertung der so ermittelten Belastungen erforderlich erscheint, müssen geeignete Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Gesundheitsgefahren entwickelt, umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.

    Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) ist eine im Arbeitsschutzgesetz und im SGB VII verankerte Plattform von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern unter Einbezug der Sozialpartner (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände in beratender Funktion) zur Umsetzung des Arbeitsschutzes. Sie schlägt in ihren „Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ (2017a) ein wiederholt zu durchlaufendes prozesshaftes Vorgehen vor, das im Prinzip auch aus anderen Themenfeldern des Qualitätsmanagements bekannt ist. Angelehnt daran lässt sich folgendes Prozessmodell darstellen:

    Abb. 1: Prozessmodell zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung

    Praxis in der TGJ

    In der TGJ wird die Aufgabe einer regelhaften Gefährdungsbeurteilung in Form einer jährlichen Arbeitsplatzbegehung durch das Zentrum für Arbeits-, Umwelt- und Gesundheitsschutz (ZAG) erfüllt. Das ZAG übernimmt dabei die Rolle einer externen Fachkraft für Arbeitsschutz. Im Zuge der Begehung und der Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses (AsA) werden Belastungen ermittelt und beurteilt und daraus Maßnahmepläne entwickelt. Für deren Realisierung sind die Einrichtungsleitung und die intern für die Arbeitssicherheit verantwortlichen Mitarbeiter/innen zuständig. Die Wirksamkeit der Maßnahmen wird während der Implementierung und spätestens mit der nächsten Begehung geprüft. Die nächste Begehung stellt auch die Fortschreibung des Prozesses dar, und es werden gegebenenfalls neue Belastungen ermittelt (usw.).

    Die psychischen Belastungen spielten bei diesem Vorgehen allerdings keine Rolle, da im Arbeitsschutzgesetz explizit als möglicherweise gefährdend nur ‚klassische‘ Belastungsfaktoren wie schwere körperliche Arbeit oder ungünstige Umgebungsbedingungen aufgelistet wurden. Diese haben allerdings zunehmend an Bedeutung gegenüber den psychischen Belastungen verloren. Für die Suchtkrankenhilfe darf man aus Sicht des Verfassers ohnehin von einer überproportionalen psychischen Belastung im Vergleich zu vielen anderen Tätigkeitsfeldern ausgehen. Der DAK-Gesundheitsreport 2018 nennt die psychischen Erkrankungen als zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit und beschreibt einen rasanten Anstieg der Fehlzeiten aufgrund dieser Erkrankungen in der Zeit nach der Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes.

    Abb. 2: Anteile der zehn wichtigsten Krankheitsarten an den Arbeitsunfähigkeitstagen. Quelle: DAK-Gesundheitsreport 2018
    Abb. 3: Arbeitsunfähigkeitstage und Arbeitsunfähigkeitsfälle pro 100 Versichertenjahre aufgrund psychischer Erkrankungen. Quelle: DAK-Gesundheitsreport 2018

    Konsequenterweise hat der Gesetzgeber im Jahr 2013 die psychischen Belastungen in der Auflistung möglicher Risiken ausdrücklich ergänzt (§ 5, Abs. 3, Pkt. 6 ArbSchG). In vielen, vor allem kleineren und mittleren Betrieben, ähnlich wie in der TGJ, waren die psychischen Belastungen bis dahin kein Feld der systematischen Überprüfung.

    Zuständigkeiten

    Dem „Ratgeber zur Gefährdungsbeurteilung“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA; 2016) folgend hat der Arbeitgeber die Verantwortung für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung und die Umsetzung der Ergebnisse. Die Vertretungen der Beschäftigten bzw. wenn solche Vertretungen nicht vorhanden sind, die Beschäftigten selbst, sind vom Arbeitgeber zu allen Maßnahmen, die Auswirkungen auf ihre Sicherheit und Gesundheit haben können (§§ 81, 82, 89 Betriebsverfassungsgesetz, §§14, 17 ArbSchG) zu hören, und sie sind berechtigt, Vorschläge zu diesen Themen zu machen.

    Drei gute Gründe für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

    Die explizite Aufnahme der psychischen Belastungen in das Arbeitsschutzgesetz war im Weiteren förderlich, die Betriebsratsinitiative in der TGJ in Richtung einer eingehenderen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen voranzutreiben.

    Eichhorn und K. Schuller (2017) von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ordnen diese Pflichterfüllung des Arbeitgebers unter dem „normativ-gesetzlichen Motiv“ ein. Ein zweites, „humanistisch-mitarbeiterorientiertes“ Motiv war in der TGJ die grundsätzliche Haltung des Leitungsteams, dass die Arbeit im Hause bei allen Belastungen und Herausforderungen, die die Arbeit mit Suchtkranken mit sich bringt, auch erfüllend und befriedigend, nicht gesundheitsgefährdend und im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes menschengerecht sein soll. Das dritte, von Eichhorn und Schuller als „ökonomisch-instrumentell“ bezeichnete Motiv liegt in dem Wissen und der Erfahrung, dass zufriedene und gesunde Kolleg/innen nachhaltig die Leistungsfähigkeit der Einrichtung stärken.

    Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

    Die Unfallversicherungsträger, d. h. die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, übernehmen im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) die Aufgabe, für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in den Betrieben zu sorgen, dies zu überwachen und die Unternehmer und Beschäftigten zu beraten. Sie bieten zur Orientierung unter anderem Seminare zum Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen an sowie Workshops zum Austausch mit anderen Einrichtungen, die sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigen. Die Teilnahme ist für Mitglieder der Unfallkasse in der Regel kostenfrei.

    Die Unfallkasse Nord war der für die TGJ zuständige Ansprechpartner zur ersten Orientierung für die praktische Umsetzung. Neben der Vermittlung des oben beschriebenen prozesshaften Vorgehens wurden folgende wesentliche Fragen aufgeworfen und später in der internen Diskussion beantwortet:

    Wie werden möglichst alle Kolleginnen und Kollegen beteiligt?

    Wir entschieden uns für die Gründung einer auf Dauer angelegten Arbeitsgruppe Gefährdungsanalyse, die je nach Bedarf tagt und alle Planungsschritte, Befragungsergebnisse und Maßnahmepläne diskutiert. Die AG setzt sich zusammen aus je einem Vertreter aller Arbeitsbereiche (Therapie, Verwaltung, Haustechnik, etc.), Betriebsrat und Leitung. Die Vertreter der Arbeitsbereiche transportieren bei Bedarf Informationen aus der AG in ihr Team oder aus dem jeweiligen Team in die AG. Im Rahmen einer Betriebsversammlung kündigen Betriebsrat und Leitung gemeinsam die bevorstehende Mitarbeiterbefragung an. Das Procedere wird erläutert und die Anonymität der Befragung wiederholt zugesichert. Im Zuge dessen wird auch die praktische Umsetzung organisiert. Wenn nach der Befragung die Ergebnisse vorliegen, werden die Kolleginnen und Kollegen in einer weiteren Betriebsversammlung von Leitung und Betriebsrat über eine Auswahl der wesentlichen Ergebnisse informiert.

    Mit welcher Methode werden die Belastungen ermittelt?

    Im Wesentlichen lassen sich drei  Methoden anwenden:

    • Workshops mit externer Moderation zur Feststellung von Problemfeldern und zur Entwicklung diesbezüglicher Maßnahmepläne,
    • Beobachtung konkreter Arbeitsprozesse und damit verbundener Belastungen vor Ort durch externe Fachleute und Ableitung von Verbesserungsmaßnahmen,
    • Mitarbeiterbefragung mit Fragebogen und Ableitung von Maßnahmen aus den Befragungsergebnissen.

    Auch eine Kombination dieser Methoden ist möglich. Wir entschieden uns für die Fragebogenvariante und anschließende, auf den Befragungsergebnissen aufbauende Workshops. Fragebögen sahen wir als beste Möglichkeit, jedem Mitarbeiter die Möglichkeit der Teilnahme zu geben und relativ ökonomisch viele Informationen aus vielen Themenfeldern zu sammeln. Standardisierte Fragebögen mit Bewertungsskalen machen außerdem den Vergleich zwischen wiederholten Befragungen möglich, so dass man die Entwicklung von Problemfeldern im Vergleich zur letzten Befragung auch quantitativ darstellen kann. Beobachtungen und Workshops erscheinen in dieser Hinsicht schwierig.

    Bei der Auswahl des Fragebogens kam uns entgegen, dass ein befreundeter Träger bereits gute Erfahrungen mit dem Fragebogen zur Mitarbeiterzufriedenheit des Picker Instituts gesammelt hatte. (Das Picker Institut wurde zwischenzeitlich vom Institut BQS (https://www.bqs.de/leistungen/picker-befragungen) übernommen. Zur Vermeidung von Irritationen ist hier im Weiteren durchgängig von Picker die Rede.) Der Fragebogen war wissenschaftlich evaluiert, im Einsatz in Krankenhäusern erprobt und konnte auf die Bedarfe der Suchthilfe noch in begrenztem Maß zugeschnitten werden. Eine Reihe anderer Instrumente (z. B. Kurz-Fragebogen zur Arbeitsanalyse KFZA oder „Instrumente und Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ (GDA 2017b)) entsprach nicht unseren Vorstellungen.

    Die Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie e.V. (deQus) und das Picker Institut trafen eine Rahmenvereinbarung zur Durchführung von Mitarbeiterbefragungen für Mitglieder der deQus, da das Interesse an dem Fragebogen vermehrt auftauchte. Inzwischen nutzen acht Träger unter dem Dach der deQus den Fragebogen und die Rahmenvereinbarung, so dass, ergänzend zu einrichtungsinternen Ergebnisvergleichen von Befragung zu Befragung, ein Benchmark mit anderen Einrichtungen im Suchthilfesystem möglich ist.

