Schlagwort: Soziale Arbeit

  • Gewalt in der Suchthilfe

    Gewalt in der Suchthilfe

    Dr. Elke Alsago
    Prof. Dr. Nikolaus Meyer

    1. Suchthilfe: Eine Einführung ins Arbeitsfeld aus Sicht Sozialer Arbeit

    Die Suchthilfe ist ein eigenständiges, zugleich hochdifferenziertes Handlungsfeld der Sozialen Arbeit (Kempster 2021), das eng mit weiteren sozial- und gesundheitspolitischen Systemen verknüpft ist (Hansjürgens 2016; Hansjürgens et al. 2025). Charakteristisch ist die Einbindung von Angeboten der Suchthilfe direkt wie indirekt in unterschiedliche Sozialgesetzbücher (SGB II, III, V, VI, VIII, IX, XII), was sowohl Zuständigkeiten als auch Handlungskonzepte prägt (Pauly 2024; Abstein 2012). Daraus ergibt sich ein multiprofessionelles Feld, in dem verschiedene Berufsgruppen in differenzierten Zuständigkeiten agieren (Deimel & Hornig 2024).

    Die ambulante Suchthilfe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vorrangig durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit professionalisiert (Helas 1997). Sie ist meist Teil kommunaler Daseinsvorsorge und folgt damit einer sozialarbeiterischen Logik. Demgegenüber ist die stationäre Suchthilfe im Gesundheitssektor verortet, dominiert von medizinischen Berufsgruppen und durch Regelungen der Renten- und Krankenversicherung (SGB V, VI) strukturiert (Deimel & Hornig 2024; Hansjürgens 2016).

    Das ambulante Hilfespektrum reicht von niederschwelligen Kontaktläden und Drogenkonsumräumen über psychosoziale Beratungsstellen – die mit rund 1.500 Einrichtungen den Hauptanteil ausmachen (Deimel & Hornig 2024, S. 20) – bis hin zu betreutem Wohnen und Nachsorgeprojekten. Die ambulanten Einrichtungen sind die erste Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige, sie bieten Motivationsklärung, Beratung und Vermittlung in weiterführende Hilfen. Fachkräfte übernehmen hier Einzelfallhilfe, Netzwerkarbeit, Arbeit im Gemeinwesen und in der Prävention (Hansjürgens 2015; Laging 2023). Die stationäre Suchthilfe umfasst qualifizierte Entzugsbehandlungen, Rehabilitation und sozialtherapeutische Wohnangebote. Zwar werden die beiden erstgenannten Leistungen primär medizinisch verantwortet, zunehmend wirken jedoch Sozialarbeiter:innen bei Reintegration, Krisenintervention und Nachsorge mit (Hansjürgens 2015; Hansjürgens 2016).

    Die Trägerlandschaft ist vielfältig: Neben kommunalen Einrichtungen dominieren freie Träger, insbesondere Wohlfahrtsverbände (Abstein 2012). Die Finanzierung erfolgt je nach Angebot über kommunale Mittel, gesetzliche Renten- und Krankenversicherung, Eingliederungshilfe, Landesmittel oder projektbezogene Förderungen. Diese Strukturvielfalt bringt zugleich erhebliche Steuerungsprobleme mit sich, insbesondere bei Übergängen zwischen Hilfeformen.

    Trotz multiprofessioneller Ausrichtung kommt Fachkräften der Sozialen Arbeit eine zentrale Rolle zu. In ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen machen sie mit 63,5 Prozent die größte akademische Berufsgruppe aus, während der Anteil an Psycholog:innen (8,3 Prozent) und Ärzt:innen (2,3 Prozent) deutlich geringer ist (Deimel & Hornig 2024, S. 20). Ihre Aufgaben umfassen die Bearbeitung sozialer Problemlagen, Fallsteuerung, Beziehungsgestaltung, sozialrechtliche Beratung und Netzwerkarbeit (Laging 2023). Insbesondere bei vulnerablen Gruppen (z. B. wohnungslose, migrantische oder psychisch erkrankte Personen) sind sie zentral, um Teilhabe zu ermöglichen (Hansjürgens 2016).

    Das Arbeitsfeld Suchthilfe ist nicht nur komplex, sondern auch fragmentiert (Deimel, Moesgen & Schecke 2024): Die Vielfalt an Sozialgesetzbüchern führt zu Überschneidungen, Leerstellen und Zuständigkeitskonflikten, etwa bei jugendlichen Konsument:innen oder Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Für Fachkräfte bedeutet das, auch zwischen Systemen zu agieren (Abstein 2012).

    2. Suchthilfe und verletzendes Verhalten

    Gewaltphänomene im Kontext Suchthilfe werden bisher primär bezogen auf das Verhalten von Klient:innen thematisiert (Laging 2023; Sommerfeld 2021). Eine systematische Differenzierung des Auftretens von Gewalt bleibt in vielen Beiträgen jedoch aus (Hornig 2023; Klein 2022; Vogt 2022; DHS 2021). Hier werden entweder einzelne Gewaltformen untersucht oder nur solche, die innerhalb einer spezifischen Gruppe oder zwischen zwei spezifischen Gruppen auftreten. Diese vorliegende Studie greift diese Forschungslücke auf und untersucht anhand einer bundesweiten Online-Befragung, wie häufig Beschäftigte in der Sozialen Arbeit – darunter auch in der Suchthilfe – mit Gewalt konfrontiert sind, wie sie diese bewerten und welche strukturellen Bedingungen verletzendes Verhalten begünstigen (Meyer & Alsago 2025a–e).

    Zur systematischen Erhebung wurden fünf Gewaltformen im Fragebogen definiert und mit Beispielen versehen (Bundschuh 2023):

    • Sexualisierte Gewalt: Dies sind schwerwiegende, nicht einvernehmliche Handlungen wie das Zeigen von Pornografie gegenüber Kindern, das Erzwingen sexueller Handlungen an sich selbst oder Dritten, exhibitionistische Handlungen, ungewollte Berührungen oder Penetration gegen den Willen der Betroffenen (ebd., S. 28).
    • Sexuelle Übergriffe: Dies sind gezielte, grenzüberschreitende Handlungen mit sexuellem Bezug, darunter anzügliche Bemerkungen, Witze über den Körper, unerwünschte Berührungen an Brust, Gesäß oder Genitalien sowie das Aufdrängen von Gesprächen über Sexualität (ebd., S. 30f.).
    • Sexuelle Grenzverletzungen: Diese umfassen unbeabsichtigte oder unangemessene Handlungen, die die Intimsphäre der Betroffenen verletzen (ebd., S. 28f.).
    • Physische Gewalt: Diese Gewaltform beinhaltet beispielhaft Schubsen, Ohrfeigen, Schlagen, hartes Anpacken oder das Werfen von Gegenständen (ebd., S. 26).
    • Psychische Gewalt: Sie umfasst Verhaltensweisen wie das absichtliche Ignorieren von Fragen, das Unterbinden sozialer Kontakte, soziale Isolation, aggressives Anbrüllen, Beschimpfungen, Drohungen oder anhaltendes Schweigen (ebd., S. 27).

    In der Online-Befragung wurden die verschiedenen Gewaltformen vorgestellt und mit Beispielen versehen. Die Befragung fand vom 18.09. bis 23.10.2024 statt und wurde von 6.383 Beschäftigten aus verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit beantwortet. Im Fokus standen Gewalterfahrungen der letzten zwölf Monate in der eigenen Einrichtung sowie das berufliche Alltagserleben. Nach der Bereinigung des Datensatzes – etwa durch den Ausschluss unvollständiger oder doppelter Fragebögen sowie von Personen mit weniger als einem Jahr Berufstätigkeit in der Einrichtung – blieben 3.234 auswertbare Fragebögen. Diese wiederum konnten durch die Angabe des Arbeitsfeldes nach diesen geclustert werden. Die Auswertung für die Suchthilfe basiert auf Angaben von 103 Beschäftigten. Trotz der geringen Größe der Stichprobe ist die Teilnehmendenzahl für den explorativen Charakter der Untersuchung zunächst ausreichend. Die Auswertung erfolgte mittels deskriptivstatistischer Verfahren.

    Innerhalb der Suchthilfe-Gruppe verfügen 69,5 Prozent der Befragten über mehr als sechs Jahre Berufserfahrung; 65,2 Prozent arbeiten in Teilzeit, 95,7 Prozent sind unbefristet angestellt. Die Befragten sind zu 86,4 Prozent weiblich. Bezüglich der Trägerschaft arbeiten 33,3 Prozent der Befragten bei freigemeinnützigen Trägern, ebenso viele bei kirchlichen Trägern, 23,8 Prozent sind bei öffentlichen, 9,5 Prozent bei privatwirtschaftlichen Anbietern beschäftigt. Die überwiegende Mehrheit (87 Prozent) arbeitet in ambulanten, 8,7 Prozent in stationären und 4,3 Prozent in teilstationären Einrichtungen. 78,3 Prozent der Befragten sind Sozialarbeiter:innen, gefolgt von Erziehungswissenschaftler:innen (8,7 Prozent) und Heilerziehungspfleger:innen (4,3 Prozent). Die größte Altersgruppe stellen mit 39,1 Prozent die 25- bis 34-Jährigen dar, während die 45- bis 54-Jährigen mit 8,7 Prozent die kleinste Gruppe bilden. Ob diese Verteilung der tatsächlichen Altersstruktur im Arbeitsfeld entspricht, lässt sich mangels amtlicher Daten – wie auch in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit – nicht abschließend klären (Meyer 2024).

    3. Gewalt in der Suchthilfe

    Bei den Angaben der Beschäftigten zur erlebten Gewalt in der eigenen Einrichtung während der letzten zwölf Monate zeigen auch die Beschäftigten aus der Suchthilfe, dass gewaltförmige Konstellationen im Alltag vorkommen.

    Abbildung 1: Gewalterfahrungen der Beschäftigten mit Schwerpunkt in der Sozialen Arbeit der Suchthilfe in den vergangenen zwölf Monaten (Angaben in Prozent, eigene Darstellung)

    Abbildung 1 verdeutlicht, dass insbesondere zwischen den Klient:innen alle Formen von Gewalt häufig auftreten, wobei psychische Gewalt mit 91,3 Prozent und physische Gewalt mit 56,5 Prozent besonders häufig genannt werden. Auch verletzendes Verhalten von Klient:innen gegenüber Beschäftigten wird häufig berichtet. Hier zeigt sich die gleiche Verteilung: Am häufigsten tritt psychische Gewalt auf (87 Prozent), gefolgt von physischen Übergriffen (45,5 Prozent) sowie sexuellen Grenzverletzungen (45,5 Prozent). Auch hier zeigt sich – ähnlich wie beim verletzenden Verhalten unter Klient:innen (sexuelle Grenzverletzungen 33,3 Prozent, sexuelle Übergriffe 31,6 Prozent und sexualisierte Gewalt 21,1 Prozent) –, dass sexuelle Gewaltformen keineswegs selten sind: 45,5 Prozent der befragten Beschäftigten berichten von sexuellen Grenzverletzungen durch Klient:innen, 13,6 Prozent von sexuellen Übergriffen und 4,5 Prozent von sexualisierter Gewalt.

    Auffällig sind Unterschiede zwischen den Settings: Psychische und physische Gewalt unter Klient:innen treten besonders häufig in teilstationären Einrichtungen auf. Sexualisierte Gewalt wird hingegen am häufigsten aus stationären Einrichtungen gemeldet – sowohl unter Nutzer:innen als auch in der Beziehung zwischen Nutzer:innen und Beschäftigten. Auch Gewalt durch Nutzer:innen gegen Fachkräfte sowie Gewalt durch Fachkräfte gegenüber Nutzer:innen zeigt sich stärker in stationären Kontexten. Zwischen Trägerarten (kirchlich, frei, öffentlich) ergaben sich hingegen keine signifikanten Unterschiede.

    Ein Vergleich mit der Gesamtstichprobe der Sozialen Arbeit (n = 6.380) macht deutlich, dass die Suchthilfe besonders stark belastet ist. Während im Gesamtdatensatz 80,5 Prozent der Befragten psychische Gewalt durch Nutzer:innen gegenüber Beschäftigten angaben, waren es in der Suchthilfe 87 Prozent. Im Verhältnis zur gesamten Sozialen Arbeit geringer waren dagegen die Angaben zu physischer Gewalt unter Klient:innen (66,1 Prozent vs. 56,5 Prozent).

    4. Gewalt, Belastungen und institutionelle Kontexte – Zusammenhänge und Wechselwirkungen

    Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung machen deutlich, dass gewaltförmige Dynamiken auch in der Suchthilfe eine reale und verbreitete Herausforderung darstellen. Eine vertiefende Auswertung der erhobenen Daten zeigt signifikante statistische Zusammenhänge auf mittlerem Korrelationsniveau zwischen gewaltbezogenen Erfahrungen und verschiedenen Aspekten der Arbeitsbedingungen. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Gewalt (psychische und physische Gewalt sowohl unter Klient:innen als auch durch diese Gruppe gegenüber Beschäftigten) und Faktoren wie Arbeitsüberlastung, unzureichende Beteiligung, fehlende fachliche Rückendeckung sowie strukturelle Defizite im Arbeitsumfeld.

    Psychische Gewalt durch Klient:innen tritt gehäuft dort auf, wo Beschäftigte regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit leisten und Arbeitsbedingungen als belastend empfunden werden. In solchen Einrichtungen sind oftmals auch die räumlichen Rahmenbedingungen unzureichend, der Arbeitsalltag ist durch hohen Zeitdruck geprägt (95,9 Prozent) und das Erleben von Ohnmacht und fehlender Wirksamkeit in der eigenen Tätigkeit ist weitverbreitet. 95,7 Prozent der Befragten geben an, sich regelmäßig an der Grenze ihrer Belastbarkeit zu bewegen, während 87 Prozent berichten, dass sie ihre professionellen Standards nicht in vollem Umfang aufrechterhalten können – vielfach (45,5 Prozent) könnte dies durch ein bis zwei zusätzliche Fachkräfte vermieden werden.

    Gewalt und mangelnde Beteiligungsstrukturen

    Ein besonders prägnanter Zusammenhang zeigt sich zwischen dem Erleben von Gewalt und mangelnden Beteiligungsstrukturen: Dort, wo Klient:innen kaum oder gar nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen werden (laut 94,1 Prozent der Befragten findet dies nicht statt) und wo Beschäftigte über relevante Veränderungen am Arbeitsplatz nur selten informiert werden (60,9 Prozent), sind psychische, physische und sexualisierte Übergriffe durch Klient:innen signifikant häufiger. Zugleich ist das Kommunikationsklima angespannt: Nur 45,4 Prozent der Beschäftigten geben an, offen über Probleme sprechen zu können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.

    Auch innerhalb von Teams, in denen es in den letzten zwölf Monaten verstärkt zu Konflikten mit Klient:innen oder häufigen Beschwerden gegen Mitarbeitende kam (45,5 Prozent), wird psychische Gewalt durch Klient:innen überdurchschnittlich häufig berichtet. Auffällig ist zudem, dass in nur 39,1 Prozent dieser Fälle eine systematische Aufarbeitung im Team erfolgt – ein Indikator für fehlende institutionelle Reflexionsräume.

    Die hohe Belastung spiegelt sich auch in einer auffälligen Personalfluktuation: Durchschnittlich bestand ein Team aus vier Personen, von denen zwei innerhalb eines Jahres die Einrichtung verlassen haben. Lediglich 30,4 Prozent der Teams blieben personell stabil. 30,3 Prozent der Beschäftigten beabsichtigen einen Arbeitsplatzwechsel, 4,3 Prozent zogen sogar einen vollständigen Berufsausstieg in Erwägung.

    Sexualisierte Gewaltphänomene lassen sich ebenfalls in Zusammenhang mit bestimmten institutionellen Rahmenbedingungen bringen. So treten sexuelle Grenzverletzungen durch Klient:innen besonders häufig dort auf, wo Nachtarbeit gefordert ist, wo Fachkräfte auch außerhalb ihrer Arbeitszeit erreichbar sein müssen (52,2 Prozent) und wo es an regelmäßiger Supervision oder externer Beratung mangelt. Auch eine fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte erhöht das Risiko: In Einrichtungen, in denen respektloses Verhalten durch Führungskräfte berichtet wird oder die Anerkennung für die geleistete Arbeit ausbleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit sexualisierter Gewalt gegen Beschäftigte signifikant.

    Darüber hinaus zeigen die Daten, dass auch Gewalt durch Fachkräfte gegenüber Klient:innen kein randständiges Phänomen darstellt. Insbesondere in Einrichtungen mit strukturellen Mängeln – etwa fehlenden Mitbestimmungsmöglichkeiten bei methodischen Entscheidungen, geringem Zugang zu Fortbildungen, fehlender Supervision, geringer kollegialer Unterstützung und intransparenten Leitungsentscheidungen – häufen sich Berichte über psychische oder sexualisierte Gewalt durch Beschäftigte. Diese Befunde deuten auf wechselseitige Dynamiken hin, strukturelle Defizite können sich in beide Richtungen der Interaktion gewaltsam entladen – ein Hinweis auf ein institutionell dysfunktionales System.

    Besonders verdichtet treten Gewaltphänomene – etwa sexuelle Übergriffe oder sexualisierte Gewalt zwischen Klient:innen – dort auf, wo schlechte Arbeitsbedingungen, Nachtarbeit sowie belastende Umweltfaktoren den Alltag bestimmen. Auch strukturelle Unklarheiten wie unzureichend geklärte Zuständigkeiten, das Fehlen von Rückzugsräumen (nur 5,8 Prozent der Einrichtungen bieten diese für Klient:innen, nur 4,3 Prozent für Beschäftigte) und ein Mangel an Risikoanalysen der Räumlichkeiten (nur in 15,3 Prozent der Schutzkonzepte enthalten) verschärfen die Gefährdungslage.

    Gewalt innerhalb des Teams

    Ein besonders bemerkenswerter Befund der vorliegenden Studie ist der hohe Anteil an Beschäftigten, die von Gewalt innerhalb des Teams, also zwischen Kolleg:innen, berichten. Mehr als jede zweite befragte Person (62,2 Prozent) gibt an, psychische Gewalt durch Kolleg:innen erlebt zu haben, weitere 15,2 Prozent berichten von sexualisierten Grenzverletzungen innerhalb des Teams. Diese Zahlen sind nicht nur auffällig, sondern auch professionspolitisch von Relevanz: Gewalt in der Arbeitsbeziehung zwischen Beschäftigten ist bislang kaum systematisch untersucht worden – weder in der Suchthilfe noch in der Sozialen Arbeit insgesamt.

    Dabei handelt es sich keineswegs um ein exklusives Phänomen der Sozialen Arbeit: Auch in anderen Bereichen wird deutlich, dass betriebsinterne Gewalt – insbesondere psychische Übergriffe – eine unterschätzte, oft tabuisierte Belastung darstellt. Laut Arbeitsunfallstatistik der DGUV werden etwa 30 Prozent der gemeldeten Gewaltunfälle durch betriebsinterne Personen verursacht, wobei davon ausgegangen werden muss, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt (DGUV 2023, S. 89; iwd 2021). Gerade Fälle von Mobbing, systematischer Ausgrenzung oder psychischem Druck bleiben häufig unsichtbar, weil sie nicht als meldepflichtige Unfälle erfasst oder von den Betroffenen aus Angst vor Repressalien nicht zur Anzeige gebracht werden (ebd.).

    Fachveröffentlichungen zeigen zudem, dass Gewalt zwischen Kolleg:innen häufig dort auftritt, wo Strukturen der Überforderung, Hierarchie und mangelnden Kommunikation vorherrschen. Wenn Rückhalt durch Leitung fehlt, Konflikte nicht bearbeitet und psychisch belastende Situationen nicht ausreichend reflektiert werden, entsteht ein Klima, in dem Eskalationen wahrscheinlicher werden (Paefgen-Laß 2021). Dies deckt sich mit den vorliegenden Befunden: In Einrichtungen mit angespanntem Kommunikationsklima, fehlender Supervision und geringem Vertrauen in die Leitung berichten Beschäftigte signifikant häufiger von psychischer Gewalt durch Kolleg:innen.

    Schutzkonzepte bekannt machen und umsetzen

    Aus den Daten lassen sich zusammenfassend klare Muster ableiten: Gewalt tritt besonders häufig dort auf, wo strukturelle Unterstützung fehlt, Partizipation unterbleibt, institutionelle Schutzsysteme nicht greifen und die personelle Ausstattung unzureichend ist. Zwar existieren in vielen Einrichtungen formal Schutzkonzepte, jedoch sind diese nur 52,2 Prozent der befragten Personen bekannt. Präventive Maßnahmen sind lediglich in 14 Prozent der Konzepte verankert, konkrete Interventionsstrategien finden sich in 13 Prozent. Systematische Risikoanalysen – bezogen auf räumliche Gegebenheiten sowie auf Interaktionen zwischen Klient:innen und Fachkräften – sind nur in 11,7 Prozent der Schutzkonzepte enthalten.

    Die Suchthilfe hebt sich von anderen Arbeitsfeldern ab, da sie Schutzkonzepten eine vergleichsweise hohe Bedeutung beimisst. Jedoch zeigt sich, dass Risikoanalysen zu zwischenmenschlichen Gefährdungslagen trotz hoher Prävalenz verletzenden Verhaltens nur selten vorgenommen werden (9,2 Prozent). Auch bleibt die praktische Umsetzung häufig unkonkret, was die Wirksamkeit dieser Konzepte erheblich einschränkt.

    Insgesamt wird deutlich: Gewalt stellt in der Suchthilfe kein individuelles, sondern ein strukturell verankertes Risiko dar. Ihre wirksame Reduktion erfordert daher tiefgreifende Reformen bei der Arbeitsorganisation, der Ausstattung mit personellen Ressourcen sowie der Trägerkultur.

    5. Fazit und Ausblick: Gewalt als strukturelle Herausforderung der Suchthilfe

    Die Daten machen deutlich, dass gewaltförmige Konstellationen in der Suchthilfe nicht nur punktuell auftreten, sondern mit hoher Regelmäßigkeit und unter bestimmten strukturellen Bedingungen gehäuft vorkommen. Die Suchthilfe stellt ein besonders vulnerables Handlungsfeld dar – nicht zuletzt aufgrund der häufigen Nähe zu akuten Krisen, zur existenziellen Not ihrer Nutzer:innen und zu enthemmenden Wirkungen psychotroper Substanzen. Hinzu kommen prekäre Arbeitsbedingungen, fragmentierte Finanzierungslogiken und institutionelle Unklarheiten in Zuständigkeit und Steuerung. Die Kombination aus diesen Faktoren schafft ein Spannungsfeld, in dem Fachkräfte mit komplexen Herausforderungen konfrontiert sind, jedoch gleichzeitig selten über ausreichende strukturelle Rückendeckung verfügen. Gewalt tritt besonders häufig dort auf, wo Personal fehlt, Partizipation eingeschränkt ist, Leitungskulturen autoritär oder konfliktmeidend sind und Schutzkonzepte nicht greifen oder unbekannt sind.

    Der Vergleich mit anderen Feldern Sozialer Arbeit bestätigt diese strukturelle Lesart: Auch in der Wohnungslosenhilfe berichten Beschäftigte von einer hohen Quote von verletzendem Verhalten (Meyer & Alsago 2025e). Doch die Daten zeigen zugleich arbeitsfeldspezifische Unterschiede. So ist das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Wohnungslosenhilfe noch deutlich höher.

    Gewalt ist in der Suchthilfe kein Ausnahmefall, sondern Ausdruck eines Systems, das unter struktureller Dauerbelastung steht. Für Praxis und Träger ergibt sich daraus ein klarer Handlungsauftrag: Um Klient:innen und Beschäftigte zu schützen und damit den Grundstein für gelingende Arbeitsbeziehungen zu legen, wird eine grundlegende Neuausrichtung der Rahmenbedingungen der Suchthilfe benötigt. Dazu gehören verbindliche Schutzstandards, ausreichende Personalausstattung, regelmäßige Supervision, niedrigschwellige Beschwerdestrukturen und vor allem eine Trägerkultur, die Gewalt als systemisches Problem anerkennt und aktiv bearbeitet. Die Stärkung von Beteiligung – sowohl der Nutzer:innen als auch der Beschäftigten – ist dabei ebenso zentral wie eine bessere Verzahnung von Schutz- und Unterstützungssystemen.

    Auch die verantwortlichen Politiker:innen sind gefordert. Die derzeitige Unterfinanzierung sowie die projektbasierte Struktur vieler Angebote in der Suchthilfe behindern nachhaltige Qualitätsentwicklung und erhöhen die strukturelle Verwundbarkeit des Systems. Eine auskömmliche, verlässliche und an Schutzstandards geknüpfte Finanzierung ist unerlässlich, wenn die Suchthilfe wirksam schützen und begleiten soll.

    Zur Weiterentwicklung und Reflexion des Systems ist weitergehende Forschung notwendig: Die hier vorgestellten Befunde eröffnen wichtige Einblicke, werfen aber zugleich neue Fragen auf. Künftige Studien sollten vertiefend analysieren, wie sich Gewalt in unterschiedlichen Teilbereichen der Suchthilfe zeigt, welche Rolle Leitung, Geschlecht oder biografische Vorerfahrungen spielen – und wie Schutzmechanismen konkret gestaltet sein müssen, um wirksam zu sein. Insbesondere die Perspektiven der Nutzer:innen und ihre Erfahrungen mit Macht, Grenzziehung und Sicherheit in Einrichtungen der Suchthilfe sind bislang weitgehend unerforscht.

