Schlagwort: Sozialrecht

  • Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

    Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

    Einleitung

    Im Zuge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) sind die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe (EGH) aktuell mit der Umstellung auf das neue Leistungssystem beschäftigt. Dies umfasst die Neujustierung der Fachkonzepte, die Schulung der Mitarbeitenden und die Prozessorganisation in den Angeboten. Diese Umstellung beinhaltet zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit den reformierten behinderungspolitischen Leitideen.

    Für die Suchthilfe bietet dieser Prozess verschiedene fachliche Gestaltungsoptionen. Es besteht die Chance, arbeitsfeldspezifische Paradigmen wie die Abstinenzorientierung neu zu bewerten und die Praxis der Suchthilfe durch die systematische Implementierung von fachlichen Konzepten und Verfahren weiter zu professionalisieren. Hierbei kann der Fokus um zeitgemäße partizipative und sozialräumliche Ansätze erweitert werden. Die Entwicklungen lassen sich für die gezielte Vernetzung mit relevanten Akteuren nutzen und auf andere Segmente der Suchthilfe jenseits der EGH und weitere Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens übertragen.

    Grundsatz Selbstbestimmung

    Ein zentraler Grundsatz des BTHG bezieht sich auf das Recht auf Selbstbestimmung. Gemäß § 8 SGB IX lassen Leistungen, Dienste und Einrichtungen „den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung“. Laut Beyerlein (2021) bedeutet Selbstbestimmung als gesetzliches Ziel, „die Betroffenen bei der Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in ihrer Persönlichkeit zu achten und dementsprechend zu handeln und sie darüber hinaus zu aktivieren und in die Lage zu versetzen, autonom darüber zu entscheiden, in welcher Weise die gleichberechtigt Teilhabe stattfinden soll“ (S. 21). In der Suchthilfe ist der Umgang mit Selbstbestimmung elementar im Hinblick auf das Abstinenzpostulat, das trotz vorliegender alternativer Therapieansätze wie die Trinkmengenreduktion vielfach noch vorherrscht. Die Kritik, dass Abstinenz als vorgegebenes Behandlungsziel nicht dem Willen vieler Betroffener entspreche und zudem autonomieverletzend sei (vgl. Körkel 2002; Körkel und Nanz 2016), trifft ins Mark des Selbstbestimmungsgrundsatzes im BTHG. Dies erfordert insbesondere von hochschwellig ausgerichteten Anbietern bei der Erarbeitung der Fachkonzepte eine intensive Auseinandersetzung mit der fachlich-therapeutischen Haltung des Trägers und seiner Mitarbeitenden. Nur auf konzeptionell geklärter Grundlage ist der Rechtsanspruch auf selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Substanzkonsumstörungen umsetzbar.

    Grundsatz Partizipation

    Zu den wesentlichen Prinzipien des BTHG zählt die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, die sich aus dem Partizipationsbegriff ableitet und soziales Einbezogensein, politische Beteiligung und Einflussnahme auf zentrale Entscheidungen in diesen Lebensbereichen beinhaltet (vgl. Rambausek-Haß und Beyerlein 2018). Hieraus ergeben sich Aufgaben für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen, die sich auf ressourcenorientierte Befähigungsleistungen und die partizipative Weiterentwicklung der Angebote beziehen und eng mit den fachlichen Grundlagen, wie z. B. einer Ausrichtung am Recovery-Ansatz, verbunden sind.

    Partizipation bezieht sich auf die aktive Einbeziehung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse, die sie selbst betreffen (wie Bedarfsermittlung, Vereinbarung von Zielen und Teilhabeplanung), und ihre Beteiligung an der Entwicklung der Strukturen, in die sie eingebunden sind (z. B. Angebote der Suchthilfe sowie sozialräumliche, kommunale und weitere Entwicklungen und Entscheidungen). Sowohl in der EGH als auch in der Suchthilfe gilt Partizipation als ein Prozess, der an vorhandene Ressourcen und bisherige Erfahrungen gebunden ist. Damit Beteiligung als sinnvoll und attraktiv bewertet werden kann, müssen Befähigungsleistungen ggf. vorgeschaltet werden (vgl. Mattern et al. 2023). Zentrale Grundlage zur Umsetzung von Partizipation sind eine Empowerment-geleitete fachliche Haltung der Mitarbeitenden und eine beteiligungsorientierte Ausrichtung der Organisation. Beides kann z. B. durch methodische Anleihen bei dem Projekt „Hier bestimme ich mit – Ein Index für Partizipation“ (vgl. BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe 2020; 2021) weiterentwickelt werden.

    Leitkriterium Sozialraumorientierung

    Eng mit Partizipationsprozessen ist die Sozialraumorientierung (SRO) verbunden, die als neues Leitkriterium in das SGB IX eingeführt worden ist. Sie lässt sich mit Hilfe des sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzepts SRO operationalisieren. Das Konzept ist ein mehrdimensionaler Theorie- und Handlungsansatz und fußt auf den drei Handlungsebenen der fallspezifischen, fallübergreifenden und fallunspezifischen (personenunabhängigen) Ebene (vgl. Hinte 2019; 2020). Es lässt sich um die organisatorische Ebene der Leistungserbringer erweitern und stellt eine umfassende Sammlung an Methoden und Techniken zur Verfügung (vgl. Früchtel et al. 2007a; 2007b), die auch in der Suchthilfe einsetzbar sind.

    Zu den wesentlichen Handlungsprinzipien der Sozialraumorientierung zählen:

    • die Ausrichtung am Willen und den Interessen der Betroffenen,
    • die Stärkung von Eigeninitiative und Selbsthilfe,
    • die Fokussierung der personellen und sozialräumlichen Ressourcen,
    • zielgruppen- und bereichsübergreifende Aktivitäten und
    • die Kooperation und Vernetzung mit Fachdiensten, umgebenden Einrichtungen und weiteren Akteur:innen etc. im Quartier.

    Die Ausrichtung am Willen der Betroffen und der Sozialraum- und Lebensweltbezug im sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzept decken sich mit den Kriterien des Gesamtplanverfahrens inkl. der Bedarfsermittlung nach § 117 SGB IX. Diese Passung bezieht sich auch auf die Haltung. Zur Umsetzung der Sozialraumorientierung ist eine ressourcenorientierte Haltung jenseits paternalistischer Fürsorge erforderlich, die der im BTHG formulierten Erwartung des Gesetzgebers an die professionelle Beziehungsgestaltung und Rollenklarheit bei den Mitarbeitenden entspricht: „Der Begriff der Assistenz bringt in Abgrenzung von förderzentrierten Ansätzen der Betreuung, die ein Über-/ Unterordnungsverhältnis zwischen Leistungserbringern und Leistungsberechtigten bergen, auch ein verändertes Verständnis von professioneller Hilfe zum Ausdruck“ (BT-Drucks. 18/9522, S. 261). Durch die zielorientierte Vernetzung und Kooperation zur wirksamen Leistungserbringung kann das Konzept einen wesentlichen Beitrag zur Entsäulung innerhalb der Suchthilfe leisten.

    Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der EGH im Vertragsrecht

    Das Vertragsrecht der EGH sieht vor, dass bei der Umstellung auf das neue Leistungssystem für alle Angebote Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen abgeschlossen werden, die Inhalt, Umfang, Qualität, Wirksamkeit und Vergütung der Leistungen regeln. Referenzrahmen der Vereinbarungen sind die neuen Fachkonzepte, die gemäß Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS 2021) die fachliche Ausrichtung der Suchthilfe-Angebote beschreiben und Wirkannahmen für die angebotenen Leistungen sowie Qualitätsstandards enthalten sollen, um die „qualitative Leistungserbringung, Fachlichkeit und Sinnhaftigkeit der Maßnahme“ (BAGüS 2021, S. 12) zu gewährleisten.

    Die wirksamkeits- und qualitätsfokussierte Ausrichtung der EGH ermöglicht nun die finanzielle Berücksichtigung von Ansätzen und Verfahren der Suchthilfe, die früher in der Regel als im weitesten Sinne therapeutisch und daher nicht EGH-konform abgelehnt worden sind. Die verbindliche Umsetzung der Fachkonzepte ist im Kontext der sanktionsbewehrten Prüfungen nach § 128 SGB IX von den Leistungserbringern sicherzustellen. Das erforderliche regelmäßige Qualitätsmonitoring wird professionalitätssteigernde Effekte mit sich bringen. Dazu trägt auch die Vorgabe bei, dass sich sämtliche Merkmale des fachlichen Handelns in der Dokumentation der Leistungserbringung und in der reflektierten Ergebnisqualität zeigen müssen (vgl. BAGüS, S. 13). Dies wiederum setzt geschulte Mitarbeitende voraus, die sich mit den fachlichen Grundlagen auseinandergesetzt haben.

    Exkurs: Potenziale des Vertragsrechts für die Psychosoziale Begleitung von substituierten Opioidabhängigen (PSB)

    Mit Herauslösung der EGH aus dem Sozialhilferecht werden die Leistungen auf Antrag gewährt und sind mit neuen Verwaltungsverfahren und Zugangswegen ins System verbunden. Diese können für Teilgruppen der Anspruchsberechtigten zu hochschwellig sein und de facto den Ausschluss von der Leistung bedeuten. Diese Situation trifft für substituierte Opioidabhängige und das spezifische Angebot PSB in den Fällen zu, in denen es über die EGH finanziert wird. Die besonderen Bedarfe des Personenkreises und die organisatorischen Anforderungen an die Leistungserbringer lassen sich unter den administrativen und ökonomischen Rahmenbedingungen des neuen Leistungsrechts für das Gros der Betroffenen nicht abbilden. Das Vertragsrecht enthält jedoch Optionsrechte gemäß § 125 Abs. 3 Satz 4 SGB IX und § 132 SGB IX, auf deren Grundlage die PSB als personenorientierte und wirksame Leistung der EGH konfigurierbar wird (vgl. Gellert-Beckmann 2022). Da die Anwendung der Optionsrechte als Kann-Regelung im Ermessen der Leistungsträger liegt, besteht für die Leistungserbringer kein Anspruch auf ihre Nutzung. Dieser lässt sich aus der Perspektive der Leistungsberechtigten jedoch aus deren Recht auf diskriminierungsfreie Angebote und Zugänge aus den Artikeln 3, 4, 19, 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ableiten.

    Fachliche Grundlagen für die Umsetzung des BTHG

    Für die Leistungskonzeptionierung und -erbringung in der geforderten Qualität ist der Rückgriff auf fachlich bzw. wissenschaftlich anerkannte Verfahren und Konzepte notwendig, die insbesondere in S3-Leitlinien dargestellt werden. Geeignete psychosoziale Interventionen, die mit den Rehabilitationszielen der EGH kompatibel sind, finden sich in der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen (DGPPN 2018). Sie sind auf die psychiatrische Teilgruppe der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen übertragbar (vgl. Gellert-Beckmann 2023a). Aus den suchtspezifischen Leitlinien lassen sich im Vergleich dazu weniger geeignete evidenzbasierte Ansätze in Bezug auf die Reha-Leistungen der EGH entnehmen, deren Umsetzungsmöglichkeit im Rahmen des BTHG analysiert und bestätigt worden ist (Gühne und Konrad 2019).

    Die psychosozialen Interventionen aus der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen zielen auf psychische und physische Stabilisierung, die Aktivierung von Motivation und Ressourcen und die Entwicklung von Fähigkeiten für eine weitestgehend selbstständige und eigenverantwortliche Lebensführung. Für die Erstellung der Fachkonzepte und die Festlegung auf fachliche Grundlagen bieten sie eine Vielzahl konkreter Verfahren, die sich mit weiteren suchthilfespezifischen Ansätzen verbinden lassen.

    Zentrale Ansätze der Leitlinie sind Recovery und Empowerment, die für das praktische Handeln operationalisiert und in der Arbeitsorganisation verankert werden müssen. Recovery-Elemente umfassen z. B. eine partnerschaftlich-professionelle und autonomiefördernde Arbeitsbeziehung und einen stärkenorientierten Ansatz, der die Klient:innen bei der (Wieder-)Entdeckung ihrer Ressourcen unterstützt. Angestrebt wird die Förderung von Selbstbestimmung, sozialer und beruflicher Teilhabe sowie der (Bürger:innen-)Rechte (DGPPN 2018, S. 52). Die Recovery-Prinzipien sind in die Angebotsstrukturen und Ablauforganisation einzubetten. Sie müssen für die Klient:innen erfahrbar und auch für die Mitarbeitenden greifbar werden in Form von Leistungen, die systematisch die Partizipation der Klient:innen integrieren und somit einen Bogen zu den Zielen des BTHG spannen.

    Die S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen enthält Schnittstellen zu den evidenzbasierten suchthilfespezifischen Verfahren Motivational Interviewing und Community Reinforcement Approach sowie zu allen suchthilfespezifischen Verfahren, die mit dem Empowerment-Ansatz assoziiert sind. Empowerment zielt als wichtiger Bestandteil von Recovery auf die Förderung von Selbstbefähigung, Eigeninitiative und Selbsthilfe – Kompetenzen, die in der Suchthilfe in Form von Selbsthilfegruppen, Lotsenkonzepten und Peer-Support unterstützt werden. Gemäß Leitlinien-Empfehlung ist Selbstmanagement „ein bedeutender Teil der Krankheitsbewältigung und sollte im gesamten Behandlungsprozess unterstützt werden“ (DGPPN 2018, S. 65). Selbstmanagement in der Suchthilfe umfasst Trainingsprogramme wie Psychoedukation, Konsumreduktionsprogramme wie Kontrolliertes Trinken und Kontrolle im selbstbestimmten Konsum, Rückfallprophylaxe und Training sozialer Fertigkeiten.

    Eine wesentliche Grundlage sowohl der Leitlinie als auch der Suchthilfe und der EGH stellt die professionelle Beziehungsgestaltung dar. Deren Qualität ist Bestandteil anderer Ansätze, z. B. des Wirkfaktorenmodells nach Grawe (vgl. DGPPN 2018, S. 58). Dieses Konzept fokussiert darüber hinaus Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und Befähigung zur Problembewältigung, die wiederum an den Befähigungsaspekt des neuen Leistungstatbestands der qualifizierten Assistenzleistung im SGB IX anschließt.

    Mit der partizipativen Entscheidungsfindung sollen die Rechte auf Autonomie und Selbstbestimmung respektiert und die aktive Beteiligung an der Behandlungsgestaltung im Recovery-Prozess sichergestellt werden (vgl. DGPPN 2018). Ein Anknüpfungspunkt zu dieser Recovery-Orientierung besteht u. a. für das Konzept der Zieloffenen Suchtarbeit nach Körkel.

    Für Suchthilfe-Angebote bietet sich an, die konzeptionelle Berücksichtigung von Case Management im Kontext der Assistenz zur persönlichen Lebensplanung gemäß § 78 Abs. 1 SGB IX zu prüfen und zielgruppenspezifisch auszuformen. Hierfür steht exemplarisch das Modellprojekt „Alters-CM3“ für die Arbeit mit älteren Drogenkonsument:innen (Schmid 2018). Das Modell verknüpft „Motivational Case Management“ (Case Management, das Motivational Interviewing methodisch integriert) mit Elementen eines stärkenorientierten Ansatzes und der „Problem Solving Therapy“. Somit lassen sich Verbindungen zu Recovery und zum Graw’schen Wirkfaktorenmodell herstellen.

    Als Basisleistung für die Bereiche „Navigation zur Strukturierung der Lebensgestaltung, Erschließung weiterer notwendiger Sozialleistungen, Krisenplanung“ (Konrad 2020, S. 29) kann Case Management von der Suchthilfe genutzt werden, um sozialarbeiterische Expertise im Bedarfskontext der Zielgruppe zu begründen.