    Die GDA (2017a) benennt Arbeitsintensität, Arbeitszeit, Handlungsspielraum und soziale Beziehungen, insbesondere zu Vorgesetzten, sowie die Gestaltung der Arbeitsumgebungsbedingungen als branchen- und tätigkeitsübergreifend relevante Schlüsselfaktoren der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Diese und andere Themen werden von den 102 Fragen des Picker-Bogens abgedeckt. Aus den Gesamtdaten aller bei Picker durchgeführten Mitarbeiterbefragungen in einem Zeitfenster von drei Jahren werden faktoranalytisch, jährlich aktualisiert, Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit errechnet:

    1. Führungs- und Unternehmenskultur
    2. Arbeitsbelastung
    3. Direkte Vorgesetzte
    4. Beschäftigungsbedingungen
    5. Strukturen & Prozesse
    6. Kollegen
    7. Patientenversorgung
    8. Arbeitsumgebung/Ausstattung
    9. Dienstplanung
    10. Personalqualifizierung
    11. PC-Arbeitsplätze
    12. IT
    13. Schnittstellen

    Wie werden die ermittelten Belastungen beurteilt?

    Die Prioritätenmatrix (aus dem Ergebnisbericht 2017 des Picker Instituts für die TGJ) veranschaulicht die Ergebnisse der Befragung auf der Ebene der Faktoren im groben Überblick (Abbildung 6). Auf der y-Achse ist die Einflussstärke der einzelnen Faktoren auf die Gesamtzufriedenheit abgetragen. Die Arbeitsbelastung hat den stärksten Einfluss, es folgt der direkte Vorgesetzte usw.

    Auf der x-Achse wird die Problemhäufigkeit in der eigenen Einrichtung als Prozentrang im Vergleich zu allen von Picker befragten Einrichtungen der Jahrgänge 2014 bis 2016 betrachtet. Der Faktor Arbeitsbelastung z. B. hat einen Prozentrang von ca. 5. Das bedeutet, dass 95 Prozent der anderen am Benchmark beteiligten Einrichtungen eine stärkere Problembelastung in diesem Faktor haben als die TGJ. Je weiter links der Prozentrang liegt, desto unproblematischer ist der jeweilige Faktor.

    Abb. 6: Prioritätenmatrix

    Bei 13 möglichen Faktoren werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der TGJ überhaupt nur sieben als in geringem Umfang problematisch benannt. Allerdings sind die anderen von Picker befragten Einrichtungen, mit denen der Vergleich stattfindet, in der Regel Krankenhäuser, die außerhalb des Suchthilfesystems tätig sind. Die Vergleichsberichte zeigen in allen Faktoren eine deutlich stärkere Problembelastung in den Einrichtungen außerhalb der Suchthilfe. Beispielhaft lässt sich das am Faktor Arbeitsbelastung zeigen (Abbildung 7).

    Abb. 7: Faktor Arbeitsbelastung: Vergleich der TGJ mit anderen von Picker befragten Einrichtungen

    Im Jahr 2017 haben insgesamt 15 Prozent der Kolleg/innen in der TGJ die Arbeitsbelastung als problematisch empfunden. Das war eine Reduktion um drei Prozent im Vergleich zu 2014. In den Suchthilfeeinrichtungen unter dem Dach der deQus haben im Mittel 32 Prozent der Mitarbeiter/innen die Arbeitsbelastung als problematisch empfunden. In allen anderen von Picker befragten Häusern waren es im Mittel 43 Prozent Problemhäufigkeit in diesem Faktor. Diese Vergleichsdarstellung gibt es für alle Faktoren und Einzelfragen. Auch Arbeitsbereiche bzw. Berufsgruppen innerhalb der eigenen Institution können hinsichtlich der Problemhäufigkeit miteinander verglichen werden.

    15 Prozent Problemhäufigkeit in der Arbeitsbelastung bleibt auch bei dieser Betrachtung ein vergleichsweise gutes Ergebnis. Bei der Diskussion in der AG Gefährdungsanalyse der TGJ wendet der Betriebsrat, seiner Aufgabe entsprechend, jedoch ein, dass der Vergleich mit anderen nicht so entscheidend sei. Eine Verbesserung um drei Prozent zur vorherigen Befragung sei schön, aber auch nicht wirklich bemerkenswert, und eine 15-prozentige Problemhäufigkeit sei auf jeden Fall ein Anlass, genauer zu prüfen. Dem können wir auch aus Leitungssicht zustimmen.