    Weitere Informationen sowie Analysen aus anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit können hier aufgerufen werden: https://avasa.verdi.de

    Angaben zu den Autor:innen und Kontakt:

    Prof. Dr. Nikolaus Meyer ist Professor für „Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit“ an der Hochschule Fulda. Kontakt: nikolaus.meyer(at)sw.hs-fulda.de

    Dr. Elke Alsago ist Bundesfachgruppenleiterin Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft. Kontakt: elke.alsago(at)verdi.de

    Literatur
    • Abstein, H. J. (2012). Suchthilfe − ein klassisches Handlungsfeld der Sozialarbeit. In S. Gastiger & H. J. Abstein (Hrsg.), Methoden der Sozialarbeit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchthilfe (S. 7–18). Freiburg: Lambertus.
    • Bundschuh, C. (2023). Gewaltverständnisse und begriffliche Einordnungen. In C. Bundschuh & S. Glammeier (Hrsg.), Gewalt in Abhängigkeitsverhältnissen. Grundlagen und Handlungswissen für die Soziale Arbeit (Grundwissen Soziale Arbeit, Bd. 48, S. 15–35). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Deimel, D. & Hornig, L. (2024). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. In D. Deimel, D. Moesgen & H. T. Dirks (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch (utb Soziale Arbeit Suchthilfe, Bd. 6123, S. 16–43). Köln: Psychiatrie Verlag.
    • Deimel, D., Moesgen, D. & Dirks, H. T. (Hrsg.) (2024). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch (utb Soziale Arbeit Suchthilfe, Bd. 6123). Köln: Psychiatrie Verlag.
    • Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (Hrsg.). (2023). Arbeitsunfallgeschehen 2022. https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/4759. Zugegriffen: 20. Mai 2025.
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.). (2021). Sucht und Gewalt. Eine Arbeitshilfe für Fachkräfte und Freiwillige im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen mit Schwerpunkten auf Sucht(selbst)hilfe und Gewaltberatung. https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Broschueren/Sucht_und_Gewalt_BFREI.pdf. Zugegriffen: 25. April 2025.
    • Hansjürgens, R. (konturen-online, Hrsg.) (2015). Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – eine Arbeitsfeldanalyse. https://www.dg-sas.de/media/filer_public/63/e8/63e8d4b4-633d-4d59-8dc4-ffea30b2153f/konturen_01_2014.pdf. Zugegriffen: 25. April 2025.
    • Hansjürgens, R. (2016). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Soziale Arbeit 65 (9), 333–336. doi:10.5771/0490-1606-2016-9-333
    • Hansjürgens, R., Abderhalden, I., Arnold, T. & Sommerfeld, P. (2025). Suchthilfe und Soziale Arbeit. Baden-Baden: Nomos.
    • Helas, I. (1997). Über den Prozess der Professionalisierung in der Suchtkrankenhilfe. In E. Hauschildt (Hrsg.), Suchtkrankenhilfe in Deutschland. Geschichte – Strukturen – Perspektiven (S. 147–161). Freiburg im Breisgau: Lambertus.
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    • Kempster, J. (2021). Vielfältige Erfahrungen als Vorteil. Das Handlungsfeld Suchthilfe. In N. Meyer & A. Siewert (Hrsg.), Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Der berufliche Alltag in Beschreibungen aus der Praxis (utb Soziale Arbeit, Bd. 5558, S. 96–103). Stuttgart: UTB; Verlag Barbara Budrich.
    • Klein, M. (2022). Substanzkonsum – Sucht – Gewalt: Zusammenhänge, Risiken, Prävention. Suchttherapie 23 (01), 11–17. doi:10.1055/a-1726-0157
    • Laging, M. (2023). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Grundlagen – Konzepte – Methoden (Grundwissen Soziale Arbeit, Band 28, 3., überarbeitete Auflage). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025a). Gewalt im Schulalltag: Arbeitsbedingungen und verletzendes Verhalten in multiprofessionellen Teams. Pädagogik, im Druck.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025b). Jugendhilfe unter Druck: Strukturmängel und verletzendes Verhalten. Forum Jugendhilfe (2), im Druck.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025c). Zwischen Schutzauftrag und Gefahr – Gewalterfahrungen im Jugendamt. Das Jugendamt, im Druck.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025d). Hilfe mit Nebenwirkungen: Wie schlechte Arbeitsbedingungen Gewalt verstärken. heilpaedagogik.de, im Druck.
    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025e). Zwischen Hilfe und Gewalt: Strukturelle Risiken und professionelle Belastungen in der Wohnungslosenhilfe. wohnungslos, im Druck.
    • Paefgen-Laß, M. (2021). Wenn unter Kollegen die Hand ausrutscht. https://www.springerprofessional.de/konfliktmanagement/gesundheitspraevention/wenn-unter-kollegen-die-hand-ausrutscht/18880346. Zugegriffen: 20. Mai 2025.
    • Pressel, H. (2024). Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz. Entstehung, Umgang und Prävention (2. aktualisierte und überarbeitete Auflage). Freiburg: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG.
    • Sommerfeld, P. (2021). Soziale Arbeit als massgebliche Kraft in der interprofessionellen Suchthilfe? In M. Krebs, R. Mäder & T. Mezzera (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht. Eine Bestandesaufnahme aus der Praxis (S. 279–302). Wiesbaden: Springer.
    • Vogt, I. (2022). Gewalttätigkeiten in Partnerschaften – Männer und Frauen mit Suchtproblemen als Opfer und Täter/Täterinnen. Suchttherapie 23 (01), 18–24. doi:10.1055/a-1694-1938
  • Vermittlung in der Suchtberatung – eine Aufgabe für sozialarbeiterische Fachkräfte

    Vermittlung in der Suchtberatung – eine Aufgabe für sozialarbeiterische Fachkräfte

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens

    Bei Menschen mit einer Substanzkonsumstörung oder einer verhaltensbezogenen Störung findet sich häufig eine „Multiproblemlage“ (z. B. Giersberg et al. 2015). Diese Konstellation erfordert es, Hilfe in verschiedenen Hilfekontexten anzubieten. Dafür stehen in einem konkreten regionalen Sozialraum in der Regel verschiedene Angebote bereit, die in der Lage sind bzw. extra dafür eingerichtet wurden, Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht zu unterstützen (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Suchthilfebezogene Angebote im kommunalen Raum (eigene Darstellung)

    Die in Abb. 1 genannten Unterstützungsangebote sind eine idealtypische Beschreibung. Sie agieren in Bezug auf die oben angesprochenen „Multiproblemlagen“ als (Sucht-)Hilfenetzwerk, zu dem auch die Angebote der Suchtselbsthilfe gehören. Die Fokussierung auf die Substanzkonsumstörung ist dabei mehr oder weniger explizit.

    Häufig stellen Angebote mit verschiedenen sozialrechtlichen Kontexten in einem regionalen Suchthilfesystem eine Sonderform für Menschen mit Suchterfahrungen – gemeint sind Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und Beeinträchtigungen sowie ihr soziales Umfeld – dar. Zu den unterschiedlichen sozialrechtlichen Kontexten gehören z. B. der versicherungsrechtliche Leistungsanspruch, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe oder Jobcenter. Diese Vielfalt führt dazu, dass je nach sozialrechtlichem Hintergrund die Logiken und Ressourcen, mit denen Menschen mit Substanzkonsumstörung erreicht werden sollen, recht unterschiedlich sind und dass häufig erstmal ein gemeinsames Fallverständnis konstruiert werden muss, um Unterstützungsleistungen tatsächlich, und nicht nur prinzipiell, zu ermöglichen (vgl. Blankenburg und Hansjürgens 2022) (dies gilt auch für andere Personengruppen mit interprofessionellem Unterstützungsbedarf, z. B. Krebspatient:innen). So besteht z. B. im sozialversicherungsrechtlichen Kontext der medizinisch orientierten Suchthilfe seit 1968 ein Rechtsanspruch auf Behandlung explizit für Personen mit einer Substanzkonsumstörung. Dies gilt jedoch nicht in allen Bereichen. So ist z. B. im Kontext der Eingliederungshilfe, insbesondere nach der Neuordnung durch das BTHG, der Status von suchterfahrenen Menschen noch nicht in allen Bereichen geklärt und bringt für die unterstützende Organisation, z. B. beim Stellen notwendiger Anträge für die Leistungsgewährung, Unsicherheiten. Der Leistungsanspruch muss hier über ein spezifisches Konstrukt, z. B. Behinderung, begründet werden (vgl. Tranel und Hansjürgens 2022).

    Darüber hinaus gibt es weitere professionelle Hilfeangebote, für die zwar kein Antrag nötig ist, deren Mitarbeitende aber Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht nicht immer ohne Misstrauen begegnen (z. B. Jugendhilfe, komplementäre Hilfen, Jobcenter etc.). Nicht zu vergessen sind die Angebote der Selbsthilfe, die einer weiteren Logik folgen, nämlich der der Peer-Unterstützung und Genesungsbegleitung. Hier sind häufig informelle Zugänge und Logiken des Zugangs zu beachten.

    Funktion Suchtberatung als zentrale Schnittstelle für Vermittlung

    Um in dieser Komplexität eine passgenaue Hilfe für Betroffene und ihr soziales Umfeld zu ermöglichen, fungiert die Suchtberatung als sektorenübergreifende Schnittstelle. Darin hat sie sich bis heute als unverzichtbar erwiesen (Hansjürgens und Schulte-Derne 2021). Eine ihrer in diesem Zusammenhang als zentral angesehenen Tätigkeiten ist die „Vermittlung“. Diese Vermittlung soll einerseits dazu dienen, passende Hilfeangebote für Personen zu finden bzw. Fehlallokationen (= falsche Zuordnungen) zu vermeiden (Gatekeeperfunktion), andererseits soll sie – bei einer grundsätzlich angenommenen Ambivalenz zur Annahme von Hilfen – die Motivation zur Annahme von Hilfen, insbesondere im medizinischen Kontext (Entzug und medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen), herstellen (Brückenfunktion und Motivierung) (Hansjürgens 2018).

    Dass dieses Unterfangen nicht trivial zu sein scheint, zeigt sich in bisher gescheiterten Versuchen, diese „Vermittlung“ aus administrativer Sicht weniger aufwendig zu gestalten, indem sogenannte bürokratische Hürden gesenkt wurden. Konzipiert wurde ein Verfahren mit der Bezeichnung „Direkt- oder Nahtlosvermittlungen“ aus dem medizinischen Sektor (z. B. Arztpraxen oder Krankenhäuser) in die medizinische Rehabilitation. Empirisch untersucht wurde der Versuch, Hausärzt:innen mit Hilfe evidenzbasierter Screening- und Kurzinterventionsverfahren und der Möglichkeit einer Direktvermittlung in stationäre Rehabilitation zu ermutigen, hier aktiver vorzugehen und einen neuen Behandlungspfad zu etablieren (Fankhänel et al. 2014). Dieser Versuch wurde im Rahmen der Studie als grundlegend gescheitert beurteilt (ebd.).

    Darüber hinaus zeigt die Deutsche Suchthilfestatistik, dass über alle Substanzen hinweg nur ein Prozent der Vermittlungen in stationäre Rehabilitation aus ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen erfolgt, und 16,8 Prozent erfolgen aus psychiatrischen Krankenhäusern (möglicherweise aus dem Entzug) (IFT Institut für Therapieforschung 2022b, Tab. 2.11). Demgegenüber wurden aus Einrichtungen der ambulanten Suchtberatung 54,3 Prozent der Personen, die eine Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen antraten, vermittelt (ebd.).

    Diese Datenlage gibt Anlass zu fragen, welche Plausibilitäten die gute Funktionalität der Leistung „Vermittlung“ der Suchtberatung gegenüber anderen Instanzen erklären können. Da Vermittlung in diesem Kontext zu einem weit überwiegenden Teil innerhalb der Leistung „Sucht- und Drogenberatung“ (IFT Institut für Therapieforschung 2022a, Tab. E 6) durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit angeboten wird, soll für den nachfolgenden Plausibilisierungsversuch die handlungstheoretische Perspektive Sozialer Arbeit eingenommen werden.

    Vermittlung als sozialarbeiterische Tätigkeit im Kontext von Suchtberatung

    Aus der Perspektive von Leistungsträgern wird Vermittlung häufig als formaler administrativer Akt verstanden, bei dem Klient:innen sowohl über prinzipiell zur Verfügung stehende Hilfeangebote informiert werden als auch handlungspraktische Unterstützung beim Erstellen der dafür notwendigen Anträge erhalten. Aus dieser Perspektive ist Vermittlung eine Art „Clearing- und Durchgangsstation“ mit vorbereitendem bzw. zuarbeitendem Charakter auf dem Weg zu einer „eigentlichen Leistung“. Die oben dargestellte empirische Datenlage zeigt jedoch, dass sich die Performanz von Vermittlung in der Suchtberatung allein über diese Sichtweise nicht plausibilisieren lässt. Um etwas handlungstheoretisches Licht in diese Blackbox zu bringen, soll hier eine Perspektivenerweiterung aus sozialarbeiterischer Sicht vorgenommen werden.

    Will man die oben beschriebene empirisch sichtbare Performanz von Suchtberatung in Bezug auf Vermittlung in stationäre Rehabilitation besser verstehen – was zu einer Erklärung des Erfolges durch die fachliche Leistung Sozialarbeitender führt –, kommen neben der administrativen Dimension mindestens noch drei weitere Dimensionen dazu (s. Abb. 2):

    Abb. 2: Multiperspektivischer Blick auf Vermittlung (eigene Darstellung)

    Suchtberatung zeichnet sich demnach durch folgende vier Dimensionen aus:

    • die administrative Perspektive: Information über bestehende Hilfeangebote, Unterstützung bei Antragstellung
    • die inhaltliche Perspektive: Themen, die zum Inhalt gemacht und verhandelt werden
    • die Beziehungsperspektive: das Geschehen zwischen den Akteur:innen (Klient:in und Sozialarbeiter:in)
    • die theoretische Perspektive: die Frage, wie sich das Geschehen im Rahmen der Vermittlung aus system- bzw. sozialarbeitstheoretischer Sicht erklären lässt

    Weiter ist zu fragen, in welchen Wechselwirkungen diese Perspektiven zueinanderstehen und was dies für die Handlungsebene (Inhalt und Interaktion) einer sozialarbeiterischen Fachkraft bedeuten kann.

    Vermittlung als inhaltliches Geschehen

    Betrachtet man Vermittlung aus einer inhaltlichen Perspektive, stellt sich die Frage, welche Themen mit welcher Priorisierung verhandelt werden. Zunächst einmal wäre hier – mit Blick auf empirische Rekonstruktionen in der Suchtberatung (Hansjürgens 2014, 2018) und eine darauf Bezug nehmende handlungstheoretische Konzeptionalisierung – die sozialarbeiterische Fallkonstruktion (Hansjürgens 2022) zu nennen. Kernelement dieser Konstruktion ist, dass Klient:innen Raum gegeben wird bzw. gegeben werden sollte, sich und ihre aktuelle Situation klarer wahrzunehmen, zu verstehen und darüber sprechen zu können. Dadurch soll Klient:innen die Erfahrung ermöglicht werden, dass sie sich verständlich machen können und gehört werden. Dies hat häufig den Effekt, dass Klient:innen in einer möglicherweise für sie unübersichtlich gewordenen Situation wieder selbstwirksam agieren und das Gefühl von Kontrolle über Geschehnisse zurückbekommen und sich für Reflexionen öffnen können.

    Gleichzeitig werden in diesem erstmal primär auf die Darstellungen der Klient:innen ausgerichteten und manchmal wenig formal geordneten Verständigungsprozess häufig wichtige Detailinformationen gegeben (z. B. in Bezug auf die berufliche Situation, die familiäre Situation, die Wohnsituation). Diese Details mögen zwar in einem als administrativ verstandenen Vermittlungsprozess eine untergeordnete Rolle spielen, sind aber für die Klient:innen persönlich von hoher Bedeutung. Nicht selten geben diese Details wichtige Hinweise darauf, wie ein Angebot gestaltet sein müsste, damit es für den oder die spezifische:n Klient:in annehmbar ist. Darüber hinaus können diese Informationen Erklärungen für eine möglicherweise bisher ambivalente Haltung gegenüber der Inanspruchnahme von Hilfen liefern. Eine ambivalente Haltung beruht nicht selten auf der oben erwähnten Multiproblemlage (existenzbedrohende materielle und soziale Umstände) und eher weniger darauf, dass der/die Klient:in die Hilfe nicht annehmen will.

    Diese prekäre Multiproblemlage drückt sich auch dadurch aus, dass die Klient:innen häufig nur (noch) wenig Wahlmöglichkeiten in Bezug auf ihre soziale Situation haben (z. B. Partner:in droht mit Verlassen; Jugendamt, Jobcenter oder Gericht haben eine Suchthilfemaßnahme zur Auflage gemacht; Vermieter:in droht mit Kündigung usw.). Diese sehr eingeschränkten Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die eigene soziale Situation deuten neuere Konzeptionen als Mangel an Teilhabe (Bartelheimer et al. 2022, S. 26). Der Konsum psychoaktiver Substanzen wirkt in dieser Situation (genau wie bei psychischen Komorbiditäten) als kurzfristige Entlastung. Mittel- bzw. langfristig jedoch verstärkt sich die mangelnde Teilhabe durch das Konsumverhalten und es entwickelt sich eine Sucht.

    Diese Deutung und die Anerkennung, dass die soziale Situation als Belastung und akute Bedrohung erlebt wird, ermöglichen es, eine ambivalente oder ablehnende Haltung als Ausdruck der mangelnden Teilhabe zu verstehen, und nicht als Teil der Krankheit Sucht. Dies verändert die Perspektive auf den Fall insofern, als nicht die Substanzkonsumstörung oder Verhaltenssucht zuerst behandelt werden muss, um Teilhabe zu ermöglichen. Vielmehr kann durch die Erarbeitung von Wahloptionen im Rahmen des Vermittlungsprozesses, die sich auf verschiedene Bereiche und nicht nur auf ein Mitspracherecht bei der Einrichtungswahl beziehen können, erst ein Zugang zu subjektiv bedeutsamen Zielebenen in Bezug auf soziale Teilhabe geschaffen werden. Dies geht über eine Entwicklung von smarten Therapiezielen weit hinaus.

    Der Fokus auf die Selbstwahrnehmungen und Priorisierungen der Klient:innen ermöglicht es, die Situation des/der Klient:in noch genauer zu verstehen und im Dialog zu verdeutlichen, welche professionelle Unterstützung (z. B. durch eine Rehabilitation oder eine andere Maßnahme) Teilhabe wieder ermöglichen kann (vgl. Abb. 3). Hier ist es besonders wichtig, keine falschen Versprechungen zu machen, sondern eine realistische subjektiv bedeutsame Zukunftsvision zu entwickeln, die mit Hilfe professioneller Unterstützung realisiert werden könnte. Empirische Untersuchen zeigen, dass diese Zukunftsvision im Rahmen eines professionellen Prozessbogens Sozialer Arbeit eine zentrale Grundlage für „Motivation“ darstellt (Sommerfeld et al. 2018, S. 79).

    Abb. 3: Perspektive auf den Fall aus Sicht Sozialer Arbeit in der Suchtberatung (eigene Darstellung)

    Ein weiteres wichtiges Thema auf der inhaltlichen Ebene, das entscheidend ist für eine Passung von Bedarfen, Wünschen und Angebot, ist die Synchronisation von bisheriger Lebensführung und Veränderung. Die Lebensführung von Klient:innen zeigt sich aufgrund der Multiproblemlage und der daraus entstandenen mangelnden Teilhabe oft ressourcenarm und damit wenig flexibel. Klient:innen haben sich an diese häufig lang andauernde Situation gewöhnt und deshalb nicht selten eine wenig flexible, eigensinnig wirkende Haltung entwickelt, die als Widerstand gegen Veränderung oder auch als Überforderung gedeutet werden könnte. Durch die Erzählung des/der Klient:in können sich wichtige Hinweise auf eine für ihn/sie als angemessen erlebte Synchronisation (Timing) ergeben.

    Synchronisation bedeutet hier, das richtige Zeitfenster für mögliche Veränderungen zu finden bzw. nicht zu verpassen – nicht nur in Bezug auf das Antrittsdatum einer weiterführenden Maßnahme, sondern auch in Bezug auf Veränderungen in der Lebensführung (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, Auszug des/der Partner:in, andere bedeutsame Ereignisse im Leben des/der Klient:in). Synchronisation bedeutet, achtsam zu sein und jedes Mal im Vermittlungsprozess gemeinsam zu überlegen, was die mögliche Veränderung für die Annahme einer weiterführenden Hilfe bedeuten könnte. Grundsätzliche Optionen könnten sein, eine Beschleunigung oder eine Verlangsamung anzuregen oder ein passives Zuwarten auszuhalten, aber den /die Klient:in im Prozess zu halten. Dies erfordert eine achtsame, verstehensorientierte und geduldige Haltung der beratenden Person und bietet gleichzeitig für Klient:innen die erforderliche Sicherheit, in einer unsicheren Situation nicht aus dem Kontakt zu gehen.

    Aus der inhaltlichen Perspektive betrachtet entsteht die Motivierung bzw. die Ermutigung zum Wahrnehmen einer professionellen Unterstützung, z. B. einer Behandlung, dann, wenn für Klient:innen deutlich wird, dass sie in ihrer ganz persönlichen Situation gesehen werden, sich verständlich machen können, eine konkrete, für sie wahrnehmbare Unterstützung in der Bewältigung der aus ihrer Perspektive bedeutsamen Probleme erfahren und tatsächliche Wahlmöglichkeiten erhalten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Diskussion einer gemeinsam getroffenen Auswahl von Handlungsoptionen, die aus der Perspektive der Klient:innen machbar erscheinen, wozu auch Bemühungen um ein gutes Timing (Synchronisation) gehören, eine (manchmal sehr langsam) wachsende Zuversicht stärken kann. Dieses Vorgehen sorgt zugleich dafür, dass Teilhabe ermöglicht und erfahren werden kann.

    Ein solches partizipatives, dialogisches Vorgehen verlangsamt den Vorgang einer Vermittlung mit zwei Zielen. Das erste Ziel besteht in der Stabilisierung und Selbstvergewisserung des/der Klient:in bezüglich einer häufig unter äußerem Druck getroffenen Entscheidung. Das zweite Ziel besteht darin, dass der/die Klient:in genug Zeit bekommt, um eine selbstverantwortete gute Wahl in Bezug auf Zeit und Ort einer weiterführenden Hilfe zu treffen. Letzteres erhöht die intrinsische Motivation, weil die eigene bewusst getroffene Entscheidung im Vordergrund steht, und nicht die Erfahrung des Getriebenseins. Zudem schränkt es die Gefahr einer Fehlallokation ein.

    Vermittlung als beziehungsorientiertes Geschehen

    Wie im vorausgehenden Abschnitt schon angedeutet, geht es im Rahmen von Vermittlung neben inhaltlichen Aspekten auch um Beziehungsaspekte, denn diese lassen sich nur analytisch, aber nicht in der Realität voneinander trennen. Eine Beziehung entwickelt sich immer, unabhängig davon, ob wir bewusst darauf Einfluss nehmen (wollen) oder nicht. Eine Erfahrung des Scheiterns oder des „Nicht-Funktionierens“ einer Beziehung ist verbunden mit der Entwicklung von Misstrauen. Dies gilt ebenso für Erfahrungen des Überprüft-Werdens (z. B. in der Frage, ob eine Person für eine bestimmte Maßnahme geeignet scheint), denn Menschen mit einer Substanzkonsumstörung waren solchen Erfahrungen in der Vergangenheit häufig ausgesetzt. Ob dies seine Berechtigung hatte oder nicht, spielt keine Rolle, denn die Erfahrung und Bewertung einer Situation ist davon unabhängig.

    Hinzu kommt, wie die Stigma-Forschung aus dem medizinischen und alltagsweltlichen Kontext zeigt, dass Menschen mit einer Substanzkonsumstörung mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wird (Schmidt et al. 2022; Schomerus 2011; Schomerus et al. 2010). Auch im Kontext von Familien- und Jugendberatung konnte gezeigt werden, dass die Kommunikation im Zusammenhang mit einem als süchtig konnotierten Verhalten von Jugendlichen durch eine „Hermeneutik des Misstrauens“ (Cleppien 2012) geprägt ist. Das bedeutet, dass Schilderungen von Personen mit substanzbezogenen Störungen nicht selten als nicht wahrheitsgemäß oder verlässlich gedeutet werden.