    Aufgrund der hohen Prävalenz somatischer und psychiatrischer Komorbiditäten bei Substanzkonsumstörungen sollten auch Leistungen zum Lebensbereich Gesundheit im Hinblick auf die Bewältigung der zusätzlichen Erkrankungen regelhaft angeboten werden. Ein Mindestmaß an Gesundheit ist Voraussetzung für Teilhabe und unabdingbar für Lebensqualität und das Vermeiden vorzeitiger Mortalität. Gesundheitsbezogene Interventionen und Angebotsstrukturen und -prozesse auf System- und Einzelfallebene lassen sich in der EGH mit dem von der Dt. Vereinigung für Rehabilitation erarbeiteten Konzept der Gesundheitssorge (vgl. DVfR 2021) für die Suchthilfe entwickeln (vgl. Gellert-Beckmann 2023b). Das Konzept ist hilfreich für die Bedarfsermittlung, die individuelle Maßnahmenplanung und die organisationsstrukturelle Implementierung entsprechender Angebote. Hierzu zählen psychoedukative Trainings, das Schaffen von Zugängen zu Informationen und Angeboten, spezifische Fortbildung der Mitarbeitenden, Gruppenangebote zur Förderung der Gesundheitskompetenz und personenunabhängige Sozialraumarbeit zur Etablierung einer gesundheitskompetenzförderlichen Umgebung (vgl. AOK 2021).

    Ein Großteil der Verfahren ist über die EGH hinaus auch in anderen Settings der Sucht- und Drogenhilfe wie Beratungs- und Kontaktstellen einsetzbar.

    Neue Verfahrensregelungen im SGB IX

    Chancen für eine bessere Zusammenarbeit liegen auch in den neuen Verfahrensregelungen im Teil 1 des SGB IX für die Reha-Träger. Letztere sollen durch koordiniertes Handeln schnelle und wirkungsvolle Rehabilitationsleistungen ermöglichen. Die optimierte Kooperation der Leistungsträger soll unter Einbezug der weiteren Prozessbeteiligten erfolgen, da die übergreifende Zusammenarbeit als erfolgskritische Voraussetzung der Rehabilitation gilt. In der „Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess“ (BAR 2019) sind in § 3 die beteiligten Akteure aufgelistet, die Einrichtungen und Dienste der Suchthilfe umfassen. Zu entwickeln sind mit den relevanten Beteiligten „verbindliche Strukturen, die ein regelhaftes und verlässliches System zum Informationsaustausch und zur Zusammenarbeit sicher stellen, das der möglichst frühzeitigen Erkennung eines Teilhabebedarfs und Einleitung von Leistungen zur Teilhabe dient“ (§ 16 Abs. 3 GE Reha-Prozess).

    Werden die in der Gemeinsamen Empfehlung formulierten Vorgehensweisen realisiert, profitieren einerseits Menschen mit Substanzkonsumstörungen von den vom Gesetzgeber angestrebten Verbesserungen, da sämtliche Leistungsgruppen gemäß § 5 SGB IX für sie relevant sein können. Andererseits lassen sich für die Suchthilfe und die angrenzenden Arbeitsfelder systematisch Vernetzungspotenziale heben, die zusammen mit den oben dargestellten Konzeptansätzen eine neue konstruktive Grundlage schaffen für die Überwindung von Schnittstellenproblemen (vgl. DHS 2019, S. 5).

    Kinder von suchtkranken Eltern

    Die Assistenzleistungen gemäß § 78 SGB IX umfassen auch Leistungen an Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder. Mittels pädagogischer Anleitung, Beratung und Begleitung sollen Eltern mit Abhängigkeitserkrankungen unterstützt werden, um ihrer Elternrolle gerecht zu werden und z. B. die Grundbedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen nachkommen zu können (vgl. BMAS 2018, S. 44). Es lassen sich Angebote der begleiteten Elternschaft entwickeln, die in Modellprojekten erprobt worden sind (vgl. AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. 2019; Dachverband Gemeindepsychiatrie 2019).

    Ausblick

    Die Potenziale des BTHG und der reformierten EGH lassen sich für weitere Bereiche der Suchthilfe nutzen. Der systematische fachliche Fokus als Folge der Qualitäts- und Wirksamkeitsanforderungen in der EGH erfordert finanzielle Ressourcen, die zunächst zu verhandeln und in Umsetzung zu bringen sind. Als Professionalisierungstreiber kann er für die Weiterentwicklung anderer sozialarbeiterischer Tätigkeitsfelder und Angebote in der Suchthilfe genutzt werden, die sich der Kritik häufig fehlender fachlicher Standards der Leistungserbringung stellen müssen (vgl. Arendt 2019). Auch die Auseinandersetzung mit den Prämissen der UN-BRK und des BTHG und die Übersetzung der menschenrechtsbasierten und behinderungspolitischen Grundlagen in fachliches Handeln kann den Fachdiskurs über die EGH hinaus bereichern, zumal die UN-BRK als mächtiger Hebel für die Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Diskriminierungskontext Chancen für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen enthält, die noch lange nicht aufgegriffen sind.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Stefanie Gellert-Beckmann ist Geschäftsführerin der Suchthilfe Wuppertal gGmbH,
    Hünefeldstr. 10a, 42285 Wuppertal.
    www.sucht-hilfe.org
    stefanie.gellert-beckmann(at)sucht-hilfe.org

    Literatur
    • Arendt I. Case Management in der Sucht- und Drogenhilfe. Soziale Arbeit 2018; 9/10: 360-366 
    • AOK-Bundesverband GbR. Forschungsprojekt QualiPEP/ Qualitätsorientierte Prävention- und Gesundheitsförderung in Einrichtungen der Pflege und Eingliederungshilfe. 2021. Im Internet: www.aok-qualipep.de; Stand: 07.04.2023
    • AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (Hg.). Abschlussbericht Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern. 2019: 14ff.
    • BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe. Mitbestimmen! Fragensammlung zur Partizipation. 2. Auflage, Berlin 2021.
    • BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe. Mitbestimmen! Informationen für mehr Mitbestimmung. Berlin 2020.
    • Beyerlein M. Kurzgutachten zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Bundesländern. Analyse von Regelungen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Landesrahmenverträgen nach § 131 SGB IX (2021: 21).
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. (BAR). Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess. Frankfurt 2019.
    • Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS). Orientierungshilfe zur Durchführung von Prüfungen der Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit nach § 128 SGB IX. 2021
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG). 25. Oktober 2018. Im Internet: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Rehabilitation-und-Teilhabe/Fragen-und-Antworten-Bundesteilhabegesetz/faq-bundesteilhabegesetz.html; letzter Zugriff: 03.05.2024
    • Bundestags-Drucksache 18/9522. Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). 05.09.2016
    • Dachverband Gemeindepsychiatrie e. V. (Hg.). Unterstützung für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Leuchtturmprojekte. Köln: Psychiatrie-Verlag 2019.
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland – Analyse der Hilfen und Angebote und Zukunftsperspektiven. Update 2019
    • Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR). Gesundheitssorge – Erhalt und Förderung von Gesundheit für Menschen mit Behinderungen unter besonderer Berücksichtigung der Eingliederungshilfe. Positionspapier der DVfR, 2021.
    • DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. 2. Auflage, Berlin: Springer 2018: 65. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-58284-8
    • Früchtel F, Budde W, Cyprian G. (2007a). Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
    • Früchtel F, Budde W, Cyprian G. (2007b): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Fieldbook: Methoden und Techniken, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
    • Gellert-Beckmann S. Analyse der BTHG-bezogenen Chancen und Grenzen für die Suchthilfe. Suchttherapie 2023; DOI 10.1055/a-2159-8397 (2023a)
    • Gellert-Beckmann S. Gesundheitssorge als spezifische Teilhabeleistung der Eingliederungshilfe im Arbeitsfeld Suchthilfe. Nachrichtendienst des deutschen Vereins 2023; 1: 20 – 27 (2023b).
    • Gellert-Beckmann S. Überlegungen zur psycho-sozialen Betreuung für substituierte opioidabhängige Menschen im Kontext der UN-BRK und des BTHG – Personenzentrierte Verfahren und Zielvereinbarungen gemäß Kapitel 8 SGB IX; Beitrag E1-2022 unter www.reha-recht.de; 09.08.2022
    • Gühne U, Konrad M. Chancen zur Umsetzung der Leitlinienempfehlungen zu psychosozialen Therapien im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG); Psychiat Prax 2019; 46: 468 – 475. DOI: https://doi.org/10.1055/a-1011-9606
    • Hinte W. Das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“ – Grundlage und Herausforderung für professionelles Handeln, ln: Fürst R, Hinte W (Hg.). Sozialraumorientierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten, 3. Auflage., Stuttgart: UTB; 2019: 13–32.
    • Hinte W. Original oder Karaoke – was kennzeichnet das Fachkonzept Sozialraumorientierung? In: Fürst R, Hinte W. Sozialraumorientierung 4.0. Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven, Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG; 2020: 11 -26.
    • Körkel J, Nanz M. Das Paradigma Zieloffener Suchtarbeit. In: akzept e. V., Dt. Aidshilfe, JES e. V., (Hg.). 3. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2016. Berlin: Pabst Science Publishers; 2016: 196 – 204.
    • Körkel J. Kontrolliertes Trinken. Eine Übersicht. Suchttherapie 2002; 3: 87–96.
    • Konrad M. Assistenzleistungen zur Sozialen Teilhabe als Rechtsanspruch nach dem Bundesteilhabegesetz (BTGH). Webinar der Umsetzungsbegleitung BTHG 05.06.2020. Im Internet: https://www.lag-avmb-bw.de/Teilhaberecht/Assistenzleistung_BTHG-2006.pdf
    • Mattern, L, Peters, U, Rambausek-Haß, T (2023). Zur Umsetzung der Partizipation in der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung – Forschungsstand; Beitrag D5-2023 unter www.reha-recht.de; 25.04.2023.
    • Rambausek-Haß, T, Beyerlein, M. Partizipation in der Bedarfsermittlung – Was ändert sich durch das Bundesteilhabegesetz? – Teil II; Beitrag D28-2018 unter www.reha-recht.de; 31.07.2018.
    • Reker M. Zur Implementation eines evidenzbasierten Therapieverfahrens in die deutsche Suchtkrankenversorgung: Der Community Reinforcement Approach. Suchttherapie 2013; DOI 10.1055/s-0033-1341430
    • Schmid M. Case Management für ältere Drogenabhängige – Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt. In: Schmid M, Arendt I. „Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe …“ – Ältere Drogenabhängige, Hilfesysteme und Lebenswelten: Dokumentation zur Fachtagung des Verbundprojekts Alters-CM³ – Case Management für ältere „Drogenabhängige“. Koblenz: Institut für Forschung und Weiterbildung (IFW), Hochschule Koblenz 2018: 5-14.
  • BTHG und Eingliederungshilfe Sucht

    Was bewegt sozialtherapeutische Einrichtungen im Kontext des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und der Eingliederungshilfe Sucht? Mit dieser Fragestellung lassen sich die vielfältigen Inhalte des 4. Fachtages für Soziotherapeutische Einrichtungen beschreiben, zu dem der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) am 21.02.2018 nach Kassel eingeladen hatte.

    Vorstandsmitglied Andreas Reimer (Deutscher Orden Suchthilfe) skizzierte in seiner Einführung aktuelle fach- und sozialpolitische Entwicklungen und Herausforderungen für suchtspezifische Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Gleichzeitig lenkte er den Blick auf die noch junge Geschichte des Fachtages und dessen Bedeutung für die Praktiker: Einige Mitglieder des buss betreiben neben Einrichtungen der stationären und ambulanten medizinischen Rehabilitation auch komplementäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe Sucht. Anlass für den ersten Fachtag für Soziotherapeutische Einrichtungen 2015 waren die Vorboten des BTHG und der Bedarf der Leitungskräfte und Betreiber soziotherapeutischer Einrichtungen, die eigenen fachlichen und strukturellen Konzepte rechtzeitig hinsichtlich der Anforderungen der Gesetzgebung zu analysieren und ggf. anzupassen.

    Die durchweg sehr guten Bewertungen der bisherigen Fachtage motivieren die Vorbereitungsgruppe, auch für das kommende Jahr wieder ein Programm mit relevanten Themen und Trends für die Praxis zusammenzustellen. Das breite Fach- und Vernetzungswissen innerhalb der Suchthilfelandschaft und die Themenwünsche der Teilnehmer/innen werden dabei eingebunden.

    Wirkung und Wirkungsmessung

    Was konkret ist zu tun, um die Herausforderungen des BTHG zu meistern, die Chancen im Sinne einer noch besseren personenzentrierten Teilhabe von Suchtkranken zu nutzen und – ganz im Sinne einer qualitativen Hebelwirkung – die komplementären (zumeist noch stationären) Einrichtungen für chronisch mehrfachbeeinträchtigte Suchtkranke aus dem Schattendasein herauszuholen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des diesjährige Fachtages.

    Der Vormittag stand thematisch unter dem BTHG-Schlagwort „Wirkung“. Robert Meyer-Steinkamp (Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Hamburg) stellte in seinem Beitrag BADO Hamburg – Erfassung und Auswertung von Daten aus der Eingliederungshilfe dar, wie es in Hamburg gelingt, die Ergebnisqualität der umfassenden Eingliederungsleistungen für Suchtkranke abzubilden. Eindrucksvoll und überzeugt stellte Meyer-Steinkamp die Arbeit des gemeinsam von Leistungsträger und Leistungsanbietern getragen Vereins BADO e.V. vor. Anders als in vielen anderen Bundesländern ist die Basisdokumentation in Hamburg auch in der Eingliederungshilfe Pflicht, so dass seit 2011 alle ambulanten und (teil-)stationären Angebote Daten liefern. Dass sich die – zugegeben nicht immer beliebte – Erbsenzählerei lohnt, stellte er anhand des Spezialthemas im Statusbericht 2015 vor. Aus allen Datensätzen der letzten sechs Jahre wurden so genannte Intensivnutzer der Hamburger Suchthilfe herausgefiltert und hinsichtlich ihrer Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsepisoden sowie der dabei erreichten Gesamtergebnisse untersucht. In den beispielhaft vorgestellten Teilhabebereichen zeigten sich für die Leistungsberechtigten trotz oder wegen der ‚Drehtür-Verläufe‘ spürbare Verbesserungen ihrer Lebens- und Teilhabesituation, die zwar für den Praktiker vor Ort und im Einzelfall erwartbar waren, aber eben ohne die Datenerhebung und -auswertung nicht in der Quantität belegbar wären.

    Es wäre wünschenswert, wenn auch andernorts die Chancen der Basisdokumentation erkannt und genutzt würden. Nach einer Auswertung des IFT Institut für Therapieforschung zur Deutschen Suchthilfestatistik für das Jahr 2014 ergab sich eine Beteiligung von nur 105 ambulanten und (teil-)stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit rund 5.500 Fällen. Die Datenlage und ihre Aussagekraft könnte mit einer stärkeren Beteiligung der Träger deutlich verbessert werden. Die aktuelle Ausdifferenzierung des Kerndatensatzes 3.0 und stärkere Berücksichtigung von Angeboten der Eingliederungshilfe kann ein guter Anlass sein, jetzt in die Datenerhebung einzusteigen.