    Hinter den genannten Faktoren, so auch bei der Arbeitsbelastung, stehen thematisch passende Einzelfragen (Abbildung 8), deren Einzelergebnisse im Wert des Faktors verrechnet sind. Ein Beispiel aus dem Picker Ergebnisbericht 2017 für die TGJ:

    Abb. 8: Einzelfrage zum Faktor Arbeitsbelastung

    Zum Faktor Arbeitsbelastung gehören sechs weitere Einzelfragen, deren Betrachtung genauer verstehen lässt, was die Arbeitsbelastung ausmacht. Hier spielen vor allem längerfristige Personalausfälle und entsprechende Vertretungen sowie häufige Störungen in Arbeitsprozessen eine Rolle. Die Diskussion in der AG ergab, dass die Personalausfälle kaum besser hätten kompensiert werden können als bereits geschehen. Hinsichtlich der Arbeitsunterbrechungen können aber Verbesserungsmaßnahmen entwickelt werden.

    In der Gesamtbetrachtung einigten wir uns in der AG Gefährdungsanalyse auf die Einschätzung, dass

    • stark negative Unterschiede zu Vergleichseinrichtungen der Suchthilfe,
    • stark negative Veränderungen zu vorhergehenden hauseigenen Befragungen,
    • Problemhäufigkeiten von über zehn Prozent auf Faktoren-, Arbeitsbereich- oder Einzelfragenebene

    Anlass zu genauerer Betrachtung und das Gegenteil davon Anlass zu – mindestens stiller – Freude sein sollen.

    Die gesamten Ergebnisse der Befragung werden der Leitung, dem Betriebsrat und den Mitgliedern der AG Gefährdungsanalyse als vertrauliche Unterlagen zur Verfügung gestellt. Auch die externen Moderatorinnen der im weiteren Verlauf vorgesehenen Workshops erhalten die Daten als Hintergrundinformation und sind bei der Präsentation ausgewählter Ergebnisse für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwesend.

    Die 102 Fragen des Bogens mit vorgegebenen Antwortkategorien lassen nur den Blick auf einen – wenn auch mit wissenschaftlicher Methodik gewählten – Teil des Erlebens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu. Die ebenfalls im Bogen enthaltenen offenen Fragen sind eine gute Ergänzung:

    • Wenn Sie in der Einrichtung oder an Ihrem Arbeitsplatz etwas verändern oder sich etwas wünschen könnten, was wäre es?
    • Was gefällt Ihnen in der Einrichtung oder an Ihrem Arbeitsplatz besonders gut?

    Positive und negative Kritiken halten sich in den Freitexteingaben die Waage. Auch die Freitexte gehen an den schon genannten Personenkreis und werden in der AG Gefährdungsanalyse diskutiert.

    Kosten

    Die Kosten für die Mitarbeiterbefragung per Fragebogen beliefen sich für die TGJ im Jahr 2017 auf ca. 1.200 Euro. Für diesen Betrag wurden die Fragebögen gedruckt, die an das Institut zurückgesandten Fragebögen statistisch ausgewertet und die Ergebnisse als PDF-Datei und in Excel der TGJ zugesandt. Man kann wahlweise noch mehr Leistungen des Anbieters in Anspruch nehmen. Die Kosten für die weiteren, im Folgenden noch zu beschreibenden Schritte der Gefährdungsanalyse kommen am Ende hinzu.

    Zwischenbilanz

    Damit ist die erste Phase der Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen in der TGJ, mit weitestgehend quantitativer Methodik, abgeschlossen. Die Gründung der AG Gefährdungsanalyse, die intensive Auseinandersetzung und das gelegentlich etwas zähe Ringen um die richtigen Vorgehensweisen und Instrumente haben sich bis hierhin deutlich bezahlt gemacht. Wir konnten ein gemeinsames Interesse an der Befragung vermitteln und zu einer ausgesprochen hohen Teilnahme motivieren. Die Rücklaufquote der Fragebögen lag 2014 bei ungewöhnlichen 90,2 Prozent, 2017 bei immer noch guten 70 Prozent. Die Ergebnisse waren insgesamt sehr gut, boten aber auch Ansatzpunkte für eine über die reinen Zahlen hinausgehende Analyse in den sich trotzdem abzeichnenden Problemfeldern. Die Betriebsversammlung zur Vermittlung der Befragungsergebnisse in die Mitarbeiterschaft diente gleichzeitig auch der Motivation zur Teilnahme an den nachfolgend geplanten Workshops. Diese sollten die Möglichkeit eröffnen, die durch die Befragung nicht abgebildeten Problematiken zu ergänzen, eine Beurteilung der gesamten bisherigen Ergebnisse vorzunehmen und Maßnahmevorschläge zu erarbeiten. Über den weiteren Verlauf berichtet Teil 2 des Artikels.

    Kontakt:

    Robert Meyer-Steinkamp
    Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld
    Jenfelder Straße 100
    22045 Hamburg
    Tel. 040/65 40 96-66
    meyerst.tgj@alida.de

    Angaben zum Autor:

    Robert Meyer-Steinkamp, Dipl.-Psychologe / Psychologischer Psychotherapeut:
    Therapeutische Leitung der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld
    Ausbildungsleitung Suchttherapie VT (DRV-anerkannt) am Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung (HIGW)

    Literatur:
  • Selbstliebe

    Selbstliebe

    Dr. Bodo Karsten Unkelbach

    Wahrscheinlich würden die meisten Psychiater/innen und Psychotherapeut/innen der These zustimmen, dass ein Mangel an Liebe psychisch krank machen kann. Dennoch findet der Begriff Liebe in der Fachliteratur und in Fachkreisen kaum Verwendung – vermutlich, weil er zu unspezifisch ist. In der Umgangssprache hingegen ist er oft zu hören, wird aber mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt und zudem oft missbräuchlich verwandt. In der psychotherapeutischen Praxis berichten Klienten immer wieder von Handlungen, die aus ‚Liebe‘ begangen wurden, die der Empfänger als alles Mögliche, nicht aber als liebevoll erlebt hat.