    Für den Kontext von Vermittlung als beziehungsorientiertem Geschehen bedeutet dies, dass davon auszugehen ist, dass Klient:innen eher nicht mit einem generalisierten Vertrauen oder mit einer neutralen Einstellung in die vermittelnde Institution, z. B. die Suchtberatung, kommen, sondern eher mit der Erfahrung des Misstrauens – es sei denn, sie hätten z. B. im Rahmen der Organisation oder Institution von Suchthilfe schon einmal vertrauensfördernde Erfahrungen gemacht. Eine misstrauisch bewertete Beziehung hat jedoch die Tendenz, dass sich das Misstrauen der Beteiligten gegenseitig verstärkt, wenn nicht aktiv dagegen gearbeitet wird. Misstrauen in der Beziehung hat Auswirkungen auf die Qualität der inhaltlichen Aussagen. Dabei geht es nicht darum, dass Klient:innen bewusst falsche oder unzureichende Angaben machen, sondern darum, dass eine mit Vertrauen bewertete Beziehung sich darin zeigt, dass Klient:innen proaktiv mitarbeiten und benötigte Informationen auch geben (sich öffnen) und nicht zurückhalten oder sich gehemmt fühlen, sie zu geben, wie Arnold (2009, S. 182 f.) in einer Studie im Rahmen von stationärer Jugendhilfe herausgearbeitet hat. Vertrauen oder Misstrauen stellt sich nicht explizit, sondern eher subtil, als „interpersonelle Atmosphäre“ oder „wechselseitige leibliche Resonanz und Affektabstimmung“ her (Fuchs 2015, S. 104). Vertrauen kann also nicht erzwungen oder rationalisiert werden, sondern muss in der Interaktion erfahren werden, sozusagen als Gegenerfahrung zu bisher Erlebtem. Erschwerend kommt hinzu, dass Klient:innen mit einer Substanzkonsumstörung nicht selten unter zusätzlichen Störungen wie z. B. einer komplexen Traumatisierung, einer Borderlinestörung, einer Depression oder Angststörung leiden. Auch dieser Umstand wirkt sich aus, und es kann sich eine eher misstrauische als eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entwickeln.

    So wird plausibel, dass der Akt der Vermittlung nicht nur ein rationaler Prozess, ausgehend von objektivierbaren Bedarfen und Hemmnissen, ist, sondern auch zentraler Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung (Hansjürgens 2019). Die Unterstützung der Entwicklung in Richtung Vertrauen vor dem Hintergrund einer eher misstrauischen Alltags- und medizinischen/sozialen Fachwelt sowie einer psychischen Beeinträchtigung, die sich ebenfalls auswirkt, kann daher als explizit fachliche Leistung von Sozialarbeitenden beschrieben werden.

    Gelingt es den Fachkräften in den Beratungsstellen nicht, das bei den suchterfahrenen Personen in ihrer Vorgeschichte entstandene Misstrauen durch die sog. Beziehungsarbeit im Rahmen von Vermittlung zu wandeln, und entwickelt sich eine eher misstrauische Arbeitsbeziehung, führt dies zur gegenseitigen Ausübung von Macht. Klient:innen üben z. B. Macht aus, indem sie nicht die benötigten Informationen geben, sich nicht motiviert verhalten und letztlich nicht kooperieren, indem sie z. B. nicht zu Terminen erscheinen oder den Kontakt abbrechen. Dieses Verhalten wiederum bestärkt Fachkräfte in ihrer ebenfalls misstrauischen Einstellung gegenüber Klient:innen, sodass letztlich ein gegenseitiges Misstrauen entsteht.

    Folglich ist die oben angesprochene Teilhabe (siehe „Vermittlung als inhaltliches Geschehen“) kein ausschließlich normativer Aspekt, der sich administrativ auf ein „Wunsch- und Wahlrecht“ reduzieren ließe, sondern ein funktionaler: Teilhabe (in Form von ermöglichten und reflektierten Wahloptionen) stärkt Vertrauen, Vertrauen fördert Vermittlung. Vertrauensfördernd wirkt, wenn sich Klient:innen und Berater:innen verständigen zu können, wenn sie realistische Möglichkeiten miteinander erarbeiten, wenn ein transparenter Umgang mit administrativen Herausforderungen herrscht, wenn Klient:innen konkrete Unterstützung, Zeit, emotionalen Rückhalt und Sicherheit in Krisenphasen erfahren, wenn ein „Ankommen“ zunächst in der vermittelnden Organisation und dann in der Organisation, in die vermittelt wurde, möglich wird. Misstrauen wird erzeugt durch für Klient:innen intransparente administrative Überprüfungen, personellen Wechsel, unklare Verständigungsprozesse, die Erwartung einer einseitigen Anpassung und durch Versprechungen, die (gefühlt) nicht eingehalten werden. Organisationsinterne Abläufe im Kontext von Vermittlung sollten diesbezüglich reflektiert werden.

    Die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens vor dem Hintergrund der häufig durch Misstrauen geprägten Erfahrungen der Klient:innen ist eine wichtige Prämisse dafür, dass sich Klient:innen auf unbekanntes Terrain begeben, dass sie sich für professionelle Unterstützung entscheiden und der Übergang in eine andere oder erweiterte Hilfeform gelingen kann.

    Vermittlung aus system- und sozialarbeitstheoretischer Perspektive

    In einer empirischen Untersuchung beschreiben Sommerfeld et al. (2011) die Integration von Klient:innen in eine stationäre (psychiatrische) Einrichtung und auch das Heraustreten aus dieser zurück in das „normale“ Leben aus einer systemtheoretischen Perspektive als „Phasenübergang“ zwischen zwei sozialen Ordnungen. Weiter konzipieren sie aus einer sozialarbeitstheoretischen Perspektive die Rolle Sozialer Arbeit in diesem Kontext als Begleitung und Unterstützung eines solchen Phasenübergangs. Sie konnten empirisch zeigen, dass in Fällen, in denen es gelingt, diese Übergänge gut durch eine Fachkraft zu begleiten, Veränderungsprozesse von Klient:innen stabilisiert werden und daher besser gelingen können. Dieser Effekt erklärt sich dadurch, dass Phasenübergänge viel Energie benötigen und die Menschen im Vorfeld und auch noch einige Zeit nach dem erfolgten Übergang besonders krisenanfällig sind. Die Krisenanfälligkeit nach dem Übergang kann dazu führen, dass Menschen in alte Verhaltensweisen „zurückfallen“, was gerade im Kontext einer Suchterkrankung ein bekanntes Phänomen nicht nur in Bezug auf den Konsum darstellt.

    Weiter konnten die Forschenden beobachten, dass sich Krisen im Zusammenhang mit Phasenübergängen ankündigen und auch noch nach dem erfolgten Übergang, den sie als „Sprung“ bezeichnen, eine Weile beobachtbar sind, z. B. durch stärkere Unruhe und Erregungszustand der Patient:innen. Gerade in der Phase des Übergangs entscheidet sich, ob die anvisierten Veränderungen auch unter anderen Kontextbedingungen aufrechterhalten werden können. Dieses Phänomen des Phasenübergangs ist aus posttherapeutischen Kontexten bekannt und wird in Suchtberatungsstellen strukturell durch z. B. Nachsorge aufgefangen. Neu wäre, diese theoretischen Erkenntnisse auch für eine prätherapeutische oder sonst wie geartete Veränderung im Rahmen von Vermittlung zu nutzen und konzeptionell einzubinden.

    Aus sozialarbeitstheoretischer Perspektive kann Vermittlung als Ermöglichung von Teilhabe an professionellen Hilfen betrachtet werden (Sommerfeld et al. 2016), die spezifische Voraussetzungen benötigen, um ihre Wirkung entfalten zu können. Erst dadurch, dass Klient:innen in einer für sie schwierigen Lage zunächst stabilisiert werden, um weitere Eskalationen zu verhindern, und dann auf eine Neujustierung ihrer psychosozialen und manchmal auch biologischen Situation (falls schon irreparable Schäden eingetreten sind) vorbereitet werden, können suchttherapeutische Hilfen wirken. Hierfür muss es gelingen, dass Klient:innen wieder Vertrauen in die Hilfe, aber auch in sich selbst, gewinnen und eine Idee davon entwickelt haben, was die Zukunft für sie bereithalten könnte, wenn sie sich auf das Angebot einlassen. Bei Menschen mit noch starken Ressourcen gelingt dies einfacher. Menschen, deren Teilhabe am sozialen Leben schon sehr eingeschränkt ist, brauchen dafür mehr und intensivere Unterstützung durch Sozialarbeitende in der Suchtberatung.

    Konzeptionelle und praktische Implikationen

    Phasenübergänge sind eine krisenanfällig Zeit und erfordern bei den Klient:innen viel Energie, um den „Sprung“ in eine neue soziale Ordnung zu vollziehen und diese auch aufrechtzuerhalten. Daher sollten diese Übergänge schon im Vorfeld engmaschig beobachtet und so lange begleitet werden, bis sich ein neues Ordnungsmuster (z. B. in einer suchtbezogenen Hilfe ankommen und diese nutzen) stabil etabliert hat. Vermittelt werden kann in verschiedenste professionelle Unterstützungsangebote und in Selbsthilfe. Damit Vermittlung erfolgreich ist, kann es notwendig werden, Klient:innen im Vorfeld der Nutzung weitergehender Unterstützungsmaßnahmen zu stabilisieren und auch ggf. Verhaltensänderungen zu erarbeiten, die notwendig sind, um dort „ankommen“ zu können (z. B. Termine verlässlich wahrnehmen, Konsum kontrollieren / Abstinenz einhalten). Die beidseitige Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung spielt dabei eine wichtige Rolle. Darüber hinaus werden im Rahmen von Vermittlung zentrale inhaltliche Daten generiert, die es erst ermöglichen, dass eine weitergehende Maßnahme personenzentriert dialogisch mit dem / der Klient:in ausgewählt werden kann und somit Fehlallokationen mindestens eingeschränkt werden können.

    Auf der inhaltlichen Verfahrensebene bieten Instrumente sozialer Diagnostik erste Möglichkeiten eines angeleiteten (selbst-)reflexiven Umgangs mit der Situation (Hansjürgens 2020). Die in diesem Zusammenhang gemeinsam erhobenen Daten liefern wichtige Informationen für Therapieplanung und können auch in die administrativ vorgegebenen Formulare eingespeist werden. Mit diesen Informationen kann eine Übergangssituation so gestaltet werden, dass Klient:innen in weiterführenden Hilfen „ankommen“ können: Sie erfahren, dass dort inhaltlich an bereits Berichtetes angeknüpft wird und nicht „alles von vorn“ beginnt. Zentral ist auch hier, Klient:innen echte Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Form und Ort der Behandlung zu lassen, ohne dass ihre Entscheidung von Leistungsträgern aufgrund ökonomischer Aspekte in Frage gestellt werden kann.

    Sollten sich die äußeren Umstände so gestalten, dass tatsächlich Eile bei der Vermittlung in Rehabilitation geboten ist, z. B. aufgrund drohender Wohnungslosigkeit oder drohender Entlassung aus dem geschützten Setting eines Entzugs in eine unklare Situation, kann der Sozialbericht und die gezielte Nutzung seiner Kategorien eine Strukturhilfe für die Umsetzung der inhaltlichen Perspektive darstellen und den oben beschriebenen Prozess beschleunigen. Gleichzeitig werden so die formal-administrativen Anforderungen erfüllt, da der Bericht eine Voraussetzung für die Hilfegewährung ist.

    Bedeutsam ist aber auch hier, dass der Sozialbericht nicht ausschließlich als Formular zu begreifen ist, sondern auch unter Druck versucht werden sollte, die Beziehungs- und Reflexionspotenziale der dort angegebenen Kategorien im Gespräch zu nutzen. In der Praxis hat es sich darüber hinaus als hilfreich erwiesen, im Rahmen fallübergreifender Netzwerkarbeit im sozialen Raum „kurze Wege“ zu schaffen, um im Krisenmodus agieren zu können und Klient:innen die (erneute) Erfahrung eines Scheiterns an strukturellen Barrieren zu ersparen.

    Vermittlung sollte als fachliche, qualitativ aufwendige, beziehungsorientierte Tätigkeit Sozialarbeitender innerhalb der Funktion Suchtberatung betrachtet werden und nicht als vorrangig administratives Geschehen. Dies sollte in den Ressourcenplanungen und im Erfolgscontrolling mitberücksichtigt werden. Darüber hinaus sollte implizites Wissen der Fachkräfte zu der erfolgreichen Vermittlungsarbeit wissenschaftlich gebündelt und systematisiert werden. Dabei können für komplexe Vermittlungsprozesse auch bereits erprobte Mittel wie z. B. ein instrumentengesteuertes, digital unterstütztes Realtime Monitoring, wie es im benannten Forschungsprojekt (Sommerfeld et al. 2011), aber auch im Kontext sozialer Diagnostik, zum Einsatz gekommen ist (Calzaferri 2020), eingesetzt werden. Entsprechende Infrastruktur und ein entsprechendes fachliches Können im Kontext Sozialer Arbeit in der Suchtberatung wären aufzubauen.

    Anmerkung der Autorin: Für wichtige inhaltliche Hinweise danke ich Katrin Blankenburg sehr herzlich.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens
    Alice Salomon-Hochschule Berlin
    hansjuergens(at)ash-berlin.eu

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens ist Inhaberin der Professur für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik an der Alice Salomon-Hochschule in Berlin.

    Literatur:
    • Arnold, Susan (2009): Vertrauen als Konstrukt. Sozialarbeiter und Klient in Beziehung. 1. Aufl. Marburg: Tectum-Verl.
    • Bartelheimer, Peter; Behrisch, Birgit; Daßler, Henning; Dobslaw, Gudrun; Henke, Jutta; Schäfers, Markus (2022): Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Gudrun Wansing, Markus Schäfers und Swantje Köbsell (Hg.): Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bd. 55. 1st ed. 2022. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden; Imprint Springer VS (Springer eBook Collection), S. 13–34.
    • Blankenburg, Katrin; Hansjürgens, Rita (2022): Multiprofessionelle Teamleistung im sozialen Raum – Überlegungen zu Chancen und Herausforderungen für Soziale Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen. In: Nina Weimann-Sandig (Hg.): Multiprofessionelle Teamarbeit in Sozialen Dienstleistungsberufen, Bd. 4. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 103–114.
    • Calzaferri, Raphael (2020): Realtime-Monitoring als Verfahren der systemisch biografischen Fallarbeit. Ein Gewinn für die Soziale Arbeit in der Suchthilfe. In: Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne (Hg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit, S. 107–124.
    • Cleppien, Georg (2012): Über die Schwierigkeiten Klient/innen zu vertrauen. In: Sandra Tiefel und Maren Zeller (Hg.): Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren (Soziale Arbeit aktuell, 20), S. 49–66.
    • Fankhänel, Thomas; Klement, Andreas; Forschner, Lukas (2014): Hausärztliche Intervention für eine Entwöhnungs- Langzeitbehandlung bei Patienten mit einer Suchterkrankung (HELPS). In: Sucht Aktuell (2), S. 55–59.
    • Fuchs, Thomas (2015): Vertrautheit und Vertrauen als Grundlage der Lebenswelt. In: Phänomenologische Forschungen, S. 100–118.
    • Giersberg, Steffi; Touil, Elina; Kästner, Denise; Büchtmann, Dorothea; Moock, Jörn; Kawohl, Wolfram; Rössler, Wulf (2015): Alkoholabhängigkeit. 1. Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Hansjürgens, Rita (2014): Auf dem Weg zu mehr Klarheit. Optionen zur Professionalisierung Sozialer Arbeit in der ambulanten Suchthilfe. Masterthesis. Hochschule, Koblenz.
    • Hansjürgens, Rita (2018): „In Kontakt kommen“. Analyse der Entstehung von Arbeitsbeziehungen in Suchtberatungsstellen. Baden-Baden: Tectum-Verl.
    • Hansjürgens, Rita (2019): Zur Entstehung und Bedeutung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung in der Suchtberatung. In: Suchtmagazin (3), S. 34–37.
    • Hansjürgens, Rita (2020): Der Sozialbericht als Instrument Sozialer Diagnostik in der Suchtberatung? In: Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne (Hg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit, S. 93–106.
    • Hansjürgens, Rita (2022): Ein Fall für Soziale Arbeit. Handlungstheoretische Überlegungen zu einer sozialarbeiterischen Fallkonstruktion. In: Soziale Arbeit 71 (5), S. 162–170.
    • Hansjürgens, Rita; Schulte-Derne, Frank (2021): Suchtberatungsstellen heute. Gemischtwarenladen oder funktional differenzierte Hilfe aus einer Hand? Lengerich: Pabst Science Publishers (Jahrbuch Sucht, 2021).
    • IFT Institut für Therapieforschung (2022a): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für ambulante Beratungs- oder Behandlungsstellen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
    • IFT Institut für Therapieforschung (2022b): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
    • Schmidt, Hannah; Koschinowski, Julie; Bischof, Gallus; Schomerus, Georg; Borgwardt, Stefan; Rumpf, Hans-Jürgen (2022): Einstellungen von Medizinstudierenden gegenüber alkoholbezogenen Störungen: Abhängig von der angestrebten medizinischen Fachrichtung? In: Psychiatrische Praxis 49(08): S. 428-435. DOI: 10.1055/a-1690-5902.
    • Schomerus, Georg (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? In: Psychiatrische Praxis 38 (03), S. 109-110. DOI: 10.1055/s-0030-1266094.
    • Schomerus, Georg; Holzinger, Anita; Matschinger, Herbert; Lucht, Michael; Angermeyer, Matthias C. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. In: Psychiatrische Praxis 37 (3), S. 111–118. DOI: 10.1055/s-0029-1223438.
    • Sommerfeld, Peter; Dällenbach, Regula; Rüegger, Cornelia (2016): Klinische Soziale Arbeit und Psychiatrie. Entwicklungslinien einer handlungstheoretischen Wissensbasis. Wiesbaden: Springer.
    • Sommerfeld, Peter; Hollenstein, Lea; Calzaferri, Raphael (2011): Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
    • Sommerfeld, Peter; Solèr, Maria; Süsstrunk, Simon (2018): Lebensverlauf, Kontext, Zeit und Wirkung sozialarbeiterischer Intervention. DOI: 10.5169/seals-855350.
    • Tranel, Martina; Hansjürgens, Rita (2022): Ermöglichungsraum für soziale Teilhabe und Gesundheit für Menschen mit chronischer Suchterkrankung. In: Sozialmagazin Heft 01-02, S. 33–40.
  • Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Wolfgang Rosengarten

    Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.

    Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.

    Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.

    Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren

    Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.

    Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:

    Wenn

    • Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
    • die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
    • die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,

    dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.

    Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).

    Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.

    SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe
    Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.

    Was ist das Besondere?
    SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.

    Dauerhafte Finanzierung
    Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.

    Die Leistung an Mann* und Frau* bringen
    Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.

    Kontakt:
    Ralf Bartholmai
    Fachklinik Böddiger Berg
    34587 Felsberg
    infoboeddigerberg@drogenhilfe.com

    Text: Redaktion KONTUREN online

    Die eigene Arbeit positiv darstellen

    Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.

    Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.

    Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.

    Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.

    Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.

    Große Träger sind im Vorteil

    Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.

    In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.

    Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.

    Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen

    In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.

    Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

  • GeSA: Gewalt – Sucht – Ausweg

    GeSA: Gewalt – Sucht – Ausweg

    Petra Antoniewski

    Frauen, die durch Gewalterfahrungen und eine Suchtmittelproblematik doppelt belastet sind, erfahren auf ihrer Odyssee durch die Hilfesysteme nicht selten auch die doppelte Wucht an Stigmatisierung und Ausgrenzung. Bereits die Offenbarung einer Gewalterfahrung löst häufig eine Lawine von Vorurteilen, negativen Zuschreibungen und Bagatellisierungen aus – nicht immer ausgesprochen, aber als latente Haltung für Betroffene deutlich spürbar. Auf einen in der Regel durch Täterstrategien schon gut bereiteten Boden fallen vor allem Schuldzuweisungen und Vorwürfe: „Sie wird schon ihren Anteil daran haben, dass er sie schlägt!“ Es ist neben der entsetzlichen Angst und der Scham eben genau dieses Gefühl einer wie auch immer gearteten Mitschuld, welches Frauen so lange in gewalttätigen Beziehungen gefangen hält und die Inanspruchnahme von Hilfe schwierig macht. Was aber, wenn dieselbe Frau zusätzlich von einer Suchtmittelproblematik betroffen ist? Missbräuchlich oder abhängig konsumierende Frauen erfahren viel stärker als Männer gesellschaftliche Ächtung und Ausgrenzung. Sucht als Erkrankung wird immer noch eher bei Männern akzeptiert. Süchtige Frauen widersprechen dem traditionellen Rollenbild. Es braucht also nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie hoch die Hürde sein muss, sich mit dieser zusätzlichen Belastung zu offenbaren.

     „Das geht einfach nicht. Du kannst dich nicht einfach hinstellen und das erzählen. Ich würde nie … also den wenigsten Menschen erzähl ich davon. Ich sag zwar: ‚Okay, ich bin geschlagen worden.‘ Aber ich sag nicht, dass ich dann noch bei dem geblieben bin. Weil du weißt, was passiert. Und ich würd auch keinem sagen, dass ich Alkoholikerin bin. Die Eltern meines Freundes zum Beispiel, die wissen das nicht. Weil, die mögen mich wahnsinnig. Und ich denk mal, sie würden mich nicht so … Nein, ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, aber ich hab dann so ’ne Angst – dass das Blatt sich wenden könnte, mit diesem einen Wort, mit diesem einen Satz – der kann Welten verändern.“
    Aussage einer Klientin, die im Rahmen des GeSA-Projekts begleitet wurde

    Der Zusammenhang von Gewalterfahrung und Sucht

    Dabei ist eine Dualproblematik bei Frauen keineswegs die Ausnahme. Frauen und Kinder sind besonders häufig von häuslicher Gewalt betroffen. Für das Jahr 2015 wies die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes 127.457 von Partnerschaftsgewalt betroffene Personen aus, 82 Prozent davon waren Frauen (Bundeskriminalamt 2015). Betroffene erfahren Gewalt an einem Ort, der eigentlich Schutz und Geborgenheit bieten sollte, und von Menschen, zu denen sie in enger Beziehung stehen. Ein weiteres Merkmal dieser Gewaltform ist, dass es sich nicht um einmalige Übergriffe handelt, sondern Betroffene wiederholt und oft über Jahre hinweg Gewalt erleiden müssen. Das hat Folgen für die physische und vor allem psychische Gesundheit, die zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag, bei der Ausübung des Berufes und der Gestaltung sozialer Kontakte führen (FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014; Schröttle/Müller 2004). Alkohol, Medikamente oder andere Drogen zeigen sich, zumindest kurzfristig gesehen, als hervorragend geeignet, um dem unerträglichen Druck, belastenden Erinnerungen an das Geschehen oder Gefühlen von Angst und Ohnmacht wenigstens für einen Moment entfliehen zu können. Eine repräsentative Umfrage zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland ergab, dass 28 Prozent der von Gewalt betroffenen Frauen in der Folge der Gewalterfahrung auf den Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten zurückgriffen (FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014; Schröttle/Müller 2004). So mag es nicht verwundern, dass andere Studien eine überdurchschnittlich hohe Gewaltbelastung süchtiger Frauen belegen (u. a. Vogt/Fritz/Kuplewatzky 2015.

    Zugang zu angemessener Hilfe ist schwierig

    Dass das Ausmaß der dualen Problematik in den Unterstützungseinrichtungen dennoch unsichtbar bleibt, liegt auch daran, dass die beteiligten Hilfesysteme in der Regel völlig unabhängig voneinander agieren (vgl. Oberlies/Vogt 2014). Eine Beraterin/ein Berater in einer Gewaltschutzeinrichtung weiß von der Gewaltbetroffenheit ihrer/seiner Klientin, nicht zwangsläufig aber auch von ihrer Suchtproblematik. Die/der Therapeut/in einer Suchtklinik hat Kenntnis von der Suchterkrankung ihrer/seiner Patientin, nicht unbedingt aber von ihrer Gewaltbetroffenheit. Systematisch nachgefragt wird selten. Breitgefächerte unspezifische Folgen und Auswirkungen beider Phänomene erschweren das Erkennen von Zusammenhängen zusätzlich.

    Aber auch wenn die Dualproblematik offen ist, gestaltet sich der Zugang zu angemessener Hilfe schwierig. Eine Bestandsaufnahme des Unterstützungssystems bei Gewalt gegen Frauen ergab, dass sich fast die Hälfte aller Frauenhäuser als nicht geeignet für die Aufnahme von Frauen mit einer Suchtmittelproblematik sieht (BMFSFJ 2013). Das hat seine Ursache vor allem darin, dass Frauenhäuser, obgleich sie Kriseneinrichtungen sind, über keine 24-Stunden-Betreuung verfügen. Der Anspruch an die Bewohnerinnen, ihren Alltag in der Gemeinschaft selbständig gestalten zu können, ist dadurch sehr hoch. Der Umgang mit einer Suchterkrankung einer Bewohnerin kann dann für alle Beteiligten eine Überforderung darstellen, zumal es auch den Mitarbeiterinnen an Fachwissen und Kompetenz zum Thema Sucht fehlt. Spezialisierte Beratungsstellen schließen die Begleitung von Frauen mit einer Suchterkrankung deutlich seltener aus (BMFSFJ 2013), allerdings können sie auch keinen Schutz gewährleisten. Sie können die Beendigung von Gewalt und die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen unterstützen, stoßen mit ihrem Arbeitsauftrag aber schnell an Grenzen, wenn mit Fortsetzung des Suchtmittelkonsums das Risiko erneuter Gewalterfahrungen steigt und notwendige Schritte zur Gestaltung eines gewaltfreien Lebens nicht gegangen werden können bzw. mühsam erarbeitete Veränderungen nicht von Dauer sind.