    Mit der Aussage, Wirksamkeit und Wirkung seien zunächst einmal zu differenzieren, führte anschließend Prof. Dr. Andrea Riecken (Hochschule Osnabrück) in ihren Vortrag ein. Unter dem Titel Anforderungen an Wirkungsmessung in der Eingliederungshilfe stellte sie grundlegende forschungsmethodische Herausforderungen bei der Evaluation Sozialer Arbeit und ihrer Dienstleistungen vor. Die Komplexität von Wirkfaktoren und deren Zusammenspiel soll die Praxisforschung allerdings nicht länger davon abhalten, die Wirkung z. B. der Fachleistung innerhalb der Eingliederungshilfe Sucht wissenschaftlich sauber zu belegen. Damit kann auch der Erhalt und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe-Leistungen im Sinne der Klienten vorangetrieben werden.

    Nach diesen beiden Beiträgen mochte so manche/r Zuhörer/in angesichts der Überschrift des Vortrages von Dieter Adamski (Therapiehilfe e.V., Hamburg/Bremen) zunächst aufatmen: Basisdokumentation und Wirksamkeitsmessung – Was ist in der Praxis leistbar? Allerdings verdichtete Adamski die vielfältigen Anforderungen an Leitung, Fach- und Hilfskräfte zu prägnanten Forderungen im Rahmen einer weiteren Professionalisierung der Eingliederungshilfe Sucht im Sinne der Etablierung eines Qualitätsmanagements. Sofern nicht bereits ein Umdenken erfolgt ist, wird es nun höchste Zeit. Dabei ist der Gestaltungsspielraum, den ein proaktives Vorgehen der Einrichtungen, ihrer Träger und Fachverbände bietet, pragmatisch zu nutzen. Qualitätssicherung soll dabei keinen Selbstzweck erfüllen, sondern die kontinuierliche Weiterentwicklung von strukturellen und fachlichen Standards sowie die Abbildung der Ergebnisqualität der Leistungserbringer unterstützen. Nur so können komplementäre und am individuellen Teilhabebedarf und Teilhabeplan ausgerichtete Eingliederungshilfe-Angebote erhalten und zukunftssicher weiterentwickelt werden: „Wir wissen, wann und wie wir unsere Kunden unterstützen, wir dokumentieren es jedoch (noch) nicht sachgerecht, um mit den Ergebnissen an die Öffentlichkeit zu treten. Denkbar wären Katamnesen, wie es in der medizinischen Rehabilitation üblich ist.“ Gleichzeitig forderte Adamski finanzielle und personelle Ressourcen: „Wer Wirksamkeitsmessung in der Eingliederungshilfe umsetzten will, muss in Forschung investieren und für die Praxis handhabbare Instrumente entwickeln, die auch zu den Berufsgruppenprofilen der Eingliederungshilfe-Einrichtungen passen.“

    Die Mittagspause bot Gelegenheit zu einem persönlichen und informellen Austausch der Teilnehmenden. Der Fachtag wurde in sechs Arbeitsgruppen zu Anforderungen und Chancen rund um die Umsetzung des BTHG fortgesetzt.

    Anforderungen und Chancen bei der Umsetzung des BTHG

    Prof. Dr. Johannes Schädler (Universität Siegen) gab in seiner Arbeitsgruppe Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung: Herausforderung und Chance für Suchtkranke und Leistungserbringer zunächst einen Überblick über die Begrifflichkeiten und die historische Entwicklung von Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung. Weiter ging er auf die Herausforderungen und Chancen für Suchtkranke und Leistungserbringer in dem Prozess ein und betonte die aus seiner Sicht dringend notwendige und gesetzlich verankerte Steuerungshoheit der Leistungsträger: „Wer den Gesamtplan verfasst, steuert de facto das (Teilhabeplan-)Verfahren.“ Seine weitere Aufforderung „Weg von dem (einrichtungsbezogenen) Platzierungsdenken und -handeln hin zu einer Steuerung der EGH durch die Leistungsträger im Sinne einer personenzentrierten Teilhabeplanung“ eröffnete einen Diskurs unter den Teilnehmenden zur Bedeutung des Teilhabeplanverfahrens für die Eingliederungshilfe Sucht. Hieraus entstanden neue Fragen zu folgenden Themen:

    • Teilhabeberatung von Suchtkranken (z. B. Suchtberatung, Sozialdienste in der Entgiftungsbehandlung und der medizinischen Rehabilitation, gesetzliche Betreuer),
    • Unterstützungsmöglichkeit von Suchtkranken und Beteiligung der Leistungserbringer im Bedarfsermittlungsverfahren,
    • Perspektiven der Studien zur Entwicklung des Personenkreises nach § 99 SGB IX-neu (Wie wird der geringe Anteil der Suchtkranken (vier Prozent) an allen Menschen mit Behinderung in den Studien z. B. hinsichtlich der Rechtsfolgen berücksichtigt? Exklusion durch ‚5 aus 9‘?),
    • sozialpolitische Aktivitäten in Bezug auf die länderspezifischen Ausführungsgesetze und Verordnungen.

    Chancen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Suchtkranke bestehen in einem regional ausdifferenzierten Suchthilfeangebot, welches aus ambulanten Einrichtungen und stationären bzw. besonderen Wohnformen sowie tagesstrukturierenden und arbeitsmarktbezogenen Angeboten bestehen kann. Dazu könnten die multiprofessionellen Teams der Träger und die Vernetzungsqualität genutzt werden.

    Stephan May (Hohage, May & Partner – Rechtsanwälte/Steuerberater, Hamburg) referierte in seiner Arbeitsgruppe Heimverträge und Betreuungsverträge – neue Anforderungen im Rahmen des BTHG?! zu den Anforderungen an Wohn- und Betreuungsverträge von ambulanten Einrichtungen und besonderen Wohnformen. Diese AG war rasch nach Anmeldebeginn des Fachtages ausgebucht, der hohe juristische Beratungsbedarf in diesem Feld spiegelte sich in der Diskussion und den Fragestellungen der Teilnehmenden wider.

    In der Arbeitsgruppe Inklusion in CMA-Einrichtungen gab Janina Tessloff (Therapiehilfe e.V., Bremen) Impulse zu folgenden Fragen:

    • Wie müssen die inklusiven Strukturen aussehen, damit sie Teilhabeprozesse begünstigen?
    • Inwieweit und wie weit wollen unsere Bewohner/innen überhaupt Inklusion?
    • Wie können Mitarbeitende zur Teilhabe motivieren, gibt es Grenzen und worin liegt die Verantwortung der Einrichtung?

    Die Teilnehmenden kamen rasch in einen Austausch über die bereits gelebte Praxis und der Spezifika von Suchtkranken. Tessloff formuliert in ihrer Präsentation ein gemeinsames Fazit: „Inklusion kann auch Überforderung bedeuten. Viele unserer Klienten können ihre Bedürfnisse nicht adäquat artikulieren, Selbsteinschätzung ist ein Lernprozess. Viele äußern eher den Wunsch nach Integration: Indem sie sich in der schützenden Einrichtung beheimaten, verweigern sie sich den Anforderungen der Gesellschaft und dem Inklusionsgedanken. Inklusion steht hier erst am Ende eines langen Weges, Integration ist die Vorstufe. Das stationär und ambulant betreute Wohnen arbeitet schon seit langem inklusiv, indem stetig an dem Teilhabeprozess der Betroffenen gemeinsam mit ihnen gearbeitet wird. Die Gesellschaft, die Politik muss nun nachziehen, indem Strukturen entstehen, die unsere Klientel, ohne von ihnen beeinträchtigt zu werden, nutzen kann.“

    Der Impetus des BTHG im Sinne einer stärkeren Personenzentrierung und Verzahnung von Rehabilitationsleistungen mit dem Ziel einer gelingenden Teilhabe und verbesserter Aktivität einerseits und die zugespitzte Koppelung von Suchterkrankung und Wohnungslosigkeit andererseits lenkten auf die Schnittstelle zwischen Wohnungslosenhilfe und Sucht- bzw. Eingliederungshilfe neue Aufmerksamkeit. Gabriel Blass (Haus Eichen, Blankenrath) griff dieses Thema in seiner Arbeitsgruppe Schnittstelle zwischen Wohnungslosenhilfe und Eingliederungshilfe auf. Das vorgestellte Angebot bietet wohnungslosen Suchtkranken eine zweimonatige Orientierungs- und Stabilisierungsmöglichkeit, an die sich weiterführende Behandlungs- und Betreuungsangebote nahtlos anschließen können. Solche Angebote bestehen bundesweit vereinzelt als „Vorsorge“, Vorschaltphase, Betreutes Wohnen für Gefährdete, Übergangswohnen etc. Ihre Finanzierung erfolgt aktuell noch im Rahmen des SGB XII als so genannte § 67er Hilfe oder auch auf Grundlage des § 53.

    In der Arbeitsgruppe Was ist das eigentlich: Soziotherapie oder Sozialtherapie? Leitlinie für neue Mitarbeitende von Nicolai Altmark und Andreas Guder (beide Diakonisches SuchtHilfeZentrum Flensburg) standen Newcomer unter den Mitarbeitenden der Einrichtungen im Focus. Neben der Klärung der verschiedenen Bezeichnungen für Leistungen von Eingliederungshilfe-Einrichtungen in der Suchthilfe (Soziotherapie, Sozialtherapie, soziale Rehabilitation) standen Leitlinien für neue Mitarbeiter zur Diskussion.

    Das BTHG schreibt ICF-basierte Bedarfsermittlungsinstrumente und eine klare ICF-Orientierung im Teilhabeplanverfahren verbindlich vor. In allen Segmenten der Suchthilfe-Angebote kommt der Kenntnis und Anwendung der ICF – z. B. mit entsprechenden Instrumenten in der Beratung, Behandlung und Vermittlung von Suchtkranken mit Behinderung (oder die davon bedroht sind) – eine zunehmende Bedeutung zu. Eine differenzierte, leistungsbegründende Beschreibung der suchtbedingten Behinderung, der damit einhergehenden Einschränkungen der funktionalen Gesundheit sowie der daraus resultierenden Teilhabebedarfe wird mit Blick auf die Definition des leistungsberechtigten Personenkreises in Zukunft noch wichtiger sein als in der Vergangenheit. Maren Spies (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) und Robert Meyer-Steinkamp (Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Hamburg) stellten in ihrer Arbeitsgruppe MCSS (Modulares Core Set Sucht) – Entwicklungsstand und Perspektiven zur Umsetzung der ICF in der Suchthilfe das Konzept und die Anwendung der ICF vor und gaben Einblick in den aktuellen Entwicklungsstand des Modularen Core-Sets Sucht. So genannte Core-Sets bieten störungsspezifische Listen typischer Funktionsbeeinträchtigungen, so dass die insgesamt 1442 Items der ICF in der Praxis handhabbar werden. Das MCSS bietet neben einem Basis-Set weitere Modul-Sets für verschiedene Settings der Suchtkrankenversorgung. In einer Studie wird aktuell die Validität der Item-Listen in den verschiedenen Settings untersucht.

    In dem abschließenden Vortrag Modellprojekt zur Trennung existenzsichernder Leistungen von den Fachleistungen und zur Leistungssystematik gab Olaf Bauch (Landschaftsverband Rheinland, FB Sozialhilfe, Köln) einen Ausblick auf Zuordnungs- und Rechenmodelle, die für die länderspezifischen Vereinbarungen Pate stehen könnten. Neben der differenzierten Berechnung von existenzsichernden Leistungen und Fachleistungen stellt die Umstellung von der bisherigen Anrechnung von Einkommen und dessen Einzug durch die Leistungsträger auf ein Kostenbeitragsverfahren eine besondere Herausforderung für die Leistungserbringer dar. In der Suchthilfe ist mit einem Aufwand durch Forderungsmanagement zu rechnen – keine verlockende Aussicht für die Verwaltungen der Einrichtungen und sicherlich auch eine Herausforderung für die multiprofessionellen Betreuungsteams. Es darf mit einem weiteren Diskurs zum Wert Sozialer Arbeit gerechnet werden.

    Die Tagungsbeiträge stehen – wie auch die Präsentationen der vorangegangenen Fachtage – auf der Homepage des buss zum Download bereit (www.suchthilfe.de > Veranstaltungen > Workshops).

    Darüber hinaus bieten folgende Online-Präsenzen Materialien und Informationen zum BTHG:
    www.reha-recht.de
    www.umsetzungsbegleitung-bthg.de

    Text: Martina Tranel
    Mitglied der Vorbereitungsgruppe Fachtag für Soziotherapeutische Einrichtungen, Veranstalter: buss e.V.
    Dipl.-Sozialarbeiterin/Dipl.-Sozialpädagogin, Sucht- und Sozialtherapeutin
    Leiterin der Einrichtung Theresienhaus, Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH
    Vorstandsmitglied der DGSAS – Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe e.V.

  • Sozialrechtliche Praxis im Lichte des BTHG

    Ein Jahr nach Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) gibt es zahlreiche Neuerscheinungen in der Fach(buch)szene, die das Thema aufgreifen. Zwei Veröffentlichungen sollen hier kurz vorgestellt werden. Der fdr+ veröffentlicht auf seiner Homepage die überarbeitete Neuauflage des Leitfadens Sozialrecht von Rüdiger Lenski.

    Für die Suchthilfe, deren Leistungen quer durch alle Sozialgesetzbücher finanziert werden, ist die Kenntnis des Sozialrechtes von besonderer Bedeutung. Seit einigen Jahren bearbeitet Rüdiger Lenski, Mitglied im Beirat des fdr+, seinen „Leitfaden Sozialrecht“, der alle Informationen zur Anwendung des Sozialrechts auf 249 Seiten bündelt. Er ist für alle, die bei diesem Thema im Studium nicht so aufmerksam waren, eine ideale Quelle der Aus- und Weiterbildung. Jetzt ist die Ausgabe 2018 erschienen, die auch das am 01.01.2017 in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz (BTHG) berücksichtigt. Dieses für die Praxis unverzichtbare Dokument steht auf der Homepage des fdr+ zur freien Nutzung zum Herunterladen bereit.
    Quelle: www.fdr-online.info (16.02.2018)

    Wer die Möglichkeiten und Risiken des BTHG vertieft verstehen möchte, liegt mit dem handlichen Buch Das neue Teilhaberecht von Arne von Boetticher richtig. Der Blick in das Inhaltsverzeichnis überzeugt. Entlang der verschiedenen Umsetzungsstufen (2017, 2018, 2020, 2023) stellt der Autor die Änderungen in den dazugehörigen Sozialgesetzen dar und kommentiert sie für die Beratungspraxis.