    Definition des Liebesbegriffs

    Um Klarheit zu schaffen, soll das Wörtchen Liebe zunächst definiert werden. Eine allgemeine Definition könnte lauten: Liebe ist eine Handlung oder eine Beziehungsgestaltung, die dem Nächsten gut tut. Oder kurz gesagt: Liebe ist, seinem Nächsten Gutes zu tun. Nun stellt sich die Frage, was ‚gut‘ ist. Diese Frage kann nur der Empfangende beantworten. Wenn ein Mann seiner Frau einen Blumenstrauß schenkt, wird sich die Frau in aller Regel darüber freuen. Hat sich ein Paar gerade heftig gestritten und gibt die Frau unmissverständlich zu verstehen, dass sie ihren Mann in den nächsten Tagen nicht sehen möchte, dann erlebt sie es möglicherweise nicht als Akt der Liebe, wenn er eine Stunde später mit einem Blumenstrauß vor ihr steht. Schließlich ignoriert er ihren Wunsch nach Abstand. Insofern lässt sich nicht sagen, ob eine bestimmte Handlung liebevoll ist, vielmehr liegt es in dem Wesen und den Erfahrungen des Empfangenden, ob er die Geste als liebevoll erlebt.

    Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Definition von Liebe liegt in der Langfristigkeit. Schenkt ein Vater seiner Tochter eine große Tüte Gummibärchen, kann das ein Akt der Liebe sein. Tut er es aber wiederholt, sind diese Geschenke kein Ausdruck der Liebe mehr. Wahre Liebe will langfristig Gutes. Das bedeutet in diesem Kontext, wirklich liebevoll wäre es, der Tochter einen sparsamen Umgang mit Gummibärchen beizubringen.

    Zum Verständnis des Liebesbegriffs lassen sich noch weitere Formen unterscheiden: Liebe für Leistung und bedingungslose Liebe, die wir im Idealfall gleichermaßen erleben. Liebe für Leistung klingt in unseren Ohren befremdlich. Tatsächlich erleben wir sie jedoch von Klein auf. Das erste Babylächeln erzeugt wahre Begeisterungsstürme bei den Eltern. Die ‚Leistung‘ Lächeln wird mit positiver Verstärkung belohnt. Jeder Entwicklungsschritt löst ein Feuerwerk an Unterstützung und Ermutigung durch die Eltern aus. In höherem Alter zeigen Kinder Leistungen in der Schule und im Fußballverein, wofür sie ebenfalls Lob und Anerkennung ernten. Dies tut gut und hilft, ein stabiles Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigenen Leistungen zu entwickeln. Auch als Erwachsene kennen wir das Glück, für unsere Leistung Ansehen und Zuspruch zu empfangen. Selbstverständlich spielt Leistung auch bei der Partnersuche eine Rolle. Die Frage, was der andere bereit ist, für mich zu geben, und was ich bereit bin, in die Beziehung zu investieren, ist für das Gelingen einer Liebesbeziehung von hoher Bedeutung.

    Liebe für Leistung ist also etwas ganz Alltägliches. Sie kann sich aber auch negativ auswirken, wenn Kinder damit unter Druck gesetzt und nicht gleichzeitig bedingungslos geliebt werden. Bedingungslose Liebe bedeutet, sich daran zu erfreuen, dass der andere Mensch da ist. Das Baby wird geliebt, so wie es ist. Seine Anwesenheit an sich löst Freude aus. Seine Existenz macht seine Eltern glücklich. Dieses grundsätzliche Ja zieht sich idealerweise durch das gesamte Leben. Der Boden, auf dem auch heftige Konflikte ausgetragen werden können, ist die Erfahrung bedingungsloser Liebe. Sie bildet die Grundlage für die Fähigkeit, als Erwachsener andere Menschen nicht zu verurteilen, sondern sie so zu nehmen, wie sie sind. In der Partnerschaft kommt der bedingungslosen Liebe eine besondere Rolle zu als Ausgangspunkt und als Basis für alle Lebensaufgaben, die auf das Paar zurollen. Bei einer schwierigen Auseinandersetzung sorgt sie für das Grundverständnis, dass man zusammengehört und zusammenhält, auch wenn man unterschiedliche Meinungen, Ansichten und Bedürfnisse hat. Ohne bedingungslose Liebe wäre ein tiefgreifender Konflikt ein Grund für eine Trennung, mit bedingungsloser Liebe ergibt sich die Chance, den Konflikt aufzuarbeiten und zu einer gemeinsamen, konstruktiven Lösung zu finden.