    Also erst die Sucht in den Griff bekommen? Der Behandlung der Suchterkrankung Priorität einzuräumen, gestaltet sich ebenso schwierig. In vielen suchtspezifischen Einrichtungen sehen sich Patientinnen einer deutlichen Überzahl von Patienten ausgesetzt, von denen ein nicht geringer Anteil unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen selbst Täterverhalten gezeigt hat. Das auf die Behandlung in Gruppen ausgerichtete Setting überfordert dual betroffene Frauen und wird ihrem besonderen Bedürfnis nach Sicherheit, Kontrolle und Selbstbestimmung nicht gerecht. Eigene Gewalterfahrungen werden unter diesen Bedingungen eher nicht zur Sprache gebracht, obwohl dies für das Verständnis der Suchtentwicklung und der Funktionalität des Konsums wesentlich ist (vgl. Vogelsang 2007). Zwar gibt es bereits Fachkliniken, die sich auf die Behandlung von Frauen spezialisiert haben und in deren Behandlungskonzept traumaspezifische Angebote integriert sind, allerdings nur an wenigen Standorten. Eine Herauslösung aus dem gewohnten Umfeld mag zwar auf den ersten Blick auch im Sinne der Unterbrechung der Gewalt sinnvoll erscheinen, stellt jedoch für viele Frauen z. B. wegen der Verantwortung für Kinder oder aufgrund der Angst vor Verlust an Kontrolle und Orientierung keine Alternative zu ambulanter Behandlung dar.

    Zurück in das eigene Lebensumfeld – Bedarf an nachgehendet Betreuung

    Problematisch in Bezug auf die Dualproblematik gestaltet sich dann auch der Wechsel aus dem stationären Setting zurück in das eigene Lebensumfeld. Gewaltschutzeinrichtungen etablieren eine nachgehende Betreuung mit dem Fokus Gewaltfreiheit, suchtspezifische Einrichtungen eine Nachsorge mit dem Fokus auf Aufrechterhaltung der Abstinenz. Nur zusammen kommt das in der Praxis nicht. Aber wie stehen die Chancen auf eine abstinente Lebensgestaltung in einem gewalttätigen Umfeld? Und andersherum: Wie hoch sind die Chancen auf Selbstbestimmung und Gewaltfreiheit bei Fortsetzung des Konsums?

    Nicht einfacher wird die Situation dadurch, dass die personellen Ressourcen aller beteiligten Einrichtungen mehr als begrenzt sind und sich viele Kolleg/innen am Rande ihrer Belastbarkeit bewegen. Das hat u. a. zur Folge, dass kaum Spielraum für den Blick über den eigenen Tellerrand bleibt, es eher um Abgrenzung als um Öffnung geht und standardisierte Abläufe zu Ungunsten individueller Lösungsansätze favorisiert werden.

    Liegt eine Chance auf Entlastung und für eine bessere Versorgung Betroffener vielleicht genau in der Umkehr dieses Prozesses? Welche Möglichkeiten eröffnen sich, wenn die Durchlässigkeit zwischen den Hilfesystemen erhöht und Ressourcen miteinander verknüpft werden? Diese Fragen haben uns im Verein Frauen helfen Frauen e.V. Rostock bewegt und die Idee von „GeSA“ (Gewalt – Sucht – Ausweg) geprägt. Wenn die Themen Sucht und Gewalt so oft eine Allianz bilden, warum sollten dies dann nicht auch Kolleg/innen aus den Arbeitsbereichen tun, die Betroffene begleiten?

    Das Bundesmodellprojekt GeSA

    Im Januar 2015 startete GeSA in Trägerschaft des Vereins Frauen helfen Frauen e.V. Rostock und als Bundesmodellprojekt gefördert durch das Bundesgesundheitsministerium.

    Netzwerkbildung und Wissenstransfer

    Die Umsetzung des Projektes erfolgte auf zwei Arbeitsebenen. Die erste Ebene bildeten die Kooperationsteams Rostock und Stralsund. Ein Kooperationsteam setzte sich aus insgesamt mindestens vier Vertreter/innen der stationären und ambulanten Suchtkrankenhilfe sowie der Gewaltschutzeinrichtungen zusammen. Die Kooperationsteams bildeten das Herzstück des Projektes und trugen die fachliche, inhaltliche und organisatorische Verantwortung. Damit gab es erstmalig eine fallunabhängige, kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Vertreter/innen beider Hilfesysteme.

    Die zweite Ebene bildeten die regionalen Verbände. Innerhalb der regionalen Verbände vereinigten sich verschiedenste Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe, des Gewaltschutzes, des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe sowie andere wichtige Kooperationspartner wie z. B. die Wohnungslosenhilfe, die Polizei, der Sozialpsychiatrische Dienst, das Jobcenter oder die Selbsthilfe. Nach einer Phase der Akquise trafen sich die Regionalverbände in den beiden Modellregionen Rostock und Stralsund im Frühjahr 2015 erstmalig. Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, dass sich hier eine wahre Schatztruhe an Wissen und Kompetenz zusammenfand.

    Wir entschieden uns für eine sehr praxis- und ergebnisorientierte Zusammenarbeit. Den Grundstein legten zwei Fachtage pro Modellregion, die wir dazu nutzten, Basiswissen zu den Themen Sucht und Gewalt, aber auch zur Struktur der entsprechenden Hilfesysteme zu vermitteln. Danach arbeiteten wir im Rahmen von Fachforen zusammen, von denen bisher zehn pro Region stattfanden. Verschiedene Einrichtungen wechselten sich als Gastgeberinnen ab und bekamen die Möglichkeit, sich und ihre Arbeitsinhalte vorzustellen. Es ging darum, unterschiedliche Angebote kennenzulernen, einen Einblick in die Arbeitsweise, die Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung zu bekommen. Der Hauptschwerpunkt der Veranstaltungen lag aber auf der Darstellung eines Falles aus dem Arbeitsalltag der gastgebenden Einrichtung, mit dem wir uns im Rahmen einer Fallkonferenz gemeinsam auseinandersetzten. Die zu Beginn häufig geäußerte Befürchtung, dass es in der eigenen Einrichtung vielleicht gar keine Berührung zur Thematik gäbe, bestätigte sich nicht. Wirklich jede Einrichtung hatte Erfahrungen im Umgang mit betroffenen Frauen und stellte diese, streng anonymisiert, den anderen Beteiligten zur Verfügung.

    Da die Sensibilisierung für die Situation betroffener Frauen ein wichtiges Ziel des Projektes darstellte, wurden in den Fallkonferenzen die verschiedenen Positionen der Fallbeteiligten eingenommen – also die Perspektive einer betroffenen Frau, relevanter Personen aus ihrem Umfeld ebenso wie des Hilfesystems. Diese Vorgehensweise führte auf konstruktive Art und Weise zu regen Auseinandersetzungen, in denen sich sehr eindrücklich die Prägung durch das eigene Arbeitsfeld, Ressentiments und Schubladendenken ebenso wie die Unterschiede zwischen Wünschen und Erwartungen von Betroffenen im Vergleich zu denen des Hilfesystems offenbarten. Danach erfolgte der Wechsel zurück zur Perspektive der Expert/innen für das eigene Fachgebiet, um Ideen und Anknüpfungspunkte für sinnvolle Kooperationsmöglichkeiten zu entwickeln. Bei diesen Überlegungen spielte die Wahrung der Selbstbestimmung betroffener Frauen eine grundlegende Rolle. Die erarbeiteten Formen der Kooperation wurden natürlich auch in der Praxis erprobt. Dabei machten wir Erfahrungen von fallübergreifender Relevanz:

    Übergänge gestalten

    Es ist kein Geheimnis, dass sich Klient/innen ihre Ansprechpartner/innen selbst aussuchen. Kompetenz und Fachwissen spielen für die Auswahl eine untergeordnete Rolle, bestimmend sind vielmehr zwischenmenschliche Aspekte und die Qualität der Beziehung. In der Praxis bedeutet dies, dass eine Klientin mit einer sexualisierten Gewalterfahrung nicht zwingend den Kontakt zu einer entsprechenden Fachberaterin sucht, sondern sich einer bereits vertrauten Person, möglicherweise ihrer Hausärztin, einer Suchtberaterin oder dem Fallmanager vom Jobcenter gegenüber öffnet. Eine unverbindliche Weitervermittlung an zuständige Einrichtungen scheitert oft. Klientinnen fühlen sich dadurch häufig zurückgewiesen, haben das Gefühl, mit dieser Thematik eine zu große Belastung zu sein. Außerdem kann die Kontaktaufnahme zu einer gänzlich unbekannten Institution eine Überforderung darstellen. Solche Übergänge gelangen dann leichter, wenn Klientinnen den Eindruck eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen den Beteiligten der unterschiedlichen Einrichtungen hatten. Klientinnen beschrieben, das habe ihnen Sicherheit vermittelt. Aber auch die professionellen Unterstützer/innen fühlten sich hinsichtlich einer Empfehlung sicherer, wenn sie eine genaue Vorstellung und Kenntnis des jeweiligen Angebotes hatten und wussten, was oder auch wer die Klientin erwarten würde. Noch positiver auf die Gestaltung von Übergängen wirkten sich begleitete Erstkontakte aus. Auch anonyme Erstkontakte, bei denen die Beraterin/der Berater in das vertraute Setting der Klientin eingeladen wird, um sich vorzustellen, erwiesen sich als hilfreich.

    Coaching von Kolleg/innen

    Eine weitere Möglichkeit stellte das Coaching von Kolleg/innen dar. So konnten Klientinnen Unterstützung auch dann erfahren, wenn sie sich gegen das Aufsuchen spezialisierter Einrichtungen entschieden. Dies musste eben nicht bedeuten, das Thema wieder ‚ad acta‘ zu legen, sondern die Klientinnen konnten erste Anregungen für den Umgang mit der Situation eben schon von der jeweiligen Vertrauensperson erhalten, auch wenn diese nicht Expert/in für das Fachgebiet war. Die Entscheidung über eine Öffnung blieb in der Hand der Klientin.

    Begleitung von Klientinnen im Tandem

    Als hilfreich erwies sich auch die Begleitung von Klientinnen im Tandem, also durch zwei Berater/innen aus unterschiedlichen Hilfesystemen gleichzeitig. Fachlich lag ein entscheidender Vorteil darin, bei der Entwicklung abstinenzsichernder Handlungsstrategien die besondere Funktionalität des Suchtmittels bei der Bewältigung aktueller oder auch in der Vergangenheit liegender Gewalterfahrungen zu berücksichtigen. Anders in den Blick genommen wurde außerdem die Herstellung eines sicheren und gewaltfreien Lebensraumes als wichtige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Abstinenz. Zumindest bei den Klientinnen, die wir im Rahmen des Modellprojektes in dieser Form begleiteten, gab es kaum Kontaktabbrüche und selbst nach Rückfallgeschehen eine hohe Bereitschaft, den Zugang über das eine oder das andere Hilfesystem zu suchen, um Unterstützung bei der Aufarbeitung bzw. zur Beendigung der Krise zu erhalten. Dabei zeigte sich, dass Rückfälle in alte Beziehungsmuster eher der Suchtberaterin anvertraut wurden, Rückfälle in altes Konsumverhalten eher der Beraterin aus dem Gewaltschutzbereich. Zugleich war es aber in den meisten Fällen ausdrücklicher Wunsch, den jeweils anderen Fachbereich wieder mit ins Boot zu holen.

    Tandemberatungen ermöglichten auch eine Kontinuität in der Begleitung von Klientinnen. Krankheits- und urlaubsbedingte Abwesenheiten konnten aufgefangen werden und bedeuteten für die Klientin nicht, sich einer für sie fremden Person öffnen zu müssen. Diese Vorgehensweise erscheint auch als spezifische Form der Nachsorge bei der Gestaltung von Übergängen aus der stationären Rehabilitation Sucht oder dem schützenden Rahmen eines Frauenhauses zurück in den Alltag als sinnvoll.

    Ergebnisse aus dem Projekt GeSA

    GeSA konnte ganz sicher nicht alle Erwartungen erfüllen und auch nicht alle Versorgungslücken schließen. Wir haben keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse geliefert, keine neuen Interventionsmethoden entwickelt, sondern eher dafür gesorgt, das bereits Bekanntes und Erprobtes möglichst vielen am Unterstützungsprozess Beteiligten unkompliziert zugänglich wird. Wir sind auch keine neue Behandlungsstelle, an die Betroffene einfach weitervermittelt werden können. Es fehlt immer noch an einem sicheren Ort für Frauen, die nicht auf den Konsum eines Suchtmittels verzichten können oder wollen, und die dennoch ein Recht auf Schutz vor Gewalt haben. Wunder haben wir also nicht vollbracht. Wir waren nur so gut oder eben auch so schlecht, wie es die Ressourcen aller beteiligten Einrichtungen hergaben. Aber wir konnten zeigen, dass es durch die Reduzierung von Schnittstellenproblemen und eine relativ geringe Ressourcenerweiterung möglich ist, die Situation von Frauen, die von einer Dualproblematik betroffen sind, zu verbessern. Wir haben eine Strategie für eine professions- und systemübergreifende Zusammenarbeit entwickelt, die den Transfer von Wissen und die Erprobung neuer Kooperationsformen im Einzelfall ermöglicht.

    Einen zeitlichen Mehraufwand bedeutete dies schon. Ohne die zusätzlichen Ressourcen, die uns als Bundesmodellprojekt zur Verfügung standen, wäre dies nicht leistbar gewesen. Von welchem Aufwand sprechen wir konkret? Die Kooperationsteams von GeSA bestanden aus vier Kolleginnen aus den Arbeitsbereichen Gewaltschutz und Suchthilfe. Ihnen standen fünf Arbeitsstunden pro Woche als zusätzliche Ressource für die Aufgaben im Rahmen des Modellprojektes zur Verfügung. Das erwies sich als ausreichendes zusätzliches Zeitfenster. Mit ihrem Hauptstandbein verblieben die Kolleginnen in ihrem Arbeitsfeld. Und gerade das war für die Reduzierung von Schnittstellen zwischen den Hilfesystemen von entscheidendem Vorteil. Es geht also nicht darum, neue Personalstellen oder Strukturen, z. B. in Form weiterer spezialisierter Einrichtungen, zu schaffen. Vielmehr sollte es ja gerade gelingen, dass sich vorhandene Strukturen auf die besonderen Bedürfnisse betroffener Frauen einstellen und sich miteinander vernetzen. Dies ist tatsächlich ein geringer Aufwand im Verhältnis zum möglichen Nutzen, bedenkt man die massiven Auswirkungen von Sucht und Gewalt auf die psychische und seelische Gesundheit, die Erwerbsfähigkeit und gesellschaftliche Teilhabe Betroffener.

    Die Kooperationsteams von GeSA sind das Vorbild, wenn wir im Ergebnis unserer Erfahrungen aus dem vierjährigen Bundesmodellprojekt für die Etablierung und regelhafte Finanzierung regionaler Coachingteams plädieren. Wichtigste Zielsetzungen der Coachingteams sind:

    • Reduzierung von Schnittstellenproblemen zwischen beteiligten Hilfesystemen
    • ‚Lotsenfunktion‘ für Betroffene, Gestaltung niedrigschwelliger Zugänge in die Hilfesysteme
    • Abbau von Vermittlungshemmnissen
    • Intensivere Nachbetreuung Betroffener nach Reha-Aufenthalt unter Berücksichtigung der Dualproblematik mit dem Ziel der Sicherung der Reha-Ergebnisse
    • Begleitung der Reintegration in das soziale Umfeld unter besonderer Berücksichtigung der Dualproblematik
    • Vermeidung der Einschränkung bzw. des Verlustes der Erwerbsfähigkeit durch verbesserte Früherkennung einer Dualproblematik und gezieltere Vermittlung
    • Prävention zum Schutz mitbetroffener Kinder in gewalt- und suchtmittelbelasteten Familien

    An engagierten und qualifizierten Fachkräften aus den Bereichen der Suchthilfe und des Gewaltschutzes fehlt es nicht. Das hat sich im vierten Jahr des Modellprojektes, das mit dem Auftrag der bundesweiten Verbreitung verknüpft war, deutlich gezeigt. Was es jetzt noch braucht, ist die Übernahme politischer Verantwortung. Sucht und Gewalt dürfen nicht zum individuellen Problem Betroffener gemacht werden, denn die Ursachen beider Problembereiche sind nicht zuletzt gesellschaftlich determiniert.

    Kontakt:

    Petra Antoniewski
    Projektleiterin GeSA
    Frauen helfen Frauen e.V. Rostock
    Ernst-Haeckel-Str. 1
    18059 Rostock
    gesa@fhf-rostock.de
    Tel. 0381/440 3294
    www.fhf-rostock.de/gesa

    Angaben zur Autorin:

    Petra Antoniewski, Dipl.-Sozialpädagogin, Sozialtherapeutin Sucht, war von 2000 bis 2009 als Bezugstherapeutin in der stationären und ganztägig ambulanten Rehabilitation Sucht tätig. Seit 2009 ist sie Leiterin der Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt des Frauen helfen Frauen e.V. Rostock und seit 2015 Projektleiterin des Bundesmodellprojektes „GeSA“.

    Literatur:
    • BMFSFJ (2013): Bericht der Bundesregierung zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und anderer Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder, Berlin
    • Bundeskriminalamt (2015): Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung des BKA-Berichtsjahres, Wiesbaden
    • FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Hg.) (2014): Gewalt gegen Frauen. Eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick
    • Oberlies, D./Vogt, I. (2014): Gewaltschutz für alkohol- und drogenabhängige Frauen/Mütter: Untersuchung zur Passung der Hilfsangebote zum Bedarf. Abschlussbericht
    • Schröttle, M./Müller, U. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Kurzfassung BFMSFJ
    • Vogelsang, M. (2007): Suchtkranke Frauen: Teufelskreis der Hilflosigkeit. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 104, Heft 41
    • Vogt, I./Fritz, J./Kuplewatzky, N. (2015): Süchtige und von Gewalt betroffene Frauen. Nutzung von formalen Hilfen und Verhaltensmuster bei Beendigung der Gewaltbeziehung. gFFZ Online-Publikation Nr. 4
  • Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Länder der Region Zentralasien – Kasachstan, die Kirgisische Republik, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – umfassen mehr als 60 Millionen ethnisch, kulturell und religiös vielfältige Menschen und ein geografisches Gebiet, das doppelt so groß ist wie das von Kontinentaleuropa. Im Zentrum des eurasischen Kontinents befinden sich diese Binnenländer, die im Jahre 1991, als die Sowjetunion aufgelöst wurde, unabhängig wurden. Seit der Unabhängigkeit haben sie sich großen Herausforderungen gestellt. Eine davon ist der Handel mit Opiaten (vor allem Heroin) und die Opiatabhängigkeit von hunderttausenden Menschen (vgl. Abb. 1). Die Europäische Kommission unterstützt die fünf Partnerländer durch das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (Central Asia Drug Action Programme, CADAP) seit mehreren Jahren in dem Versuch, die negativen Folgen des Drogenkonsums zu lindern. CADAP befürwortet eine ausgewogene Drogenpolitik im Hinblick auf die Drogennachfrage und das (illegale) Drogenangebot im Einklang mit der EU-Drogenstrategie 2013–2020 und dem EU-Zentralasien-Drogenaktionsplan 2014–2020. CADAP zielt darauf ab, folgende Maßnahmen zu unterstützen:

    • Weitere Qualifizierung der Behandler und Schulung in psychotherapeutischen Methoden für Kurzinterventionen
    • Motivational Interviewing (MI)
    • Rückfallverhütung und soziale Rehabilitation
    • Opioidgestützte Behandlung (Opioid Substitution Treatment, OST)

    Mehr als 2.000 Experten und Regierungsvertreter wurden bereits zwischen 2010 und 2012 geschult. Der Zugang zu OST konnte in Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan (leicht) erhöht werden. In der laufenden 6. Phase des Programms wird eine bessere Institutionalisierung des Behandlungssystems angestrebt, und die Implementierung der Internationalen Standards der WHO/UNODC für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen wird unter Verwendung von Best Practices der EU geschult und systematisiert.

    Abb. 1: Drogensituation in Zentralasien – geschätzte Zahl von Heroinkonsumenten

    Das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (CADAP) verfolgt eine bessere Verbreitung von und Zugänglichkeit zu einer qualitativ hochwertigen Behandlung bei Drogenabhängigkeit, sowohl pharmakologisch als auch abstinenzorientiert, und ihre Kombination mit sozialer Rehabilitation und psychosozialer Unterstützung (wie Beratung, kognitive Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung). Das Programm soll die Schadensbegrenzung (Harm Reduction) verstärken, um die nachteiligen Konsequenzen des Drogenkonsums für Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes zu verringern, wobei es nicht nur um die Vermeidung von Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis B und C (vgl. Abb. 2) und Tuberkulose geht. Ziel ist es, ein offizielles Netzwerk von Fachleuten zu etablieren. Aber das stellt eine große Herausforderung dar, denn regionale Kooperation ist in den postsowjetischen Staaten weniger gewollt als ‚nationale‘ Selbständigkeit.

    Abb. 2: Prävalenz von HIV und Hepatitis C unter den (injizierenden) Drogenkonsumenten (in Prozent)

    Methoden des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms CADAP

    Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich führen zwei- bis viertägige Trainings mit Expertinnen und Experten aus der zentralasiatischen Region durch. Die Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich kommen überwiegend selbst aus Zentralasien oder Osteuropa, sprechen Russisch, kennen die Kultur der Länder und bringen langjährige Expertise aus ihrer Arbeit im deutschen und österreichischen Sucht- und AIDS-Hilfesystem mit. Es wird in unterschiedlichen Bereichen trainiert:

    1. Schulungen für Fachpersonal

    Training mit Suchtmediziner/innen in Bishkek: Oleg Aizberg (vorne Mitte) und Irina Zelyeni (vorne Zweite von rechts)

    Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte erhalten Schulungen zu folgenden Themen:

    • Psychosoziale Beratung und Behandlung Drogenabhängiger im Rahmen von ambulanter und stationärer Rehabilitation
    • Reintegration Drogenabhängiger in die Gesellschaft
    • Entwicklung von regionalen und überregionalen Suchthilfenetzwerken

    Es werden außerdem aktuelle Kenntnisse der Suchtmedizin vermittelt:

    • Allgemeine Prinzipien medizinischer Ethik
    • Besonderheiten der medizinischen Ethik bei der Behandlung von Suchtkranken und Besprechung verschiedener Beispielsituationen
    • Alkoholabhängigkeit als Begleiterkrankung bei Drogenabhängigen
    • Komorbide Störungen
    • Umgang mit Neuen psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • Notfallzustände bei Suchtkranken und psychisch Erkrankten
    • Sexuelle Störungen bei Suchtpatientinnen und Suchtpatienten

    2. Schulungen im Justizbereich

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    Für das Personal von Strafanstalten, für Richter, Staatsanwälte, NGOs und Fachleute, die auf dem Gebiet der Behandlung von Drogenabhängigen tätig sind, finden Schulungen statt. Dazu gehören auch Schulungen über Gesundheitsprogramme in Gefängnissystemen zur Verhütung von Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis C) und zur Opiat-Substitutionsbehandlung (OST) in Gefängnissystemen.

    Die zweitägigen Workshops, die in allen zentralasiatischen Ländern mit Unterstützung der jeweiligen Gefängnisverwaltungen für Gefängnismitarbeiter durchgeführt wurden, bestanden aus Präsentationen und Gruppenarbeit. Interessen und Vorlieben der Teilnehmer wurden dabei berücksichtigt. Als Ergebnis der Workshops ergab sich eine Liste priorisierter Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von drogenabhängigen Gefangenen. Diese Liste soll als Roadmap für die zukünftige Entwicklung dienen.

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    In der Kirgisischen Republik und in Tadschikistan wird im Gegensatz zu den anderen Ländern offen (an)erkannt, dass es injizierenden Drogenkonsum auch im Gefängnis gibt und dass deshalb sowohl Nadel- bzw. Spritzenaustauschprogramme als auch OST sinnvoll sind. Allerdings werden hier Infektionsschutzprogramme nur auf niedrigem Niveau und unter scharfen Kontrollmechanismen (die den Verlust der Anonymität bedeuten) angeboten. Substitutionsbehandlungen im Strafvollzug werden in Kirgistan gut umgesetzt, in Tadschikistan wurde damit gerade erst begonnen, nach jahrelanger Diskussion.

    3. Schulungen für NGOs

    Training mit Ludger Schmidt und NGO-Vertreter/innen in Kirgistan

    Ein weiteres Arbeitspaket wird in enger Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) durchgeführt, um Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu erreichen. NGOs spielen in Zentralasien eine zentrale Rolle bei der niedrigschwelligen Erreichbarkeit von Drogenabhängigen, bei der Infektionspräventionsarbeit, bei der Psychosozialen Betreuung (PSB) nach Entzugsbehandlungen und bei der Substitutionsbehandlung (OST). Die Hauptakteure von NGOs werden geschult, damit sie ihre Fähigkeiten erweitern, ein unterstützendes Umfeld für die Klienten zu entwickeln und ihnen zu helfen, sich behandeln zu lassen und in der Behandlung zu bleiben. NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von Programmen niedrigschwelliger Arbeit.