    Das Handbuch zum neuen Recht erklärt verständlich die kompliziert und verschachtelt gestalteten Neuerungen. Insbesondere stellt es strukturiert dar, was in den neuen Teilen 1 (Allgemeine Regeln), 2 (Eingliederungshilfe) und 3 (Recht der schwerbehinderten Menschen/Mitbestimmungsrechte) des SGB IX neu geregelt ist. Der Autor, promovierter Volljurist und diplomierter Sozialpädagoge (FH), geht auf die vielen Abgrenzungs- und damit Zuständigkeitsfragen zum SGB XII ein, aber auch zum SGB VIII und XI. Er erläutert schrittweise das Inkrafttreten der Neuregelungen und die insoweit schon jetzt zu beachtenden Vorwirkungen. Die sperrige Regelungstechnik des SGB IX im Verbund mit den Regelungen zur Teilhabe in den anderen Büchern des Sozialgesetzbuches wird mit Übersichtstabellen und Synopsen leicht nachvollziehbar gemacht. Neuregelungen werden unter Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien erschlossen, und erste Beraterhinweise geben eine praktikable juristische Anleitung in einer schwierigen Übergangszeit.
    NOMOS Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018, 394 S., € 38,00, ISBN 978-3-8487-3356-9
    Quelle: Homepage Nomos Verlagsgesellschaft (16.02.2018)

    Martina Tranel, Dipl.-Soz.päd./Dipl.-Soz.arb., Sozialtherapeutin
    Leiterin der Einrichtung Theresienhaus, Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH

  • Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    „Suchthilfe und Arbeit“ ist trotz des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren noch immer ein großes Thema. Das ist merkwürdig, denn bereits 1985 war mit der „Hammer Studie“ (Raschke & Schliehe, 1985) eigentlich schon alles gesagt: „Der Ausstieg aus dem Drogenkonsum steht und fällt mit der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen“. Gleichzeitig erschwert eine Abhängigkeitserkrankung jedoch immens die berufliche Integration. Das Gleiche gilt auch für psychische Erkrankungen oder andere Hindernisse, die von den Agenturen für Arbeit als Vermittlungshemmnisse beschrieben werden. Vermittlungshemmnisse haben dramatische Folgen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be­rufsforschung (IAB; Achatz & Trappmann) hat im Jahr 2011 den Einfluss multipler Hindernisfaktoren auf die Arbeitsmarktintegration untersucht. Diese Faktoren waren u. a. Alter und Geschlecht, gesundheitliche Einschränkungen, geringe Schulbildung oder Qualifikation, Migrationshinter­grund, langer ALG II-Bezug und schlechte regionale Arbeitsmarktlage. Bei einem Vermittlungshemmnis lag die Wahrscheinlichkeit für den Übergang in eine Erwerbstätigkeit bereits bei nur elf Prozent und sank dann mit jedem weiteren Vermitt­lungshemmnis ab, bis sie bei sechs und mehr Faktoren bei null Prozent angekommen war (Achatz & Trappmann, 2011, S. 30). Damit haben Suchtkranke, die vielfache Vermittlungshemmnisse auf sich konzentrieren, nur eine marginale Integrationschance.

    Seit 30 Jahren steht das Thema Arbeit auch auf der Agenda des Fachverbandes Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr+). „Sorgen mit der Nachsorge“ hieß 1986 die Dissertation des damaligen Geschäftsführers des fdr+, Manfred Sohn. Zweimal veröffentlichte der Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung Grundsatzpapiere zu diesem Thema: Im Jahr 2012 das sehr gute Konsenspapier „Förderung der Teilhabe Abhängigkeitskranke am Arbeitsleben“ und im Jahr 2016 den Beschluss „Teilhabe am Arbeitsleben“. Das Problem dieser Veröffentlichungen: An theoretischen Herleitungen herrscht kein Mangel. Was fehlt, ist die praktische Umsetzung des Sozialrechtes in Hilfen für abhängigkeitskranke Menschen. Vor diesem Hintergrund rief der fdr+ 2014 eine Arbeitsgruppe „Arbeit und Bildung“ ins Leben, die im Mai 2017 die Handreichung „Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen“ veröffentlicht hat. In dieser Broschüre werden die Leistungen zur Teilhabe an Arbeit für Suchtkranke detailliert beschrieben. Untermauert von erläuternden und heranführenden Texten geben die Autoren eine ausführliche Übersicht zu den Leistungstypen und Leistungsmöglichkeiten, mit denen suchtkranke Menschen an Arbeit herangeführt werden können. Das Bundesteilhabegesetz, das während der Erstellung der Handreichung mit seinen ersten Teilen in Kraft getreten ist, findet ebenfalls angemessen Berücksichtigung. Folgende gesetzliche Finanzierungsmöglichkeiten werden vorgestellt und erklärt:

    1. Betriebsformen und Trägerstrukturen
    2. Individuelle Leistungstypen
    3. Maßnahmen in der medizinischen Rehabilitation Suchtkranker
    4. Weitere Möglichkeiten zur Förderung der Teilhabe an Arbeit

    Teilhabe am Arbeitsleben ist ein identitätsstiftender Faktor, sie ermöglicht positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Im Vorwort der Handreichung stellen die Autoren dar, wieso Integration und Teilhabe als Leitbild in der Suchthilfe betrachtet werden dürfen und müssen – ein Plädoyer dafür, dass es sich lohnt, sich um Integration und Teilhabe (weiterhin) nachdrücklich zu bemühen, und dass ein erfolgreiches Wirken möglich ist. Im O-Ton heißt es dort:

    Im Jahr 1968 stellte das Bundessozialgericht fest: Sucht ist Krankheit. Seit 1975 ist durch die „Eingliederungshilfeverordnung“ festgelegt, dass Suchtkranke zu den Personen mit einer seelischen Behinderung zählen. Seit 2009 ist die UN Behindertenrechtskonvention in Deutschland verbindlich und geltendes Recht. Sie hat die Umsetzung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen zum Ziel. Wenn ein Mensch durch seine Abhängigkeitskrankheit keine ausreichende Schul- oder Berufsausbildung hat oder er arbeitslos ist oder wird, gilt er nicht nur als krank, sondern auch als (vorübergehend) „behindert“ im Sinne der Sozialgesetzbücher IX und XII und hat Anspruch auf sozialrechtliche Leistungen zur Überwindung dieser Situation. Dieser Leistungsanspruch ist mit dem Teilhabekonzept der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) eng verbunden, da er eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigungen erfordert.

    Der Eintritt in Erwerbsarbeit, Tätigkeit oder Qualifizierung soll für die abhängigkeitskranke Person einen Rollenwechsel in die Welt positiver Zuschreibungen und der Anerkennung durch Arbeit einleiten. Damit sind gleichfalls positive Erwartungen verbunden, wie etwa die Wiederentdeckung vermeintlich verschütteter Bildungsressourcen oder auch des Vertrauens in die eigene Leistungsfähigkeit und die damit zusammenhängenden Kompetenzen. Die Erarbeitung eines subjektiven wie objektiven „Wertes“ in der Arbeitsgesellschaft und nicht zuletzt die Aussicht auf eine selbstbestimmte, auskömmliche Sicherung der Existenz bilden zentrale Anreize für den beruflichen (Wieder-)Einstieg.

    In unserer modernen Arbeitsgesellschaft bildet Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Qualifikationen, Belohnungen und sozialen Einflussmöglichkeiten eine zentrale Basis für die Zuweisung von sozialem Status und von gesellschaftlichen Partizipationschancen. In den Arbeitsmarkt integriert zu sein, wird mit sozialer Teilhabe zunehmend gleichgesetzt, so dass im Umkehrschluss Arbeitslosigkeit mit sozialem Ausschluss verbunden wird.

    Für Abhängigkeitskranke assoziiert „Arbeit haben“ zudem den Ausstieg aus der Sucht. Es ist die Chance, eine bislang meist krisenhafte Berufsbiographie positiv und selbstbestimmt zu gestalten und einen „eigenen Weg“ zu finden. Dabei benötigen alle Teilhabebemühungen und Hilfeangebote positive Zukunftserwartungen für die Menschen, verbunden mit konkreten Chancen. Deswegen sind auch drogenpolitische Paradigmen alternativ zu etablierten Stigmata neu zu formulieren:

    Teilhabe an Erwerbsarbeit für Abhängigkeitskranke kann mithilfe von berufsbezogenen Unterstützungs-, Bildungs- und Beschäftigungsangeboten auch im Rahmen der Suchthilfe stärker als bisher möglich werden. Die vorliegende Arbeitshilfe wird vom grundlegenden Gedanken getragen, dass eine nachhaltige und selbstbestimmte berufliche Integration für Abhängigkeitskranke möglich ist. Suchthilfe muss ihre Adressaten*innen als aktiv an der Arbeitsgesellschaft teilhabende Menschen wahrnehmen und entsprechende Angebote bereitstellen. Das gibt ihnen auf dieser Basis die Möglichkeit, positive Zukunftserwartungen hinsichtlich Verdienst, Selbstwert, Zugehörigkeit und sinnvoller Tätigkeit zu entwickeln.

    Von der Seite der Arbeitsverwaltung und anderer staatlicher Institutionen wird Abhängigkeitskranken jedoch nicht selten mit einer eher defizitorientierten Perspektive begegnet. Sie sollen etwa ihre „Erwerbsfähigkeit wiedererlangen“ und alles hierbei „Hinderliche“ aus dem Weg räumen. Dadurch werden auch andere Fallbeteiligte dazu aufgefordert, jene Hürden in den Arbeitsmarkt zu identifizieren und mithilfe der „richtigen Instrumente“ abzubauen. So dringt diese Perspektive quasi-diagnostisch in die Biographien der Adressaten*innen ein und codiert dort mehrere Fragmente zu sog. Vermittlungshemmnissen um, etwa die Suchterkrankung, eine lange Zeit der Arbeitslosigkeit, kein oder ein niedriger Bildungsabschluss, der gesundheitliche Zustand bis hin zur Familiensituation. Dieser Begriff erlangte als Defizitindikator für die Vermittlungswahrscheinlichkeit (vgl. Achatz & Trappmann 2011) eine zentrale Bedeutung; im Rahmen der sog. „Job-Perspektive“ wurde er gar zum diagnostischen Parameter, der den Bezug bestimmter Fördermöglichkeiten begründet.

    Aus Sicht der Betroffenen stellen Vermittlungshemmnisse nichts anderes als Spiegelbilder der Akzeptanzdefizite des Arbeitsmarktes dar, entlang derer die Arbeitsverwaltung den Handlungsbedarf für die jeweiligen Integrationsbemühungen vermisst und die die Grenzen der (regionalen) Integrationskultur zeigen.

    Für den Aufbau beschäftigungsbezogener Hilfeangebote stellt sich für die Suchthilfe die Aufgabe, beide Perspektiven zu reflektieren und in den Hilfeprozess zu integrieren. Denn meistens gehören Abhängigkeitskranke zu den Kunden*innen der Arbeitsverwaltung, denen ein besonders hohes Maß an Vermittlungshemmnissen zugesprochen wird und die damit als „schwer vermittelbar“ gelten.

    Beratungsstellen der Suchthilfe erreichen etwa eine halbe Million Menschen jährlich. Wenn etwa 50 Prozent von ihnen arbeitslos oder Sozialhilfebezieher sind müssen für mindestens 250.000 Menschen Angebote zur Teilhabe an Bildung und Arbeit gemacht werden. (…)

    Das Sozialrecht hat in den vergangenen Jahren den Anspruch abhängigkeitskranker Menschen auf Hilfe verbessert. Eingelöst wird dieser Anspruch jedoch nur zum Teil. Immer noch werden Abhängigkeitskranke diskriminiert und von Leistungen der Teilhabe an Arbeit ausgeschlossen. Insbesondere das Fehlen längerfristiger Perspektiven entmutigt viele Menschen und verschlechtert die Chancen zur Wiedereingliederung in Arbeit und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der Verlust der Arbeit führt zu ‚sinnlos‘ zur Verfügung stehender Freizeit. Dieses Aufweichen der Tagesstruktur wird nicht problemlos bewältigt.

    Die beruflichen Angebote in der Suchthilfe liefern den Hintergrund für die Nachhaltigkeit von bio-psycho-sozialen Hilfen. Sie müssen die Grundlage für Teilhabeplanung sein. (…)

    Literatur bei den Autor/innen

    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.: Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen. Eine Handreichung, fdr+texte Nr. 12, Berlin 2017.
    Die Broschüre kann zum Preis von 7 Euro beim fdr+ bestellt werden: www.fdr-online.info

    Kontakt:

    Jost  Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr)
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    Tel. 030/85 40 04 90
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

  • Weiterführende Maßnahmen nach der Rehabilitation

    Weiterführende Maßnahmen nach der Rehabilitation

    Jörg Heinsohn
    Jörg Heinsohn

    Die fünf in den BORA-Empfehlungen beschriebenen Zielgruppen bieten nicht nur eine Orientierung für die Planung und Durchführung berufsbezogener Maßnahmen während der Therapie, sondern auch für die Zeit danach. Den einzelnen Zielgruppen lassen sich unterschiedliche weiterführende Maßnahmen zuordnen, die aus der Reha heraus angeregt werden können. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Maßnahmen je nach Zielgruppe in Frage kommen.

    BORA-Zielgruppe 1: Rehabilitanden in Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen

    Sozialmedizinisch ist davon auszugehen, dass eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit besteht. Es gibt somit keine wesentlichen Einschränkungen für die letzte Tätigkeit, und Maßnahmen sind nur beschränkt oder gar nicht erforderlich. Trotzdem ist es sinnvoll, die betriebliche Wiedereingliederung im Rehaprozess vorzubereiten und einzuleiten.

    Formale Möglichkeiten bestehen im Rahmen des betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements nach § 80 SGB IX und mit der stufenweisen Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX. Inhaltlich finden Betriebsgespräche, Kontakte zu betrieblichen Sozialdiensten, Betriebsärzten, freiwilligen Suchtkrankenhelfern oder anderen relevanten Personen im betrieblichen Zusammenhang statt.

    BORA-Zielgruppe 2: Rehabilitanden in Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen

    In dieser Gruppe bestehen erwerbsbezogene Probleme bezüglich der Wiedereingliederung am Arbeitsplatz. Lange Arbeitsunfähigkeitszeiten (AU-Zeiten), Konflikte am Arbeitsplatz oder medizinische Gründe können die Ursache sein. Ist die sozialmedizinische Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit eingeschränkt, greifen als formale Möglichkeiten der beruflichen Wiedereingliederung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz (LTA) nach §§ 33-38 SGB IX. Die Leistungen können bezogen auf den Rehabilitanden selbst oder an den Arbeitgeber geleistet werden.

    Weiterhin werden in dieser Zielgruppe das Wiedereingliederungsmanagement nach § 80 SGB IX und die stufenweise Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX Anwendung finden. Liegt eine Schwerbehinderung vor, ist das Integrationsamt nach § 101 f. SGB IX oder der Integrationsfachdienst nach § 109 f. SGB IX potentiell zu beteiligen.

    BORA-Zielgruppe 3: Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III

    Rehabilitanden dieser Gruppe weisen in der Regel eine Bezugstätigkeit von mehr als sechs Monaten innerhalb der letzten fünf Jahre auf. Die erste Frage ist, in welchem Umfang für diese Tätigkeit Leistungsfähigkeit besteht. Ist diese mit sechs Stunden oder mehr gegeben, kommen Fördermöglichkeiten nach dem SGB III in der Verantwortlichkeit der Agentur für Arbeit in Betracht: Beratung § 29 f., Vermittlung § 35 f., Maßnahmen zur beruflichen Aktivierung und Eingliederung § 45 f., berufliche Weiterbildung § 81 f. SGB III.

    Liegt die Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit unter drei Stunden, sind nach §§ 33-38 SGB IX Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz (LTA) möglich. Diese können inhaltlich z. B. als Integrations-, Qualifizierungs- oder Umschulungsmaßnahmen gestaltet werden. Auch in diesem Fall sind LTA arbeitgeberbezogen möglich.

    Bei Vorliegen einer Schwerbehinderung ist der Integrationsfachdienst nach § 109 f. SGB IX potentiell zu beteiligen. Bei vorliegender Behinderung sind u. U. Maßnahmen im Rahmen von LTA im Eingangs-, Bildungs- oder Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) zu erwägen, § 39 f. SGB IX.

    BORA-Zielgruppe 4: Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II

    In dieser Gruppe ist zunächst wiederum zu prüfen, ob eine Bezugstätigkeit von mehr als sechs Monaten innerhalb der letzten fünf Jahre vorliegt. Ist dies gegeben, können LTA nach §§ 33-38 SGB IX in Frage kommen, vorausgesetzt, es besteht eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit für diese zuletzt ausgeübte Tätigkeit. Grundsätzlich sei erwähnt, dass LTA nach dem SGB IX auch zum Tragen kommen können, wenn nach der Rehabilitation eine dauerhafte Gefährdung der Integration in den 1. Arbeitsmarkt angenommen werden muss. Diese Auslegungsvariante wird aber nur sehr bedingt von den Leistungsträgern angewandt.