    Selbstliebe beeinflusst alle Lebensbereiche

    Hatten wir das Glück und sind als Kinder und Jugendliche in einer gesunden Familie mit viel Liebe aufgewachsen, gelangen wir zu der inneren Überzeugung, dass wir liebenswerte Menschen sind. Weil wir positive Zuwendung und Annahme erfahren haben, setzen sie sich in unserem Selbstbild fest. Dadurch ist es uns möglich, die Beziehung zu uns selbst liebevoll zu gestalten, also uns selbst zu lieben.

    Wie eingangs erwähnt, kann ein Mangel an Liebe krank machen. Genauer betrachtet handelt es sich bei der Not erwachsener Menschen, die unter den Folgen mangelnder Liebe leiden, im Kern heute nicht mehr um einen Mangel an Liebe sondern um einen Mangel an Selbstliebe. Die Folgen unzureichender Selbstliebe zeigen sich nicht nur bei seelisch Kranken, sondern sind viel weiter verbreitet.

    Beispielsweise wird es Menschen mit mangelndem Selbstwertgefühl, die sich nicht viel zutrauen, schwer (oder schwerer) fallen, beruflich erfolgreich zu sein. Kennen sie aber ihre Fachkompetenz und wissen sie, zu welchen Leistungen sie fähig sind, gibt dies Sicherheit, wenn es darum geht, einen neuen Karriereschritt zu verhandeln. Ein anderes Beispiel: Menschen, die sich minderwertig und hässlich fühlen, werden Schwierigkeiten haben, eine erfüllende Partnerschaft einzugehen. Lieben sie sich aber selbst, dann wissen sie, dass sie wertvoll sind, auch wenn sie nicht perfekt sind. Beim Blick in den Spiegel sehen sie auch ihre weniger schönen Anteile mit Liebe an. Und sie vertrauen darauf, eine Partnerin/einen Partner zu finden, die/der sie auch mit äußeren Unvollkommenheiten liebt.

    Sämtliche Lebensbereiche werden von Selbstliebe beeinflusst. Wenn ich nicht an mich glaube, kann ich nicht erwarten, dass andere an mich glauben. Wenn ich mich selbst als wertlos erachte, muss ich mich nicht wundern, wenn ich von anderen respektlos behandelt werde. Viele Menschen gehen nicht so gut mit sich um, wie sie es könnten. Viele Menschen haben zu wenig bedingungslose Liebe und fördernde und fordernde Liebe erlebt, weshalb es ihnen nur in Ansätzen gelungen ist, ein positives Selbstbild zu entwickeln.

    Im therapeutischen Alltag begegnen Behandlerinnen und Behandler diesen Menschen jeden Tag. Oft ist in den Gesprächen die Erkenntnis, wie wichtig es ist, sich selbst zu lieben, einfach herzustellen. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wie ein Mensch, der als Kind defizitäre Liebe erfahren hat, Selbstliebe entwickeln kann. 

    Selbstliebe kann man lernen

    Liebe findet innerhalb einer zwischenmenschlichen Beziehung statt. Selbstliebe meint meine Beziehung zu mir selbst. Ebenso, wie ich eine Beziehung zu einem Freund gestalte, kann ich auch die Beziehung zu mir selbst gestalten. Der Mensch ist in der glücklichen Situation, über sich selbst nachdenken, sein Handeln reflektieren und sich seiner selbst bewusst werden zu können. Diese Fähigkeit eröffnet viele Möglichkeiten, wie wir unser Denken und Fühlen beeinflussen und steuern und somit einen inneren Heilungsprozess einleiten können. Im Folgenden wird ein rationaler Weg beschrieben, der über konkrete Handlungsschritte zu mehr Selbstliebe führt.

    Daneben gibt es auch einen emotionalen Weg zur Ausbildung von Selbstliebe. Hierfür eignen sich Phantasiereisen, in denen sich die Klienten an einen sicheren Ort begeben, an dem sie ein idealer Vater oder eine ideale Mutter sein können, der oder die das innere Kind tröstet. So oft berichten Klienten in therapeutischen Gesprächen, dass sie wahre Liebe in ihrer Kindheit kaum erlebt haben und deshalb gar nicht wissen, wie sich das anfühlt. Phantasiereisen geben die Möglichkeit, eine idealtypische, liebevolle Welt zu erfahren. 

    Sieben Schritte zur Selbstliebe

    Der rationale Zugang zur Entwicklung von Selbstliebe besteht aus mehreren Schritten, den  sieben Schritten zur Resilienz. Der siebte Schritt lässt sich wieder mit dem ersten verbinden, sodass hier vom Kreislauf der Selbstliebe gesprochen werden kann (Abb. 1).