    Schwerpunkte der Trainings

    Training mit Inga Hart und Gerhard Eckstein

    Das theoretische Wissen über psychiatrische Erkrankungen und Suchterkrankungen ist bei den meisten Teilnehmern gut bis sehr gut. Gleichwohl zeigte sich bei den Trainings auch, dass wenige Grundkenntnisse in der Praxis der Psychiatrie vorliegen, u. a. weil Narkologie (= Suchtmedizin) und Psychiatrie getrennt sind und wenig kooperieren. Die praktische Umsetzung und Erfahrung ist zudem immer noch sehr unterschiedlich. Zudem war die Zeit für die Trainings sehr knapp bemessen.

    Es geht in den Trainings u. a. um die Vertiefung von Behandlungsmethoden der Kognitiven Verhaltenstherapie, der Familientherapie, des Motivational Interviews, der Rückfallprophylaxe sowie der psychosozialen Beratung, vor allem des Case Managements. Im Mittelpunkt der Seminare stehen weiterhin die Überprüfung, ob die westlichen Beratungs- und Behandlungskonzepte in der konkreten zentralasiatischen Praxis angewendet werden können, und die damit zusammenhängende Sicherung des Behandlungserfolges.

    In den Trainings werden die von den Seminarteilnehmern eingebrachten Erfahrungen, Anregungen und Vorschläge weitgehend berücksichtigt. Die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer effektiven therapeutischen Arbeit sowie den Wirkfaktoren der therapeutischen Beziehung stellt für die Teilnehmer einen Rahmen für berufliche Selbstreflektion dar. Beim Betrachten der Interaktionsbeiträge der Angehörigen und der möglichen therapeutischen Interventionen wurde deutlich, dass der kulturelle Hintergrund die Aufrechterhaltung sowohl der Abhängigkeit als auch der Co-Abhängigkeit unterstützt. Dies macht es den Experten schwer, passende Interventionen einzuleiten und sich von den Erwartungen der Angehörigen abzugrenzen.

    Herausforderungen in der Arbeit mit den NGOs

    Die NGO-Gruppen in Kirgistan und Tadschikistan sind sehr engagiert und interessiert, dabei aber nicht unkritisch. Die Skepsis gegenüber internationalen Trainingsmaßnahmen wird offen angesprochen und diskutiert. Die Erwartung gegenüber solchen Maßnahmen scheint mehrheitlich gedämpft zu sein. Ähnlich wie in Ländern Westeuropas oder Australiens, wo NGOs eine lange Tradition haben und Unterstützung auch von Regierungen erhalten, arbeiten viele Organisationen mit Wurzeln in der Selbsthilfe überraschend ‚professionell‘, sind kompetent und reflektiert in ihrem Arbeitsfeld.

    Überlegungen, wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Wissen, das sie im unmittelbaren Klientenkontakt benötigen, pragmatisch vermittelt werden kann, führte zur Idee der Adaption von „J Key Cards“ der dänischen NGO „Gadejuristen“ (Street Lawyers) an zentralasiatische Verhältnisse (insbesondere in Kirgistan und Tadschikistan). Die J Key Cards funktionieren nach dem Prinzip der FAQ (frequently asked questions) und beinhalten jeweils eine Frage mit einer Antwort zu häufig auftauchenden Themen und Problemen aus den Lebenswelten von Drogengebrauchenden. Die Karten sind thematisch in die Gebiete physische und psychische Gesundheit, Infektionsprävention, Substanzaufklärung, Safer Use und Recht unterteilt und werden kulturspezifisch und landestypisch illustriert. Als Vorteil für die ‚Ausbildung‘ von Peers wurde die leichte Handhabbarkeit des Formats, der spielerische statt verschulte Umgang mit Wissensinhalten (insbesondere angesichts der Ungeübtheit vieler Peers mit längeren Texten), die Konzentration auf eine konkrete Frage statt auf einen ganzen Wissensbereich sowie der unmittelbare Praxisbezug hervorgehoben. Die J Key Cards können überdies als Unterrichtsmaterial im Rahmen von Ausbildung/Qualifizierung genutzt werden.

    In Kirgistan und Tadschikistan werden entsprechende Kartensets hergestellt, um sie in der Straßensozialarbeit zu benutzen (vgl. Abb. 3 und 4).

    Abb. 3: Beispiel Kartenset Kirgistan
    Abb. 4: Beispiel Kartenset Tadschikistan

    Hauptergebnisse der Trainings

    In einigen Ländern und Regionen Zentralasiens ist das Suchthilfesystem gut entwickelt (etwa in Kasachstan, Usbekistan und auch in Kirgistan), sodass sowohl die Behandlung als auch die Rehabilitation sowie die poststationäre Weiterversorgung für die Abhängigen umfassend und auf einem hohen professionellen Niveau angeboten werden. Die Effektivität der Behandlung beruht aber auf einem vernetzten System, das in vielen anderen Regionen und Ländern noch sehr ausbaufähig ist, vor allem in Turkmenistan, Tadschikistan und den ländlichen Regionen von Kirgistan. Im Beratungs- und Behandlungssystem sind Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Ex-User und andere Fachkräfte verantwortlich integriert. Es existiert eine Übereinstimmung über Ziele und Konzepte der Resozialisierung. 

    In der Kirgisischen Republik, in Tadschikistan und Kasachstan wurden nationale Arbeitsgruppen gegründet mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Narkologie, Psychologie, Sozialarbeit und Selbsthilfe. Im Rahmen der Arbeitsgruppen fanden Vorlesungen und Diskussionen über folgende Themen statt:

    • Prinzipien der Behandlung von Drogenabhängigkeit
    • Prinzipien der Diagnose und Therapie der Opioidsucht
    • Leitlinien zur Opioidsubstitution
    • Opioidsubstitution in besonderer Situation (Schwangerschaft, komorbide psychiatrische Störungen, komorbides HIV-Syndrom)
    • abstinenzorientierte Therapie (Entgiftung, Psychotherapie, psychosoziale Hilfe, Opioid-Antagonisten)
    • aktuelle Situation bei Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • aktuelle Situation bei psychopathologischen und somatischen Erkrankungen

    Insgesamt scheint die Implementierung von Maßnahmen zur Motivierung und Behandlung und damit die Weiterentwicklung des Suchthilfesystems in Zentralasien durch die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie durch die kulturellen Hintergründe (starke Co-Abhängigkeitsstrukturen) deutlich erschwert zu werden. Bei den meisten Experten besteht ein Konsens über den Sinn und die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Suchthilfesystems im Hinblick auf Weiterqualifizierung und Vernetzung.

    Die praxisorientierte Gestaltung der Seminare und die Möglichkeit, die Anliegen aus dem Alltag in die Seminare einzubringen, werden von den Seminarteilnehmern besonders positiv bewertet. 

    Weitere Zielsetzungen

    Bei der Commission on Narcotic Drugs (CND) im März 2016 wurde eine Entschließung zur Entwicklung und Verbreitung der internationalen Standards für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen verabschiedet. Darin wird gefordert, dass der „Zugang zu einer angemessenen wissenschaftlichen evidenzbasierten Behandlung von Drogenkonsumstörungen, auch für Personen, die von Drogenkonsum im Gefängnissystem betroffen sind, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften, zu gewährleisten (ist)“.

    Im April 2016 wurden im Rahmen der UNGASS Special Session (United Nations General Assembly on the World Drug Problem) in New York die „WHO/UNODC International Standards for the Treatment of Drug Use Disorders“ offiziell eingeführt. Aufgabe ist nun, die Umsetzung der internationalen Standards zu unterstützen. Dies geschieht jetzt in Trainings in allen zentralasiatischen Ländern in Kooperation mit dem UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime).

    Alle Länder in Zentralasien teilen die gemeinsame Auffassung der UN-Organe (UN-Drogenübereinkommen 1961, Art. 38, und Politische Erklärung 2009), dass alle praktikablen Maßnahmen zu Prävention und Früherkennung und zur Behandlung, Bildung, Rehabilitation und Nachsorge sowie zur sozialen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen umgesetzt werden sollen. In Zusammenarbeit mit dem WHO- und dem UNODC-Hauptsitz in Genf und Wien wird diskutiert, wie die Zentralasien-Staaten in dieser Umsetzung durch Schulungen unterstützt werden können. Es wurde z. B. eine russischsprachige Version der Standards erstellt, um als Trainingsmaterial verwendet zu werden.

    Mit dem Ziel, die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterin im Bereich der Behandlung von Drogenkonsumstörungen zu unterstützen, richtete die Frankfurt University of Applied Sciences (Fachhochschule Frankfurt am Main) an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Vorschlag, mit Hochschulen in Zentralasien, die Sozialarbeiter ausbilden, intensiver zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit soll mit folgenden Hochschulen stattfinden:

    • Eurasische Nationale Gumiljow-Universität (Abteilung für Soziale Arbeit), Astana, Kasachstan
    • Tadschikische Nationaluniversität (Fakultät für Phliosophie, Abteilung für Soziale Arbeit), Duschanbe
    • Universität für Humanwissenschaften Bischkek (Abteilung für Soziale Arbeit und Psychologie), Kirgisische Republik

    Die Zusammenarbeit soll dem Austausch von Erfahrungen der Mitarbeitenden und Studierenden sowie zur Erstellung von Schulungs- und Ausbildungsunterlagen (Projekt InBeAIDS, Laufzeit bis Ende 2019) dienen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stimmte Anfang März 2017 dem Vorschlag der Frankfurter Universität zu, so dass nun die Kooperation vorbereitet wird. Eine erste „fact finding Mission“ fand dazu in den drei Partnerländern im Mai 2018 statt. Da die Unterstützung und die Ausbildung der Sozialarbeit ein wichtiger Bestandteil der Component 4-Aktivitäten des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms (CADAP) ist, passt dieses Projekt gut in die CADAP-Ziele und unterstützt die Leistungen des Programms.

    Fazit

    Es gibt in Zentralasien einige grundlegende strukturelle Probleme im Hilfesystem für suchtkranke Menschen, insbesondere für opiatabhängige Menschen. Dazu gehören:

    • der Ausschluss von injizierenden Drogenkonsumenten (IDUs) aus dem (öffentlichen) Gesundheitssystem außerhalb der Narkologie
    • ein nur begrenzter Zugang von IDUs zur Behandlung der Drogenabhängigkeit oder zur Prävention von Drogenabhängigkeit
    • ein nur begrenzter Zugang zur Behandlung von IDUs mit HIV oder Hepatitis C
    • eine nur begrenzte Anzahl von Sozialarbeitern, Psychologen oder Psychotherapeuten
    • das Fehlen eines Akkreditierungssystems für Psychotherapie
    • ein nur sehr beschränkter Zugang zur Substitutionsbehandlung (OST)
    • eine begrenzte Kooperation im Hinblick auf die Prävention und Behandlung von HIV und Hepatitis bei Drogenkonsumenten in (narkologischen) Rehabilitationszentren

    Schulungen zur Förderung des Aufbaus von Kapazitäten sind wirksam und effizient. Dennoch verlangen alle Partner auch finanzielle und technische Unterstützung. Es wird die Notwendigkeit für weitere Qualifikationen und Schulungen in den Bereichen psychotherapeutische Methoden für Kurzzeitinterventionen, Motivationsbefragung, Rückfallverhütung, soziale Rehabilitation, medikationgestützte Behandlung und Behandlung von HIV gesehen.

    Die Trainings wurden durchgeführt von einer Gruppe erfahrener Trainerinnen und Trainer:

    Heino Stöver, Professor für Sozialwissenschaftliche Suchtforschung, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main

    Gerhard Eckstein, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Suchtreferent Deutsche Rentenversicherung Schwaben, Psychotherapeutische Praxis, Augsburg

    Inga Hart, Dipl.-Sozialpädagogin (M.A., M.Sc.), stellvertretende Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz, München

    Oleg Aizberg, Assistenzprofessor, Belarussische Medizinische Akademie, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Minsk, Belarus

    Irina Zelyeni, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik am Kronsberg STEP, Hannover

    Katharina Schoett, Fachärztin für Psychiatrie / Psychotherapie, Chefärztin der Abt. für Suchtmedizin des ÖHK Mühlhausen

    Ludger Schmidt, Erziehungswissenschaftler, Deutsche AIDS-Hilfe (DAH), Berlin

    Jörg Pont, Professor, Medizinische Universität Wien, Österreich

    Ingo Ilja Michels, Soziologe, Fachberater für Suchtkrankenhilfe, langjähriger Leiter des Arbeitsstabes der Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Bundesministerium für Gesundheit; Internationaler Koordinator für CADAP (Behandlungsfragen)

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Ingo Ilja Michels
    Frankfurt University of Applied Sciences
    Nibelungenstraße1
    60318 Frankfurt am Main
    ingoiljamichels@gmail.com
    michels.ingo@fit.fra-uas.de

  • Zur Digitalisierung des Sozialen

    Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017, 268 Seiten, € 29,00, ISBN 978-3-8487-4030-7

    „Es gilt zu erahnen, wie die globale Vernetzung digitaler Informationen das Soziale selbst, nämlich das gesamte gesellschaftliche Arrangement der Menschheit, tiefgreifend verändert.“

    Epochale Umbrüche sind in der Geschichte der Menschheit nicht neu. Scheinbar eigenständige Entwicklungen verstärken sich gegenseitig und schaffen eine unübersichtliche Zeit des Übergangs, die trotzdem in eine eindeutige Richtung weist. Damit verändert sich nicht nur die Soziale Arbeit. Es verändern sich auch ihre Rahmenbedingungen sowie der normative Horizont, vor dem sie stattfindet.

    Als Praktiker mit 25-jähriger Erfahrung in der Führung sozialer Unternehmen schildert der Autor die wesentlichen Aspekte dieser Entwicklung in einer allgemeinverständlichen Weise, welche der Vielzahl an Professionen, die im Sektor der Sozialen Arbeit vertreten sind, Rechnung trägt. In der ethischen Reflexion kommt er dabei zu mitunter überraschenden Empfehlungen.

  • BTHG und Eingliederungshilfe Sucht

    Was bewegt sozialtherapeutische Einrichtungen im Kontext des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und der Eingliederungshilfe Sucht? Mit dieser Fragestellung lassen sich die vielfältigen Inhalte des 4. Fachtages für Soziotherapeutische Einrichtungen beschreiben, zu dem der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) am 21.02.2018 nach Kassel eingeladen hatte.

    Vorstandsmitglied Andreas Reimer (Deutscher Orden Suchthilfe) skizzierte in seiner Einführung aktuelle fach- und sozialpolitische Entwicklungen und Herausforderungen für suchtspezifische Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Gleichzeitig lenkte er den Blick auf die noch junge Geschichte des Fachtages und dessen Bedeutung für die Praktiker: Einige Mitglieder des buss betreiben neben Einrichtungen der stationären und ambulanten medizinischen Rehabilitation auch komplementäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe Sucht. Anlass für den ersten Fachtag für Soziotherapeutische Einrichtungen 2015 waren die Vorboten des BTHG und der Bedarf der Leitungskräfte und Betreiber soziotherapeutischer Einrichtungen, die eigenen fachlichen und strukturellen Konzepte rechtzeitig hinsichtlich der Anforderungen der Gesetzgebung zu analysieren und ggf. anzupassen.

    Die durchweg sehr guten Bewertungen der bisherigen Fachtage motivieren die Vorbereitungsgruppe, auch für das kommende Jahr wieder ein Programm mit relevanten Themen und Trends für die Praxis zusammenzustellen. Das breite Fach- und Vernetzungswissen innerhalb der Suchthilfelandschaft und die Themenwünsche der Teilnehmer/innen werden dabei eingebunden.

    Wirkung und Wirkungsmessung

    Was konkret ist zu tun, um die Herausforderungen des BTHG zu meistern, die Chancen im Sinne einer noch besseren personenzentrierten Teilhabe von Suchtkranken zu nutzen und – ganz im Sinne einer qualitativen Hebelwirkung – die komplementären (zumeist noch stationären) Einrichtungen für chronisch mehrfachbeeinträchtigte Suchtkranke aus dem Schattendasein herauszuholen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des diesjährige Fachtages.

    Der Vormittag stand thematisch unter dem BTHG-Schlagwort „Wirkung“. Robert Meyer-Steinkamp (Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Hamburg) stellte in seinem Beitrag BADO Hamburg – Erfassung und Auswertung von Daten aus der Eingliederungshilfe dar, wie es in Hamburg gelingt, die Ergebnisqualität der umfassenden Eingliederungsleistungen für Suchtkranke abzubilden. Eindrucksvoll und überzeugt stellte Meyer-Steinkamp die Arbeit des gemeinsam von Leistungsträger und Leistungsanbietern getragen Vereins BADO e.V. vor. Anders als in vielen anderen Bundesländern ist die Basisdokumentation in Hamburg auch in der Eingliederungshilfe Pflicht, so dass seit 2011 alle ambulanten und (teil-)stationären Angebote Daten liefern. Dass sich die – zugegeben nicht immer beliebte – Erbsenzählerei lohnt, stellte er anhand des Spezialthemas im Statusbericht 2015 vor. Aus allen Datensätzen der letzten sechs Jahre wurden so genannte Intensivnutzer der Hamburger Suchthilfe herausgefiltert und hinsichtlich ihrer Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsepisoden sowie der dabei erreichten Gesamtergebnisse untersucht. In den beispielhaft vorgestellten Teilhabebereichen zeigten sich für die Leistungsberechtigten trotz oder wegen der ‚Drehtür-Verläufe‘ spürbare Verbesserungen ihrer Lebens- und Teilhabesituation, die zwar für den Praktiker vor Ort und im Einzelfall erwartbar waren, aber eben ohne die Datenerhebung und -auswertung nicht in der Quantität belegbar wären.

    Es wäre wünschenswert, wenn auch andernorts die Chancen der Basisdokumentation erkannt und genutzt würden. Nach einer Auswertung des IFT Institut für Therapieforschung zur Deutschen Suchthilfestatistik für das Jahr 2014 ergab sich eine Beteiligung von nur 105 ambulanten und (teil-)stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit rund 5.500 Fällen. Die Datenlage und ihre Aussagekraft könnte mit einer stärkeren Beteiligung der Träger deutlich verbessert werden. Die aktuelle Ausdifferenzierung des Kerndatensatzes 3.0 und stärkere Berücksichtigung von Angeboten der Eingliederungshilfe kann ein guter Anlass sein, jetzt in die Datenerhebung einzusteigen.

    Mit der Aussage, Wirksamkeit und Wirkung seien zunächst einmal zu differenzieren, führte anschließend Prof. Dr. Andrea Riecken (Hochschule Osnabrück) in ihren Vortrag ein. Unter dem Titel Anforderungen an Wirkungsmessung in der Eingliederungshilfe stellte sie grundlegende forschungsmethodische Herausforderungen bei der Evaluation Sozialer Arbeit und ihrer Dienstleistungen vor. Die Komplexität von Wirkfaktoren und deren Zusammenspiel soll die Praxisforschung allerdings nicht länger davon abhalten, die Wirkung z. B. der Fachleistung innerhalb der Eingliederungshilfe Sucht wissenschaftlich sauber zu belegen. Damit kann auch der Erhalt und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe-Leistungen im Sinne der Klienten vorangetrieben werden.

    Nach diesen beiden Beiträgen mochte so manche/r Zuhörer/in angesichts der Überschrift des Vortrages von Dieter Adamski (Therapiehilfe e.V., Hamburg/Bremen) zunächst aufatmen: Basisdokumentation und Wirksamkeitsmessung – Was ist in der Praxis leistbar? Allerdings verdichtete Adamski die vielfältigen Anforderungen an Leitung, Fach- und Hilfskräfte zu prägnanten Forderungen im Rahmen einer weiteren Professionalisierung der Eingliederungshilfe Sucht im Sinne der Etablierung eines Qualitätsmanagements. Sofern nicht bereits ein Umdenken erfolgt ist, wird es nun höchste Zeit. Dabei ist der Gestaltungsspielraum, den ein proaktives Vorgehen der Einrichtungen, ihrer Träger und Fachverbände bietet, pragmatisch zu nutzen. Qualitätssicherung soll dabei keinen Selbstzweck erfüllen, sondern die kontinuierliche Weiterentwicklung von strukturellen und fachlichen Standards sowie die Abbildung der Ergebnisqualität der Leistungserbringer unterstützen. Nur so können komplementäre und am individuellen Teilhabebedarf und Teilhabeplan ausgerichtete Eingliederungshilfe-Angebote erhalten und zukunftssicher weiterentwickelt werden: „Wir wissen, wann und wie wir unsere Kunden unterstützen, wir dokumentieren es jedoch (noch) nicht sachgerecht, um mit den Ergebnissen an die Öffentlichkeit zu treten. Denkbar wären Katamnesen, wie es in der medizinischen Rehabilitation üblich ist.“ Gleichzeitig forderte Adamski finanzielle und personelle Ressourcen: „Wer Wirksamkeitsmessung in der Eingliederungshilfe umsetzten will, muss in Forschung investieren und für die Praxis handhabbare Instrumente entwickeln, die auch zu den Berufsgruppenprofilen der Eingliederungshilfe-Einrichtungen passen.“

    Die Mittagspause bot Gelegenheit zu einem persönlichen und informellen Austausch der Teilnehmenden. Der Fachtag wurde in sechs Arbeitsgruppen zu Anforderungen und Chancen rund um die Umsetzung des BTHG fortgesetzt.

    Anforderungen und Chancen bei der Umsetzung des BTHG

    Prof. Dr. Johannes Schädler (Universität Siegen) gab in seiner Arbeitsgruppe Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung: Herausforderung und Chance für Suchtkranke und Leistungserbringer zunächst einen Überblick über die Begrifflichkeiten und die historische Entwicklung von Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung. Weiter ging er auf die Herausforderungen und Chancen für Suchtkranke und Leistungserbringer in dem Prozess ein und betonte die aus seiner Sicht dringend notwendige und gesetzlich verankerte Steuerungshoheit der Leistungsträger: „Wer den Gesamtplan verfasst, steuert de facto das (Teilhabeplan-)Verfahren.“ Seine weitere Aufforderung „Weg von dem (einrichtungsbezogenen) Platzierungsdenken und -handeln hin zu einer Steuerung der EGH durch die Leistungsträger im Sinne einer personenzentrierten Teilhabeplanung“ eröffnete einen Diskurs unter den Teilnehmenden zur Bedeutung des Teilhabeplanverfahrens für die Eingliederungshilfe Sucht. Hieraus entstanden neue Fragen zu folgenden Themen:

    • Teilhabeberatung von Suchtkranken (z. B. Suchtberatung, Sozialdienste in der Entgiftungsbehandlung und der medizinischen Rehabilitation, gesetzliche Betreuer),
    • Unterstützungsmöglichkeit von Suchtkranken und Beteiligung der Leistungserbringer im Bedarfsermittlungsverfahren,
    • Perspektiven der Studien zur Entwicklung des Personenkreises nach § 99 SGB IX-neu (Wie wird der geringe Anteil der Suchtkranken (vier Prozent) an allen Menschen mit Behinderung in den Studien z. B. hinsichtlich der Rechtsfolgen berücksichtigt? Exklusion durch ‚5 aus 9‘?),
    • sozialpolitische Aktivitäten in Bezug auf die länderspezifischen Ausführungsgesetze und Verordnungen.

    Chancen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Suchtkranke bestehen in einem regional ausdifferenzierten Suchthilfeangebot, welches aus ambulanten Einrichtungen und stationären bzw. besonderen Wohnformen sowie tagesstrukturierenden und arbeitsmarktbezogenen Angeboten bestehen kann. Dazu könnten die multiprofessionellen Teams der Träger und die Vernetzungsqualität genutzt werden.

    Stephan May (Hohage, May & Partner – Rechtsanwälte/Steuerberater, Hamburg) referierte in seiner Arbeitsgruppe Heimverträge und Betreuungsverträge – neue Anforderungen im Rahmen des BTHG?! zu den Anforderungen an Wohn- und Betreuungsverträge von ambulanten Einrichtungen und besonderen Wohnformen. Diese AG war rasch nach Anmeldebeginn des Fachtages ausgebucht, der hohe juristische Beratungsbedarf in diesem Feld spiegelte sich in der Diskussion und den Fragestellungen der Teilnehmenden wider.

    In der Arbeitsgruppe Inklusion in CMA-Einrichtungen gab Janina Tessloff (Therapiehilfe e.V., Bremen) Impulse zu folgenden Fragen:

    • Wie müssen die inklusiven Strukturen aussehen, damit sie Teilhabeprozesse begünstigen?
    • Inwieweit und wie weit wollen unsere Bewohner/innen überhaupt Inklusion?
    • Wie können Mitarbeitende zur Teilhabe motivieren, gibt es Grenzen und worin liegt die Verantwortung der Einrichtung?