    Wenn keine Bezugstätigkeit vorliegt und eine sozialmedizinische Einschränkung besteht, was bei dieser Gruppe oft der Fall sein wird, dann kommen Maßnahmen nach dem SGB II durch die Jobcenter zum Zug: Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach § 14 f. SGB II und Leistungen zur Bildung und Teilhabe nach § 28 f. SGB II.

    Bei vorliegender Behinderung kann der Integrationsfachdienst nach SGB IX beauftragt und  Maßnahmen im Eingangs- und Bildungsbereich einer WfbM durchgeführt werden.

    BORA-Zielgruppe 5: Nicht-Erwerbstätige

    In dieser Gruppe bestehen unterschiedliche Förderungsmöglichkeiten. Persönliche und sachliche Voraussetzungen und daraus resultierende Zuständigkeiten müssen geprüft werden und sind ausschlaggebend. Denkbar sind Förderungen nach dem SGB IX (LTA), SGB II, SGB III und SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG).

    In dieser Gruppe können grundsätzlich alle oben beschriebenen Maßnahmen zum Tragen kommen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Zum Teil sind spezifische Fördermöglichkeiten gegeben, wie z. B. die Förderung von Jugendlichen nach dem SGB III oder des beruflichen Wiedereinstiegs von Frauen ebenfalls nach dem SGB III.

    Kontakt:

    Jörg Heinsohn
    Rehaklinik Birkenbuck
    Birkenbuck 4
    79429 Malsburg-Marzell
    J.Heinsohn@rehaklinik-birkenbuck.de
    www.rehaklinik-birkenbuck.de

    Angaben zum Autor:

    Jörg Heinsohn, Diplom-Sozialarbeiter (FH), ist Leiter des Bereichs Sozialtherapie in der Rehaklinik Birkenbuck.

  • Wo stehen die Beratungsstellen?

    Wo stehen die Beratungsstellen?

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Eine gesellschaftspolitisch bewegte Zeit, wie wir sie derzeit erleben, ist stark geprägt von Fragen zur gesellschaftlichen Solidarität und von Erschütterungen des gesellschaftlichen Konsenses – wer hat wie viel an wen zu leisten, wer hat Anspruch auf welche Leistungen und zu welchen Bedingungen? Dabei geht es manchen politischen Kräften und gesellschaftlichen Akteuren seit der so genannten Agenda 2010 um nicht weniger als den Umbau des Sozialstaates. Es geht um Fragen, wie viel Sozialstaat erforderlich und nötig ist und wer welche Steuerungsfunktion darin übernimmt, beispielsweise beim Arbeitslosengeld II im SGB II oder im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Rolle und Stellung der ambulanten regionalen Suchthilfe, die in unterschiedliche Abhängigkeiten und Beziehungsnetzwerke auf kommunaler wie überregionaler, auf nationaler wie internationaler Ebene eingebunden ist, deren Handeln sich auf regionaler Ebene aber zunehmend an unterschiedlichen Lösungen orientiert.

    Der folgende Blick auf die ambulante Suchthilfe versteht sich als Diskussionsbeitrag zu ihrem besonderen Stellenwert, den sie für die soziale Gemeinschaft oder vielleicht treffender für die Zivilgesellschaft einnimmt bzw. einnehmen kann. Einige Thesen zu Beginn sollen die weiteren Ausführungen thematisch umreißen und strukturieren:

    • Die ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit im umfassenden und besten Sinne.
    • Ihr Leistungsspektrum für Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und auch für die soziale Gemeinschaft ist umfassender und dessen Wirksamkeit höher, als üblich nach außen ersichtlich wird.
    • Die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung haben sich auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies zukünftig noch mehr tun.
    • Die ambulante Suchthilfe erbringt Leistungen, die andere in dieser Form nicht erbringen können – weder niedergelassene Therapeuten noch private Anbieter.
    • Wenn die ambulante Suchthilfe ihr Leistungsspektrum für suchtkranke und suchtgefährdete Menschen und die soziale Gemeinschaft auch weiterhin erhalten will, muss sie sich in der Form ihrer Leistungserbringung „bewegen“ und ihr Profil schärfen.

    Sozialrechtlicher Rahmen und Auftragsgestaltung

    Um die Rolle und Aufgaben der ambulanten regionalen Suchthilfe im Gesamtzusammenhang zu verstehen, ist es wichtig, zunächst ihren sozialrechtlichen Rahmen und die Auftragsgestaltung zu skizzieren. Dieser Rahmen ist für die ambulante regionale Suchthilfe wesentlich durch fünf Bereiche geprägt:

    1. Sozialstaatsprinzip und kommunale Daseinsvorsorge

    Die Grundlage der Finanzierung in der ambulanten Suchthilfe, von einzelnen Teilleistungen wie der ambulanten Rehabilitation Sucht abgesehen, fußt auf der kommunalen Daseinsvorsorge, die verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG verankert und in den Gemeindeordnungen der Bundesländer konkretisiert ist. Im heutigen Verständnis ist sie zu einem Synonym für die Schaffung einer kommunalen Infrastruktur geworden, die für ihre Einwohner die erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereitstellt. Die kommunale Daseinsvorsorge ist eine weitgehend freiwillige, nicht einklagbare Leistung. Aktuell steht sie unter Liberalisierungsdruck, bedingt durch das Europäische Wettbewerbsrecht und daraus folgender Überlegungen zur Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben.

    2. Subsidiaritätsprinzip

    Eng verknüpft mit dem Sozialstaatsprinzip und der Daseinsvorsorge sowie den damit verbundenen staatlichen Fürsorgeleistungen ist das Prinzip der Subsidiarität. Damit ist vereinfacht die Idee gemeint, dass gesellschaftliche Eigenverantwortung und Autonomie Vorrang vor staatlichem Handeln haben. In Bezug auf die Erbringung von Fürsorgeleistungen bedeutet dies, dass (staatliche) Aufgaben soweit als möglich von unteren Ebenen (z. B. Länder, Städte, Kommunen) bzw. kleineren Einheiten ausgeführt werden. Diesem Prinzip unterliegt auch das Verhältnis zwischen den öffentlichen Trägern (Bund, Länder, Gemeinden) und den freien Trägern (freie Wohlfahrtspflege) von Fürsorgeleistungen. Dies bedeutet zwar einen Vorrang für die freie Wohlfahrtspflege bzw. einen Nachrang öffentlicher Träger und Einrichtungen, aber es gab und gibt immer wieder Richtungsstreitigkeiten um die damit verbundene Einschränkung kommunaler Selbstverwaltung und den Erhalt der sozialpolitischen Position der freien, vor allem der konfessionellen Wohlfahrtspflege. Wir erleben heute eine Diskussion um die so genannte „neue Subsidiarität“, die weit über die einfache Formel von Vor- und Nachrang hinausgeht. Sie bewegt sich mehr im Spannungsfeld von Steuerungsmechanismen, einer relativen Autonomie der handelnden Akteure und den jeweiligen Eigengesetzlichkeiten in den entsprechenden Hilfefeldern. Das leitet automatisch zur Frage der kommunalen Steuerung über.

    3. Kommunale Steuerung

    Die kommunale Steuerung erhält durch Einsparmaßnahmen bei sozialen Leistungen der öffentlichen Hand, durch die damit verbundenen neuen Verteilungsszenarien und durch den Prozess der Kommunalisierung eine neue Qualität. Diese „neue“ Zuweisung von Gestaltungsverantwortung stellt viele Kommunen vor ungewohnte fachspezifische Herausforderungen. Darin steckt gleichermaßen Chance und Verpflichtung für die ambulante Suchthilfe. Dadurch nämlich, dass sie sich als unverzichtbarer Partner in der Gestaltung der sozialen Gegebenheiten vor Ort und somit der sozialen Gemeinschaft vor Ort versteht.

    4. Soziale Leistungsgesetze

    Die Rahmenbedingungen ambulanter Leistungen der Suchthilfe werden komplettiert durch die sozialen Leistungsgesetze. Die Krankheit Sucht als ein sehr komplexes Geschehen berührt vor dem Hintergrund ihres biopsychosozialen Erklärungsmodells eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsgesetze des Sozialgesetzbuches. Im Einzelfall ist es erforderlich, die unterschiedlichen Leistungen bedarfsgerecht zu kombinieren, was nicht immer möglich bzw. häufig problematisch ist. Als Beispiel seien hier Maßnahmen für Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Suchthilfe oder die Betreuung substituierter schwangerer Frauen genannt.

    5. Soziale und gesellschaftliche Teilhabe

    Eine wesentliche Grundlage bzw. auch ein Auftrag für die Gestaltung der ambulanten Suchthilfe im Gemeinwesen ergibt sich über das Konzept der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff der „Teilhabe“ zu einem „Leitkonzept der wissenschaftlichen und politischen Verständigung über die Zukunft des deutschen Sozialmodells“ (Bartelheimer, 2007) entwickelt. Teilhabemodelle gehen davon aus, dass materielle Ressourcen und Rechtsansprüche unverzichtbare Voraussetzungen für die Menschen sind, um sich angemessen innerhalb ihrer Gesellschaft zu bewegen. Dies zu realisieren, also Verwirklichungschancen wahrzunehmen, verlangt zum einen persönliche Fähigkeiten, zum anderen bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen wie Normen oder Infrastruktur. Das Ziel sozialstaatlicher Handlungen besteht demnach darin, die Ungleichheiten bei den Verwirklichungschancen zu reduzieren und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. In der ambulanten Suchthilfe wäre dann zu prüfen, was sie dazu beitragen kann, dass mehr betroffene Menschen oder bestimmte Gruppierungen die Chance zur Teilhabe am „Gut“ der ambulanten Suchthilfe erhalten.

    Ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit

    Derzeit gibt es in Deutschland ca. 1.300 ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, die jährlich ca. 500.000 suchtkranke oder von Sucht betroffene Menschen erreichen (Jahrbuch Sucht 2013). Die Zahl der Hilfesuchenden hat in der ambulanten Suchthilfe in den letzten Jahren um ca. acht Prozent zugenommen (Deutsche Suchthilfestatistik 2008 bis 2012). Nach Einschätzungen der Beratungsstellen haben die Personalressourcen jedoch in Relation zu den gestiegenen Leistungsanforderungen eher abgenommen.

    Rolle und Selbstverständnis der ambulanten Suchthilfe

    Für Personen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen sowie deren Angehörige sind die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die zentralen Fachstellen in einem regionalen Hilfesystem und innerhalb eines regionalen Suchthilfeverbundes. Sie stellen für die Hilfesuchenden wie für die Kommune die Umsetzung der Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge im Sinne von Kernleistungen einer regionalen Grundversorgung sicher. Damit ist auch der weitere Zugang zu sozialrechtlich normierten Leistungen wie Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation verbunden.

    Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe

    Vergegenwärtigen wir uns das Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe – von spezifischer Präventionsarbeit, Risikominimierung und aufsuchenden Hilfen über Beratung, Begleitung und Betreuung, Behandlung und Rehabilitation bis zu Integrationshilfen, Selbsthilfeunterstützung und Netzwerkarbeit in versorgungsübergreifenden Kooperationsstrukturen – so wird deutlich: Die komplexe Leistungserbringung der ambulanten Suchthilfe ist psychosoziale Suchthilfe und in weiten Bereichen Soziale Arbeit. Im Zusammenspiel sozialer Fragestellungen und sozialer Hilfeleistungen mit Kenntnissen in Beratungsmethoden und psychotherapeutischer Einzel- und Gruppenarbeit, die zusätzlich Ansätze des Empowerments, suchtspezifisches Case Management sowie Ansätze der Lebens- bzw. Sozialraumorientierung und Quartiersarbeit integriert, findet Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe gelebte Wirklichkeit.

    Wie und wo sollten Menschen, die in die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe kommen, sonst eine umfassende und bedarfsgerechte Hilfe erhalten? Menschen, die Suchtprobleme haben, aber gleichzeitig arbeitslos und verschuldet sind, deren Partnerbeziehung auf der Kippe steht, deren Gesundheit angeschlagen ist, die sich in einer Sinnkrise befinden und sich insgesamt ohne Perspektive fühlen. Der psychosoziale Hilfeansatz der ambulanten Suchthilfe will Menschen „dort abholen“, wo sie stehen. Dazu hält die ambulante Suchthilfe Einiges bereit:

    • ein Verständnis von Empowerment, das die Selbsthilfekräfte und Selbstbestimmung der Betroffenen fördert,
    • einzelfallbezogene Hilfen zur Beratung, zur psychosozialen Begleitung bei Substitution wie auch zur existentiellen materiellen Absicherung,
    • fallbezogenes Case Management zur optimalen Kombination unterschiedlicher Hilfen und Hilfebereiche, z. B. der Suchthilfe mit der Schuldnerberatung, mit der Kinder- und Jugendhilfe oder mit der regionalen Hilfeplanung,
    • das Einbeziehen gemeinwesenorientierter Ansätze, die sich heute unter Begriffen wie Lebens- bzw. Sozialraumorientierung oder auch Quartiersarbeit finden und zum Ziel haben, Menschen in ihrem persönlichen Lebensumfeld zu erreichen und ggf. auch Einfluss auf dieses Lebensumfeld zu nehmen,
    • die Integration neuer Konzepte wie Motivierende Gesprächsführung oder Community Reinforcement Approach (CRA).

    Dies sind Interventionen und Hilfestrategien, die letztlich alle darauf abzielen, immer mehr Menschen mit riskantem oder abhängigem Suchtmittelkonsum frühzeitig und bedarfsgerecht zu helfen.