    Abb. 1: Kreislauf der Selbstliebe

    Schritt 1: Selbstachtsamkeit und Selbstaufmerksamkeit – Sich auf sich selbst konzentrieren

    Unsere moderne Gesellschaft ist von permanenter Ablenkung gekennzeichnet. Die neuen Medien liefern unendliche Möglichkeiten, sich mit allem Möglichen zu beschäftigen. Sie sind rund um den Globus zu jeder Zeit verfügbar. Für den einzelnen Menschen heißt das, dass er immer weniger Zeit mit sich selbst verbringt. Vor 15 Jahren hat man während einer Busfahrt noch aus dem Fenster geschaut und den Gedanken freien Lauf gelassen. Heute wird diese Zeit medial besetzt. Die Freiräume, in denen keine Anforderungen an uns gestellt werden und wir uns auch nicht selbst ablenken, werden immer kleiner. Wollen wir in Beziehung zu uns selbst treten, ist es notwendig, dass wir uns bewusst Zeit für uns selbst nehmen. Zeit, in der wir einmal gar nichts zu tun haben und uns auch nicht ablenken lassen. Versuchen Sie einmal ein Experiment: Setzen Sie sich auf die Couch und machen Sie für 30 Minuten einmal nichts. Schalten Sie zuvor alle Störfaktoren aus und sorgen Sie dafür, dass Sie diese 30 Minuten nicht angesprochen werden. Alternativ bietet sich die Möglichkeit, allein einen Spaziergang durch einen einsamen Wald zu unternehmen.

    Schritt 2: Selbstwahrnehmung – Sein eigenes Seelenleben wahrnehmen

    Haben Sie sich einen Ort der Ruhe geschaffen, dann fangen Sie an, sich selbst zuzuhören. Welche Gedanken und Erinnerungen, welche Gefühle steigen in Ihnen auf? Hierbei ist es von Bedeutung, alles, was Ihnen durch den Kopf schwirrt, zuzulassen. Versuchen Sie, es nicht zu bewerten, nicht zu moralisieren, sondern wahrzunehmen, was da ist. Nehmen Sie die eigenen inneren Regungen wahr, wie ein Nachrichtensprecher, der einfach nur  sachlich beschreibt.

    Schritt 3: Selbstrespekt – Mit Gedanken, Gefühlen und Visionen respektvoll umgehen

    Respekt bedeutet, anzuerkennen, dass etwas da ist. Wenn ich mit einem anderen Menschen respektvoll umgehe, dann erkenne ich an, dass er existiert, mit all seinen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen. Gehe ich mit mir selbst respektvoll um, erkenne ich an, dass meine Gedanken und Gefühle da sind. Wie oft wischen Menschen ihre eigenen Bedürfnisse einfach weg, nach dem Motto: „Ist doch nicht so wichtig“. Selbstliebe bedeutet: Alles ist wichtig. Respektieren Sie alles in sich, auch unangenehme Gefühle wie Eifersucht, Wut oder Hass.

    Schritt 4: Selbstannahme – Alles in sich bedingungslos annehmen

    Mit der Erkenntnis, dass viele Gefühle und Wünsche in uns aufsteigen, lernen wir verstehen, dass dieses innere Erleben ein Teil von uns ist. Es bereitet kein Problem bei positiven Gedanken und Gefühlen. Eine echte Herausforderung kann es dagegen bedeuten, auch die unangenehmen Bereiche als Teil des Selbst anzunehmen. Wenn in mir der Gedanke aufsteigt, dass ich meinem Nachbarn am liebsten an die Gurgel ginge, bereitet es zunächst keine Freude, diesen Impuls als einen Teil von mir selbst anzunehmen. Wenn diese Phantasie aber in mir aufsteigt, dann ist sie auch ein Teil von mir. Zunächst wird dieser Schritt eher belastend sein, im weiteren Verlauf wird sich aber auch Entspannung einstellen. Diese Anteile sind ohnehin da, und ich werde nur mit ihnen umgehen und arbeiten können, wenn ich sie als einen Teil von mir selbst akzeptiere.

    Schritt 5: Selbstwert entwickeln – Sich als wertvollen Menschen begreifen

    Der Impuls, dem Nachbarn an die Gurgel zu gehen, scheint zunächst nicht sonderlich wertvoll zu sein. Tatsächlich ist er es aber. Unangenehme Gefühle oder Phantasien haben die Funktion eines Alarms. Irgendetwas stimmt nicht, irgendwo läuft etwas schief. Diese grausame Phantasie verdeutlicht mir, dass Aggression in mir schlummert. Deshalb ist sie wertvoll. Verfolge ich die Aggression zurück, weist sie mir den Weg zu einem Konflikt, und je bewusster mir der Konflikt wird, desto eher bietet sich mir die Möglichkeit, diesen Konflikt im Kern anzugehen.

    Schritt 6: Selbstvertrauen – Sich seiner selbst bewusst sein und sich selbst vertrauen

    Wir sind in dem Kreislauf der Selbstliebe nun schon deutlich fortgeschritten. Wir wissen nun, was wir von uns erwarten können und wo unsere Stärken und Schwächen liegen. Wir lernen uns immer besser kennen, darüber entwickeln wir Selbstvertrauen.