    Die Teilnehmenden kamen rasch in einen Austausch über die bereits gelebte Praxis und der Spezifika von Suchtkranken. Tessloff formuliert in ihrer Präsentation ein gemeinsames Fazit: „Inklusion kann auch Überforderung bedeuten. Viele unserer Klienten können ihre Bedürfnisse nicht adäquat artikulieren, Selbsteinschätzung ist ein Lernprozess. Viele äußern eher den Wunsch nach Integration: Indem sie sich in der schützenden Einrichtung beheimaten, verweigern sie sich den Anforderungen der Gesellschaft und dem Inklusionsgedanken. Inklusion steht hier erst am Ende eines langen Weges, Integration ist die Vorstufe. Das stationär und ambulant betreute Wohnen arbeitet schon seit langem inklusiv, indem stetig an dem Teilhabeprozess der Betroffenen gemeinsam mit ihnen gearbeitet wird. Die Gesellschaft, die Politik muss nun nachziehen, indem Strukturen entstehen, die unsere Klientel, ohne von ihnen beeinträchtigt zu werden, nutzen kann.“

    Der Impetus des BTHG im Sinne einer stärkeren Personenzentrierung und Verzahnung von Rehabilitationsleistungen mit dem Ziel einer gelingenden Teilhabe und verbesserter Aktivität einerseits und die zugespitzte Koppelung von Suchterkrankung und Wohnungslosigkeit andererseits lenkten auf die Schnittstelle zwischen Wohnungslosenhilfe und Sucht- bzw. Eingliederungshilfe neue Aufmerksamkeit. Gabriel Blass (Haus Eichen, Blankenrath) griff dieses Thema in seiner Arbeitsgruppe Schnittstelle zwischen Wohnungslosenhilfe und Eingliederungshilfe auf. Das vorgestellte Angebot bietet wohnungslosen Suchtkranken eine zweimonatige Orientierungs- und Stabilisierungsmöglichkeit, an die sich weiterführende Behandlungs- und Betreuungsangebote nahtlos anschließen können. Solche Angebote bestehen bundesweit vereinzelt als „Vorsorge“, Vorschaltphase, Betreutes Wohnen für Gefährdete, Übergangswohnen etc. Ihre Finanzierung erfolgt aktuell noch im Rahmen des SGB XII als so genannte § 67er Hilfe oder auch auf Grundlage des § 53.

    In der Arbeitsgruppe Was ist das eigentlich: Soziotherapie oder Sozialtherapie? Leitlinie für neue Mitarbeitende von Nicolai Altmark und Andreas Guder (beide Diakonisches SuchtHilfeZentrum Flensburg) standen Newcomer unter den Mitarbeitenden der Einrichtungen im Focus. Neben der Klärung der verschiedenen Bezeichnungen für Leistungen von Eingliederungshilfe-Einrichtungen in der Suchthilfe (Soziotherapie, Sozialtherapie, soziale Rehabilitation) standen Leitlinien für neue Mitarbeiter zur Diskussion.

    Das BTHG schreibt ICF-basierte Bedarfsermittlungsinstrumente und eine klare ICF-Orientierung im Teilhabeplanverfahren verbindlich vor. In allen Segmenten der Suchthilfe-Angebote kommt der Kenntnis und Anwendung der ICF – z. B. mit entsprechenden Instrumenten in der Beratung, Behandlung und Vermittlung von Suchtkranken mit Behinderung (oder die davon bedroht sind) – eine zunehmende Bedeutung zu. Eine differenzierte, leistungsbegründende Beschreibung der suchtbedingten Behinderung, der damit einhergehenden Einschränkungen der funktionalen Gesundheit sowie der daraus resultierenden Teilhabebedarfe wird mit Blick auf die Definition des leistungsberechtigten Personenkreises in Zukunft noch wichtiger sein als in der Vergangenheit. Maren Spies (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) und Robert Meyer-Steinkamp (Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Hamburg) stellten in ihrer Arbeitsgruppe MCSS (Modulares Core Set Sucht) – Entwicklungsstand und Perspektiven zur Umsetzung der ICF in der Suchthilfe das Konzept und die Anwendung der ICF vor und gaben Einblick in den aktuellen Entwicklungsstand des Modularen Core-Sets Sucht. So genannte Core-Sets bieten störungsspezifische Listen typischer Funktionsbeeinträchtigungen, so dass die insgesamt 1442 Items der ICF in der Praxis handhabbar werden. Das MCSS bietet neben einem Basis-Set weitere Modul-Sets für verschiedene Settings der Suchtkrankenversorgung. In einer Studie wird aktuell die Validität der Item-Listen in den verschiedenen Settings untersucht.

    In dem abschließenden Vortrag Modellprojekt zur Trennung existenzsichernder Leistungen von den Fachleistungen und zur Leistungssystematik gab Olaf Bauch (Landschaftsverband Rheinland, FB Sozialhilfe, Köln) einen Ausblick auf Zuordnungs- und Rechenmodelle, die für die länderspezifischen Vereinbarungen Pate stehen könnten. Neben der differenzierten Berechnung von existenzsichernden Leistungen und Fachleistungen stellt die Umstellung von der bisherigen Anrechnung von Einkommen und dessen Einzug durch die Leistungsträger auf ein Kostenbeitragsverfahren eine besondere Herausforderung für die Leistungserbringer dar. In der Suchthilfe ist mit einem Aufwand durch Forderungsmanagement zu rechnen – keine verlockende Aussicht für die Verwaltungen der Einrichtungen und sicherlich auch eine Herausforderung für die multiprofessionellen Betreuungsteams. Es darf mit einem weiteren Diskurs zum Wert Sozialer Arbeit gerechnet werden.

    Die Tagungsbeiträge stehen – wie auch die Präsentationen der vorangegangenen Fachtage – auf der Homepage des buss zum Download bereit (www.suchthilfe.de > Veranstaltungen > Workshops).

    Darüber hinaus bieten folgende Online-Präsenzen Materialien und Informationen zum BTHG:
    www.reha-recht.de
    www.umsetzungsbegleitung-bthg.de

    Text: Martina Tranel
    Mitglied der Vorbereitungsgruppe Fachtag für Soziotherapeutische Einrichtungen, Veranstalter: buss e.V.
    Dipl.-Sozialarbeiterin/Dipl.-Sozialpädagogin, Sucht- und Sozialtherapeutin
    Leiterin der Einrichtung Theresienhaus, Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH
    Vorstandsmitglied der DGSAS – Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe e.V.

  • Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Frank Schulte-Derne
    Rita Hansjürgens
    Ulrike Dickenhorst
    Conrad Tönsing

     

    Einleitung

    Eine Suchtrehabilitation bietet abhängigkeitskranken Menschen die Möglichkeit zum Ausstieg aus der Abhängigkeit und verbessert damit die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Ein interdisziplinäres Rehabilitationsteam aus den Bereichen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie schafft dafür die Voraussetzung, dabei wird es durch weitere Berufsgruppen unterstützt. Die Nutzung evidenzbasierter Erkenntnisse kann die Qualität der therapeutischen Leistungen verbessern. Die AWMF-Leitlinien als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen tragen hierzu bei, sie sollten aber in der Entwicklung und der Anwendung multiprofessionell gedacht werden. Dieser interdisziplinäre Ansatz der Suchtrehabilitation trägt den verschiedenen Dimensionen des bio-psycho-sozialen Gesundheits- bzw. Krankheitsfolgenmodells der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Rechnung, wie sie in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) konzipiert wurden. Erkrankungen und ihre Folgen werden in der ICF als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen sozialen, somatischen und psychischen Faktoren verstanden (DRV Bund 2013).

    Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) vertritt die am stärksten in der Suchthilfe und Suchtrehabilitation vertretene Berufsgruppe (Braun et al. 2015a, 2015b). Zugleich lässt sich feststellen, dass Soziale Arbeit bezogen auf ihre Zuständigkeit und Bedeutung in der Suchtrehabilitation zunehmend von einer maßgeblichen Kraft auf eine vernachlässigbare Größe reduziert zu werden scheint (Sommerfeld 2016a). Dieser Beitrag macht daher auf ausgewählte Stärken der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und auf die Unterschiede zwischen Sucht- und Psychotherapie aufmerksam. Am Ende wird deutlich, dass Soziale Arbeit im Kontext der Suchtrehabilitation aufgrund ihrer Zuständigkeit und Expertise als mitgestaltend und nicht als fremdbestimmt wahrgenommen werden sollte. Das betrifft die Wahrnehmung aller am Prozess beteiligten Akteure – auch die der in der Sozialen Arbeit Tätigen selbst.

    Die Bedeutung der sozialen Dimension in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Orientierung an dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF ist in der Suchtrehabilitation handlungsleitend. Gesundheit bzw. Krankheit werden als Ergebnis eines Zusammenspiels oder gegenseitiger Beeinflussung körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. „Die Soziale Arbeit erhebt in diesem Sinn den Anspruch auf die Zuständigkeit der spezialisierten Behandlung der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen im Hinblick auf die Integration und Lebensführung der davon betroffenen Menschen im Kontext einer interprofessionell gedachten ‚integrierten Versorgung‘.“ (Sommerfeld 2016b, S. 11)

    Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit liegt „vornehmlich in der Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme (Familie, privates Sozialsystem, Schule, Arbeitswelt, Hilfesysteme, Schattenwelten). […] Diese Überlegungen werden damit begründet, dass Klient/innen der Sozialen Arbeit aufgrund ihres Anders-seins (in diesem Fall ihrer Suchterkrankung mit all ihren biopsychosozialen Implikationen) Schwierigkeiten dabei haben, sich in ihrer sozialen Lebenswelt zurechtzufinden, und deshalb vom Ausschluss aus diesen Handlungssystemen bedroht sind. Integration in dieser Perspektive bezieht die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen, die in dynamischer Wechselwirkung stehen mit seiner sozialen Integration, dabei systematisch mit ein, weil sonst eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingt.“ (Hansjürgens 2016) Die Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration wird z. B. realisiert in der sog. Angehörigenarbeit, also dem Einbezug sozialer Nahsysteme, zu denen nicht nur Familie, sondern auch Freunde gehören könn(t)en.

    Der Arbeitsschwerpunkt in der Suchttherapie liegt in dem Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung sowie in der Entwicklung einer Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation, mit dem Ziel, zukünftig abstinent leben zu können. Alle Faktoren, die zur Abstinenzstabilität beitragen, werden in der Therapieplanung prospektiv festgelegt und in einer multimodalen Behandlung durchgeführt. Der Suchttherapeut/Bezugstherapeut ist für die Koordination und z. T. für die Durchführung verantwortlich. Der Transfer der Rehabilitationserkenntnisse in die Lebenssituation wird kontinuierlich begleitet. Die reguläre Beendigung der Behandlung mit sich anschließender ambulanter Nachsorge schafft die größten Erfolgsaussichten für zukünftige Teilhabe.

    Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Integration in die Arbeitswelt, in dem Maß, wie es aus der Perspektive des Klienten und seinen Möglichkeiten angemessen erscheint. Dazu gehören nicht nur Gespräche und ‚Trockenübungen‘, sondern auch die aktive Begleitung in die konkreten Handlungssysteme hinein und der unterstützende Einbezug wichtiger Interaktionspartner aus diesen Systemen, also z. B. auch von Vorgesetzten oder Arbeitskolleg/innen.

    Der ganzheitliche sozialarbeiterische Blick in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die oben beschriebene Zuständigkeit erfordert einen Blick auf die Bedingungen des Systems, zu dem eine Person (wieder) Zugang erhalten möchte, einen Zugang, der ihr aufgrund ihrer Suchterkrankung versperrt war. Daneben ist ein Blick auf die realistischen Möglichkeiten und Ressourcen der Person erforderlich. Hier muss eine individuelle Passung hergestellt werden. Dies bedeutet nicht nur, die Möglichkeiten einer Person zur Integration zu verbessern, z. B. durch psychotherapeutische Interventionen, sondern auch, die Möglichkeiten und die Flexibilität eines konkreten Systems (z. B. Familie und Arbeitsplatz) zur Integration einer Person zu verbessern und beide Ansätze in Übereinstimmung zu bringen. Dies erweitert die biopsychische Perspektive auf ein Individuum um den Versuch der konkreten Modellierung der sozialen Dimension eines Klienten. Dies geschieht mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit suchttherapeutischer Maßnahmen zu sichern.

    Die Erweiterung der Perspektive um die soziale Dimension durch die Soziale Arbeit als dafür zuständige Expertin wird selbstverständlich. „Damit entspricht der sozialarbeiterische Ansatz, der auch als Unterstützung zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe beschrieben werden kann, in vollem Umfang jenem teilhabeorientierten Ansatz, den die DHS in ihrer Analyse der Versorgungssituation von Suchthilfe in Deutschland als Grundvoraussetzung für Zukunftsorientierung für die Ausrichtung der Arbeit mit Suchtkranken fordert.“ (Hansjürgens 2016) „Vor diesem Hintergrund muss bemängelt werden, dass Psychotherapie laut Alltagsverständnis die komplexen Fälle bearbeitet und Soziale Arbeit die leichten. Die Realität der Sozialen Arbeit beweist dabei das Gegenteil.“ (Gahleitner, Pauls 2012). Denn schließlich bildet die Soziale Arbeit eben für jene Fälle aus, die nicht einfach routiniert zu erledigen sind oder häufig chronifizierte Verläufe aufzeigen. Leider ist diese ganzheitliche Sichtweise, die die soziale Dimension nicht nur im Blick hat, sondern auch bearbeitet, aktuell von Kostenträgern nicht mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet. Eine von suchttherapeutischen Prozessen abgekoppelte sog. Sozialberatung reicht für die Erfüllung dieser aus Sicht der DG-SAS zentralen Aufgabe von Suchtrehabilitation nicht aus.

    Vom (Fall-)Verstehen zur Behandlungsplanung in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Um im oben genannten Sinn agieren zu können, führen Sozial- und Suchttherapeuten diagnostische Informationen zur Biografie und Lebenswelt sowie klassifikatorisches, störungsspezifisches Wissens entlang der Koordinaten „Umwelt und Person“ bzw. „Probleme und Ressourcen“ zusammen und leiten daraus die konkrete Therapieplanung und Interventionsmöglichkeiten ab (Gahleitner et al. 2014). Sie behandeln die Betroffenen als Bezugstherapeuten in Einzel-, Gruppen- und Angehörigengesprächen sowie in weiteren Indikationsgruppen (DRV Bund 2015). In Angehörigen-, Paar- und Kinder-/Elternseminaren werden Angehörige auch psychoedukativ unterstützt, um die eigenen Resilienzfaktoren zu fördern und stabilere Interaktionen zu erproben.

    Ausgehend von der Suchtgenese und familiengeschichtlichen Ereignissen, z. B. generative Häufung von Suchterkrankung, wird die Rückfallprävention durchgeführt. Besonders die Hochrisikosituationen werden individuell erfasst und alternative Bewältigungsstrategien erprobt. Zum integrativ-diagnostischen (Fall-)Verstehen trägt dabei maßgeblich die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ bei. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Hilfebedürftigkeit häufig einhergeht mit schwach ausgeprägter sozialer Einbindung (Richter-Mackenstein 2017, 93 ff.). So fließen die Ergebnisse von zum Beispiel Netzwerkanalysen als Rehabilitationsziele und -teilziele in den Rehabilitationsplan ein. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ ist hier von entscheidender Bedeutung, da der Rehabilitationsplan partizipativ mit den Klient/innen entwickelt wird, was ebenfalls zur Nachhaltigkeit der rehabilitativen Maßnahmen beiträgt.

    Unterschiede im interprofessionellen Handeln in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Unter der hier aufgeworfenen Perspektive setzt sich ein interprofessionelles Rehabilitationsteam sinnvollerweise aus den Berufsgruppen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie zusammen. Die Mitarbeiter/innen sind dabei im Sinne des Rehabilitanden verpflichtet, hinsichtlich der Diagnostik, der Anamnese, der Behandlungsplanung sowie der Dokumentation und der Berichterstattung intensiv und austauschorientiert zusammenzuarbeiten. Dies geschieht in der Regel durch Fall- und Teambesprechungen und externe Supervision (DRV Bund 2015).

    Das Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit und der Psychologie wird von der DRV weitestgehend gleich definiert, wenn die Suchterkrankung im Mittelpunkt der Rehabilitation steht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der psychologischen Diagnostik und der komorbiden Störungen, wenn sie als Ursache der Suchterkrankung erkannt werden. Diese Aufgabenbereiche sind den Psycholog/innen vorbehalten.

    Den Sozialarbeiter/innen sind die Hilfen im sozialen Umfeld (z. B. Kontakte mit Arbeitgebern, Hilfestellung bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes/bei der Reintegration in das berufliche Umfeld, sozialrechtliche Beratung), Existenzsicherung, die Begleitung juristischer Verfahren und die Kooperation mit in der Nachsorge eingebundenen Sozialen Diensten sowie mit Selbsthilfegruppen als zusätzliche Leistungen zugeordnet. Dieser Leistungsunterschied weist schon auf die Stärke und Zuständigkeit von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie hin. Bekanntermaßen trägt das soziale Umfeld maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen bzw. von Sucht bei, und dies heißt im Umkehrschluss, dass das Soziale (Umfeld) ein enormes therapeutisches Potenzial hat, das ohne die Soziale Arbeit weitgehend unerschlossen bliebe (Sommerfeld 2016a). Die Modellierung sozialer Lebensbedingungen liegt häufig nicht im primären Zuständigkeitsbereich von Psychotherapie. Sind die sozialen Lebensbedingungen sehr ungünstig ausgeprägt, wird Psychotherapie alleine den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig kaum verbessern können (Grawe 2004).

    Fazit: Suchtrehabilitation ist mehr als Suchttherapie. Und Suchttherapie ist mehr als Psychotherapie

    Die Soziale Arbeit ist im Rahmen der Suchtbehandlung für die Modellierung der sozialen Dimension der Erkrankung zugunsten der Integration und einer abstinenten Lebensführung zuständig. Dabei liegt die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme. Hierzu werden neben der sozialen Dimension auch die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen mit einbezogen. Dieser ganzheitliche Blick ist für die Soziale Arbeit selbstverständlich, das Psychotherapeutengesetz hingegen klammert die soziale Dimension für seine Berufsgruppe aus. Soziale Arbeit befasst sich entgegen dem Alltagsverständnis nicht mit den ‚leichten‘, sondern i. d. R. mit den komplexen Fällen, für die es weniger Routinelösungen gibt, da es um die Realisierung von Teilhabe geht. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ zu betrachten und zu beteiligen, ist eine unabdingbare Stärke der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie.

    Die Hilfen im sozialen Umfeld der Betroffenen sind dem Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit zugeordnet. Gerade diese Hilfen haben enormes therapeutisches Potenzial, und ohne dieses Leistungsangebot kann eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingen. Die Lebensbedingungen und das Soziale (Umfeld) sind bei den Betroffenen in der Regel ungünstig ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund kann Soziale Arbeit den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig verbessern.

    Angaben zu den Autoren:

    Frank Schulte-Derne
    Dipl.-Sozialpädagoge
    Sachbereichsleitung LWL-Koordinationsstelle Sucht
    Vorsitzender der DG-SAS
    Frank.Schulte-Derne@lwl.org

    Rita Hansjürgens
    M. A., Dipl.-Sozialarbeiterin
    Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Ulrike Dickenhorst
    Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (KVT)
    Therapeutische Leiterin der Bernhard-Salzmann-Klinik
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Conrad Tönsing
    Dipl.-Soz. Päd. Soz.Arb., KJPsychotherapeut, Supervisor
    Geschäftsführer, Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Geschäftsbereichsleitung Suchtprävention und Rehabilitation, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e.V.

    Literatur:
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015a): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. München.
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015b): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen. München.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2013): Vereinbarungen im Suchtbereich. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2014): Klassifikation Therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation Ausgabe 2015. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Pauls, Helmut (2012): Soziale Arbeit und Psychotherapie – zum Verhältnis sozialer und psychotherapeutischer Unterstützung und Hilfen. In: Thole (Hrsg.): Grundriss Sozialer Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage.
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Hintenberger, Gerhard; Kreiner, Barbara; Jobst, Angelika (2014): Biopsychosoziale Diagnostik: Wie geht denn das konkret? Plädoyer für ein „integratives diagnostisches Verstehen“ In: Resonanzen E-Journal http://www.resonanzen-journal.org/index.php/resonanzen/article/view/ 336 (Abrufdatum 03.05.2017)
    • Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie.Göttingen.
    • Hansjürgens, Rita (2016): In: DG-SAS Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe.
    • Richter-Mackenstein, Joseph (2017): Netzwerkanalyse mit easyNWK. Erste empirische und metrische Erkenntnisse einer Diagnostik sozialer Hilfebedürftigkeit. In: Soziale Arbeit (3).
    • Sommerfeld, Peter (2016a): Sucht – ein medizinisches oder ein soziales Problem? In: Suchtmagazin (6)
    • Sommerfeld, Peter (2016b): „Soziale Arbeit und Sucht: Von einer massgeblichen Kraft zu einer vernachlässigbaren Grösse – und wieder zurück?“ Zur Bedeutung von Wissen in der interprofessionellen Kooperation und Konkurrenz. Vortrag beim 4. Bundeskongress der DG-SAS in Münster http://www.dgsas.de/downloads/Sommerfeld.pdf

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Das Projekt „Chancen und Wege“

    Das Projekt „Chancen und Wege“

    Clarissa Abromeit
    Monika Schnellhammer

    Hinter Langzeitarbeitslosigkeit verbirgt sich oft auch eine Suchtproblematik. Diese Erkenntnis brachte das Jobcenter und den Caritasverband in Osnabrück zusammen an einen Tisch. Heraus kam das erfolgreiche Kooperationsprojekt „Chancen und Wege“, das mittlerweile seit fünf Jahren läuft. Die Teilnehmer/ innen des Programmes sind Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. „Chancen und Wege“ unterstützt sie mittels Arbeitsmöglichkeiten und sozialpädagogischer Betreuung dabei, sich Schritt für Schritt auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten und Vermittlungshemmnisse abzubauen.

    Der problematische Konsum von Suchtmitteln, verhaltensbezogene Störungen, Komorbiditäten und psychische Erkrankungen sind Hemmnisse, die die (Wieder-)Eingliederung in den Erwerbsbezug verhindern können. Für Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen findet zu wenig adäquate Förderung statt, um Vermittlungsergebnisse und eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation zu erzielen. Zu dieser Erkenntnis gelangte auch das Jobcenter Osnabrück im Zuge der Umsetzung des SGB II. Die persönlichen Ansprechpartner/innen des Jobcenters sowie die Fallmanager/innen vermitteln zwar erfolgreich in Arbeit, jedoch ist es ihnen aufgrund ihrer hohen Fallzahlen nicht möglich, ihre Kunden so intensiv wie in einer Maßnahme zu begleiten. Außerdem wurde eine Suchtproblematik als wichtiges Thema vieler Arbeitsuchender erkannt.

    Gemeinsames Ziel: Stabilität schaffen durch Struktur

    Aus diesen Gründen schrieb das Jobcenter über das Regionale Einkaufszentrum Nord eine Maßnahme aus, welche folgende Inhalte aufweisen sollte: Die Maßnahme sollte tagesstrukturierend sein, auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, zielgruppenspezifische Angebote umfassen und eine intensive Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse ermöglichen. Mitarbeiter der Suchtberatung des Caritasverbandes in Osnabrück erarbeiteten daraufhin ein Konzept, das explizit diese Zielgruppe mit den entsprechenden Vermittlungshemmnissen erreichen sollte. Durch die suchtspezifische Fachlichkeit, die Nähe zur Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation, aber auch zu anderen Fachbereichen und Kooperationspartnern, sollte der Zugang erleichtert werden, und Schwellenängste der Teilnehmenden sollten verringert werden. Nicht allein die Preiskalkulation, sondern die Qualität der Maßnahme stand dabei im Vordergrund. Der Caritasverband Osnabrück bekam den Zuschlag zunächst für ein Jahr. Inzwischen läuft die Maßnahme im fünften Jahr nach der dritten Ausschreibung, diesmal voraussichtlich bis 2019.

    Das so zustande gekommene Projekt „Chancen und Wege“ (CuW) ist eine Maßnahme zur Aktivierung und Stabilisierung von erwerbsfähigen Erwachsenen nach § 16 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Die Teilnehmenden im Alter von über 25 Jahren weisen zahlreiche Vermittlungshemmnisse auf. Ziele der Maßnahme sind die Feststellung, Verringerung oder Beseitigung der Vermittlungshemmnisse und die Heranführung der Teilnehmenden an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Im besten Fall gelingt nach der Aktivierung und Stabilisierung die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die weiterbegleitet und nachbetreut werden kann.

    An der Maßnahme „Chancen und Wege“ haben seit 2012 247 Personen teilgenommen. Davon konnten 227 Teilnehmende aktiviert werden. Das heißt, je nach Vermittlungshemmnis wurden gemeinsam individuelle Zielvereinbarungen erstellt, und die Teilnehmenden wurden zu weiterführenden Fachstellen begleitet. Hierbei kann es sich um Schuldnerberatung, Wohnungscoaching, Ambulant betreutes Wohnen, Integrationsfachdienst, Rechtliche Betreuung, Ambulante Assistenz oder fachärztliche Behandlungen handeln.

    Seit Juli 2014 wird die Maßnahme gemeinsam in Bietergemeinschaft mit der Dekra Akademie GmbH an einem gemeinsamen Standort durchgeführt. Sowohl die Möglichkeiten der praktischen Erprobung als auch die Netzwerke innerhalb der Dekra Akademie bieten den Teilnehmenden mehr Optionen für ihre beruflichen Perspektiven.

    Voraussetzungen für die Bewerbung und Durchführung sind die Trägerzertifizierung und die Maßnahmezulassung nach AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung). Das AZAV-Zulassungsverfahren für Träger und Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung soll die Qualität der Dienstleistungen nachhaltig verbessern sowie Vergleichbarkeit und Transparenz unter den Dienstleistern herstellen. Die Maßnahme wird jährlich extern auditiert.