    Ambulante Suchthilfe und soziale Gemeinschaft (Zivilgesellschaft)

    Über die bloße Tatsache hinaus, dass die ambulante Suchthilfe Anlaufstelle für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit spezifischen Problemen ist, besitzt sie einen (Mehr-)Wert für die soziale Gemeinschaft. Ambulante Suchthilfe versteht sich als Teil der regionalen Gesundheitsvorsorge. In diesem Rahmen bemisst sich ihr Wert aus der Summe ihres unmittelbaren Nutzens für betroffene Menschen und deren Angehörige und ihres mittelbaren Nutzens für die soziale Gemeinschaft. Diesen mittelbaren Nutzen erreicht sie auf vielfältige Weise:

    • Öffentlichkeitsfunktion: Als Anwältin der Betroffenen weist sie auf die Lebensbedingungen suchtkranker Menschen öffentlich hin. Diese öffentliche Thematisierung verhindert, dass die besonderen Problem- und Lebenslagen der betroffenen Menschen einseitig individuell begründet und damit stigmatisiert und tabuisiert werden. Dagegen werden sie als zwar persönlich, aber auch gesellschaftlich und sozial bedingte Prozesse dargestellt. Die ambulante Suchthilfe schafft damit eine wesentliche Grundlage für die Integration suchtkranker Menschen. Denn Integration oder Inklusion erfolgt nicht über die professionellen Helfer, sondern über die Mitmenschen, die Mitbürger, die lernen, Suchterkrankungen zu verstehen und die Betroffenen nicht (mehr) auszugrenzen.
    • Signalfunktion: Die ambulante Suchthilfe ist ein Seismograph für soziale Entwicklungen. Aufgrund ihrer täglichen Arbeit mit suchtkranken Menschen in deren spezifischen Lebensbezügen nimmt sie soziale Entwicklungen frühzeitig wahr. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur auf die Lebensbedingungen der ihr anvertrauten Menschen hinzuweisen, sondern z. B. auch auf Auswirkungen und Konsequenzen, die bestimmte Gesetzesvorhaben und Gesetzeslagen hätten oder haben. Indem sie auf bestimmte Verhältnisse und Entwicklungen aufmerksam macht und sich so in die politische und gesellschaftliche Debatte einmischt, besitzt sie wichtige Signalfunktion bezogen auf die gesellschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen.
    • Gesellschaftliche und soziale Teilhabe: Ambulante Suchthilfe leistet einen Beitrag zur gesellschaftlichen und sozialen Teilhabe. Suchtprobleme, die nicht frühzeitig erkannt werden oder die nicht oder nicht ausreichend behandelt werden können, führen zur Exklusion, zur gesellschaftlichen wie sozialen Ausgrenzung. Gerade der umfassende Ansatz der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist Garant dafür, dass neben der unmittelbaren Behandlung der Erkrankung auf medizinischer und psychotherapeutischer Basis auch die Lösung anderer damit verbundener Problemlagen in den Blick kommt, egal ob es sich dabei um materielle Hilfen, die Förderung tragfähiger sozialer Netzwerke, den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt oder die Verwirklichung von Rechtsansprüchen handelt.
    • Gesellschaftliche Solidarität: Soziale Arbeit trägt maßgeblich zur gesellschaftlichen Solidarität, also zum Zusammenhalt einer Gesellschaft und deren positiver Weiterentwicklung bei. Der Umgang mit Suchtmitteln, der nicht reglementiert ist, Wirkungen und Konsequenzen von Suchtmitteln, über die nicht oder nicht ausreichend aufgeklärt wird, ein fehlendes oder unzulängliches Hilfe- und Versorgungssystem sind eine Gefahr für die soziale Gemeinschaft. Ambulante regionale Suchthilfe wirkt dem entgegen, indem sie sich vorbeugend mit dem adäquaten Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln und mit der Behandlung akuter Suchtprobleme befasst. Dadurch besitzt sie einen hohen kollektiven Nutzen.
    • Soziale Sicherung und soziale Befriedung: Letztlich leistet die ambulante Suchthilfe einen Beitrag zur sozialen Sicherung und zur sozialen Befriedung in der Kommune, indem sie für regionale und spezifische Probleme Lösungsansätze mit entwickelt. Dies kann auf ordnungspolitischer Ebene in Zusammenarbeit mit der Politik und den Sicherungsorganen vor Ort erfolgen, beispielweise zur Entschärfung negativer Konsequenzen lokaler Drogenszenen. Die Suchthilfe kann aber auch zum sozialverträglichen Umgang mit Alkohol in der Öffentlichkeit beitragen, beispielsweise über Angebote zu einer Fest- und Feierkultur, die den Genuss legaler Suchtmittel nicht ausschließen, aber Formen finden, die Konsum- und Gewaltexzesse vermeiden.

     Aktuelle Herausforderungen

    Die oben beschriebene Rolle der ambulanten Suchthilfe und ihr Selbstverständnis werfen aber auch Fragen auf: Hat die ambulante Suchtberatung weiterhin den Willen und die Ressourcen, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen? Sieht sie sich zunehmend in „Konkurrenz“ zu den psychiatrischen Versorgungsstrukturen und zu niedergelassenen Therapeuten/-innen, oder gelingt es ihr, darin Kooperations-Chancen zu entdecken und diese im Sinne einer Optimierung der Versorgungslandschaft für die Hilfesuchenden zu nutzen?

    Wie zuvor beschrieben, haben sich die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung für ambulante Hilfen auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies auch weiterhin tun. Die ambulante Suchthilfe stellt Leistungen für Menschen in einem Gemeinwesen zur Verfügung und steht deswegen unter der permanenten Prämisse, sich in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess den gesellschaftlichen Entwicklungen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie veränderten Erwartungen von Seiten der Politik, der Leistungsträger und der Hilfesuchenden anzupassen. Daraus ergeben sich zentrale aktuelle Herausforderungen:

    Unter der Prämisse der Ökonomisierung ambulanter Hilfen, aber auch aufgrund veränderter Bedarfe der Hilfesuchenden und neuer fachlicher Kenntnisse, haben sich das Leistungsangebot wie auch die Leistungserbringung stark gewandelt. Die Modularisierung der Hilfen und Angebote hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, d. h. es werden zunehmend bedarfsorientierte und passgenaue Hilfen, Interventionen und Maßnahmen für spezifizierte Klientengruppen angeboten. Hierdurch können die Hilfen effektiver und effizienter angeboten werden. Aufsuchende Hilfen, z. B. in Haftanstalten, Betrieben oder Krankenhäusern, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Über Maßnahmen der Früherkennung und Frühintervention werden Klienten/-innen früher erreicht, und es werden auch andere Klientengruppen erreicht. Ansätze der Lebenslagen- bzw. Sozialraumorientierung kommen vermehrt in den Blick.

    Das alles wirkt sich auch auf das erforderliche Handlungswissen der Berater/innen aus. Sie werden immer stärker von Spezialisten zu Generalisten. Die Mitarbeiter/-innen ambulanter Beratungsstellen verstehen sich heute als multidisziplinäre Teams in Netzwerkarbeit und mit Case-Management-Orientierung. Gleichzeitig bestehen hohe Ansprüche an Effektivität und Effizienz vor dem Hintergrund einer hohen Qualitätsorientierung.

    Die skizzierte (positive) Entwicklung darf aber nicht von der Kehrseite der Medaille ablenken. Eine bedarfsorientierte Leistungserbringung, die ökonomisch sinnvoll und qualitativ hochwertig ist, erhöht den administrativen Aufwand und bringt zwangläufig fachlich und personell anspruchsvolle Leitungs- und Steuerungsaufgaben mit sich. Durch die stärkere Differenzierung und Ökonomisierung der ambulanten Hilfen nimmt in den Beratungsstellen die unmittelbare Beratungs- und Betreuungszeit für den einzelnen Klienten ab, und die Verdichtungen in den Arbeitsbezügen nehmen deutlich zu. Das für die ambulanten Hilfen zentrale Moment der Beziehungsgestaltung und der Bindungsarbeit verändert sich. Berater/-innen weisen deutlich darauf hin, dass die Gesprächs- und Betreuungszeiten für ihre Klientel spürbar abgenommen haben. Bei gleichbleibenden personellen Ressourcen stellt sich durchaus die berechtigte Frage, ob und wie der hohe Anspruch an das Qualitätsniveau ambulanter Leistungen aufrechterhalten werden kann. Schon jetzt signalisieren Beratungsstellen, dass das Qualitätsniveau in den einzelnen Angeboten variiert. Durch passgenaue und zielführende Angebote kann das Leistungsniveau für bestimmte Klientengruppen erhöht werden, während es an anderer Stelle, bedingt durch die nicht gleichzeitig angepassten Ressourcen, wiederum abnimmt. Auf einen Nenner gebracht, befürchten Berater/-innen einen Rückgang der Nachhaltigkeit der Leistungen, was sich beispielweise in den Halte- und Rückfallquoten niederschlägt.

    Die ambulante Suchthilfe ist überwiegend pauschal finanziert auf den Säulen von Eigenmitteln, staatlichen Zuschüssen, Refinanzierungen/Erwirtschaftungen und Projektfinanzierungen. Die kostendeckende Finanzierung der Leistungen und Angebote der ambulanten Suchthilfe ist in den letzten Jahren deutlich schwieriger geworden. Öffentliche Mittel sind rückläufig und stehen unter Einsparvorbehalt. Die Leistungsvergütung hat sich für die Leistungserbringer tendenziell verschlechtert. Gleichzeitig nimmt der Druck in den Einrichtungen zur Eigenwirtschaftlichkeit zu. Tendenziell nimmt der pauschal finanzierte Anteil im Budget der Beratungsstellen ab. Ziel einer auskömmlichen Finanzierung ist eine grundsätzliche Kostendeckung, es ist aber auch zu vermeiden, dass die pauschale Finanzierung der Grundversorgung in den Kommunen mit spezifischen Leistungsangeboten konkurriert bzw. verrechnet wird.

    Perspektiven der ambulanten Suchthilfe

    Hat die ambulante Suchthilfe auch weiterhin das Ziel, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit in einer Region oder Kommune zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen, dann sind – verbunden mit den eben skizzierten Herausforderungen – folgende Aspekte für eine Perspektive wesentlich:

    Suchtberatung ist allen zugänglich und hilft frühzeitig, sie ist teilhabe- und sozialraumorientiert

    Wie im Sinne einer Präambel muss im Grundverständnis der Daseinsvorsorge der Kommunen verankert sein, dass Suchtberatung allen Bürgern/-innen voraussetzungslos zugänglich sein muss. Niemand wird wegen seiner Herkunft, seiner Lebensumstände oder mangelnder Kaufkraft ausgeschlossen. Professor Matthias Möhring-Hesse von der Hochschule Vechta geht so weit, bei der Sozialen Arbeit von einem „öffentlichen Gut“ zu sprechen, von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen sein darf. Ein Angebot nach diesem Verständnis muss per se niedrigschwellig sein. Mit dem Ziel erhöhter Erfolgschancen wie auch im Sinne von Ressourcenschutz hat die Suchtberatung den Anspruch, möglichst frühzeitige Hilfe zu leisten. Das gilt auch für eher „schwer erreichbare“ Zielgruppen, bei denen die ambulante Suchthilfe mit einem rein nachfrageorientierten Verständnis im Sinne der „Komm-Struktur“ an ihre Grenzen stößt. Das erfordert ein Umdenken im methodischen Zugang der ambulanten Suchthilfe. Ansätze aufsuchender Hilfen werden ausgeweitet. Angebote und Maßnahmen werden zunehmend im Verständnis von Sozialraumorientierung entwickelt und erbracht.

    Die Schärfung des eigenen Profils beginnt bei der Diagnostik

    Die Bedarfe der Hilfesuchenden werden immer vielschichtiger. Das hat Auswirkungen auf die Anforderungen an die Diagnostik und Psychodiagnostik in der ambulanten Suchthilfe, die diese Vielschichtigkeit der Lebenslagen erkennen und erfassen muss. Daraufhin ergeben sich Anforderungen an ein modulbezogenes und bedarfsgerechtes Hilfeangebot und insbesondere an ein gestuftes Hilfeangebot, das im Sinne von stepped care und Ressourcenorientierung angemessene und aufeinander aufbauende Maßnahmen der Beratung, Begleitung und Behandlung bereithält. Das handlungsleitende Prinzip dabei ist: „So viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich“ – statt „Viel für wenige“ eher „Etwas für viele“. Eine solche Differenzierung des Leistungsprofils unterscheidet Kernleistungen (Grundversorgung), spezifische Leistungen für die jeweilige Kommune (Pflicht) und von der ambulanten Suchthilfe zusätzlich angebotene Leistungen (Kür). Die ambulante Suchthilfe benötigt zukünftig mehr fachliche und personelle Ressourcen für managementorientierte Aufgaben. Nicht zu Lasten der Beratung und Betreuung, aber ergänzend, damit die Verschiebung in der Arbeit zu Koordinierung, Vernetzung, Wirkungsorientierung und Ökonomie besser gelingt.

    Verbünde haben Konjunktur – gemeinsam sind wir besser

    Aufgrund der steigenden fachlichen und versorgungsorientierten Anforderungen werden strategische Überlegungen zur Verbundorientierung an Bedeutung gewinnen – je nach den jeweiligen regionalen und kommunalen Erfordernissen. In eine kommunale oder regionale Suchthilfeplanung, die sich eine bedarfsorientierte Grundversorgung im Sinne einer öffentlichen Gesundheitsversorgung zum Ziel gesetzt hat, müssen die vielfältigen Netzwerke eingebunden sein. An dieser Stelle kann und muss die ambulante Suchthilfe eine zentrale koordinierende und flankierende Rolle spielen.

    Auf den Schnittstellen liegt das Augenmerk der Zukunft

    Komplexe Problemlagen benötigen in der Regel komplexe Lösungen. Das ist eine Binsenweisheit. Viele Problemlagen, mit denen die Suchthilfe konfrontiert ist, lassen sich alleine aus der Suchthilfe heraus nicht lösen, sondern nur in sinnvoller Kooperation mit anderen Akteuren innerhalb einer integrierenden Versorgungslandschaft. Die eigentliche Weiterentwicklung im Sinne verbesserter Hilfen und Angebote für betroffene Menschen liegt in einer optimierten und intensivierten Schnittstellenarbeit. Das bindet fachliche wie personelle Ressourcen und kann nicht mal schnell nebenher erledigt werden. Erforderlich ist: Voraussetzungen zu schaffen, um diese eigenständige Fachlichkeit des Schnittstellenmanagements erbringen zu können.

    Wirkungsorientierung ist der Boden, auf dem wir stehen

    Die konsequente Darstellung von Wirkzusammenhängen wird an Bedeutung gewinnen. Dies ist erforderlich für die fachliche Weiterentwicklung, für die Transparenz der Arbeit, für den gezielten Einsatz von Ressourcen und damit für die Rechtfertigung des Handelns in der ambulanten Suchthilfe – letztlich auch in einem fast moralisch zu verstehenden Sinn: Hilfesuchende Menschen in der ambulanten Suchthilfe haben ein Recht auf wirkungsvolle Hilfen. Das deutlich zu machen, konsequenter und intensiver darzustellen – gegenüber den Geldgebern aus der öffentlichen Hand und der Sozialversicherung, der Politik wie auch in die Öffentlichkeit hinein – ist eine vordringliche Aufgabe der ambulanten Suchthilfe.

    Der Blick auf die Ökonomie macht ehrlicher

    Ähnliches gilt für den unmittelbaren Zusammenhang von Kosten und Nutzen. Dabei darf der Blick auf die Ökonomie nicht alles sein, darf nicht zum vorherrschenden Maßstab des Handelns werden. Aber der Blick auf Ökonomie macht ehrlicher. Eine langfristige ökonomische Sicht ist abzugrenzen von kurzfristigen Kosteneinsparansätzen, bei denen es nur darum geht, monetär festzustellen, wer welche Leistung am billigsten anbieten kann. Ökonomie langfristig verstanden bedeutet, öffentlich darzustellen, dass wirtschaftliche Erfordernisse nicht zu trennen sind von Wirkungszusammenhängen, von der Nachhaltigkeit in der Leistungserbringung, vom unmittelbaren Nutzen der Leistungen für die Betroffenen und vom mittelbaren Nutzen für die soziale Gemeinschaft. Ökonomie so verstanden ist ein deutliches Argument gegen die allein subjektbezogene Finanzierung auf der Grundlage von Einzelverträgen und Leistungsvereinbarungen und für eine langfristige ökonomische Gestaltung der Hilfen. Und sie ist ein gewichtiges Argument für den Aufbau einer langfristigen Sozialpartnerschaft zwischen Kommune und Leistungsanbietern vor Ort.

    Qualitätsmanagement sichert den Erfolg

    Der gleichermaßen konsequente wie umsichtige Umgang mit Qualitätsmanagement schafft die Grundlagen dafür, in den Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die vielschichtigen fachlichen und leistungsrechtlichen Anforderungen und damit verbundene Maßnahmen so zu ordnen und aufeinander zu beziehen, dass deren Wirkungen auch dort ankommen, wo sie hinzielen, also bei den Menschen mit Suchtproblemen.