    Selbstvertrauen heißt, dass wir unserer Wahrnehmung vertrauen können. Wenn wir etwas denken, dann denken wir es. Fühlen wir etwas, dann fühlen wir es. Wenn wir traurig sind, sind wir traurig. Da hat kein anderer daran zu rütteln. Übergriffe von außen („Du musst jetzt nicht traurig sein.“ „Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt.“) können wir jetzt getrost an uns abprallen lassen.

    Die Auseinandersetzung mit uns selbst führt zu einer immer realistischeren Einschätzung dessen, was wir uns selbst zutrauen können und an welcher Stelle wir uns lieber Hilfe suchen sollten. Zu oft unterschätzen wir unsere Möglichkeiten. Denken wir konsequent bis zu Ende, was in unserer Macht liegt, werden wir eine Menge bewegen können. Erkennen wir unsere Grenzen in angemessener Weise an, können wir uns die nötige Hilfe und Unterstützung holen.

    Aber auch dem umgekehrten Impuls können wir vertrauen. Wenn wir einfach mal Ruhe haben und ausspannen wollen, können wir uns auch in diesem Anliegen selbst vertrauen.

    Schritt 7: Selbstsicherheit – Sich seiner selbst sicher sein und sicher auftreten

    Die ersten sechs Schritte des Kreislaufs der Selbstliebe finden alle im stillen Kämmerlein statt. Es geht um die intensive Auseinandersetzung mit sich selbst. Der siebte Schritt führt nun nach draußen in die Welt. Es geht darum, umzusetzen, was wir uns vorgenommen haben. Je besser wir uns kennen, je klarer uns unsere Möglichkeiten und Grenzen sind, desto sicherer können wir auftreten. Wir wissen, was wir wollen, wir wissen, was uns wichtig ist, wir haben uns eine eigene Meinung gebildet und vertreten diese. Wir können zwischen dem Du und dem Ich unterscheiden, unseren Standpunkt vertreten und den Standpunkt unseres Gegenübers anerkennen.

    Haben wir unser Verhalten verändert, haben wir schon gewonnen. Es ist nämlich nicht entscheidend, ob wir unser äußeres Ziel erreicht haben, sondern ob wir aufgrund unserer Selbsterkenntnis unser Verhalten verändert und Neues ausprobiert haben. Nun können wir wieder zu Schritt 1 zurückgehen und den Kreislauf der Selbstliebe unter Berücksichtigung der jüngsten Erfahrungen von Neuem durchlaufen.

    Ausblick

    Wie bei jedem Modell, das mit Schritten arbeitet, ist es auch hier nicht notwendig, immer einen Schritt auf den anderen folgen zu lassen. Manche Schritte fallen leichter, andere schwerer. Auch bei dem Umgang mit einer solchen Anleitung geht es darum, sich selbst zu vertrauen und zu nehmen, was als hilfreich erachtet wird, und das Überflüssige zur Seite zu tun.

    Egal, ob wir einen Konflikt in der Partnerschaft aufarbeiten, uns beruflich weiterentwickeln oder ein fröhliches und entspanntes Familienfest feiern wollen, Selbstliebe hilft, zu sich zu finden und klare Vorstellungen von den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten zu entwickeln, um dann zielgerichtet ans Werk zu gehen.

    Liebe ich mich selbst und tue mir Gutes, kann ich Gelassenheit entwickeln, weil ich weiß, dass ich alles bekomme, was ich brauche. Dieses Geschenk, das ich mir jeden Tag selbst bereite, gibt mir die Freiheit, auch meinen Nächsten zu beschenken: mit Aufmerksamkeit, Anerkennung, Achtung, Wertschätzung, Wohlwollen und Freude an der gemeinsamen Zeit.

    Mehr zum Thema Selbstliebe mit Praxisbeispielen und Übungen finden Sie in:

    Bodo Karsten Unkelbach
    Heute liebe ich mich selbst. In 7 Schritten zur Resilienz
    Claudius Verlag, München 2016

    Kontakt:

    Dr. med. Bodo Karsten Unkelbach
    Klinikdirektor/Chefarzt
    Klinikum Oberberg
    Kreiskliniken Gummersbach-Waldbröl GmbHröl GmbH
    Psychiatrie MH II
    Lepprestr. 65-67
    51709 Marienheide
    BodoKarsten.Unkelbach@klinikum-oberberg.de  
    www.klinikum-oberberg.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Bodo Karsten Unkelbach, geb. 1969, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit tiefenpsychologischem und systemischem Schwerpunkt. Suchtmedizin. Forensische Psychiatrie. Seit 2006 ist er Chefarzt der Klinik für Suchtmedizin und Psychotherapie im Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide, in der sämtliche Abhängigkeitserkrankungen und begleitende psychiatrische Krankheitsbilder behandelt werden.