    Aufbau des Programms

    „Chancen und Wege“ verfügt über 44 Teilnehmerplätze. Das Jobcenter schließt mit den Teilnehmenden eine Eingliederungsvereinbarung über die Teilnahme bei CuW und vereinbart eine gegenseitige Schweigepflichtsentbindung. Am Ende der Zuweisungsdauer erstellt die zuständige Sozialpädagogin einen Abschlussbericht über den Maßnameverlauf. Dies ist für den Fallmanager im Jobcenter hilfreich, damit weitere Handlungsschritte geplant werden können.

    Die Teilnehmenden werden in drei Gruppen aufgeteilt und erhalten zu Beginn der Maßnahme einen Wochenplan (s. Abb. 2). Jede Gruppe erscheint an drei Tagen pro Woche für insgesamt mindestens 15 Stunden. Davon finden an zwei Tagen Lernmodule zum Training sozialer Kompetenzen, Gesundheitsförderung und Bewerbungscoaching statt. Zudem begeben sich die Teilnehmenden selbstständig auf Stellensuche und aktualisieren ihre Bewerbungsunterlagen. Einmal pro Woche bereiten sie gemeinsam ein gesundes Frühstück zu. Am Praxistag werden vier Gewerke (Holz, Metall, Lagerlogistik und Handel) angeboten. Die Teilnehmenden werden dazu angeregt, gemeinsam als Gruppe Projekte zu planen und umzusetzen. So stellen sie kleine Möbel und Gegenstände für den Gemeinschaftsbereich sowie nützliche Utensilien für den Eigengebrauch her. Weitere Arbeitserprobungen erfolgen bei begleiteten Praktika in externen Betrieben. Die Qualifizierungsmodule im EDV-Bereich festigen bestehendes Wissen und vertiefen es, ein Zertifikat wird nach erfolgreicher Teilnahme ausgestellt.

    Abb. 2: Beispiel für einen Wochenplan

    Kooperation zwischen „Chancen und Wege“ und Fachambulanz

    Die Teilnehmenden werden individuell über Angebote der Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation des Caritasverbandes Osnabrück informiert. Die Vermittlung und Begleitung erfolgt über die zuständige Sozialpädagogin. So werden Berührungsängste verringert und Erstkontakte hergestellt. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen CuW und Fachambulanz gelingt oftmals ein erfolgversprechender Prozess für die Teilnehmenden. Viele werden im Verlauf der Maßnahme der Beratungsstelle zugeführt. Langfristig konnten Beratungs- und therapeutische Settings in der Fachambulanz bei gut einem Viertel der Teilnehmenden etabliert werden.

    Auch nach einer erfolgreich beendeten Rehabilitation hat sich die Kooperation zwischen Fachambulanz und CuW als effektiv erwiesen. Das bedeutet, auch Personen in der Adaption, der ambulanten Behandlung oder Nachsorge können an CuW teilnehmen, um die in der Rehabilitation erlernten Schritte im Alltag umzusetzen. Gerade hier sind Strukturen und berufliche Perspektiven wichtig, um langfristig konsumfrei zu leben. Die Grundlagen für eine dauerhafte Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft können über diesen Weg geschaffen werden. Abbildung 3 stellt die Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“ dar.

    Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“

    Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung

    Neben den persönlichen Einzelgesprächen und dem Jobcoaching ist die Teilnahme am SKOLL-Training möglich. Dies wird in regelmäßigen Abständen angeboten. Die Ergebnisse der Maßnahme lassen die Überzeugung zu, dass die Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung bei der Wiedereingliederung in den Erwerbsbezug zu erheblichen Verbesserungen führen kann. Mit SKOLL im Settingansatz kann hier ein effektiver Beitrag geleistet werden.

    Das SKOLL Training beinhaltet zehn Trainingseinheiten, in denen es um den verantwortungsbewussten Umgang mit dem Suchtmittel bei riskantem Konsumverhalten geht. Im Mittelpunkt der Arbeit steht weniger die Abstinenz als die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Ziel des Trainings ist es, den Konsum zu stabilisieren, zu reduzieren oder ganz einzustellen. Der Umgang mit Suchtdruck und sozialem Druck wird geübt, Stressbewältigung gelernt und ein Krisenplan erarbeitet. So werden Veränderungsprozesse bei riskant konsumierenden Menschen eingeleitet, und die Arbeitsfähigkeit wird wiederhergestellt.

    Diese vielfältigen Ansätze und Angebote werden gerne genutzt, die Teilnehmenden fühlen sich in der Regel durch die Maßnahme gut begleitet. Dies wird in regelmäßigen Abfragen zur Kundenzufriedenheit und durch den monatlichen Austausch mit den „Maßnahmepatinnen“ des Jobcenters deutlich.

    Die sozialpädagogische Begleitung

    Die sozialpädagogische Begleitung ist  das Herzstück der Maßnahme. Es finden regelmäßig Einzelgespräche statt, um die individuellen Vermittlungshemmnisse zu thematisieren und sie mithilfe von Zielvereinbarungen und durch Unterstützung zu verändern. In einem Aktivierungs- und Fortschrittsplan werden der Gesprächsverlauf und die Zielsetzungen für den Teilnehmer dokumentiert.

    Die Förderung der sozialintegrativen Aktivitäten nimmt einen hohen Stellenwert ein. Persönliche Kompetenzen wie Selbsteinschätzung und die Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit wie auch lebenspraktische Fertigkeiten wie Verlässlichkeit, Selbstorganisation und äußeres Erscheinungsbild sind wichtige Faktoren bei der Arbeitsplatzsuche. Die Teilnehmenden lernen, dem Tag wieder eine Struktur zu geben, sich für eine Sache oder ein Projekt zu begeistern. Soziale Kompetenzen, wie z. B. im Team zielorientiert zusammenzuarbeiten, Konflikte konstruktiv zu lösen und die Meinung des anderen zu respektieren, können entwickelt und vertieft werden. Teilnehmende bringen ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen und beruflichen Kenntnisse für ihr Team ein. Eine besondere Aktivierung und Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung wird über die „Kompetenzbilanz“, ein ressourcenaktivierendes Coachingverfahren, erzielt.

    Häufig werden bei Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblematik neben den substanz- und verhaltensbezogenen Auffälligkeiten weitere Vermittlungshemmnisse festgestellt wie geringe Sozialkompetenz, mangelhafte oder fehlende fachliche Qualifizierungen, fehlende Schulabschlüsse und Ausbildungen, wenig ausgebildete Grundfertigkeiten sowie eine fehlende Tagesstruktur. Weitere gesundheitliche Probleme wie Hepatitis oder Herz- und Kreislauferkrankungen, verbunden mit fehlender Krankheits- und Problemeinsicht, gehen häufig mit stark beeinträchtigtem Selbstwertgefühl und mangelnder Motivation einher. Aber auch eingeschränkte Mobilität durch den Verlust oder das Fehlen eines Führerscheins oder finanzielle Schwierigkeiten stellen für viele Personen der Zielgruppe große Hemmnisse dar.

    Weitere Eingliederungshemmnisse dieser Zielgruppe können auch eine unkontrollierte Substitutionsbehandlung und die Nichteinhaltung von Auflagen sein, Probleme in und mit der Familie wie frühe Elternschaft, Trennung und/oder Scheidung, Tod eines Familienangehörigen oder Partners, Gewalt in der Familie und Erziehungsschwierigkeiten. Kaum erlebte (positive) Erfahrungswerte auf dem ersten Arbeitsmarkt, verbunden mit mangelnder Kenntnis von Arbeitstugenden und Perspektivlosigkeit, kennzeichnen die Zielgruppe.

    Abbau von Hemmnissen erhöht Jobchancen

    Im Durchschnitt wurden im letzten Maßnahmejahr zehn Vermittlungshemmnisse bei den Teilnehmenden festgestellt. Die zügig in den ersten Arbeitsmarkt vermittelten Personen wiesen demgegenüber durchschnittlich nur 7,5 Hemmnisse auf. Aufgrund der Fallzahlen kann nicht von einer statistischen Signifikanz ausgegangen werden. Aber die Ergebnisse können als Hinweis interpretiert werden, dass der Abbau von Hemmnissen die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich erhöht.

    Eine erfolgreiche Vermittlung wurde durch die regelmäßige Ansprache von Arbeitgebern durch die Jobcoaches der DEKRA Akademie GmbH initiiert. Dabei werden die Vermittlungsprozesse selbst häufig durch vorausgehende Arbeitserprobungen eingeleitet. Mit den Teilnehmern, die in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, kann eine Nachbetreuungsvereinbarung geschlossen werden. Sie umfasst regelmäßige Gespräche über die Entwicklung am Arbeitsplatz sowie die persönliche Situation.

    Die enge Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Osnabrück, insbesondere den „Maßnahmepatinnen“ im Fallmanagement, mit den persönlichen Ansprechpartnern und den Mitarbeitenden im Arbeitgeberservice hat sich sehr bewährt. Die vielfältigen Kooperationen tragen zu einem guten Ergebnis zugunsten der Förderung der Teilnehmenden in der Maßnahme „Chancen und Wege“ stark bei.

    Fallbeispiel Herr Z

    Herr Z ist Teilnehmer der Maßnahme „Chancen und Wege“. In seiner Biographie spielte das Thema Alkohol schon seit der Kindheit eine Rolle. Er hat den Hauptschulabschluss gerade eben noch geschafft. Die Arbeitsbiographie ist geprägt von diversen Helfertätigkeiten und Gelegenheitsjobs. Zwischendurch kam es immer wieder zu Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgrund fehlender Motivation und einer Alkoholabhängigkeit. Neben den geringen beruflichen Kenntnissen bestehen aufgrund des langjährigen Alkoholkonsums gesundheitliche Beschwerden (kognitive Einschränkungen, Sensibilitätsstörungen im rechten Arm) und hohe Schulden. Weiterhin besteht die Gefahr einer sozialen Exklusion. Nach eigenen Angaben fällt es ihm schwer, außerhalb der Szene Kontakte zu knüpfen. Er ist mittleren Alters und möchte seine Rentenansprüche aufbessern. Es geht hier exemplarisch also um folgende Vermittlungshemmnisse:

    • Gesundheitliche Einschränkungen aufgrund einer Suchterkrankung
    • Hohe Schulden
    • Geringe berufliche Kenntnisse

    Herr Z ist motiviert und nimmt pünktlich und zuverlässig an der Maßnahme teil. Seine kognitiven Fähigkeiten sind ausbaufähig. Seine Konzentrations- und Merkfähigkeiten sind schwach ausgeprägt, und er wirkt schnell überfordert. Es ist schon längere Zeit her, dass er konzentriert Aufgaben bearbeiten sollte. Durch Gedächtnistraining, Lesen in der Gruppe und selbstständige Bearbeitung von Arbeitsblättern wird er angeregt, diese Fähigkeiten zu trainieren.

    Im Verlauf der nächsten Wochen wird mit Herrn Z der Aktivierungs- und Integrationsfortschrittsplan erstellt. Hier werden die verschiedenen Lebensbereiche wie Gesundheit, soziales Netzwerk, Arbeit und Ausbildung, Finanzen und Wohnung besprochen. Auch ist es wichtig zu erfassen, ob bereits Unterstützung und Netzwerke an anderer Stelle bestehen (Kontakt zur Suchtberatung, Selbsthilfegruppe, ambulante Assistenz etc.). Gemeinsam verschaffen sich die Sozialpädagogin und Herr Z einen Überblick zu Unterstützungsbedarf und vorhandenen Kompetenzen.

    Mit Herrn Z werden Förderschritte und Ziele vereinbart und schriftlich in seinem Aktivierungs- und Integrationsfortschrittplan festgehalten. Diese müssen für ihn erreichbar, konkret und transparent sein. Außerdem wird verabredet, welche Handlungsschritte vorrangig sind. Es geht also um:

    • Abklärung somatischer Beschwerden
    • Gesundheitliche Stabilisierung
    • Förderung kognitiver Fähigkeiten
    • Sortieren und Vorbereiten seiner Unterlagen für einen Termin bei der Schuldnerberatung
    • Emotionale Entlastung
    • Klärung beruflicher Perspektiven
    • Durchführung einer Arbeitserprobung
    • Steigerung der Leistungsfähigkeit
    • Sinnvolle Freizeitgestaltung
    • Aufbau eines stabilen Netzwerkes

    In den kommenden Wochen geht es um die Erweiterung seiner Kompetenzen und die Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse.

    Herr Z berichtet, dass für ihn die hohen Schulden eine große Belastung darstellen. Ständig erhält er Post von Inkassounternehmen und Rechtsanwälten. Dies führt zu Stress, den er mit Alkohol kompensiert, um seine Probleme zu verdrängen. Da es unter Alkoholeinfluss bereits zu peinlichen Situationen in der Öffentlichkeit kam, hat er sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen. Mittlerweile hat er nur noch zwei Bekannte, die ebenfalls suchterkrankt sind. Außerdem berichtet er, dass sein letzter Arztbesuch einige Jahre her ist, da er befürchtet, dass sich seine Leberwerte verschlechtert haben. Hinzu kommen häufige Magenbeschwerden.

    Im Rahmen der Einzelgespräche werden nun folgende Handlungsschritte erarbeitet:

    1) Herr Z wird umfassend über die Angebote der Fachambulanz des Caritasverbandes aufgeklärt. Nach mehreren Gesprächen mit der Sozialpädagogin lässt er sich darauf ein, in der Suchtberatung einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren, um über sein Konsummuster zu sprechen und weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu klären. Herrn Z ist dieser Schritt sehr unangenehm, da er bereits im Suchthilfesystem bekannt ist. Er schämt sich für die Rückfälligkeit und dafür, dass er in der Beratung erneut Hilfe suchen muss.

    2) Gelegentlich kommt es innerhalb der Maßnahme zu Fehlzeiten. Herr Z meldet sich öfter wegen Magenbeschwerden ab. Auch dies wird in den Einzelgesprächen thematisiert. Herr Z war schon seit Jahren nicht beim Hausarzt. Er hat die Befürchtung, dass etwas mit seinem Magen nicht in Ordnung ist und sich seine Leberwerte weiter verschlechtert haben. Diese Ängste werden ausführlich mit der Sozialpädagogin besprochen. Nach mehreren Gesprächen sieht Herr Z ein, dass mit den jetzigen Magenbeschwerden und den daraus resultierenden Fehlzeiten keine beruflichen Perspektiven entwickelt werden können.

    Es wird vereinbart, dass Herr Z in Begleitung der Sozialpädagogin seinen Hausarzt aufsucht. Es stellt sich heraus, dass Herr Z ein Magengeschwür hat, das gut behandelt werden kann. Seine Leberwerte sind erhöht, jedoch noch nicht besorgniserregend. Der Hausarzt empfiehlt ebenfalls eine Kontaktaufnahme zur Suchtberatung und eine abstinente Lebensweise. Außerdem sollte Herr Z alle sechs Monate einen Gesundheitscheck machen, um Veränderungen frühzeitig festzustellen.

    Nach einer mehrwöchigen Medikamenteneinnahme gegen das Magengeschwür fühlt sich Herr Z viel besser. Auch ist er viel gelöster und freudiger, da sich seine Befürchtungen nicht bestätigten. Er fühlte sich entgegen seinen Erwartungen bei dem Arzt gut aufgehoben und ernstgenommen, sodass er sich nun regelmäßige Arztbesuche vorstellen kann.

    Die Suchterkrankung bzw. Leberwerte bleiben weiterhin ein Thema,  Herr Z kann sich mittlerweile auf das Angebot der Suchtberatung einlassen.

    3) Die Schuldenproblematik besteht schon seit Jahren. Herr Z hat den Überblick verloren. Es wird eine Schufaauskunft beantragt. Außerdem bringt Herr Z alle Unterlagen mit, die er finden konnte. An zwei Nachmittagen werden seine Papiere nach Gläubigern und Datum sortiert. Bereits jetzt wirkt Herr Z erleichtert, da er mit den Unterlagen nicht mehr alleine dasteht. Herr Z wird über verschiedene Möglichkeiten wie Vergleichszahlungen und das Verbraucherinsolvenzverfahren informiert. Um fachliche Unterstützung zu erhalten, wird ein Termin in der Schuldnerberatung vereinbart. Herr Z fühlt sich durch die Vorsortierung seiner Unterlagen gut vorbereitet und nimmt den Gesprächstermin alleine wahr.

    4) Herr Z hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. In den Einzelgesprächen mit dem Jobcoach werden Fähigkeiten, Stärken und berufliche Kenntnisse erfragt. Herr Z gibt an, dass er Erfahrungen als Helfer in den Bereichen Garten und Landschaftsbau, in der Produktion und im Lagerbereich hat.

    Parallel tauscht sich der Jobcoach mit dem praktischen Anleiter aus, um auch über die Entwicklungen aus den hausinternen Praxisprojekten informiert zu sein. Aufgrund kognitiver Einschränkungen ist es wichtig, dass nach beruflichen Perspektiven geschaut wird, in denen es um einfache und sich wiederholende Abläufe geht. Weiterhin ist die Sensibilitätsstörung im rechten Arm zu berücksichtigen. Er kann diesen nicht schwer belasten und hat gelegentlich Taubheitsgefühle.

    Am Praxistag der Maßnahme ist Herr Z im Holzbereich tätig. Hier wird darauf geachtet, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen keine schweren Maschinen bedient. Er hat sich für ein Gemeinschaftsprojekt mit einem anderen Teilnehmer entschieden. Sie bauen eine Garderobe für den Gruppenraum. Herr Z übernimmt die Planung (Form, Farbe) und welches Material benötigt wird. Außerdem übernimmt er leichte Schleifarbeiten, die er mit großer Sorgfalt ausführt. Der andere Teilnehmer ist für die Umsetzung (Sägen, Leimen, Schrauben, etc.) zuständig. Hier zeigt sich, dass Herr Z besonders gut im Team arbeiten kann. Er hält sich an Absprachen und ist kompromissbereit.

    Im Verlauf der Maßnahme macht Herr Z eine positive Entwicklung durch. Nachdem er sich gesundheitlich stabilisieren konnte (regelmäßige Arztbesuche) nimmt er weiterhin Gespräche in der Suchtberatung wahr. Parallel geht er wöchentlich zur Orientierungsgruppe Alkohol. Diese wird ebenfalls von der Suchtberatung angeboten. Außerdem hat er sich über das Angebot verschiedener Selbsthilfegruppen informiert. Diese thematisieren nicht nur die Suchtproblematik sondern auch das Freizeitverhalten. Nach der Kontaktaufnahme zur Schuldnerberatung werden weitere Schritte für das Verbraucherinsolvenzverfahren eingeleitet. Die Selbstorganisation seiner Unterlagen behält Herr Z bei. Der Jobcoach arbeitet mit Herrn Z an seiner beruflichen Perspektive. Zunächst wird er ein weiteres Praktikum absolvieren, um positive Referenzen für seine Bewerbungsunterlagen zu sammeln. Auch gab es Gespräche mit dem zuständigen Fallmanager vom Jobcenter Osnabrück, um Fördermöglichkeiten abzuklären.

    Kontakt und Angaben zu den Autorinnen:

    Monika Schnellhammer
    Geschäftsführerin des Caritasverbandes für die Stadt und den Landkreis Osnabrück
    MoSchnellhammer@caritas-os.de

    Clarissa Abromeit
    Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., Koordinatorin der Maßnahme „Chancen und Wege“
    CAbromeit@caritas-os.de

  • Wo stehen die Beratungsstellen?

    Wo stehen die Beratungsstellen?

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Eine gesellschaftspolitisch bewegte Zeit, wie wir sie derzeit erleben, ist stark geprägt von Fragen zur gesellschaftlichen Solidarität und von Erschütterungen des gesellschaftlichen Konsenses – wer hat wie viel an wen zu leisten, wer hat Anspruch auf welche Leistungen und zu welchen Bedingungen? Dabei geht es manchen politischen Kräften und gesellschaftlichen Akteuren seit der so genannten Agenda 2010 um nicht weniger als den Umbau des Sozialstaates. Es geht um Fragen, wie viel Sozialstaat erforderlich und nötig ist und wer welche Steuerungsfunktion darin übernimmt, beispielsweise beim Arbeitslosengeld II im SGB II oder im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Rolle und Stellung der ambulanten regionalen Suchthilfe, die in unterschiedliche Abhängigkeiten und Beziehungsnetzwerke auf kommunaler wie überregionaler, auf nationaler wie internationaler Ebene eingebunden ist, deren Handeln sich auf regionaler Ebene aber zunehmend an unterschiedlichen Lösungen orientiert.

    Der folgende Blick auf die ambulante Suchthilfe versteht sich als Diskussionsbeitrag zu ihrem besonderen Stellenwert, den sie für die soziale Gemeinschaft oder vielleicht treffender für die Zivilgesellschaft einnimmt bzw. einnehmen kann. Einige Thesen zu Beginn sollen die weiteren Ausführungen thematisch umreißen und strukturieren:

    • Die ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit im umfassenden und besten Sinne.
    • Ihr Leistungsspektrum für Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und auch für die soziale Gemeinschaft ist umfassender und dessen Wirksamkeit höher, als üblich nach außen ersichtlich wird.
    • Die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung haben sich auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies zukünftig noch mehr tun.
    • Die ambulante Suchthilfe erbringt Leistungen, die andere in dieser Form nicht erbringen können – weder niedergelassene Therapeuten noch private Anbieter.
    • Wenn die ambulante Suchthilfe ihr Leistungsspektrum für suchtkranke und suchtgefährdete Menschen und die soziale Gemeinschaft auch weiterhin erhalten will, muss sie sich in der Form ihrer Leistungserbringung „bewegen“ und ihr Profil schärfen.

    Sozialrechtlicher Rahmen und Auftragsgestaltung

    Um die Rolle und Aufgaben der ambulanten regionalen Suchthilfe im Gesamtzusammenhang zu verstehen, ist es wichtig, zunächst ihren sozialrechtlichen Rahmen und die Auftragsgestaltung zu skizzieren. Dieser Rahmen ist für die ambulante regionale Suchthilfe wesentlich durch fünf Bereiche geprägt:

    1. Sozialstaatsprinzip und kommunale Daseinsvorsorge

    Die Grundlage der Finanzierung in der ambulanten Suchthilfe, von einzelnen Teilleistungen wie der ambulanten Rehabilitation Sucht abgesehen, fußt auf der kommunalen Daseinsvorsorge, die verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG verankert und in den Gemeindeordnungen der Bundesländer konkretisiert ist. Im heutigen Verständnis ist sie zu einem Synonym für die Schaffung einer kommunalen Infrastruktur geworden, die für ihre Einwohner die erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereitstellt. Die kommunale Daseinsvorsorge ist eine weitgehend freiwillige, nicht einklagbare Leistung. Aktuell steht sie unter Liberalisierungsdruck, bedingt durch das Europäische Wettbewerbsrecht und daraus folgender Überlegungen zur Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben.

    2. Subsidiaritätsprinzip

    Eng verknüpft mit dem Sozialstaatsprinzip und der Daseinsvorsorge sowie den damit verbundenen staatlichen Fürsorgeleistungen ist das Prinzip der Subsidiarität. Damit ist vereinfacht die Idee gemeint, dass gesellschaftliche Eigenverantwortung und Autonomie Vorrang vor staatlichem Handeln haben. In Bezug auf die Erbringung von Fürsorgeleistungen bedeutet dies, dass (staatliche) Aufgaben soweit als möglich von unteren Ebenen (z. B. Länder, Städte, Kommunen) bzw. kleineren Einheiten ausgeführt werden. Diesem Prinzip unterliegt auch das Verhältnis zwischen den öffentlichen Trägern (Bund, Länder, Gemeinden) und den freien Trägern (freie Wohlfahrtspflege) von Fürsorgeleistungen. Dies bedeutet zwar einen Vorrang für die freie Wohlfahrtspflege bzw. einen Nachrang öffentlicher Träger und Einrichtungen, aber es gab und gibt immer wieder Richtungsstreitigkeiten um die damit verbundene Einschränkung kommunaler Selbstverwaltung und den Erhalt der sozialpolitischen Position der freien, vor allem der konfessionellen Wohlfahrtspflege. Wir erleben heute eine Diskussion um die so genannte „neue Subsidiarität“, die weit über die einfache Formel von Vor- und Nachrang hinausgeht. Sie bewegt sich mehr im Spannungsfeld von Steuerungsmechanismen, einer relativen Autonomie der handelnden Akteure und den jeweiligen Eigengesetzlichkeiten in den entsprechenden Hilfefeldern. Das leitet automatisch zur Frage der kommunalen Steuerung über.

    3. Kommunale Steuerung

    Die kommunale Steuerung erhält durch Einsparmaßnahmen bei sozialen Leistungen der öffentlichen Hand, durch die damit verbundenen neuen Verteilungsszenarien und durch den Prozess der Kommunalisierung eine neue Qualität. Diese „neue“ Zuweisung von Gestaltungsverantwortung stellt viele Kommunen vor ungewohnte fachspezifische Herausforderungen. Darin steckt gleichermaßen Chance und Verpflichtung für die ambulante Suchthilfe. Dadurch nämlich, dass sie sich als unverzichtbarer Partner in der Gestaltung der sozialen Gegebenheiten vor Ort und somit der sozialen Gemeinschaft vor Ort versteht.