    Fazit

    Das Paradigma aus Wirksamkeit (Effektivität), Effizienz (Wirtschaftlichkeit) und Nachhaltigkeit (Qualität) darf nicht der alleinige Maßstab zur Rechtfertigung von Maßnahmen der ambulanten Suchthilfe sein. Nicht alles lässt sich in dieses Schema einordnen, nicht alle Problemlagen und Lösungsansätze lassen sich in messbare Schablonen pressen. Das geht auf Kosten der Vielfältigkeit und vor allem der Kreativität der Lösungen. Die Lebenswirklichkeit der hilfesuchenden Menschen ist vielschichtiger, lebendiger. Und die Antwort der ambulanten Suchthilfe in ihrer Orientierung an der psychosozialen Arbeit ist vielschichtiger, kreativer.

    Aber die ambulante Suchthilfe muss sich dem beschriebenen Optimierungsprozess stellen, managementorientierte Handlungsprogramme mit Augenmaß einsetzen und mit den lebendigen und kreativen Möglichkeiten psychosozialer Arbeit verknüpfen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Geschäftsführer
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas-Suchthilfe e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
    • Hans Joachim Abstein, AGJ Freiburg, Projekt „Zukunftsfähigkeit der PSB der LSS Baden-Württemberg“, Freiburg 2010
    • Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe (AKS), Sucht(-hilfe) kostet Geld – Suchthilfe spart Geld! – eine Argumentationshilfe für die Praxis, Freiburg 2003
    • Peter Bartelheimer, Politik der Teilhabe, Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin 2007
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., Leistungsbeschreibung für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe, DHS, Hamm 1999
    • Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V., Grundversorgung in der ambulanten Such- und Drogenhilfe, Köln 2009
    • Zukunftsforum Politik. Sozialer Bundesstaat 66. Hrsg. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2005
      FOGS-Studie DCV, Integrierte Versorgungsstrukturen – Kooperation und Vernetzung in der Suchthilfe der Caritas, Köln 2008
    • Institut für Therapieforschung (IFT), Suchthilfe in Deutschland, Jahresberichte der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) 2008 bis 2012, München
    • Matthias Möhring-Hesse, Hochschule Vechta, Die Zukunft der sozialen Arbeit im Sozialstaat, Frankfurt 2005
    • Hans-Uwe Otto, Universität Bielefeld, Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und Wirkungen im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit – Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion, Berlin 2007
    • Petzold, H., Steffan A. Gesundheit, Krankheit, Diagnose- und Therapieverständnis in der Integrativen Therapie, in: Integrative Therapie 2001
    • Wolfgang Scheiblich, Zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie – Die Anforderungen an die Suchtkrankenhilfe, Sozialdienst Katholischer Männer e.V., Köln 2004
    • Renate Walter-Hamann, Suchtberatung ist keine Restkategorie, in: neue caritas 18/2007, Deutscher Caritasverband, Freiburg 2007
  • Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation

    Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation

    Helga Meeßen-Hühne
    Helga Meeßen-Hühne

    Helga Meeßen-Hühne ist seit 1999 in der Leitung der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) tätig. Sie beschreibt, welche Funktion die ambulante Suchthilfe auf Landesebene erfüllt und welche Strategien nötig und möglich sind, um ihre Finanzierung zu sichern. Der Artikel beruht auf einem Vortrag, den die Autorin im September 2014 auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des buss in Kassel gehalten hat.

    1. Wer ist eigentlich die ambulante Suchthilfe?

    „Die“ ambulante Suchthilfe gibt es nicht

    Griffiger Titel – komplexe Gemengelage: Wer handelt in wessen Auftrag mit welchem Ziel in Kooperation mit wem? Verschiedenste gesetzliche Regelungen formulieren für den Suchtbereich jeweils unterschiedliche Anspruchsberechtigte, Erbringer und Ziele der Leistung: das SGB II über die Grundsicherung für Arbeitsuchende, das SGB V über die gesetzliche Krankenversicherung, das SGB VI über die gesetzliche Rentenversicherung und das SGB XII über die Sozialhilfe sowie die jeweiligen Landesgesetze über den Öffentlichen Gesundheitsdienst und über die Hilfen für psychisch Kranke. Nicht unerwähnt bleiben sollen Hilfen für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige nach dem SGB VIII. Alle genannten Gesetze und einige weitere Vorschriften haben Relevanz auch für die „ambulante Suchthilfe“ (Ministerium für Arbeit und Soziales 2011).

    logo_ls_suchtfragen_verkeinertSuchtkranke und suchtgefährdete Menschen heißen – je nach Zuständigkeit – Kundinnen und Kunden, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, Klientinnen und Klienten oder seelisch Behinderte in Folge von Sucht. Im Wirkungsbereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sind junge Menschen mit Suchtproblemen „von seelischer Behinderung in Folge von Sucht bedroht“ (§ 35a SGB VIII). Je nach Zuständigkeit geht es den Leistungsträgern z. B. um die Teilhabe am Arbeitsleben, die Sicherung und Wiederherstellung von Erwerbsfähigkeit oder die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.

    Dass 80 Prozent aller Suchtkranken mindestens einmal pro Jahr ihren Hausarzt aufsuchen, ist zumindest in der (Sucht-)Fachwelt bekannt. Die wenigsten der niedergelassenen Ärzte zählen sich aber selbst zur „ambulanten Suchthilfe“. Einige Ärzte, die Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigen durchführen, zählen sich zur „ambulanten Suchthilfe“. Manchmal ordnen sich Tageskliniken von psychiatrischen Fachkrankenhäusern oder von Fachkliniken gem. SGB VI der ambulanten Suchthilfe zu.

    Suchtberatungsstellen – Kern der ambulanten Suchthilfe

    Die Suchtberatungs- und -behandlungsstelle mit ihren regional sehr unterschiedlich ausgestalteten Grund- und Spezialangeboten bildet sicherlich den Kern der ambulanten Suchthilfe. Sie ist der einzige Dienst, der wirklich allen von Sucht Betroffenen offensteht: Angehörigen, Kindern, Betriebsangehörigen, Lehrkräften, Betroffenen in allen Stadien einer Sucht – und dies zuverlässig und wohnortnah: vom ersten (möglicherweise angeordneten) Besuch bis zur Krisenintervention, unter Umständen Jahre nach dem Erreichen einer zufriedenen Abstinenz.

    Bei allen weiteren notwendigen Hilfen steht der ratsuchende Mensch im Mittelpunkt. Qualität und Umfang der Kooperation mit Diensten in anderweitiger Zuständigkeit (z. B. mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst, der Arbeitsverwaltung, der Krankenversorgung, der Rehabilitation, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Schule) hängen allerdings von den jeweiligen Möglichkeiten der Suchtberatungsstelle und von den sehr unterschiedlich ausgeprägten kommunalen Vorgaben ab. Was dann vor Ort unter ambulanter Suchthilfe verstanden wird, unterscheidet sich entsprechend.

    Suchtberatungsstellen tragen zu Förderung und Sicherung des Arbeitskräftepotentials vor Ort bei. Sie sind Kristallisationsorte für spezialisierte und innovative Hilfen und DAS Kompetenzzentrum für Abhängigkeitsfragen vor Ort. Sie haben hinsichtlich sich verändernder Suchtverhaltensweisen und Konsummuster eine Frühwarnfunktion (Beispiel: Methamphetaminkonsum „Crystal Meth“). Darüber hinaus helfen sie mit ihrer Kenntnis der regionalen und überregionalen Hilfen und Zuständigkeiten jedem Betroffenen und Mit-Betroffenen, die jeweils passende Hilfestellung zu finden. Damit haben sie für alle Beteiligten im Hilfeprozess Lotsenfunktion – nicht nur für die Betroffenen, auch für Angehörige, Kollegen, behandelnde Ärzte usw.

    In der Regel kooperieren Suchtberatungsstellen mit Suchtselbsthilfegruppen. Nicht selten waren sie diesen in der Anfangsphase behilflich, waren vielleicht sogar an der Gründung beteiligt. Vielfach unterstützen Suchtberatungsstellen „ihre“ Suchtselbsthilfegruppen: mit Räumlichkeiten, bei der Beantragung finanzieller Unterstützung oder in Krisensituationen. Abstinent lebende Suchtkranke aus Suchtselbsthilfegruppen wiederum unterstützten Suchtberatungsstellen häufig bei Veranstaltungen. So fördern Suchtberatungsstellen Selbsthilfepotential und Ehrenamt.

    Suchtprävention und die möglichst frühe Intervention gehören ebenfalls zu den Aufgaben: Neben schulischer Suchtprävention bieten viele Suchtberatungsstellen beispielsweise für Menschen mit hohem Alkoholkonsum manualgestützte krankenkassengeförderte Kurse zur Trinkreduktion an. Präventions- und Interventionsprojekte zum jugendlichen Rauschtrinken, aber auch Tabakentwöhnung gehören vielerorts zum Repertoire.

    Suchtberatungsstellen kooperieren in lokalen und regionalen Gremien nicht nur mit Diensten und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, sondern auch mit Schule sowie mit der polizeilichen Kriminalprävention. Selbstverständlich sind sie auch mit regionalen Netzwerken zur Kindeswohlsicherung in Kontakt und haben längst nicht mehr „nur“ den suchtkranken Hilfesuchenden, sondern auch dessen familiäre Situation und damit die mitbetroffenen Kinder im Blick.

    Insgesamt sind Suchtberatungsstellen Teil des gemeindenahen pluralen, öffentlichen Hilfeangebotes und tragen als „weicher Standortfaktor“ zur Verbesserung des sozialen Klimas vor Ort bei.

    Sozialleistungsrechtliche Einordnung und Finanzierung

    Die Aufgaben der Suchtberatung und -prävention gehören zu den kommunalen Pflichtaufgaben im eigenen Wirkungskreis, die in der Regel im jeweiligen Gesetz über das Öffentliche Gesundheitswesen fixiert sind. Allerdings sind diese Aufgaben in keinem Bundesland hinsichtlich der vorzuhaltenden Quantität und Qualität belastbar formuliert. Das SGB II zur Teilhabe am Arbeitsleben formuliert seit Januar 2005 erstmals einen Anspruch der „Kundinnen und Kunden“ auf Hilfen zur Überwindung von psychosozialen Vermittlungshemmnissen, darunter auch jene in Folge von Sucht. Allerdings lassen sich auch hieraus kaum planerische Größen qualitativer oder quantitativer Natur ableiten. Angesichts des zunehmenden Legitimationsdrucks der Ausgaben vieler öffentlicher Haushalte befinden sich Suchtberatungsstellen zunehmend in Konkurrenz um die Förderung zu anderen wenig normierten psychosozialen kommunalen Leistungen wie z. B. Ehe-, Familie- und Lebensberatung.

    Weitere Normierungen u. a. für kommunale Aufgaben finden sich in den jeweiligen Landesgesetzen über die Hilfen und den Schutz für psychisch kranke Menschen (häufig PsychKG abgekürzt), zu denen auch Menschen mit Suchterkrankung zählen.

    In allen Bundesländern gehören Suchtberatung und -prävention zu den Aufgaben, die an freie Träger delegiert werden können: Die weitaus überwiegende Anzahl der Suchtberatungsstellen befindet sich in Trägerschaft der Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die für das Angebot dieser kommunalen Dienstleistung auch Eigenmittel einbringen. Eigenmittel speisen sich v. a. aus Spenden und Kirchensteuern, zu einem Teil auch aus Leistungsentgelten wie z. B. ambulanter Rehabilitation. Die Art und Weise der Einbringung von Eigenmitteln divergiert von Kommune zu Kommune – je nach Verhandlungsstand.

    In der Regel unterliegen Suchtberatungsstellen der Fehlbedarfsfinanzierung. Damit schmälern unter Umständen Einkünfte, die im laufenden Jahr höher als gedacht ausfallen, die kommunale und – je nachdem – auch die Landeszuwendung. Damit kann also in der Regel nicht das Leistungsvolumen der Suchtberatungsstelle im laufenden Haushaltsjahr vergrößert werden. Werden eigene Einnahmen höher angesetzt und fallen niedriger aus, so liegt das Gesamtfinanzierungsrisiko beim Träger.

    Die Eigenmittel der Träger gehen tendenziell eher zurück. In den neuen Bundesländern stehen aufgrund der niedrigen Kirchenmitgliederquoten immer nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung. Die Anzahl der Bundesländer, die über Landesförderinstrumentarien Qualitätsdimensionen für regionale Suchtberatung definieren, nimmt ab. Unter wachsendem Spardruck muss die jeweilige Landesförderung zunehmend politisch erstritten werden – unter Umständen für jeden Haushaltszeitraum neu –, sofern die Landesförderung noch nicht in den kommunalen Finanzausgleich eingestellt worden ist. Dabei wissen die Länder in der Regel um ihr eigenes Interesse an der Arbeit von kommunalen Suchtberatungsstellen, beispielsweise weil sie vermeidbaren Bedarfen in der Eingliederungshilfe vorbeugt, weil sie Frühberentung vermeiden hilft oder weil sie zur Sicherung des Kindeswohls beiträgt. Dieses Interesse aus Sicht der Länder bildet die Legitimation für die freiwillige Förderung einer kommunalen Leistung.

    Koordination und Kooperation vor Ort – Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften (PSAG)

    In den Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften kann für die jeweilige Kommune definiert werden, was unter „ambulanter Suchthilfe“ zu verstehen ist. Häufig geht von den PSAGen der Impuls zur Abstimmung von Informationen über die Hilfeangebote für Bürgerinnen und Bürger aus. PSAGen arbeiten in der Regel unter der Leitung eines/-r Psychiatriekoordinators/-in. Einige Bundesländer schreiben in ihrem PsychKG einen solchen Koordinator in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt vor. Je nach politischem Willen und Situation vor Ort findet in den entsprechenden Arbeitskreisen „Sucht“ mehr oder weniger verbindliche und lebendige Kooperationsplanung von Diensten und Einrichtungen statt. Dabei hat die Psychiatriekoordination hier weniger Steuerungs- als Moderationsfunktion: Echte Steuerung ist an Mitteleinsatz gebunden. Das Spektrum der inhaltlichen Arbeit in den PSAG-Arbeitskreisen reicht von der Planung klientzentrierter Kooperation bis zur Beobachtung der Konkurrenzsituation.

    2. Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation legitimieren die ambulante Suchthilfe

    Wappen Sachsen-Anhalt
    Wappen Sachsen-Anhalt

    Die Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA)

    Wie können Suchtberatungsstellen ihren Wert für das regionale Hilfesystem darstellen und damit ihre weitere Finanzierung sichern? Hilfreich ist die Kooperation mit einer Bündelungsorganisation wie den Landesstellen für Suchtfragen. Diese gibt es in fast allen Bundesländern (Bundesarbeitsgemeinschaft 2010).

    Die Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) fungiert als Landesfachstelle Sucht für die Landesregierung mit abgestimmter Aufgaben- und Jahresplanung. Die LS-LSA bündelt die Erkenntnisse und Anforderungen aus den Praxisfeldern der Suchtkrankenhilfe und Suchtprävention. Die sich daraus ergebenden Bestandsaufnahmen und Weiterentwicklungsbedarfe sind die Basis für die vielfältigen Aktivitäten der LS-LSA. Mitglieder der LS-LSA sind neben den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege alle landesweit tätigen Fachverbände in den Themenfeldern Suchtselbsthilfe, Suchtkrankenhilfe und Prävention. Rechtlich ist die LS-LSA ein Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V. (LIGA). Damit hat sie einen direkten Zugang zu allen Themenfeldern der psychosozialen Arbeit der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Da Sucht und Suchtvorbeugung Querschnittsthemen mit Relevanz für nahezu alle psychosozialen Versorgungsfelder darstellen, ist diese Einbindung wertvoll.