    4. Soziale Leistungsgesetze

    Die Rahmenbedingungen ambulanter Leistungen der Suchthilfe werden komplettiert durch die sozialen Leistungsgesetze. Die Krankheit Sucht als ein sehr komplexes Geschehen berührt vor dem Hintergrund ihres biopsychosozialen Erklärungsmodells eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsgesetze des Sozialgesetzbuches. Im Einzelfall ist es erforderlich, die unterschiedlichen Leistungen bedarfsgerecht zu kombinieren, was nicht immer möglich bzw. häufig problematisch ist. Als Beispiel seien hier Maßnahmen für Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Suchthilfe oder die Betreuung substituierter schwangerer Frauen genannt.

    5. Soziale und gesellschaftliche Teilhabe

    Eine wesentliche Grundlage bzw. auch ein Auftrag für die Gestaltung der ambulanten Suchthilfe im Gemeinwesen ergibt sich über das Konzept der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff der „Teilhabe“ zu einem „Leitkonzept der wissenschaftlichen und politischen Verständigung über die Zukunft des deutschen Sozialmodells“ (Bartelheimer, 2007) entwickelt. Teilhabemodelle gehen davon aus, dass materielle Ressourcen und Rechtsansprüche unverzichtbare Voraussetzungen für die Menschen sind, um sich angemessen innerhalb ihrer Gesellschaft zu bewegen. Dies zu realisieren, also Verwirklichungschancen wahrzunehmen, verlangt zum einen persönliche Fähigkeiten, zum anderen bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen wie Normen oder Infrastruktur. Das Ziel sozialstaatlicher Handlungen besteht demnach darin, die Ungleichheiten bei den Verwirklichungschancen zu reduzieren und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. In der ambulanten Suchthilfe wäre dann zu prüfen, was sie dazu beitragen kann, dass mehr betroffene Menschen oder bestimmte Gruppierungen die Chance zur Teilhabe am „Gut“ der ambulanten Suchthilfe erhalten.

    Ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit

    Derzeit gibt es in Deutschland ca. 1.300 ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, die jährlich ca. 500.000 suchtkranke oder von Sucht betroffene Menschen erreichen (Jahrbuch Sucht 2013). Die Zahl der Hilfesuchenden hat in der ambulanten Suchthilfe in den letzten Jahren um ca. acht Prozent zugenommen (Deutsche Suchthilfestatistik 2008 bis 2012). Nach Einschätzungen der Beratungsstellen haben die Personalressourcen jedoch in Relation zu den gestiegenen Leistungsanforderungen eher abgenommen.

    Rolle und Selbstverständnis der ambulanten Suchthilfe

    Für Personen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen sowie deren Angehörige sind die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die zentralen Fachstellen in einem regionalen Hilfesystem und innerhalb eines regionalen Suchthilfeverbundes. Sie stellen für die Hilfesuchenden wie für die Kommune die Umsetzung der Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge im Sinne von Kernleistungen einer regionalen Grundversorgung sicher. Damit ist auch der weitere Zugang zu sozialrechtlich normierten Leistungen wie Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation verbunden.

    Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe

    Vergegenwärtigen wir uns das Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe – von spezifischer Präventionsarbeit, Risikominimierung und aufsuchenden Hilfen über Beratung, Begleitung und Betreuung, Behandlung und Rehabilitation bis zu Integrationshilfen, Selbsthilfeunterstützung und Netzwerkarbeit in versorgungsübergreifenden Kooperationsstrukturen – so wird deutlich: Die komplexe Leistungserbringung der ambulanten Suchthilfe ist psychosoziale Suchthilfe und in weiten Bereichen Soziale Arbeit. Im Zusammenspiel sozialer Fragestellungen und sozialer Hilfeleistungen mit Kenntnissen in Beratungsmethoden und psychotherapeutischer Einzel- und Gruppenarbeit, die zusätzlich Ansätze des Empowerments, suchtspezifisches Case Management sowie Ansätze der Lebens- bzw. Sozialraumorientierung und Quartiersarbeit integriert, findet Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe gelebte Wirklichkeit.

    Wie und wo sollten Menschen, die in die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe kommen, sonst eine umfassende und bedarfsgerechte Hilfe erhalten? Menschen, die Suchtprobleme haben, aber gleichzeitig arbeitslos und verschuldet sind, deren Partnerbeziehung auf der Kippe steht, deren Gesundheit angeschlagen ist, die sich in einer Sinnkrise befinden und sich insgesamt ohne Perspektive fühlen. Der psychosoziale Hilfeansatz der ambulanten Suchthilfe will Menschen „dort abholen“, wo sie stehen. Dazu hält die ambulante Suchthilfe Einiges bereit:

    • ein Verständnis von Empowerment, das die Selbsthilfekräfte und Selbstbestimmung der Betroffenen fördert,
    • einzelfallbezogene Hilfen zur Beratung, zur psychosozialen Begleitung bei Substitution wie auch zur existentiellen materiellen Absicherung,
    • fallbezogenes Case Management zur optimalen Kombination unterschiedlicher Hilfen und Hilfebereiche, z. B. der Suchthilfe mit der Schuldnerberatung, mit der Kinder- und Jugendhilfe oder mit der regionalen Hilfeplanung,
    • das Einbeziehen gemeinwesenorientierter Ansätze, die sich heute unter Begriffen wie Lebens- bzw. Sozialraumorientierung oder auch Quartiersarbeit finden und zum Ziel haben, Menschen in ihrem persönlichen Lebensumfeld zu erreichen und ggf. auch Einfluss auf dieses Lebensumfeld zu nehmen,
    • die Integration neuer Konzepte wie Motivierende Gesprächsführung oder Community Reinforcement Approach (CRA).

    Dies sind Interventionen und Hilfestrategien, die letztlich alle darauf abzielen, immer mehr Menschen mit riskantem oder abhängigem Suchtmittelkonsum frühzeitig und bedarfsgerecht zu helfen.

    Ambulante Suchthilfe und soziale Gemeinschaft (Zivilgesellschaft)

    Über die bloße Tatsache hinaus, dass die ambulante Suchthilfe Anlaufstelle für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit spezifischen Problemen ist, besitzt sie einen (Mehr-)Wert für die soziale Gemeinschaft. Ambulante Suchthilfe versteht sich als Teil der regionalen Gesundheitsvorsorge. In diesem Rahmen bemisst sich ihr Wert aus der Summe ihres unmittelbaren Nutzens für betroffene Menschen und deren Angehörige und ihres mittelbaren Nutzens für die soziale Gemeinschaft. Diesen mittelbaren Nutzen erreicht sie auf vielfältige Weise:

    • Öffentlichkeitsfunktion: Als Anwältin der Betroffenen weist sie auf die Lebensbedingungen suchtkranker Menschen öffentlich hin. Diese öffentliche Thematisierung verhindert, dass die besonderen Problem- und Lebenslagen der betroffenen Menschen einseitig individuell begründet und damit stigmatisiert und tabuisiert werden. Dagegen werden sie als zwar persönlich, aber auch gesellschaftlich und sozial bedingte Prozesse dargestellt. Die ambulante Suchthilfe schafft damit eine wesentliche Grundlage für die Integration suchtkranker Menschen. Denn Integration oder Inklusion erfolgt nicht über die professionellen Helfer, sondern über die Mitmenschen, die Mitbürger, die lernen, Suchterkrankungen zu verstehen und die Betroffenen nicht (mehr) auszugrenzen.
    • Signalfunktion: Die ambulante Suchthilfe ist ein Seismograph für soziale Entwicklungen. Aufgrund ihrer täglichen Arbeit mit suchtkranken Menschen in deren spezifischen Lebensbezügen nimmt sie soziale Entwicklungen frühzeitig wahr. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur auf die Lebensbedingungen der ihr anvertrauten Menschen hinzuweisen, sondern z. B. auch auf Auswirkungen und Konsequenzen, die bestimmte Gesetzesvorhaben und Gesetzeslagen hätten oder haben. Indem sie auf bestimmte Verhältnisse und Entwicklungen aufmerksam macht und sich so in die politische und gesellschaftliche Debatte einmischt, besitzt sie wichtige Signalfunktion bezogen auf die gesellschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen.
    • Gesellschaftliche und soziale Teilhabe: Ambulante Suchthilfe leistet einen Beitrag zur gesellschaftlichen und sozialen Teilhabe. Suchtprobleme, die nicht frühzeitig erkannt werden oder die nicht oder nicht ausreichend behandelt werden können, führen zur Exklusion, zur gesellschaftlichen wie sozialen Ausgrenzung. Gerade der umfassende Ansatz der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist Garant dafür, dass neben der unmittelbaren Behandlung der Erkrankung auf medizinischer und psychotherapeutischer Basis auch die Lösung anderer damit verbundener Problemlagen in den Blick kommt, egal ob es sich dabei um materielle Hilfen, die Förderung tragfähiger sozialer Netzwerke, den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt oder die Verwirklichung von Rechtsansprüchen handelt.
    • Gesellschaftliche Solidarität: Soziale Arbeit trägt maßgeblich zur gesellschaftlichen Solidarität, also zum Zusammenhalt einer Gesellschaft und deren positiver Weiterentwicklung bei. Der Umgang mit Suchtmitteln, der nicht reglementiert ist, Wirkungen und Konsequenzen von Suchtmitteln, über die nicht oder nicht ausreichend aufgeklärt wird, ein fehlendes oder unzulängliches Hilfe- und Versorgungssystem sind eine Gefahr für die soziale Gemeinschaft. Ambulante regionale Suchthilfe wirkt dem entgegen, indem sie sich vorbeugend mit dem adäquaten Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln und mit der Behandlung akuter Suchtprobleme befasst. Dadurch besitzt sie einen hohen kollektiven Nutzen.
    • Soziale Sicherung und soziale Befriedung: Letztlich leistet die ambulante Suchthilfe einen Beitrag zur sozialen Sicherung und zur sozialen Befriedung in der Kommune, indem sie für regionale und spezifische Probleme Lösungsansätze mit entwickelt. Dies kann auf ordnungspolitischer Ebene in Zusammenarbeit mit der Politik und den Sicherungsorganen vor Ort erfolgen, beispielweise zur Entschärfung negativer Konsequenzen lokaler Drogenszenen. Die Suchthilfe kann aber auch zum sozialverträglichen Umgang mit Alkohol in der Öffentlichkeit beitragen, beispielsweise über Angebote zu einer Fest- und Feierkultur, die den Genuss legaler Suchtmittel nicht ausschließen, aber Formen finden, die Konsum- und Gewaltexzesse vermeiden.

     Aktuelle Herausforderungen

    Die oben beschriebene Rolle der ambulanten Suchthilfe und ihr Selbstverständnis werfen aber auch Fragen auf: Hat die ambulante Suchtberatung weiterhin den Willen und die Ressourcen, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen? Sieht sie sich zunehmend in „Konkurrenz“ zu den psychiatrischen Versorgungsstrukturen und zu niedergelassenen Therapeuten/-innen, oder gelingt es ihr, darin Kooperations-Chancen zu entdecken und diese im Sinne einer Optimierung der Versorgungslandschaft für die Hilfesuchenden zu nutzen?

    Wie zuvor beschrieben, haben sich die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung für ambulante Hilfen auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies auch weiterhin tun. Die ambulante Suchthilfe stellt Leistungen für Menschen in einem Gemeinwesen zur Verfügung und steht deswegen unter der permanenten Prämisse, sich in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess den gesellschaftlichen Entwicklungen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie veränderten Erwartungen von Seiten der Politik, der Leistungsträger und der Hilfesuchenden anzupassen. Daraus ergeben sich zentrale aktuelle Herausforderungen:

    Unter der Prämisse der Ökonomisierung ambulanter Hilfen, aber auch aufgrund veränderter Bedarfe der Hilfesuchenden und neuer fachlicher Kenntnisse, haben sich das Leistungsangebot wie auch die Leistungserbringung stark gewandelt. Die Modularisierung der Hilfen und Angebote hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, d. h. es werden zunehmend bedarfsorientierte und passgenaue Hilfen, Interventionen und Maßnahmen für spezifizierte Klientengruppen angeboten. Hierdurch können die Hilfen effektiver und effizienter angeboten werden. Aufsuchende Hilfen, z. B. in Haftanstalten, Betrieben oder Krankenhäusern, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Über Maßnahmen der Früherkennung und Frühintervention werden Klienten/-innen früher erreicht, und es werden auch andere Klientengruppen erreicht. Ansätze der Lebenslagen- bzw. Sozialraumorientierung kommen vermehrt in den Blick.

    Das alles wirkt sich auch auf das erforderliche Handlungswissen der Berater/innen aus. Sie werden immer stärker von Spezialisten zu Generalisten. Die Mitarbeiter/-innen ambulanter Beratungsstellen verstehen sich heute als multidisziplinäre Teams in Netzwerkarbeit und mit Case-Management-Orientierung. Gleichzeitig bestehen hohe Ansprüche an Effektivität und Effizienz vor dem Hintergrund einer hohen Qualitätsorientierung.

    Die skizzierte (positive) Entwicklung darf aber nicht von der Kehrseite der Medaille ablenken. Eine bedarfsorientierte Leistungserbringung, die ökonomisch sinnvoll und qualitativ hochwertig ist, erhöht den administrativen Aufwand und bringt zwangläufig fachlich und personell anspruchsvolle Leitungs- und Steuerungsaufgaben mit sich. Durch die stärkere Differenzierung und Ökonomisierung der ambulanten Hilfen nimmt in den Beratungsstellen die unmittelbare Beratungs- und Betreuungszeit für den einzelnen Klienten ab, und die Verdichtungen in den Arbeitsbezügen nehmen deutlich zu. Das für die ambulanten Hilfen zentrale Moment der Beziehungsgestaltung und der Bindungsarbeit verändert sich. Berater/-innen weisen deutlich darauf hin, dass die Gesprächs- und Betreuungszeiten für ihre Klientel spürbar abgenommen haben. Bei gleichbleibenden personellen Ressourcen stellt sich durchaus die berechtigte Frage, ob und wie der hohe Anspruch an das Qualitätsniveau ambulanter Leistungen aufrechterhalten werden kann. Schon jetzt signalisieren Beratungsstellen, dass das Qualitätsniveau in den einzelnen Angeboten variiert. Durch passgenaue und zielführende Angebote kann das Leistungsniveau für bestimmte Klientengruppen erhöht werden, während es an anderer Stelle, bedingt durch die nicht gleichzeitig angepassten Ressourcen, wiederum abnimmt. Auf einen Nenner gebracht, befürchten Berater/-innen einen Rückgang der Nachhaltigkeit der Leistungen, was sich beispielweise in den Halte- und Rückfallquoten niederschlägt.

    Die ambulante Suchthilfe ist überwiegend pauschal finanziert auf den Säulen von Eigenmitteln, staatlichen Zuschüssen, Refinanzierungen/Erwirtschaftungen und Projektfinanzierungen. Die kostendeckende Finanzierung der Leistungen und Angebote der ambulanten Suchthilfe ist in den letzten Jahren deutlich schwieriger geworden. Öffentliche Mittel sind rückläufig und stehen unter Einsparvorbehalt. Die Leistungsvergütung hat sich für die Leistungserbringer tendenziell verschlechtert. Gleichzeitig nimmt der Druck in den Einrichtungen zur Eigenwirtschaftlichkeit zu. Tendenziell nimmt der pauschal finanzierte Anteil im Budget der Beratungsstellen ab. Ziel einer auskömmlichen Finanzierung ist eine grundsätzliche Kostendeckung, es ist aber auch zu vermeiden, dass die pauschale Finanzierung der Grundversorgung in den Kommunen mit spezifischen Leistungsangeboten konkurriert bzw. verrechnet wird.

    Perspektiven der ambulanten Suchthilfe

    Hat die ambulante Suchthilfe auch weiterhin das Ziel, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit in einer Region oder Kommune zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen, dann sind – verbunden mit den eben skizzierten Herausforderungen – folgende Aspekte für eine Perspektive wesentlich:

    Suchtberatung ist allen zugänglich und hilft frühzeitig, sie ist teilhabe- und sozialraumorientiert

    Wie im Sinne einer Präambel muss im Grundverständnis der Daseinsvorsorge der Kommunen verankert sein, dass Suchtberatung allen Bürgern/-innen voraussetzungslos zugänglich sein muss. Niemand wird wegen seiner Herkunft, seiner Lebensumstände oder mangelnder Kaufkraft ausgeschlossen. Professor Matthias Möhring-Hesse von der Hochschule Vechta geht so weit, bei der Sozialen Arbeit von einem „öffentlichen Gut“ zu sprechen, von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen sein darf. Ein Angebot nach diesem Verständnis muss per se niedrigschwellig sein. Mit dem Ziel erhöhter Erfolgschancen wie auch im Sinne von Ressourcenschutz hat die Suchtberatung den Anspruch, möglichst frühzeitige Hilfe zu leisten. Das gilt auch für eher „schwer erreichbare“ Zielgruppen, bei denen die ambulante Suchthilfe mit einem rein nachfrageorientierten Verständnis im Sinne der „Komm-Struktur“ an ihre Grenzen stößt. Das erfordert ein Umdenken im methodischen Zugang der ambulanten Suchthilfe. Ansätze aufsuchender Hilfen werden ausgeweitet. Angebote und Maßnahmen werden zunehmend im Verständnis von Sozialraumorientierung entwickelt und erbracht.

    Die Schärfung des eigenen Profils beginnt bei der Diagnostik

    Die Bedarfe der Hilfesuchenden werden immer vielschichtiger. Das hat Auswirkungen auf die Anforderungen an die Diagnostik und Psychodiagnostik in der ambulanten Suchthilfe, die diese Vielschichtigkeit der Lebenslagen erkennen und erfassen muss. Daraufhin ergeben sich Anforderungen an ein modulbezogenes und bedarfsgerechtes Hilfeangebot und insbesondere an ein gestuftes Hilfeangebot, das im Sinne von stepped care und Ressourcenorientierung angemessene und aufeinander aufbauende Maßnahmen der Beratung, Begleitung und Behandlung bereithält. Das handlungsleitende Prinzip dabei ist: „So viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich“ – statt „Viel für wenige“ eher „Etwas für viele“. Eine solche Differenzierung des Leistungsprofils unterscheidet Kernleistungen (Grundversorgung), spezifische Leistungen für die jeweilige Kommune (Pflicht) und von der ambulanten Suchthilfe zusätzlich angebotene Leistungen (Kür). Die ambulante Suchthilfe benötigt zukünftig mehr fachliche und personelle Ressourcen für managementorientierte Aufgaben. Nicht zu Lasten der Beratung und Betreuung, aber ergänzend, damit die Verschiebung in der Arbeit zu Koordinierung, Vernetzung, Wirkungsorientierung und Ökonomie besser gelingt.

    Verbünde haben Konjunktur – gemeinsam sind wir besser

    Aufgrund der steigenden fachlichen und versorgungsorientierten Anforderungen werden strategische Überlegungen zur Verbundorientierung an Bedeutung gewinnen – je nach den jeweiligen regionalen und kommunalen Erfordernissen. In eine kommunale oder regionale Suchthilfeplanung, die sich eine bedarfsorientierte Grundversorgung im Sinne einer öffentlichen Gesundheitsversorgung zum Ziel gesetzt hat, müssen die vielfältigen Netzwerke eingebunden sein. An dieser Stelle kann und muss die ambulante Suchthilfe eine zentrale koordinierende und flankierende Rolle spielen.

    Auf den Schnittstellen liegt das Augenmerk der Zukunft

    Komplexe Problemlagen benötigen in der Regel komplexe Lösungen. Das ist eine Binsenweisheit. Viele Problemlagen, mit denen die Suchthilfe konfrontiert ist, lassen sich alleine aus der Suchthilfe heraus nicht lösen, sondern nur in sinnvoller Kooperation mit anderen Akteuren innerhalb einer integrierenden Versorgungslandschaft. Die eigentliche Weiterentwicklung im Sinne verbesserter Hilfen und Angebote für betroffene Menschen liegt in einer optimierten und intensivierten Schnittstellenarbeit. Das bindet fachliche wie personelle Ressourcen und kann nicht mal schnell nebenher erledigt werden. Erforderlich ist: Voraussetzungen zu schaffen, um diese eigenständige Fachlichkeit des Schnittstellenmanagements erbringen zu können.

    Wirkungsorientierung ist der Boden, auf dem wir stehen

    Die konsequente Darstellung von Wirkzusammenhängen wird an Bedeutung gewinnen. Dies ist erforderlich für die fachliche Weiterentwicklung, für die Transparenz der Arbeit, für den gezielten Einsatz von Ressourcen und damit für die Rechtfertigung des Handelns in der ambulanten Suchthilfe – letztlich auch in einem fast moralisch zu verstehenden Sinn: Hilfesuchende Menschen in der ambulanten Suchthilfe haben ein Recht auf wirkungsvolle Hilfen. Das deutlich zu machen, konsequenter und intensiver darzustellen – gegenüber den Geldgebern aus der öffentlichen Hand und der Sozialversicherung, der Politik wie auch in die Öffentlichkeit hinein – ist eine vordringliche Aufgabe der ambulanten Suchthilfe.

    Der Blick auf die Ökonomie macht ehrlicher

    Ähnliches gilt für den unmittelbaren Zusammenhang von Kosten und Nutzen. Dabei darf der Blick auf die Ökonomie nicht alles sein, darf nicht zum vorherrschenden Maßstab des Handelns werden. Aber der Blick auf Ökonomie macht ehrlicher. Eine langfristige ökonomische Sicht ist abzugrenzen von kurzfristigen Kosteneinsparansätzen, bei denen es nur darum geht, monetär festzustellen, wer welche Leistung am billigsten anbieten kann. Ökonomie langfristig verstanden bedeutet, öffentlich darzustellen, dass wirtschaftliche Erfordernisse nicht zu trennen sind von Wirkungszusammenhängen, von der Nachhaltigkeit in der Leistungserbringung, vom unmittelbaren Nutzen der Leistungen für die Betroffenen und vom mittelbaren Nutzen für die soziale Gemeinschaft. Ökonomie so verstanden ist ein deutliches Argument gegen die allein subjektbezogene Finanzierung auf der Grundlage von Einzelverträgen und Leistungsvereinbarungen und für eine langfristige ökonomische Gestaltung der Hilfen. Und sie ist ein gewichtiges Argument für den Aufbau einer langfristigen Sozialpartnerschaft zwischen Kommune und Leistungsanbietern vor Ort.

    Qualitätsmanagement sichert den Erfolg

    Der gleichermaßen konsequente wie umsichtige Umgang mit Qualitätsmanagement schafft die Grundlagen dafür, in den Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die vielschichtigen fachlichen und leistungsrechtlichen Anforderungen und damit verbundene Maßnahmen so zu ordnen und aufeinander zu beziehen, dass deren Wirkungen auch dort ankommen, wo sie hinzielen, also bei den Menschen mit Suchtproblemen.

    Fazit

    Das Paradigma aus Wirksamkeit (Effektivität), Effizienz (Wirtschaftlichkeit) und Nachhaltigkeit (Qualität) darf nicht der alleinige Maßstab zur Rechtfertigung von Maßnahmen der ambulanten Suchthilfe sein. Nicht alles lässt sich in dieses Schema einordnen, nicht alle Problemlagen und Lösungsansätze lassen sich in messbare Schablonen pressen. Das geht auf Kosten der Vielfältigkeit und vor allem der Kreativität der Lösungen. Die Lebenswirklichkeit der hilfesuchenden Menschen ist vielschichtiger, lebendiger. Und die Antwort der ambulanten Suchthilfe in ihrer Orientierung an der psychosozialen Arbeit ist vielschichtiger, kreativer.

    Aber die ambulante Suchthilfe muss sich dem beschriebenen Optimierungsprozess stellen, managementorientierte Handlungsprogramme mit Augenmaß einsetzen und mit den lebendigen und kreativen Möglichkeiten psychosozialer Arbeit verknüpfen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Geschäftsführer
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas-Suchthilfe e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
    • Hans Joachim Abstein, AGJ Freiburg, Projekt „Zukunftsfähigkeit der PSB der LSS Baden-Württemberg“, Freiburg 2010
    • Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe (AKS), Sucht(-hilfe) kostet Geld – Suchthilfe spart Geld! – eine Argumentationshilfe für die Praxis, Freiburg 2003
    • Peter Bartelheimer, Politik der Teilhabe, Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin 2007
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., Leistungsbeschreibung für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe, DHS, Hamm 1999
    • Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V., Grundversorgung in der ambulanten Such- und Drogenhilfe, Köln 2009
    • Zukunftsforum Politik. Sozialer Bundesstaat 66. Hrsg. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2005
      FOGS-Studie DCV, Integrierte Versorgungsstrukturen – Kooperation und Vernetzung in der Suchthilfe der Caritas, Köln 2008
    • Institut für Therapieforschung (IFT), Suchthilfe in Deutschland, Jahresberichte der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) 2008 bis 2012, München
    • Matthias Möhring-Hesse, Hochschule Vechta, Die Zukunft der sozialen Arbeit im Sozialstaat, Frankfurt 2005
    • Hans-Uwe Otto, Universität Bielefeld, Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und Wirkungen im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit – Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion, Berlin 2007
    • Petzold, H., Steffan A. Gesundheit, Krankheit, Diagnose- und Therapieverständnis in der Integrativen Therapie, in: Integrative Therapie 2001
    • Wolfgang Scheiblich, Zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie – Die Anforderungen an die Suchtkrankenhilfe, Sozialdienst Katholischer Männer e.V., Köln 2004
    • Renate Walter-Hamann, Suchtberatung ist keine Restkategorie, in: neue caritas 18/2007, Deutscher Caritasverband, Freiburg 2007