    Aufgrund der überdurchschnittlichen Problembelastung im Bereich der legalen Suchtmittel (vgl. Abb. 1) hat sich Sachsen-Anhalt unter anderen das Gesundheitsziel „Senkung des Anteils an Rauchern in der Bevölkerung und der alkoholbedingten Gesundheitsschäden auf Bundesdurchschnitt“ gesetzt. Die Arbeitsgruppe zu diesem Gesundheitsziel, in der Schlüsselinstitutionen der medizinischen Versorgung sowie Suchtfachkliniken mit Vertretern/-innen der GKV zusammenarbeiten, wird von der LS-LSA gemeinsam mit einem Vertreter der AOK Sachsen-Anhalt geleitet. Hieraus ergibt sich insgesamt eine gute Vernetzung der Themen, Aufgabenfelder und Akteure der Suchtkrankenhilfe und -prävention. Auch für die Deutsche Rentenversicherung in Mitteldeutschland übernimmt die LS-LSA Koordinierungsaufgaben, für die sie ebenfalls gefördert wird.

    Abb. 1: Krankenhausfälle aufgrund von Alkohol in Sachsen-Anhalt
    Abb. 1: Krankenhausfälle aufgrund von Alkohol in Sachsen-Anhalt

    Daten zum Suchtgeschehen auf Landesebene in Sachsen-Anhalt

    In der Diskussion über die Notwendigkeit von Suchtberatung und -prävention, die dann auch die Förderung legitimiert, werden in Sachsen-Anhalt vor allem folgende Datenquellen genutzt:

    • die Daten der Gesundheitsberichterstattung des Landes und des Bundes, v. a. Daten der Krankenhausberichterstattung: Diese Daten waren und sind wesentlich für die Formulierung der Gesundheitsziele des Landes.
    • die Daten der Deutschen Rentenversicherung: Hier sind v. a. die Informationen über den Zugang zur Rehabilitation, aber auch die Erwerbsunfähigkeitsquoten im Länder- und Bundesvergleich interessant.
      die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik: Diese werden v. a. im Hinblick auf die Anzahl von Straftaten unter Einfluss von Alkohol bzw. Betäubungsmitteln genutzt.
    • länderspezifische Erhebungen wie MODRUS – Moderne Drogen- und Suchtprävention; leider war 2008 das letzte Erhebungsjahr.
    • die Deutsche Suchthilfestatistik – Auswertung Sachsen-Anhalt (DSHS LSA): Die Datensammlung erfolgt seit 2001 als Vollerhebung mit dem System Ebis der Gesellschaft für Standard-Dokumentation und Auswertung München (GSDA) an den 32 Suchtberatungsstellen in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege, koordiniert durch die LS-LSA. Die DSHS LSA liefert Informationen zum Ausmaß der Hilfeinanspruchnahme sowie soziodemografische Informationen und spiegelt seismografisch das Suchtgeschehen im Zeitverlauf.

    Die LS-LSA führt die Daten anlassbezogen thematisch prägnant zusammen.

    Daten zum Suchtgeschehen auf regionaler Ebene: der standardisierte Sachbericht der Suchtberatungsstellen

    Den standardisierten Sachbericht für Sachsen-Anhalt (http://www.ls-suchtfragen-lsa.de/data/mediapool/vorlage_2014.pdf) als Auszug aus den umfangreichen Ergebnistabellen des Deutschen Kerndatensatzes generiert jede Suchtberatungsstelle aus dem Datenerfassungs- und Auswertungsprogramm. Abgebildet werden die personelle Situation und wesentliche klientbezogene Daten, aber auch Aktivitäten der Suchtberatungsstelle. Dieser Datenüberblick bildet ein übersichtliches und prägnantes Instrument für die eigene fachpolitische Arbeit vor Ort. Da alle Suchtberatungsstellen mit dem standardisierten Sachbericht arbeiten, können beispielsweise Daten in Kooperation mit den anderen Suchtberatungsstellen in der Region regional zusammengeführt, aber auch in Bezug zu Landesdaten gesetzt werden.

    3. Beispiele für die Datennutzung

    Die LS-LSA verzichtet auf die Herausgabe von umfangreichen Berichten. Die Erfahrung zeigt, dass Politik und Verwaltung Informationen gern zur Kenntnis nehmen (und bestenfalls in politisches Handeln einbeziehen), wenn sie themenbezogen, belastbar und knapp aufbereitet sind. Am besten ist, wenn Politik und Verwaltung selbst Informationen nachfragen. Die themenbezogenen Arbeiten der LS-LSA werden bei Bedarf von den Suchtberatungsstellen in den Landkreisen bzw. kreisfreien Städten auf die Region bezogen beschrieben. Die Daten hierfür liegen ja allen Suchtberatungsstellen vor.

    2005: SGB II – Kooperationen mit der Bundesagentur für Arbeit

    Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen hat die LS-LSA 2005 für die neu eingeführten Fallmanager der ARGEn (heute: Jobcenter) mit der Veranstaltung „Basiswissen Suchtfragen – Versorgungsstrukturen und Behandlungskonzepte in Sachsen-Anhalt“ den Grundstein für die gute Kooperation der Suchtberatungsstellen (und auch der stationären Suchthilfe) mit den Jobcentern gelegt. Da die Ergebnistabellen des Deutschen Kerndatensatzes damals noch keine genauen Auskünfte zur Dauer der Arbeitslosigkeit lieferten, konnte in Spezialerhebungen und mit Unterstützung der Gesellschaft für Standard-Dokumentation und Auswertung (GSDA) der Erfahrungshorizont der Suchtberatungsstellen in der Arbeit mit längerfristig arbeitslosen Menschen gezeigt werden. Dies trug zur Akzeptanz der Suchtberatungsstellen durch die ARGEn bei. In der Folge organisierten Suchtberatungsstellen Weiterbildung zu Suchtfragen für „ihre“ ARGE und verhandelten Kooperationsvereinbarungen fachlich auf Augenhöhe.

    2009: Handlungsempfehlung: Beitrag zur Kindeswohlsicherung durch Suchtberatungsstellen

    Nach Inkrafttreten des § 8a Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG) im Jahr 2005 stellte sich auch für Suchtberatungsstellen die Frage, wie die Kinder der bei ihnen Rat Suchenden systematisch in den Blick genommen werden können. Die Daten aus der DSHS LSA machten unmittelbar den Handlungsbedarf deutlich: „Im Jahr 2007 wurden durch die Suchtberatungsstellen in Sachsen-Anhalt rund 6.000 Menschen mit Alkoholproblemen betreut. Insgesamt hatten diese ca. 4.000 eigene Kinder. Etwa 1.700 Kinder lebten insgesamt im Haushalt der Betroffenen. Bei Suchtproblemen mit den illegalen Drogen Opiate, Cannabis, Kokain und Stimulanzien wurden insgesamt rund 2.000 Menschen betreut. Insgesamt hatten diese ca. 800 eigene Kinder. Etwa 600 Kinder lebten insgesamt im Haushalt der Betroffenen.“ (LIGA et al. 2009)

    Die mit allen relevanten Partnern abgestimmte Handlungsempfehlung gibt den Suchtberatungsstellen eine Orientierung für stringentes klientzentriertes Handeln in diesem heiklen Themenfeld. Mit der Veröffentlichung der Handlungsempfehlung wurden die Suchtberatungsstellen in die regionalen Initiativen zur Kindeswohlsicherung verstärkt einbezogen. Unter dem Aspekt, dass die Arbeit an der eigenen Problematik der erwachsenen Ratsuchenden immer auch den Kindern zu Gute kommt, erfuhr die Nützlichkeit von Suchtberatungsstellen verstärkte Aufmerksamkeit.

    2009 bis 2011: Neustrukturierung der Beratungslandschaft in Sachsen-Anhalt

    Im Auftrag des Landtags erarbeitete eine Gruppe unter Federführung des Ministeriums für Arbeit und Soziales Sachsen-Anhalt eine umfangreiche Bestandsaufnahme zu den landesgeförderten Beratungsstellen und den Landesstellen. Ziel war u. a. die Überprüfung des Landesinteresses. Für die Suchtberatungsstellen konnte die LS-LSA anhand der DSHS LSA und anhand eigener Erhebungen belastbare Informationen zu Personalentwicklung und Versorgungsquote, zu den Beratungsbedarfen und Betreuungen, aber auch zu „neuen“ Problemfeldern wie der problematischen Mediennutzung beisteuern. Im Resultat wurde das Landesinteresse bestätigt, sowohl an den Suchtberatungsstellen als auch an der LS-LSA.

    Seit 2010: ICD-10 F15 und Crystal

    Nach den Problemanzeigen zunächst einzelner Suchtberatungsstellen hat die LS-LSA die Crystal-Thematik landesweit im Facharbeitskreis der Suchtberatungsstellen und im Facharbeitskreis Suchtprävention mit einem Dezernenten des Landeskriminalamtes diskutiert. Der Anstieg der Betreuungsfälle mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 – Stimulanzien zeichnet sich in der DSHS LSA seit dem Jahr 2007 deutlich ab (Meeßen-Hühne 2014).

    Ob es sich hier tatsächlich um Betreuungen von Klienten/-innen mit der Hauptdiagnose Methamphetaminkonsum handelt, wurde mit einer Zusatzabfrage erhoben. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im Jahr 2011 38 Prozent, das entspricht etwa 241 Personen. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 276 Crystal-Klienten betreut. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im Jahr 2012 bereits 54 Prozent, das entspricht etwa 549 Personen. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 734 Crystal-Klienten betreut. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im ersten Trimester 2013 etwa 82 Prozent und steigerte sich im Jahresverlauf auf nahezu 100 Prozent. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 1.177 Crystal-Klienten betreut.

    Eine Zunahme der Betreuungsfälle mit der Hauptdiagnose Stimulanzienkonsum zeigt sich in allen Altersgruppen. 2012 waren erstmals unter 14-Jährige, aber auch über 50-Jährige wegen Problemen mit Crystal in Beratung. Der Anteil weiblicher Ratsuchender mit Stimulanzienproblematik lag über die Jahre konstant bei etwa einem Drittel.

    Um sicherzugehen, dass die Betreuungsfälle nicht nur das Geschick der Suchtberatungsstellen, sondern echte Konsumtrends abbilden, wurden die Daten der Suchtberatungsstellen denen der Krankenhausberichterstattung gegenübergestellt. Darüber hinaus wurden die Betreuungsfälle landkreisbezogen dargestellt.

    Mit den Daten der DSHS lässt sich auch die Entwicklung der Betreuungszahlen in den anderen Hauptdiagnosen zeigen, auch in Bezug zur Bevölkerungsentwicklung. Damit wird zweierlei klar: 1. Trotz sinkender Einwohnerzahlen geht der Bedarf an Suchtberatung nicht zurück. 2. Bei gleichbleibender Personalausstattung kann es in den Anteilen der Betreuungen im legalen (v. a. Alkohol) und illegalen Hilfebereich nur Verschiebungen geben.

    2013 war die LS-LSA Kooperationspartner der Fachhochschule Polizei bei Organisation und Durchführung der Fachtagung „Neue Drogentrends“. Auf der Tagung wurden das Datenmaterial der LS-LSA zur Crystal-Problematik und die besonderen Herausforderungen für die Suchtprävention im Bereich der illegalen Drogen vorgestellt, und auch die FH Polizei forderte in der Presseinformation zur Veranstaltung die bedarfsentsprechende Ausstattung von Suchtberatung und -Prävention.

    Im Rahmen einer Zuarbeit zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage aus dem Landtag Sachsen-Anhalt wurden die aktualisierten Daten weiterverwendet. Auch der Psychiatrieausschuss des Landes verwertete diese Informationen in seinem 21. Bericht an den Landtag und an das Ministerium für Arbeit und Soziales und forderte eine angemessene Personalausstattung der Suchtberatungsstellen (Psychiatrieausschuss Sachsen-Anhalt 2014).

    Mit der belastbaren Aufbereitung der Daten zur Betreuungssituation und der Problemsicht in den Suchtberatungsstellen trägt die LS-LSA wesentlich zur Gesamtschau der Crystal-Problematik vor allem aus der Perspektive der ambulanten Suchthilfe bei, und diese Expertise wird durch Politik und Verwaltung angefragt.

    „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Familienförderung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Neuordnung der Förderung sozialer Beratungsangebote“

    Angesichts der Finanzlage des Landes insgesamt standen die landesseitig „freiwilligen Leistungen“ in jeder Haushaltsverhandlung neu zur Disposition. Mit dem „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Familienförderung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Neuordnung der Förderung sozialer Beratungsangebote“ vom 13.08.2014 scheint die Sicherung der Landesförderung für Suchtberatungsstellen und für Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen gelungen zu sein.

    Zugleich bietet das Gesetz die Chance auf Weiterentwicklung der Hilfequalität: Mit Beantragung der einwohnerbezogenen Landesförderung müssen die Landkreise und kreisfreien Städte erstmalig zum Oktober 2015 eine „Sozial- und Jugendhilfeplanung“ vorlegen, die mit Trägern und Regionalpolitik abgestimmt sein muss. Die Versorgung von „Multi-Problem-Familien“ soll mit ressortübergreifender integrierter Beratung verbessert werden. Neben Suchtberatungsstellen und Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen sind auch die Insolvenz-, Schuldner- und die Schwangeren- bzw. Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen beteiligt. An der Umsetzung dieser Idee der LIGA arbeiten die Träger der freien Wohlfahrtspflege in den Gebietskörperschaften schon seit geraumer Zeit. Die ersten Kooperationsvereinbarungen stehen vor dem Abschluss, Diagnose- und Dokumentationsinstrumente für die Abbildung von Multi-Problem-Familien und Beratungsverläufen werden entwickelt (LIGA 2012).

    4. Fazit

    Der Nutzen von Suchtberatungsstellen konnte in den letzten Jahren anhand einzelner Themen auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder verdeutlicht werden. Insgesamt hat sich dadurch die allgemeine Zustimmung zu dieser Leistungsform verbessert. In einigen Bereichen wurde die knappe Personalsituation stabilisiert, in einer Kommune wurde eine weitere Suchtberatungsstelle eingerichtet. Für die Weiterentwicklung im Rahmen der integrierten Beratung sind die Suchtberatungsstellen in Sachsen-Anhalt gut gerüstet.

    Suchterkrankungen führen zu Störungen in vielen Lebensdimensionen. „40 Prozent aller Erkrankungen und vorzeitigen Todesfälle lassen sich auf nur drei vermeidbare Risikofaktoren zurückführen: Rauchen, Alkoholmissbrauch und Verkehrsunfälle, die selbst oft durch Alkohol verursacht werden.“ (WHO 2011 zit. n. DHS 2014) Nach unserer Erfahrung wird die ambulante Suchthilfe weiter Bestand haben, wenn sie weiterhin ihren Nutzen für alle Finanzierungsebenen belegen kann, wenn alle relevanten Partner sie weiter nützlich finden und ihrerseits Lobby-Funktion ausüben.

    Kontakt:

    Helga Meeßen-Hühne
    Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA)
    Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e.V.
    Halberstädter Str. 98
    39112 Magdeburg
    Tel. 0391/543 38 18
    info@ls-suchtfragen-lsa.de
    www.ls-suchtfragen-lsa.de

    Angaben zur Autorin:

    Helga Meeßen-Hühne, Dipl.-Sozialpädagogin und Suchttherapeutin, ist seit 1999 in der Leitung der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) tätig. Die LS-LSA ist ein Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V. (LIGA FW), dem Zusammenschluss der im Land tätigen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Wesentliche Aufgaben der LS-LSA sind Förderung und Koordination von Suchtprävention und Suchtkrankenhilfe.

    Literatur: