Schlagwort: Stationäre Behandlung

  • Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    1 Einleitung

    Menschen mit Suchterkrankungen haben im Anschluss an eine Entzugsbehandlung – bei Erfüllung der Zugangsvoraussetzungen – grundsätzlich Anspruch auf eine Entwöhnungsbehandlung („Suchtrehabilitation“) als Antragsleistung, wobei sich die Maßnahme möglichst nahtlos an den qualifizierten Entzug anschließen soll. Neben einer nachhaltigen Konsummengenreduktion (i. d. R. mit dem Ziel der Abstinenz) wird bei Entwöhnungsbehandlungen großer Wert auf eine psycho-soziale Stabilisierung der Behandelten und die Förderung ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe gelegt (Deutsche Rentenversicherung, 2017; Verband der Ersatzkassen (vdek), 2001).

    Der gesamte Rehabilitationssektor – und damit auch die Suchtrehabilitation – ist traditionell durch stationäre Maßnahmen geprägt. Allerdings mehrten sich in den vergangenen 20 Jahren Stimmen, die eine konsequentere Umsetzung des gesundheitspolitischen Leitsatzes „ambulant vor stationär“ im Rehabilitationssektor forderten und sich für den Ausbau stationsersetzender Angebote aussprachen (Hibbeler, 2010; Kalinka, 2003; Karoff, 2003; Seitz et al., 2008). Im Zuge dieser Tendenzen wurde auch bei Abhängigkeitserkrankungen die Rolle ambulanter bzw. ganztägig ambulanter Angebote u. a. auf Grundlage gemeinsamer Rahmenvereinbarungen der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt (Deutsche Rentenversicherung, 2008; Deutsche Rentenversicherung, 2011).

    Zugleich wurde klargestellt, dass ambulante und stationäre Suchtrehabilitation nicht automatisch austauschbare Angebote darstellen. Vielmehr bestimmen medizinische Aspekte (Schwere der Störung, Komorbiditätsprofil), soziale Aspekte (Teilhabe, Unterstützung durch das Umfeld) und infrastrukturelle Aspekte (Erreichbarkeit), ob eine ambulante Entwöhnungsbehandlung im konkreten Einzelfall in Erwägung zu ziehen ist (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Einzelstudien bestätigen, dass ambulante und stationäre Entwöhnungsbehandlung tatsächlich unterschiedliche Zielgruppen erreichen (Preuss et al., 2012), eine systematische Gegenüberstellung der Klientel beider Behandlungsformen hinsichtlich soziodemographischer und behandlungsbezogener Parameter auf einer breiten Datengrundlage fehlt aber bislang.

    2 Methodik

    Dieser Artikel baut auf dem Kurzbericht 2023/I der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) auf (Künzel et al., 2023) und erweitert die dort vorgenommene beschreibende Darstellung um statistische Verfahren, die Aufschluss geben, inwieweit Unterschiede zwischen der Klientel, die eine ambulante, und der Klientel, die eine stationäre Rehabilitation erhalten hat, als „auffällig“ einzustufen sind. Maßnahmen aus dem Bereich der ganztägigen ambulanten Rehabilitation bleiben unberücksichtigt.

    2.1 Datenquelle

    Die analysierten Daten stammen aus der Routineerhebung der DSHS im Datenjahr 2021. Die DSHS basiert auf einer großzahligen Gelegenheitsstichprobe ambulanter und stationärer Suchthilfe-Einrichtungen, die ihre Arbeit entsprechend den Vorgaben des Kerndatensatzes zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe (KDS; aktuelle Version KDS 3.0) (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), 2022) mittels zertifizierter Softwareprogramme dokumentieren. Die Daten werden in den Einrichtungen fallbezogen erhoben, anhand bestimmter Gruppierungskriterien gebündelt und als Aggregatdaten dem IFT Institut für Therapieforschung in München zur Verfügung gestellt. Detaillierte Informationen zu den Erhebungsmechanismen und Datenflüssen wurden an anderer Stelle publiziert (Schwarzkopf et al., 2020).

    2.2 Stichprobenselektion

    Die hier präsentierten Auswertungen basieren auf der Gegenüberstellung der beiden Stichproben („Läufe“) „Fälle mit Hauptmaßnahme Stationäre Medizinische Rehabilitation“ (STR) sowie „Fälle mit Hauptmaßnahme Ambulante Medizinische Rehabilitation“ (ARS). Als Hauptmaßnahme gilt dabei diejenige Maßnahme, die die jeweilige Behandlungsepisode dominiert hat. Um bestmögliche Vergleichbarkeit der beiden Stichproben sicherzustellen, wurde jeweils die Bezugsgruppe der „Zugänge und Beender“ herangezogen. Somit gehen in die Auswertung nur Daten von Fällen ein, die im Jahr 2021 begonnen bzw. beendet wurden.

    Bei der Selektion wurde, den Standards der DSHS entsprechend, eine Missingquote von 33 % angesetzt. Demnach sind für jeden Auswertungsparameter nur Daten derjenigen Einrichtungen berücksichtigt, bei denen für den jeweiligen Parameter maximal 33 % der Angaben fehlen. Dies erhöht einerseits die Datenqualität, da Einrichtungen, die für einen entsprechenden Parameter viele Fehlwerte aufweisen, nicht in die Auswertungen eingehen, führt aber andererseits dazu, dass sich die Fallzahl von Parameter zu Parameter unterscheidet. Die Fallzahlen sowie die Anzahl der für die einzelnen Parameter datenliefernden Einrichtungen werden daher zusammen mit den Missingquoten jeweils ausgewiesen.

    2.3 Zielparameter

    Zunächst wurde die Zahl der Einrichtungen, die ARS bzw. STR als Hauptmaßnahme durchgeführt haben, sowie die Zahl der ARS- bzw. STR-Fälle deskriptiv gegenüberstellt.

    Anschließend wurde die in ARS und STR behandelte Klientel hinsichtlich soziodemographischer (Geschlechterverteilung, Altersstruktur, Elternschaft, Schulabschluss, Arbeitslosigkeit), störungsbezogener (Alter bei Erstkonsum, Konsumhäufigkeit bei Maßnahmenbeginn, dokumentierte Problembereiche) und behandlungsbezogener Parameter (Haltequote, Behandlungserfolg) verglichen. Hierfür wurde für soziodemographische und störungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Zugänge“ zurückgegriffen und für behandlungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Beender“. Auch dies trägt zu unterschiedlichen Fallzahlen bei.

    Zur Berücksichtigung der Altersstruktur wurde neben dem Durchschnittsalter die Verteilung der Fälle über die Kategorien „unter 30 Jahre“, „30 bis 49 Jahre“ und „50 Jahre und älter“ abgebildet. Der binär kodierte Parameter Elternschaft erfasst, ob die Behandelten eigene minderjährige Kinder haben. Für den Parameter Schulabschluss wurden die Ausprägungen „Abitur“ und „Schulabbruch“ dichotomisiert ausgewertet. Konsumhäufigkeit adressiert die Anzahl an Konsumtagen in den 30 Tagen vor Antritt der Maßnahme und berücksichtigt neben dem Durchschnittswert auch die Verteilung der Klientel über die Kategorien „kein Konsum“, „1 bis 6 Konsumstage“, „7 bis 15 Konsumstage“, „16 bis 28 Konsumtage“ und „(fast) täglicher Konsum“. Die dokumentierten Problembereiche benennen Bereiche des täglichen Lebens, die bei Behandlungsbeginn beeinträchtigt waren. Der Parameter Haltequote adressiert den Anteil planmäßig beendeter Behandlungen, wobei die unterschiedlichen Gründe einer plan- bzw. unplanmäßigen Beendigung differenziert erfasst werden. Als Behandlungserfolg gelten in Einklang mit den Standards der DSHS Behandlungen, an deren Ende sich die Suchtproblematik im Vergleich zur Ausgangssituation verbessert hat bzw. unverändert geblieben ist.

    2.4 Auswertungen

    Die Auswertungen konzentrieren sich auf eine Gegenüberstellung von ARS- und STR-Fällen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen, wobei die Klassifikation der zu Grunde liegenden Störungen gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) erfolgt (Dilling et al., 2015). Hierbei werden sowohl Fälle mit Abhängigkeitssyndrom als auch Fälle mit missbräuchlichem Konsum der jeweiligen Substanzen berücksichtigt, wobei DSHS-Auswertungen beide Ausprägungen nicht differenzieren, sondern gemeinsam berichten. Die Schwerpunktsetzung auf Alkohol- (ICD-10 F10) und Cannabinoidkonsumstörungen (ICD-10 F12) ist mit ihrer empirischen Relevanz in ARS und STR begründet.

    Aufgrund der aggregierten Daten können in der DSHS nur einfache Gruppenvergleiche vorgenommen werden. Eine modelltechnische Mitberücksichtigung weiterer Erklärungsfaktoren bei der Interpretation der Unterschiede ist nicht möglich. Somit wurden für kontinuierliche Daten Mittelwertsvergleiche anhand von t-Tests durchgeführt. Für Anteilswerte erfolgten Chi²-Tests. Hierbei wurden in die Grundgesamtheit auch Fälle mit der Variablenausprägung „unbekannt“ einbezogen. Aufgrund der hohen Sensitivität der beiden statistischen Tests und der großen Fallzahlen wurde ein Signifikanzniveau von p < 0,01 festgelegt, um das Risiko einer Überinterpretation kleiner Ausprägungsunterschiede zu minimieren.

    Alle Auswertungen und Datenvisualisierungen wurden mit Hilfe der Statistik-Tools von Microsoft Excel vorgenommen.

    3 Ergebnisse

    3.1 Fallzusammensetzung

    328 Einrichtungen haben Falldaten zu ARS als Hauptmaßnahme und 107 Einrichtungen Falldaten zu STR als Hauptmaßnahme geliefert. ARS wurde überwiegend in ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen (n = 309 Einrichtungen) und STR nahezu ausnahmslos in stationären Suchthilfe-Einrichtungen (n = 104 Einrichtungen) erbracht. Das Fallvolumen der STR war mit 24.508 Zugängen bzw. 26.985 Beendern rund fünfmal so hoch wie das der ARS mit 4.871 Zugängen bzw. 5.469 Beendern.

    Informationen zur Hauptdiagnoseverteilung lagen für 322 Einrichtungen mit ARS-Angebot sowie für alle 107 Einrichtungen mit STR-Angebot vor, wobei in ARS häufiger keine Hauptdiagnose dokumentiert wurde (n = 293 Fälle; 6,1 %) als in STR (n = 387 Fälle; 1,6 %; p-Wert < 0,0001). Alkoholbezogene Störungen dominierten jeweils die Fälle mit Hauptdiagnose (ARS: n = 3.103 Fälle; 69,0 % | STR: n = 15.711 Fälle; 65,2 %; siehe Abbildung 1). In ARS wie auch in STR folgten an zweiter Stelle Behandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen (ARS: n = 406 Fälle; 9,0 % | STR: n = 2.342 Fälle; 9,7 %). An dritter Stelle stand in ARS das Pathologische Spielen (n = 325 Fälle; 7,2 %), das in STR den siebten Rang einnahm (n = 445 Fälle; 1,8 %). Hier bildete Multipler Substanzmissbrauch den dritthäufigsten Behandlungsanlass (n = 2.085 Fälle; 8,6 %), der in ARS an sechster Stelle stand (n = 131 Fälle; 2,9 %). Auf Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von Störungen durch den Konsum von Flüchtigen Lösungsmitteln, Tabak oder Halluzinogenen entfiel jeweils nur ein geringer Anteil. Gleiches gilt für Exzessive Mediennutzung.

    3.2 Klientelcharakteristika

    a) Soziodemographie

    Die aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen behandelte ARS-Klientel unterschied sich hinsichtlich soziodemographischer Charakteristika systematisch von der STR-Klientel (siehe Tabelle 1). Bei beiden Konsumstörungen war die ARS-Klientel im Mittel älter und es fand sich ein geringerer Anteil an unter 30-Jährigen. Zudem lebte die ARS-Klientel jeweils seltener allein, hatte ein höheres Bildungsniveau (Abiturquote höher, Schulabbruchquote geringer) und war häufiger an den Arbeitsmarkt angebunden (Erwerbstätigkeit häufiger, Arbeitslosigkeit seltener). Für Rehabilitationsmaßnahmen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fand sich in ARS zudem ein höherer Anteil an Frauen und an Eltern minderjähriger Kinder.

    b) Störungsbezogene Parameter

    Der Erstkonsum von Alkohol bzw. Cannabinoiden erfolgte bei der ARS-Klientel und der STR-Klientel ähnlich früh, jedoch waren die ARS-Fälle bei Störungsbeginn im Mittel älter (siehe Tabelle 1). ARS wurde häufiger abstinent angetreten als STR, zugleich waren die drei Konsumklassen „7 bis 15 Tage“, „16 bis 28 Tage“ und „fast täglich“ schwächer besetzt (höchste Klasse bei cannabinoidbezogenen Störungen nicht signifikant). Für ARS-Fälle mit alkoholbezogenen Störungen ließen sich zudem im Mittel weniger Konsumtage im Monat vor Maßnahmenantritt beobachten.

    c) Dokumentierte Problembereiche

    Grundsätzlich wurde in ARS seltener eine Beeinträchtigung verschiedener Lebensbereiche dokumentiert als in STR, wobei die entsprechenden Unterschiede für beide Konsumstörungen meist signifikant waren (siehe Abbildung 2). Lediglich psychische Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 67,9 %; STR = 71,8 %; p = 0,02 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 71,0 %; STR = 79,0%; p = 0,09) und familiäre Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 54,7 %; STR = 51,8 %; p = 0,05 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 53,4 %; STR = 62,9 %; p = 0,03) wurden in ARS und STR jeweils ähnlich häufig erfasst.

    3.3 Behandlungsergebnisse

    Grundsätzlich endeten Entwöhnungsbehandlungen überwiegend planmäßig, wobei die Haltequote bei ARS und STR jeweils ähnlich war (siehe Abbildung 3). In wenigen Fällen wurde nicht dokumentiert, ob die Maßnahme planmäßig oder unplanmäßig endete, ohne dass diesbezüglich systematische Unterschiede zwischen ARS und STR bestanden (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,8 %, STR = 0,2 %; p = 0,16 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 2,3 %, STR = 0,3 %; p = 0,68).

    Betrachtet man die Anlässe einer planmäßigen Beendigung, so kam es in ARS jeweils häufiger als in STR zur Beendigung nach Behandlungsplan (alkoholbezogene Störungen 80,2 % vs. 73,8 %; p = 0,0003 | cannabinoidbezogene Störungen 80,1 % vs. 57,5 %; p < 0,0001) und seltener zu planmäßigen Wechseln in andere Einrichtungen (alkoholbezogene Störungen 5,1 % vs. 12,6 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 5,8 % vs. 17,9 %; p < 0,0001). Bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fanden sich in ARS zudem häufiger vorzeitige Beendigungen mit ärztlichem / therapeutischem Einverständnis (8,8 % vs. 7,3 %; p = 0,008) und bei cannabinoidbezogenen Störungen seltener Beendigungen auf ärztliche / therapeutische Veranlassung (7,6 % vs. 15,4 %; p = 0,0003).

    In Bezug auf eine unplanmäßige Beendigung waren disziplinarische Beendigungen in ARS seltener als in STR (alkoholbezogene Störungen 10,7 % vs. 17,5 %; p = 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 9,8 % vs. 27,9 %; p = 0,003). Zudem kam es bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen in ARS häufiger zu außerplanmäßigen Einrichtungswechseln (17,1 % vs. 2,7 %; p < 0,0001) und bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen gab es in ARS mehr Todesfälle (2,7 % vs. 0,1 %; p < 0,0001).

    Im Zuge der Entwöhnungsbehandlung wurde bei beiden Konsumstörungen in ARS und STR ähnlich häufig eine Verbesserung der Ausgangssituation erreicht (siehe Abbildung 4). Bei alkoholbezogenen Störungen bestand auch hinsichtlich des Prozentsatzes, der stabil geblieben ist, kein Unterschied zwischen ARS und STR. Bei cannabinoidbezogenen Störungen wurde in ARS indes seltener eine Stabilisierung erreicht als in STR (13,3 % vs. 21,9 %; p = 0,005). Die Ausgangsproblematik verschlechterte sich in ARS jeweils häufiger als in STR, allerdings auf niedrigem Niveau (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,6%; STR = 0,6 %, p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 5,5%; STR =1,0 %, p < 0,0001).


    Zugleich war der Anteil an Behandelten, die die Konsumenge von Alkohol bzw. Cannabinoiden im Zuge der Entwöhnungsbehandlung verringert haben, in ARS niedriger als in STR (alkoholbezogene Störungen: 38,3 % vs. 72,5 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: 35,2 % vs. 63,4 %; p < 0,0001). Allerdings war am Ende der Maßnahme nicht immer dokumentiert, ob sich die anfängliche Suchtproblematik verändert hat, wobei dies bei der Klientel mit cannabinoidbezogenen Störungen in ARS seltener vorkam als in STR (5,0 % vs. 9,9 %; p = 0,002).

    4 Einordnendes Fazit

    Dieser Artikel vergleicht erstmals anhand von aktuellen Daten der DSHS die Fallzusammensetzung und das Ergebnis bei ambulanten und stationären Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen. Hierbei zeigt sich, dass stationäre Suchtrehabilitation deutlich weiter verbreitet ist als ambulante Maßnahmen, wobei in beiden Settings jeweils eine spezifische Klientel behandelt wird. Einschränkend sei darauf verwiesen, dass die Gegenüberstellung Fälle mit alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen – die Hauptanlässe für Suchtrehabilitation – adressierte. Eine Verallgemeinerung auf andere stoffgebundene und stoffungebundene Suchterkrankungen ist nicht unmittelbar möglich.

    Grundsätzlich waren soziodemographische Unterschiede zwischen der ARS-Klientel und der STR-Klientel ausgehend von den Anforderungskriterien, für wen eine ambulante Maßnahme geeignet ist, zu erwarten: Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ fordert unter anderem, dass im Falle einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung ein stabilisierendes / unterstützendes soziales Umfeld sowie ausreichende berufliche Integration gewährleistet sein sollten (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Dass den DSHS-Daten zu Folge die ARS-Klientel seltener allein lebt und häufiger erwerbstätig sowie seltener arbeitslos ist als die STR-Klientel, spiegelt eine adäquate Umsetzung dieser Vorgabe.

    Darüber hinaus hat die ARS-Klientel ein höheres Bildungsniveau (d. h. Abitur häufiger, Schulabbruch seltener) als die STR-Klientel. Dies deckt sich mit Beobachtungen in einer kleinen monozentrischen Studie unter Alkoholabhängigen (Schmidt et al., 2009). Hier steht zu vermuten, dass das höhere Bildungsniveau sich förderlich auf die Therapieadhärenz auswirkt, die wiederum eine Grundanforderung an die ambulante Durchführbarkeit einer Suchtrehabilitation darstellt (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Zudem legt episodische Evidenz nahe, dass ein höherer Bildungsgrad – insbesondere bei Frauen – positiv mit dem Verbleib in der Suchtbehandlung assoziiert ist (Courtney et al., 2017; Pinto et al., 2011; Vigna-Taglianti et al., 2016).

    Des Weiteren finden sich in ARS häufiger Eltern minderjähriger Kinder als in STR. In einem ambulanten Setting lassen sich annahmegemäß Fürsorge- und Aufsichtspflichten leichter realisieren als in einem stationären Setting, weswegen Eltern gewisse Präferenzen für ambulante Angebote haben könnten. Dies legt zumindest eine Studie nahe, die den Mangel an auf Eltern zugeschnitten Therapieangeboten als eine von mehreren Hürden für die Inanspruchnahme stationärer Entwöhnungsbehandlungen unter Methamphetaminabhängigen identifizierte (Hoffmann et al., 2018). Eine Übertragbarkeit auf andere Suchterkrankungen erscheint hier legitim.

    Darüber hinaus spricht das klinische Bild der STR-Klientel für eine komplexere Problematik. Die STR-Fälle haben häufiger Probleme in verschiedenen Lebensbereichen und konsumieren Alkohol bzw. Cannabinoide im Monat vor Behandlungsbeginn intensiver. Dies korrespondiert mit den Klientelcharakteristika einer früheren Studie, die Risikoprofile für den frühzeitigen Abbruch einer ambulanten bzw. stationären Entwöhnungsbehandlung unter Personen mit Alkoholkonsumstörungen analysierte (Preuss et al., 2012). Hier fand sich eine höhere Prävalenz psychischer und körperlicher Begleiterkrankungen und eine kürzere Abstinenzperiode unter den stationär Behandelten. Beide Befunde reflektieren die Vorgaben der Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“, die bei Personen mit intensivem Suchtverlauf und schwerwiegenden psychischen, sozialen oder körperlichen Beeinträchtigungen eine stationäre Rehabilitation empfehlen (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Trotz dieser unterschiedlichen Fallcharakteristika wird in ARS und STR ähnlich häufig ein positives Behandlungsergebnis (Reduktion oder Stabilisierung) erzielt. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sich in ARS behandelte Personen mit cannabinoidbezogenen Störungen zwar signifikant seltener stabilisieren, sich aber zugleich (nicht-signifikant) häufiger verbessern. Dies spricht für eine tendenzielle Verschiebung aus der Kategorie „Stabilisierung“ in die Kategorie „Verbesserung“. Zudem ist eine Verringerung der initialen Suchtproblematik in ARS und STR ähnlich wahrscheinlich. Dies lässt vermuten, dass Personen mit komplexerem Störungsbild von STR zumindest kurzfristig stärker profitieren als von ARS. Zugleich kommt es in ARS häufiger als in STR zu einer Verschlechterung der Suchtproblematik und die Konsummenge wird seltener verringert – was sicher auch mit der ausgangs niedrigeren Konsumintensität zusammenhängt. Ein wichtiger Erklärungsfaktor hierfür dürfte aber insbesondere die einfachere Verfügbarkeit der Substanzen kombiniert mit weniger engmaschigen Kontrollmöglichkeiten im ambulanten Setting sein.

    Da die Daten die Situation unmittelbar zum Behandlungsende abbilden, besteht keine Rückschlussmöglichkeit, ob sich die für STR beobachtete deutlich stärkere Konsummengenreduktion nachhaltig verstetigt. Es ist anzunehmen, dass bei stationären Entwöhnungsbehandlungen ein erhöhtes Rückfallrisiko besteht, sobald die Betroffenen in ihrer regulären Lebenswelt wieder erleichterten „Substanzzugriff“ haben. So geht der Katamnesebericht des Fachverbandes Sucht für das Datenjahr 2018 davon aus, dass die Hälfte der Personen, die eine ambulante Entwöhnungsbehandlung durchlaufen haben – davon 79,2 % aufgrund von Alkohol- und 6,4 % aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen – ein Jahr nach deren Abschluss gemäß DGSS 4-Standard (also ggf. nach Rückfall) abstinent war (Becker et al., 2021). Im Bereich der stationären Entwöhnungsbehandlung galt dies im Datenjahr 2020 aber nur für zwei Fünftel der Personen, die aufgrund von Alkoholkonsumstörungen behandelt worden waren (Bachmeier et al., 2023), bzw. für ein Fünftel der Personen, die aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen behandelt worden waren (Kemmann et al., 2023). Dies unterstreicht implizit die Bedeutung, die einer adäquaten Rehabilitations-Nachsorge (Deutsche Rentenversicherung, 2015) insbesondere nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung zukommt.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ARS und STR unterschiedliche Personengruppen erreichen und nicht per se individuell austauschbare Behandlungsangebote darstellen. Da es die Aggregatdaten der DSHS nicht erlauben, soziodemographische und störungsbezogene Unterschiede zwischen ARS-Klientel und STR-Klientel statistisch zu berücksichtigen, ist ein Vergleich der „Effektivität“ von ARS und STR grundsätzlich nicht angebracht. Vor dem Hintergrund der komplexeren Problematik der STR-Fälle ist der fehlende Unterschied zwischen beiden Behandlungsansätzen hinsichtlich Haltequote und Anteil an Fällen mit verbesserter Suchtproblematik allerdings positiv zu werten. Anscheinend gelingt es ARS und STR gleichermaßen gut, ihre spezifische Klientel bedarfsgerecht durch die Entwöhnung zu begleiten.

    5 Abkürzungsverzeichnis
    • ARS                Ambulante Medizinische Rehabilitation
    • DSHS             Deutsche Suchthilfestatistik
    • ICD                 International Classification of Diseases
    • IFT                  Institut für Therapieforschung
    • KDS                Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe
    • STR                Stationäre Medizinische Rehabilitation
    6 Literatur
    • Bachmeier, R., Bick-Dresen, S., Daniel, H., Dyba, J., Funke, W., Kemmann, D., Klein, T., Medenwaldt, J., Premper, V., Reger, F., & Wagner, A. (2023). Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS+-Katamnese des Entlassjahrgangs 2020 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2023(5) 21-36.
    • Becker, A., Bick-Dresen, S., Schneider, B., Bachmeier, R., Bingel-Schmitz, D., Fölsing, B., Funke, W., Klein, T., Kramer, D., Löhnert, B., Steffen, D., Seydlitz, U., & Granowski, M. (2021). Effektivität der ambulanten Suchtrehabilitation–FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2018 von Ambulanzen für Alkohol-und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2021(3) 38-47.
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    Förderhinweis

    Das Projekt Deutsche Suchthilfestatistik wird im Rahmen einer jährlichen Laufzeit vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

    Kontakt:

    PD Dr. Larissa Schwarzkopf
    Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    IFT Institut für Therapieforschung
    Leopoldstraße 175
    80804 München
    www.ift.de
    schwarzkopf(at)ift.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    Die Autorinnen repräsentieren die Forschungsgruppe „Therapie und Versorgung“ am IFT Institut und Therapieforschung. Das IFT ist als selbstständiges, gemeinnütziges Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Abhängigkeitserkrankungen tätig und bearbeitet grundlagen- und anwendungsbezogene Fragestellungen zu Ätiologie, Epidemiologie, Prävention, Therapie und Versorgungsforschung. Die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS), die das IFT seit mehr als vierzig Jahren betreut, bildet einen zentralen Grundpfeiler dieser Forschungsaktivitäten. Hierbei koordiniert die Forschungsgruppe Therapie und Versorgung schwerpunktmäßig die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung der DSHS.

    • PD Dr. Larissa Schwarzkopf, Dipl.-Ges.ök, MSc. Biostatistics, IFT, Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Monika Murawski, MPH, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Carlotta Riemerschmid, MSc. Psychologie, IFT, Doktorandin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Jutta Künzel, Dipl.-Psych., IFT, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsgruppe Therapie- und Versorgung
  • Humor in der Suchtkrankenhilfe

    Humor in der Suchtkrankenhilfe

    Dr. Kareen Seidler
    Eva Ullmann

    Humor ist amüsant. Lachen ist Vergnügen. Aber Suchterkrankung und Humor? Passt das überhaupt zusammen? Sucht ist ein multifaktorielles Problem, bei dem Gewohnheiten im Verhalten, die Fähigkeit zur Impulskontrolle, sozialisiertes Verhalten, Problemlösungsstrategien, Vererbung und viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Im Laufe einer Suchterkrankung, z. B. während eines langjährigen Alkoholmissbrauchs, geht oftmals der Humor verloren. Kann seine Reaktivierung die Genesung unterstützen? Einiges spricht dafür: Humor entspannt, kann Schmerzen reduzieren und senkt Stresshormone. Er aktiviert Kreativität bei Problemlösungen und ermöglicht die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen. In der Arbeit mit Suchtkranken kann der Fokus auf Humor eine große Kraftquelle sein – sowohl für die professionellen Helfer/innen als auch für die Patient/innen.

    Sozialer und aggressiver Humor

    Der Duden definiert Humor als „Fähigkeit und Bereitschaft, auf bestimmte Dinge heiter und gelassen zu reagieren“. Die relativ neue Disziplin der Humorwissenschaft unterscheidet zwischen sozialem Humor und aggressivem Humor. Sozialer Humor beinhaltet einen Perspektivwechsel, ohne dass jemand abgewertet oder beschämt wird. Man kann sich und andere gut dastehen lassen, respektvoll sein, wertschätzend, und dabei Menschen und Situationen liebevoll karikieren.

    Ein Arzt lernt einen Patienten mit langjährigem Alkoholabusus kennen. Im Erstanamnesegespräch fragt der Arzt den Patienten, wann er zum letzten Mal Sex hatte. „1945“, sagt der Patient. Der Arzt schaut ihn mitleidig an. Darauf der Patient mit einem Blick auf die Uhr: „Aber es ist doch erst 16:30 Uhr. Also noch gar nicht so lange her.“

    Aggressiver Humor geht hingegen häufig mit der Herabsetzung einer Person oder Personengruppe einher, wirkt destruktiv und ist in der Therapie fehl am Platz:

    Was ist der Unterschied zwischen einem Tumor und einer Krankenschwester?
    Ein Tumor kann auch gutartig sein.

    Der Mediziner Paul McGhee (1994) hat ein mehrstufiges Humorprogramm entwickelt, mit dem Menschen ihrem eigenen Humor wieder stärker auf die Spur kommen können. Dieses setzt sich aus folgenden Schritten zusammen:

    1. Den eigenen Humorstil und persönliche Humorvorlieben entdecken: Wo kann man noch lachen? Wann und wo bekommt man bereits beim Über-die-Schwelle-Treten eine Depression? Ist der eigene Humor verloren gegangen?
      Die weiteren Schritte sollen dann zu mehr Selbstfürsorge und täglichem Humorerleben beitragen:
    2. Verstehen, was eine spielerische Einstellung und Haltung zum Leben sein kann, und selbst eine entwickeln
    3. Selbst Optimismus entwickeln, Humor praktisch einsetzen (Witze, lustige Geschichten erzählen)
    4. Sprachlichen Humor entdecken, fördern, erzeugen (durch Wortspiele)
    5. Humor im Alltag und im eigenen Umfeld finden, die eigene Aufmerksamkeit dafür schulen und humorvolle Betrachtungsweisen erlernen
    6. Über sich selbst lachen, sich selbst nicht so ernst nehmen
      Erst die letzten Stufen der Humorarbeit fordern eine heitere Gelassenheit auch in stressigen Alltagssituationen:
    7. Im Stress Humor finden
    8. Die Schritte 1 bis 7 ins eigene Leben integrieren: Humor als Bewältigungs- und Überwindungsstrategie

    Humor im Umgang mit Suchtpatienten

    Sabine Link hat an der Hochschule Koblenz und der Universität Marburg das Humor-Stufenprogramm von McGhee für die Arbeit in Suchtkliniken angepasst und mit Patient/innen ausprobiert (siehe die Dissertation „Anstiftung zur heiteren Gelassenheit. Und: Vom ernsthaften Versuch einer evidenzbasierten Studie zum Humor in der Suchthilfe“). Insgesamt nahmen 90 Personen aus verschiedenen Einrichtungen der Suchthilfe an der Untersuchung teil (ambulante Nachsorge, medizinische Rehabilitation und qualifizierter Entzug). Sie wurden in zwei Altersklassen eingeteilt. Die Probanden nahmen an einem Humortrainingsprogramm teil. Es fanden Tests zu Beginn der Untersuchung, nach drei Monaten und nach sechs Monaten statt.

    Das Ziel der Dissertation war die Untersuchung und Beantwortung der Frage, ob Humor und heitere Gelassenheit eine angezeigte Interventionsmaßnahme in einem suchttherapeutischen Setting sein können. Nach dem Humortraining zeigten die meisten Probanden eine positive Veränderung in ihrem Sinn für Humor, dies führte u. a. zu einer besseren Stressbewältigung. Außerdem nahm die Heiterkeit der Studienteilnehmer im Durchschnitt zu, während Werte wie Ernsthaftigkeit und schlechte Laune abnahmen. Durch die Humor-Interventionen verbesserte sich auch die allgemeine Befindlichkeit der Patient/innen. Das galt für deren Ausgeglichenheit, Gutgestimmtheit, leistungsbezogene Aktiviertheit, Extravertiertheit/Introvertiertheit und Erregtheit. Die Werte für Ängstlichkeit/Traurigkeit und allgemeine Desaktiviertheit sanken hingegen. Generell empfiehlt die Forscherin deswegen, eine Humor-Sensibilisierung in ambulanten und stationären Suchttherapien zu implementieren und eine Humor-Weiterbildung für Fachkräfte in der Suchthilfe einzusetzen. Nicht zuletzt ist sie der Meinung, dass man Humor auch als Teil der Einrichtungskultur etablieren sollte.

    Sabine Link: Für Suchtpatienten abgewandeltes Humortraining nach Paul McGhee

    Für die Arbeit in Suchtkliniken und in der Suchtberatung lohnt es sich also, den aufwertenden, wertschätzenden Humor und seine Einsatzmöglichkeiten genauer unter die Lupe zu nehmen. In Gesprächen versuchen Mediziner/innen und Psycholog/innen oft durch das Aktive Zuhören eine wertschätzende Haltung herzustellen. Dabei fasst der Arzt/Therapeut bzw. die Ärztin/Therapeutin in eigenen Worten zusammen, was der Patient/Klient bzw. die Patientin/Klientin gesagt hat.

    „Ihrer Meinung nach macht eine Therapie keinen Sinn.“
    „Sie sind der Meinung, Ihr Suchtproblem müssen Sie alleine in den Griff kriegen.“
    „Ihnen ist Ihre Frau zu raumeinnehmend.“

    Kennzeichnend beim Aktiven Zuhören sind die wohlwollende Grundhaltung, die zugewandte Körpersprache und vor allem eine möglichst große Wertfreiheit gegenüber dem Patienten/der Patientin. Gute Erfahrung machen Fachkräfte der Suchtarbeit aber auch damit, das Gesagte ab und an humorvoll zu spiegeln. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Ton, in dem das Gesagte vorgebracht wird. Er sollte freundlich sein und ein Augenzwinkern hörbar machen.

    „Sie halten eine Therapie nach dem Entzug für völligen Blödsinn und absolute Zeitverschwendung.“
    „Sie meinen, Ihnen kann auf dieser Welt ohnehin niemand helfen und die Psychotanten hier haben gar keine Ahnung.“
    „Für Sie ist Ihre Frau ein dominanter Napoleon.“

    Ein Lächeln, ein Grinsen, ein Lachen löst die gespannte Stimmung und kann durchaus helfen, den Patienten/die Patientin zuhörbereit zu machen. Wichtig ist aber, wertschätzenden von abwertendem Humor unterscheiden zu können. Sätze wie „Sie mauern und sind absolut unkooperativ!“ sind destruktiv und verletzend. Es geht in der humorvollen Spiegelung darum, das Offensichtliche zu übertreiben, dabei aber weiterhin interessiert zu bleiben an der Meinung des Gegenübers.

    Ein Problem bei Suchterkrankungen ist die hohe Rückfallquote. Eine durchschnittliche Suchterkrankung dauert 20 Jahre. In dieser Zeit kämpfen professionelle Helfer/innen immer wieder um die Aufmerksamkeit der Patient/innen und ihre Bereitschaft zur Veränderung von Gewohnheiten. Humor kann dabei helfen, die Spielregeln in der Klinik zu vermitteln oder Veränderungen anzuregen. Perspektivwechsel helfen bei den eingefahrenen Denkmustern der Patient/innen. Humorvolles Feedback kann zum Beispiel so formuliert werden:

    Monatelang hatte sich die Patientin nach Abbruch des Entzugs nicht blicken lassen, auf einen Rückruf wartete man vergeblich. Plötzlich schwebte sie wieder ein, als sei sie gestern erst in der Klinik gewesen, und fragte nach ihren Werten. Statt sich zu ärgern, sagte die Ärztin: „Seit vier Monaten sitze ich hier und warte, dass Sie mir genau diese Frage stellen.“

    Spielregeln kann man humorvoll zum Beispiel so vermitteln:

    Auf dem Spielplatz eines Cafés hängt ein Schild: „Jedes unbeaufsichtigte Kind erhält von uns ein Eis, einen Liter Cola und einen Hundewelpen.“

    „Ah, Sie sind die Trainerin für das Seminar heute?“
    „Nein, ich gehöre hier zur Einrichtung.“

    Ein Vorteil des Medikaments Humor ist seine schnelle Wirksamkeit. Humor beginnt in erster Linie bei einem selbst. Er ist im Alltag überall zu finden, es reicht, die Augen offen zu halten. In vielen Situationen kann man sich dann entscheiden, ob man sich ärgert – oder lacht. Um seinen eigenen Humor (wieder) zu entdecken, ist es hilfreich, sich z. B. Folgendes zu fragen:

    • Mit wem lache ich gerne?
    • Welcher Humor fällt mir leicht?
    • In welchen Situationen kann ich leicht die Perspektive wechseln?
    • Wie gut kann ich auch bei einer langjährigen Krankheit noch über mich selbst lachen?

    Anschließend kann man versuchen, die Menschen, mit denen man gern lacht, und die Art von Humor, die einem leicht fällt, bewusst zu suchen. Wenn man sich seines Humors bewusst ist, kann man üben, ihn gezielt einzusetzen.

    Ein Steg, extra „reserviert“ für Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Personen

    Selbst in Grenzsituationen kann Humor manchmal passend sein. Folgende Todesanzeige wurde z. B. im Schweizer Tagesanzeiger veröffentlicht:

    Die Anzeige hatte Herr Jacob vor seinem Tod selbst bei der Zeitung hinterlegt.

    Humor innerhalb des Mitarbeiterteams

    Humor bezieht sich auf uns selbst und auf andere. Humor ist unerwartet und überrascht uns. Humor macht Schmerz erträglich und sich nicht nur über den eigenen Schmerz lustig. Auch professionelle Helfer/innen können davon profitieren, in ihrem Team einen liebevollen Humor zu pflegen und zu regelmäßigem Humor zu ermuntern. Zum Beispiel durch einen wöchentlichen Austausch von Patienten-Anekdoten.

    Bei einem Patientengespräch in einer Klinik stellte sich die Psychologin vor. Der Patient verstand „Zoologin“. Er war irritiert, war er sich doch keiner Tierallergie bewusst.

    Eine Anekdote, die das ganze Team zum Lachen brachte. Bei dieser Art der Anekdoten kann der Humor auch mal deftiger werden. Er ermöglicht dem Team eine bessere Bewältigung der Arbeitsbelastungen. Wichtig ist die Sensibilität: Patienten-Anekdoten sollten nur in einem geschützten Rahmen erzählt werden.

    Humor lässt sich nicht verordnen. Eine humorvolle heitere Stimmung im Team entsteht, wenn es Raum für Anekdoten gibt, wenn es ein Ritual der witzigsten Geschichten geben darf.

    Humorvolle Laune steckt an – im Team, die Patient/innen, privat. Therapeut/innen, Ärzte/Ärztinnen und Pflegepersonal können sich und Patient/innen immer wieder mit wertschätzendem Humor zum Perspektivwechsel einladen. Das stärkt Motivation und Durchhaltekraft – sowohl bei Patient/innen als auch bei den Mitarbeiter/innen. Humor ist als Medikament völlig kostenfrei. Man muss es nur passend dosieren. Darüber darf diskutiert werden.

    Tipp der Redaktion:
    Anschauliche und unterhaltsame Beispiele für Humor in einer tragischen Lebenssituation bieten die Filme „Ziemlich beste Freunde“ (2011) und „Lieber leben“ (2017).

    Nächste Termine:
    Kontakt, Informationen und Humorentdeckungen:

    Deutsches Institut für Humor
    Feuerbachstraße 26
    04105 Leipzig
    Tel. 0341 4811848
    info@humorinstitut.de
    www.humorinstitut.de
    www.facebook.com/humorinstitut
    www.twitter.com/humorinstitut

    Angaben zu den Autorinnen:

    Eva Ullmann ist Gründerin und Leiterin des Humorinstituts. Sie arbeitet nach einem Pädagogik- und Medizinstudium seit vielen Jahren als Humoristin, Autorin und Rednerin.
    Dr. Kareen Seidler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Pressesprecherin des Instituts. Sie fasst die manchmal komplizierte Humorforschung verständlich zusammen.

    Literatur und Buchtipps:
    • Eva Ullmann und Albrecht Kresse: Humor im Business: Gewinnen mit Witz und Esprit, Berlin: Cornelsen, 2008
    • Eva Ullmann: Ich kann’s ja doch! Die Kunst der tägliche Kommunikation, Hörbuch, siehe auch: www.facebook.com/ichkannsjadoch
    • Eva Ullmann und Isabel García: Ich rede2: Spontan und humorvoll in täglichen Kommunikationssituationen, Hörbuch
    • Paul McGhee: How to develop your sense of humour: An 8 step humour development training program, Dubuque, IA: Kendall/Hunt, 1994.
    • Sabine Link: Anstiftung zur heiteren Gelassenheit. Und: Vom ernsthaften Versuch einer evidenzbasierten Studie zum Humor in der Suchthilfe, Marburg/Lahn 2014, im Internet zugänglich unter: https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2014/0416/ (letzter Zugriff 05.01.2018)

    alle Fotos: Deutsches Institut für Humor

  • Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Grundannahmen – Standortbestimmung zur Annäherung an das Thema

    Stefan Bürkle

    Die deutsche Philosophin Annemarie Piper, Verfasserin des Standardwerkes „Einführung in die Ethik“, formulierte 2014 in einem Vortrag zu Ethik und Ökonomie den Satz: „Wir kennen von allem den Preis, aber nicht den Wert.“ Entsprechend könnte die Leitfrage für die folgenden Überlegungen lauten: „Wie würde sich der Blick auf die Leistungserbringung in der Suchtrehabilitation verändern, wäre dieser maßgeblich vom Wert und nicht so sehr vom Preis einer Leistung bestimmt?“ In diesen Ausführungen soll ein fachlich-ethischer Zugang zu den Grundlagen des Handelns als Leistungserbringer in der Suchtrehabilitation entwickelt werden. Dabei sind folgende Fragen maßgeblich:

    • Von welchen Anforderungen und Werten gehen wir bei der Leistungserbringung aus?
    • Welche Vorgaben bestimmen und rahmen unser Handeln?
    • Orientieren wir uns mehr am „Preis“ oder am „Wert“?

    Gemeinsam mit der Aussage von Annemarie Piper zum Verhältnis von Preis und Wert bildet der ethische Anspruch vom „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ das gedankliche Konzept dieser Ausführungen. Der Historiker Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen geht in einem Aufsatz aus dem Jahr 2015 der Frage nach, ob das von dem Philosophen Hans Jonas beschriebene „Prinzip Verantwortung“ (1979) auch heute noch Gültigkeit hat. Er kommt zu dem Fazit: Ja, denn die Zukunftsorientierung im ethischen Konzept von Jonas ist eine fortwährende. Sie macht es erforderlich, dass Menschen und Gesellschaften immer wieder Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen geben. Aktuelle Themen wie die mediale und digitalisierte Welt, Antidemokratiebewegungen, die Suche nach neuen Formen einer Aufrichtigkeitskultur (Fake News) bzw. neuartige Kriege und die Gefahr terroristischer Anschläge unterstreichen die gerade heutzutage existenzielle Bedeutung des Prinzips Verantwortung.

    Das Prinzip Verantwortung, das auf eine Verantwortung für die zukünftige Geschichte verweist, besitzt nicht nur für wissenschaftliche Überlegungen fundamentale Bedeutung. Jonas baut auch eine hilfreiche Brücke zum praktischen Geltungsbereich seiner Verantwortungsethik. Danach bedeutet Verantwortung, „den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. (…) Nie ganz zu klären ist jedoch, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierende Handlung tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen.“ (Nielsen-Sikora, 2015, S. 11) Bedeutsam erscheinen hierbei die Aspekte „prüfen“ und „entscheiden“.

    Nach dem „Handwörterbuch Philosophie“ „bezeichnet Verantwortung die Zuschreibung des Denkens, Verhaltens und Handelns eines Menschen an dessen freie Willensentscheidung, für die er genau deshalb rechenschaftspflichtig ist und für die er mit allen Konsequenzen einstehen muss. Verantwortung gründet demnach in der Freiheit des Menschen. Denn nur wenn der Mensch die Möglichkeit hat, sein Denken, Verhalten und Handeln selbst zu bestimmen, kann er dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.“ (Rehfus, 2003, S. 736) Ergänzend hierzu und als praktische Konsequenz führt der Journalist Sven Precht in seinem Essay „Sind wir in unseren Entscheidungen frei?“ aus, dass Verantwortung zu übernehmen, mindestens drei Dinge voraussetzt, nämlich:

    • eine Handlung zu tätigen, wobei auch ein bewusstes Nichthandeln bzw. eine Enthaltung eine Handlung darstellen können,
    • die Folgen einer Handlung einigermaßen absehen zu können, was aber immer nur bedingt möglich ist, und
    • eine Entscheidung aus freiem Willen treffen zu können, ansonsten kann von „meiner“ Entscheidung nicht die Rede sein.

    Das oben skizzierte Grundverständnis von Verantwortung, an dem sich das Handeln orientiert und das daran auch messbar wird, findet sich wieder in den Werten, Leitmodellen oder Leitbildern von Organisationen.

    Ansprüche an die Leistungserbringer und Rahmenbedingungen der Leistungserbringung

    Die Ethik, die bei der Leistungserbringung zum Tragen kommt, steht in einem engen Verhältnis und in Wechselwirkung zum Rahmen der Leistungserbringung und zu deren jeweiligen Besonderheiten. Die Leistungserbringung besteht aus Aktivitäten bzw. Handlungen, die eine Entscheidung voraussetzen. Dieses Handeln bzw. die mit der Umsetzung von Aufträgen verbundenen Handlungen sind vielschichtig und berühren unterschiedliche Vorgaben, Rahmenbedingungen und Erwartungen. Aufgrund der unterschiedlichen Handlungsebenen und der vielfältigen Rollen, die der Leistungserbringer im Rahmen seines Auftrags einnimmt, können die handelnden Personen in ethische Konflikte kommen. Die handlungsleitenden Fragen dabei können sein:

    • Wem gegenüber sind wir in der Leistungserbringung verantwortlich?
    • Auf wen bezieht sich das „richtige Handeln in verantwortlicher Praxis“?
    • Welchen ethischen Ansprüchen müssen unsere Entscheidungen und unsere Handlungen genügen?

    Welche Ansprüche und Erwartungen werden nun an die Leistungserbringung oder an Leistungserbringer gestellt? Manche dieser Ansprüche liegen in den Organisationen und deren Selbstverständnis begründet, andere sind externer Natur.

    Intern begründete Ansprüche – Organisationsebene

    • Auf Organisationsebene prägen ganz entscheidend fachlich-qualitative Ansprüche die Leistungserbringung.
    • Organisationen stehen in der Verantwortung, ökonomisch zu planen, zu entscheiden und zu handeln.
    • Organisationen stehen in der Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiter/innen. Diese beinhaltet u. a., Arbeit zur Verfügung zu stellen, qualifizierte Leistungen der Mitarbeiter/innen einzufordern und angemessen zu vergüten sowie Maßnahmen der Personalentwicklung anzubieten. Damit ist auch der Anspruch verbunden, für annehmbare Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und bei der Arbeit zu sorgen, bspw. dauerhafte Arbeitsverdichtungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können, zu vermeiden.
    • Organisationen sind ihren spezifischen Werten und Leitbildern verpflichtet, in denen im Wesentlichen die Grundlagen und die Ausrichtung ihres Handelns, ihre Kultur, ihre Umgangsformen etc. niedergelegt sind.

    Externe Ansprüche

    • Auf externer Ebene bringen die gesellschafts- und fachpolitischen Rahmenbedingungen, in die die Leistungserbringung in der Suchthilfe eingebettet ist, eine Reihe von Ansprüchen mit sich. Diese konkretisieren sich u. a. im Sozialstaatsprinzip und der kommunalen Daseinsvorsorge, im Subsidiaritätsprinzip oder in der Umsetzung von wissenschaftlichen und politischen Leitkonzepten wie der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe oder Modellen der Resozialisierung und Rehabilitation.
    • Der gesetzliche Rahmen für die Leistungen der Suchthilfe ist sehr vielschichtig und bezieht sich u. a. auf unterschiedliche Sozialleistungsgesetze, das Betäubungsmittelgesetz sowie auf auf eine Vielzahl von Verordnungen wie z. B. die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung usw.
    • Der fachlich-wissenschaftliche Diskurs in Form von Debatten oder Konsensbildung schafft Orientierung, setzt aber auch Vorgaben (Stichwort: Evidenzbasierung, Leitlinien etc.).
    • Die Leistungserbringer sind entscheidend mit den Ansprüchen und Vorgaben der Leistungsträger konfrontiert. Dies zeigt sich im Rahmen der gesetzlich bzw. vertraglich vereinbarten Auftragserfüllung: durch Verträge, Rahmenvereinbarungen, Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Strukturvorgaben, Vorgaben der Qualitätssicherung etc.
    • Last not least sind die (nicht weniger vielschichtigen) Ansprüche und Erwartungen der Klient/innen bzw. Patient/innen an die Hilfeleistung oder Behandlung zu nennen. Neben bestmöglichen und zeitnah erbrachten Leistungen bestehen berechtige Ansprüche der Hilfesuchenden in einer konsequenten Umsetzung der Grundhaltungen von Achtsamkeit, Partizipation, Emanzipation und Empathie durch Berater/innen und Therapeuten/innen.

    Werte und ethisches Verständnis bei einem christlich orientierten Wohlfahrtsverband

    Neben dem Anspruchs- und Erwartungsrahmen bildet der Werterahmen ein grundlegendes Fundament der Leistungserbringung. Das spezifische Werte-Fundament für die Leistungserbringung des Deutschen Caritasverbandes als christlich-religiös orientiertem Wohlfahrtsverband ist die katholische Soziallehre. Daraus entsteht letztlich auch das Spannungsfeld für die christlich orientierte Wohlfahrtspflege: Sie steht zwischen der Anforderung, sich im Wettbewerb zu behaupten, und einem christlich-ethischen Anspruch der Soziallehre. Im Wesentlichen ersichtlich wird der Spagat für die Leistungserbringung anhand der Doppelrolle, sowohl Anwalt wie auch Dienstleister für Hilfesuchende zu sein. Gleichzeitig fühlt sich die Wohlfahrtspflege dem Anspruch des Wunsch- und Wahlrechtes sowie der Pluralität im Angebot verpflichtet. Die dahinterstehende Haltung ist im Kern die Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun kann?“

    Die Basis ethischen Handelns in einem Wohlfahrtsverband wie der Caritas bildet die soziale Verantwortung auf der Grundlage der katholischen Soziallehre. Die katholische Soziallehre beinhaltet Ideen für eine mögliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Grundkonzept sozialer Gerechtigkeit. Vereinfacht skizziert geht das Konzept der katholischen Soziallehre auf gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Europa zurück. Prägend war die Industrialisierung, verbunden mit einer Arbeiterschaft, die oft in ungeschützten und teilweise elenden Verhältnissen leben musste. Die katholische Soziallehre umfasst vier klassische und eine Reihe weiterer grundlegender Prinzipien, die die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Idee vom gerechten sozialen Zusammenleben verkörpern und mit Leben füllen. Auf die klassischen Prinzipien der Personalität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohlprinzips sowie auf das relativ neue Prinzip der Nachhaltigkeit soll hier kurz eingegangen werden.

    • Personenprinzip oder Prinzip der Personalität: Das Personenprinzip betont die Einmaligkeit des Individuums und geht von der Grundprämisse aus, dass gesellschaftliche Ordnungen dem Wohl des Einzelmenschen dienen müssen. „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein.“ (Johannes P.P. XXIII, 1961, n219) Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung wäre u. a. die Personen- oder Klientenorientierung, aber auch die freie Entscheidung in Verantwortung.
    • Solidaritätsprinzip: Das Solidaritätsprinzip geht von dem Verständnis aus, dass gemeinsame Ziele nur über die Bündelung der Fähigkeiten und Interessen der Menschen verwirklicht werden können. Damit ist die Entschlossenheit verbunden, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und auch die Entschlossenheit, Einfluss und Mittel (Güter und Dienstleistungen), wo sie vorhanden sind, für diejenigen einzusetzen, denen sie fehlen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringer ist das Mandat der Anwaltschaft für die Interessen und Belange der Klientel (Stichwort: Rechtsdurchsetzung).
    • Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip (oder das Prinzip der Nachrangigkeit) verkörpert die Hilfe zur Selbsthilfe, auf individueller, gesellschaftlicher oder Organisationsebene. Es ist mit dem urdemokratischen Prinzip verbunden, Zuständigkeiten und Verantwortungen zu verteilen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung ist auch hier wiederum die Personenorientierung. Das Subsidiaritätsprinzip steht für Werte und fachliche Grundstandards wie die Förderung von Autonomie, Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.
    • Gemeinwohlprinzip: Im Gemeinwohlprinzip ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hinterlegt. Es ist mit der Verantwortung für die Gemeinschaft verbunden. Die Entsprechungen auf Leistungserbringerebene zeigen sich heute ganz maßgeblich in Bemühungen, zur Beteiligungsgerechtigkeit beizutragen, Zugänge zu eröffnen und letztlich gesellschaftliche (soziale und berufliche) Teilhabe zu fördern und zu ermöglichen.
    • Prinzip der Nachhaltigkeit: Neuerdings wird das Prinzip der Nachhaltigkeit auch zu den Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre gerechnet. Damit soll eine nachhaltige, dauerhafte und zukunftsfähige Entwicklung ausgedrückt werden. Es ist aktuell das maßgeblichste Prinzip, wenn es in der Leistungserbringung um die Frage der Wirkungsorientierung, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Effizienz von Maßnahmen und Hilfen und letztlich der Wertschöpfung geht. Hier kommt das „Prinzip Verantwortung“ im Verständnis von Hans Jonas am stärksten zum Ausdruck. Hier wird die Schnittstelle von Ökonomie und Leistungsrahmen besonders eindrucksvoll.

    Nach den Vorüberlegungen zum Begriff der Verantwortung, der Beschreibung des Erwartungs- und Anspruchsrahmens für die Leistungserbringung sowie der maßgeblichen Werte für christlich orientierte Leistungserbringer folgen nun Beispiele für mögliche ethische Konflikte auf der konkreten Handlungsebene der Leistungserbringung.

    Beispiele für ethische Konflikte auf Handlungs- und Bezugsebene

    Wo kann die Leistungserbringung nun ganz praktisch in ethische Konflikte kommen? Oder: Wie viel Raum bleibt Leistungserbringern für ethisches Denken? Wo wäre z. B. eine bestimmte Form, ein bestimmter Umfang der Leistungserbringung ethisch geboten, lässt sich aber aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen nicht durchsetzen? Anhand von zwei praktischen Beispielen sollen mögliche Konfliktlinien und die Bewegung der Leistungserbringung im ethischen Raum aufgezeigt werden.

    Indikationsgeleitete Vermittlung in eine Rehabilitationsfachklinik

    Am „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ bei der indikationsgeleiteten Vermittlung von Klient/innen bzw. Patient/innen in eine Rehabilitationsfachklinik – unter Konkurrenzbedingungen und bei steigendem Kostendruck – bilden sich die vielfachen fachlichen und ethischen Dimensionen ab. Sie betreffen die folgenden Aspekte:

    • Berücksichtigung der Patientenorientierung, des Wunsch- und Wahlrechts
    • Sicherstellung der fachlich-indikationsgeleiteten Beratung und Entscheidung
    • Kostendruck und wirtschaftliche Absicherung der Einrichtung
    • Druck zur Arbeitsplatzsicherung
    • Umsetzung organisationsinterner Vorgaben bzw. Anweisungen
    • Gefahr der Vorteilsnahme (Geld- und Sachspenden, Absprachen)
    • Einhaltung bzw. Umsetzung der Fürsorgeverpflichtung als ethischer Konflikt für leitungsverantwortliche Mitarbeiter

    Eine Reihe möglicher ethischer Konfliktlinien kann sich aus der Dynamik des Zusammenspiels dieser Bereiche ergeben – wobei der Umgang mit Konflikten, das Austarieren von unterschiedlichen Interessen der Beteiligten, das Abwägen bei Entscheidungen sowie das Ausbalancieren von Erfordernissen und Notwendigkeiten in Beratungs- und Behandlungsprozessen zum alltäglichen und professionellen Job der Mitarbeiter/innen in der Suchthilfe gehört – egal, auf welcher Ebene.

    Im Beratungsprozess treffen fachliche, rechtliche und ethische Aspekte aufeinander. Grundsätzlich ist die patientenorientierte Ausrichtung wie insbesondere die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts auf rechtlicher Ebene und über Vereinbarungen geregelt sowie auf der Basis fachlicher Standards vorgegeben (Quelle SGB IX etc.). Aber wie die Patientenorientierung im Rahmen der Leistungserbringung, in Beratung und Therapie und im Entscheidungsprozess zur Vermittlung in eine geeignete Behandlungsform bzw. Einrichtung tatsächlich realisiert wird, ist auch eine Haltungsfrage der handelnden Akteure. Besteht ausreichend Zeit und Raum im Beratungsprozess, damit eine patientenorientierte Haltung konsequent zur Entfaltung kommen kann? Bleibt die Patientenorientierung eine Floskel oder gar Farce im beruflichen Alltag? Wie ernst werden Klient/innen in ihren Entscheidungen für eine bestimmte Behandlungsform oder eine bestimmte Behandlungseinrichtung genommen? Bestehen echte oder auch nur gefühlte Vorgaben seitens des Dienstgebers, ausschließlich oder in erster Linie in Häuser des eigenen Trägers oder des eigenen Verbundes zu vermitteln? Wirken sich der finanzielle Druck zur Refinanzierung, der Wunsch nach wirtschaftlicher Absicherung der Einrichtung oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen unmittelbar auf den fachlich-therapeutischen Prozess aus?

    Leitsätze für ein „richtiges Handeln in verantwortbarer Praxis“ in Bezug auf eine indikationsgeleitete Vermittlung können hilfreich und zielführend sein. Die folgenden Leitsätze orientieren sich am „Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009).

    • Eine konsequent fachlich und indikationsgeleitete Beratung und Entscheidung durch Mitarbeitende erfolgt auf der Grundlage der Freiheit und Unabhängigkeit der Beratung, die auch durch den jeweiligen Dienstgeber berücksichtigt wird.
    • Beratung wie Entscheidung respektieren das Wunsch- und Wahlrecht der Klient/innen bzw. Patient/innen und folgen grundsätzlich einer patientenorientierten Haltung im Beratungsprozess.
    • Die Indikation für die Zuweisung in eine Behandlungseinrichtung orientiert sich in erster Linie an der rehabilitativen Zielsetzung (Indikationen/Spezialindikationen, Diagnosestellungen, Erwerbsfähigkeit, Wohnort- und Arbeitsplatznähe, Beziehungsebene etc.) und erfolgt nach allgemein anerkannten Regeln (Konsens der Fachgesellschaften, Leitlinien, therapeutische Standards).
    • Ein Ermessensspielraum kann bestehen: Die Priorisierung eigener Häuser kann bei einem indikationsbezogenen Alleinstellungsmerkmal des vorgeschlagenen Hauses (Klient wünscht ausdrücklich ein Haus der Caritas) oder bei gleicher fachlicher Eignung mehrerer möglicher Häuser unterschiedlicher Anbieter erfolgen. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Zuweisung nicht autonom durch Klienten und Leistungserbringer erfolgt, sondern letztlich immer vom zuständigen Leistungsträger, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, entschieden wird.
    • Die fachlichen Entscheidungen (therapeutisch, ärztlich) sind unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu treffen. Die therapeutische Haltung und der Behandlungsnutzen sind für die Entscheidung maßgeblich.
    • Wirtschaftliche Belange sind in frei-gemeinnützigen Einrichtungen ethischen und sozialen Maßstäben unterzuordnen. Eine entsprechende Regelung soll im Leitbild verankert werden.

    Ambulante Rehabilitation Sucht

    Die aktuelle Situation der ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) stellt ein etwas anderes Beispiel dar, lässt aber durchaus mögliche ethische Konfliktlinien in der Leistungserbringung ersichtlich werden. Die Behandlungsform der ambulanten Rehabilitation Sucht steht derzeit massiv unter wirtschaftlichem, aber auch unter fachlichem Druck. Insbesondere die Einführung des Rahmenkonzeptes Nachsorge und die klare Abgrenzung zwischen therapeutischen und nachsorgeorientierten Leistungen hat die Sachlage für die Leistungserbringer weiter problematisiert. Nicht wenige Träger verabschieden sich aus der Leistungserbringung aufgrund einer zu geringen wirtschaftlichen Perspektive. Zu einer ganzen Reihe an fachbezogenen Themen und Details sind die Suchtverbände derzeit mit der Leistungsträgerseite im Gespräch. Dazu gehören:

    • Finanzierung/Wirtschaftliche Ebene: Die Leistungsanbieter haben den Anspruch, kostendeckend zu arbeiten. Eine Vollkostenrechnung der Leistungsform ist seit der Konzipierungs- und Erprobungsphase vor 25 Jahren nicht erfolgt. Mit bestehendem Kostensatz ist eine Kostendeckung vielfach nicht gegeben und nur über die Einbindung der Leistungsanbieter in das Gesamtangebot der kommunalen ambulanten Grundversorgung, ggf. unter Einbringung finanzieller Eigenleistungen, möglich.
    • Fachliche Bewertung des Rahmenkonzeptes: Im Rahmen der Leistungserbringung stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit das Rahmenkonzept noch den aktuellen fachlichen Anforderungen und Möglichkeiten entspricht. Beispielsweise müsste darüber nachgedacht werden, die für die Bewältigung der ärztlichen Tätigkeiten notwendige Personalbemessung von der Anzahl der Gruppen zu entkoppeln. Entsprechendes gilt für die Frage, wie die erforderliche Diagnostik zukünftig effektiver sichergestellt werden kann. Und auch die Frage nach den Kriterien zur Zulassung von Psychologischen Psychotherapeut/innen in Ausbildung müsste überdachte werden.
    • Personaleinsatz/Personalgewinnung: Der Fachkräftemangel hat sich für alle in der ARS maßgeblich tätigen Berufsgruppen (Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Medizin, Psychologie) akut verschärft. Dies gilt insbesondere für den generell unterversorgten ländlichen Raum. Nötig wäre eine realistische Bemessung der fachlichen Erfordernisse auf allen Ebenen, um die professionellen Standards der ambulanten medizinischen Rehabilitation weiter angemessen umzusetzen und gleichzeitig den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden.

    Ethische Konfliktlinien zeigen sich vor diesem Hintergrund insbesondere im folgenden Spannungsfeld: Es besteht der Anspruch, ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen in der gebotenen fachlichen Qualität anzubieten und den Klient/innen die bestmögliche und bedarfsorientierte Behandlung zukommen zu lassen. Hierzu ist es erforderlich, entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten und die Leistungen unter adäquaten Rahmen- und Arbeitsbedingungen erbringen zu können.

    Gemessen an den oben formulierten ethischen Leitsätzen kann der finanzielle Druck zur Refinanzierung der Leistung zu erheblichem ethischen Druck führen. Für die Berater/innen und Therapeuten/innen entsteht er mit den beiden Fragen, inwieweit sie Leistungen qualifiziert genug erbringen können und inwieweit die fachlichen und an den Rehabilitationszielen orientierten Indikationsstellungen möglichst unbeeinflusst von ökonomischen Faktoren erfolgen können. Für die Organisationen der Leistungserbringerseite kann die stetige Arbeitsverdichtung zu einer fortwährenden Verletzung der Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Mitarbeitenden führen sowie zu einem unangemessenen und ggf. auch zweckentfremdeten Einsatz von finanziellen Eigenmitteln.

    Was kann im beschriebenen Beispiel helfen? Hier wird deutlich, wie sich fachliche und ethische Ansprüche gegenseitig bedingen können. Gute und adäquate fachliche Lösungen können dazu beitragen, ethisches Konfliktpotenzial zu entschärfen. Komplexe Probleme erfordern komplexe und konzertierte Lösungen. Deshalb schlagen die in der DHS organisierten Verbände zum Thema ARS ein gemeinsames Vorgehen der Leistungserbringer und Leistungsträger vor. Zielsetzung – neben dem Erreichen einer auskömmlichen Finanzierung – ist dabei, das Rahmenkonzept ARS von 2008 im Rahmen einer Arbeitsgruppe aus DRV/GKV und Suchtverbänden zu prüfen und ggf. den fachlich erforderlichen und realistisch umsetzbaren Anforderungen anzupassen.

    Schlussgedanke

    Eine ethische (Grund-)Spannung bleibt in der Leistungserbringung immer erhalten. Das Ringen um das „richtige Handeln in verantwortbarer Praxis“ ist eine Gemeinschaftsaufgabe der beteiligten Akteure – ein Prozess auf Ebene der Leistungserbringer wie der Leistungsträger. Grundindikatoren für ein Gelingen dieses Prozesses sind der Ausbau des fachlichen (Qualitäts-)Dialogs, Transparenz in Entscheidung und Ausführung, Konfliktbereitschaft und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe. Die Aussage „Wir kennen von allem dem Preis, aber nicht den Wert“ sollten wir uns immer mal wieder ins Gedächtnis rufen und in Verhandlungen und vor Entscheidungen bewusst machen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor beim 30. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. am 22. Juni 2017 gehalten hat.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu) – Bundesverband der Suchthilfeeinrichtungen im Deutschen Caritasverband, Freiburg.

    Literatur:
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009): Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern (nicht veröffentlicht)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2016): Ambulante Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Gemeinsames Rahmenkonzept DRV und GVV, vom 03.12.2008. Vorschlag der DHS zur Überarbeitung
    • Johannes P.P. XXIII (1961): Mater et Magistra
    • Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
    • Jürgen Nielsen-Sikora (2015): Ist das ‚Prinzip Verantwortung‘ noch aktuell? Working Papier, Forschungskolleg Siegen, Universität Siegen
    • Sven Precht: Sind wir in unseren Entscheidungen frei?, in: Netzwerk Ethik Heute, https://ethik-heute.org/sind-wir-in-unseren-entscheidungen-frei/ (letzter Zugriff 21.11.2017)
    • Wulff D. Rehfus (Hrsg., 2003): Handwörterbuch Philosophie, Göttingen

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Zur Situation der arbeitslosen Klientel in der deutschen Suchthilfe

    Zur Situation der arbeitslosen Klientel in der deutschen Suchthilfe

    Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsneutrale Differenzierung (z. B. Klientinnen und Klienten) verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

    Hintergrund und Zielsetzung

    Personen, die arbeitslos sind, weisen im Vergleich zu Erwerbstätigen diverse Risikofaktoren in Bezug auf ihren Gesundheitszustand auf. So wurde in einer Metaanalyse Arbeitslosigkeit als Ursache für zahlreiche Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit Langzeiterwerbsloser gefunden (Paul & Moser, 2009). Arbeitslosigkeit gilt als Risikofaktor für die Entwicklung psychischer und psychosomatischer Symptome und ist Grund für schlechtes subjektives Wohlbefinden und ein geringes Selbstbewusstsein. Auch auf ein problematischeres Substanzkonsum- bzw. Suchtverhalten unter arbeitslosen Personen gibt es Hinweise (Hollederer, 2008). Diskutiert werden mehrere Zusammenhänge von Arbeitslosigkeit und Suchterkrankungen (Henkel, 2011):

    1. Arbeitslosigkeit erhöht das Risiko für riskanten Substanzkonsum und Abhängigkeitserkrankungen.
    2. Chronisches Suchtverhalten führt häufig zum Verlust des Arbeitsplatzes und verringert gleichzeitig die Perspektive auf ein Beschäftigungsverhältnis.
    3. Das schulisch-berufliche Qualifizierungsniveau ist bei einem hohen Anteil Suchtkranker, die sich in Behandlung befinden, gering, was bereits für sich genommen ein bedeutender Risikofaktor für Arbeitslosigkeit ist.
    4. Substanzabhängige, die nach der Suchtbehandlung arbeitslos bleiben, sind deutlich stärker gefährdet, rückfällig zu werden, als Erwerbstätige.

    Hinweise für die letzten beiden Punkte finden sich beispielsweise in der ARA-Studie (Henkel, Dornbusch & Zemlin, 2005; Zemlin, Henkel & Dornbusch, 2006), in der arbeitslose Alkoholabhängige nach Behandlung schlechtere Werte in den Bereichen Lebenszufriedenheit, Problembewältigungsstrategien, physische und psychische Gesundheit sowie in der sozialen Integration und Partizipation aufweisen und höhere Rückfallraten haben als Erwerbstätige. Unter den Arbeitslosen war der Anteil derjenigen ohne Berufsausbildung höher als bei Erwerbstätigen. Dies bestätigte sich auch in einer Untersuchung der Klientel in der deutschen Suchthilfe (Kipke et al., 2015). Arbeitslose Klienten, die aufgrund einer Hauptdiagnose im Bereich illegaler Substanzen in Beratung oder Betreuung waren, verfügten beinahe doppelt so häufig über keine abgeschlossene Hochschul- oder Berufsausbildung wie erwerbstätige Klienten.

    Auch die Daten zur Inanspruchnahme des Hilfesystems zeigen deutliche Zusammenhänge zwischen Erwerbsstatus und Suchterkrankungen. Eine Auswertung der Leistungsdaten aller AOK-Versicherten, die in den Jahren 2007 bis 2012 in ambulanter oder stationärer medizinischer Behandlung waren, zeigt, dass in der Population von Hartz IV-Empfangenden im Vergleich zu Kurzzeitarbeitslosen und Erwerbstätigen Suchtprobleme – unabhängig von Alter und Geschlecht – deutlich verbreiteter sind (Henkel & Schröder, 2015). Insgesamt 10,2 Prozent der ALG II-Bezieher (Arbeitslosengeld II) wurden mit einer Suchtdiagnose gemäß ICD-10 diagnostiziert. Bei ALG I-Empfängern betrug diese Diagnoserate 6,3 Prozent und bei Erwerbstätigen 3,7 Prozent.

    Auch im suchtspezifischen Versorgungssegment liegt eine deutliche Belastung der Klientel durch Arbeitslosigkeit vor. Die jüngsten Daten der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) zeigen, dass über alle Hauptdiagnosen (HD) hinweg im Jahr 2015 mehr als jeder dritte Klient (38 Prozent) in ambulanten und jeder zweite Patient (53 Prozent) in stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe am Tag vor Betreuungsbeginn ALG I oder ALG II bezog (Braun, Brand & Künzel, 2016a; alle Daten der DSHS sind verfügbar unter: http://www.suchthilfestatistik.de/).

    Im Rahmen dieses Beitrags soll mithilfe der Daten der DSHS die Entwicklung der letzten Jahre sowie die aktuelle Situation der arbeitslosen Klientel, die wegen suchtbezogener Probleme in Betreuung/Behandlung ist, dargestellt werden. Der Beitrag schreibt eine Arbeit fort, die Trendverläufe bis 2011 darstellte (Kipke et al., 2015).

    Alle zugrundeliegenden Daten aus der DSHS beziehen sich auf Betreuungs-/Behandlungsepisoden, die synonym auch als Fälle bezeichnet werden. Da derselbe Klient mehrere Behandlungsepisoden in einem Berichtsjahr absolviert haben kann, ist die Zahl der Fälle ungleich der Zahl der Klienten. Dasselbe gilt im stationären Setting für Patienten. Der einfacheren Lesbarkeit halber wird dennoch teilweise der Begriff Klient/Patient benutzt.

    Methodik

    Es werden wesentliche Charakteristika von arbeitslosen Klienten in ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen im zeitlichen Verlauf von 2007 bis 2015 dargestellt. Des Weiteren wird eine vergleichende Charakterisierung der arbeitslosen und erwerbstätigen Klientel im ambulanten Setting vorgenommen. Folgende Datenquellen werden herangezogen: 1) Für die Verlaufsdarstellung werden Daten der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS; aktuellster Tabellenband: Braun, Brand & Künzel, 2016; alle Tabellenbände verfügbar unter: https.//www.suchthilfestatistik.de/daten) genutzt, die jedes Jahr bundesweit in ambulanten Suchtberatungs-/behandlungseinrichtungen sowie (teil-) stationären Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen erhoben wurden. 2) Für die vergleichende Charakterisierung der Klientel werden Daten von Klienten mit unterschiedlichem Erwerbsstatus in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen hinsichtlich ihres soziodemographischen Hintergrunds, ihrer spezifischen Suchtproblematik und ihrer Betreuungsmerkmale gegenübergestellt (siehe Kurzbericht 2/2016 der DSHS; Künzel, Specht & Braun, 2016).

    Eine ausführliche Beschreibung der Methodik der Deutschen Suchthilfestatistik findet sich in Dauber, Specht, Künzel und Braun (2016). Die Daten der DSHS ermöglichen eine systematische Analyse von Trends in Suchthilfeeinrichtungen, insbesondere aufgrund ihrer hohen Erreichungsquote in der ambulanten (geschätzte Erreichungsquote ≥ 74 Prozent) und stationären (geschätzte Erreichungsquote ≥ 64 Prozent) Suchthilfe (Dauber et al. 2016) und der hohen Vergleichbarkeit der Daten. Diese Vergleichbarkeit wird durch die einheitliche Verwendung des Deutschen Kerndatensatzes zur Dokumentation im Bereich der Suchthilfe erzielt (KDS; DHS, 2007). Die Grundgesamtheit der vorliegenden Analyse schließt alle Fälle ein, für die eine Hauptdiagnose (HD) vergeben wurde. Sie bezieht sich in ambulanten Einrichtungen auf alle Fälle, die im jeweiligen Jahr eine Betreuung begonnen bzw. beendet haben („Zugänge/Beender“) und im stationären Bereich auf alle Fälle, die im jeweiligen Jahr eine Betreuung beendet haben („Beender“). Für die Beschreibung der Arbeitslosenanteile in der Suchthilfe zwischen 2007 und 2015 wurden alle Fälle als „arbeitslos“ definiert, bei denen in den letzten sechs Monaten vor Betreuungsbeginn Arbeitslosigkeit nach Sozialgesetzbuch (SGB) II oder SGB III vorlag. In der Vergleichsgruppe „erwerbstätig“ wurden alle Fälle der erfassten Kategorien zu Erwerbstätigkeit zusammengefasst („Auszubildender“, „Arbeiter/Angestellter/Beamter“, „Selbstständig/Freiberufler“, „in beruflicher Rehabilitation“, „Sonstige Erwerbsperson“).

    Für die vergleichende Gegenüberstellung von Klienten mit unterschiedlichem Erwerbsstatus wurden Daten zum Erwerbsstatus aus dem ambulanten Suchthilfesetting im Jahr 2015 in Gruppen zusammengefasst (Künzel et al., 2016): a) arbeitslose Klientel: Klienten, die am Tag vor Betreuungsbeginn und am Tag nach Betreuungsende arbeitslos nach SGB II oder SGB III waren, und b) erwerbstätige Klientel: Klienten, die am Tag vor und am Tag nach der Betreuung erwerbstätig waren.

    Ergebnisse

    Trends der Jahre 2007 bis 2015

    Die Zahlen aus dem Jahr 2015 zeigen, dass der Anteil an arbeitslosen Klienten, die bereits sechs Monate vor Betreuungsbeginn erwerbslos waren, bei Fällen mit HD Opioide sowohl in ambulanten als auch in stationären Einrichtungen am höchsten (ambulant: 58 Prozent; stationär: 67 Prozent) und bei Fällen mit HD Stimulanzien am zweithöchsten (ambulant: 46 Prozent; stationär: 63 Prozent) war. Insgesamt ist der Anteil der Erwerbslosen im Verlauf der Jahre 2007 bis 2015 über alle HD in ambulanten Einrichtungen um etwa vier Prozentpunkte auf 36 Prozent gesunken und in stationären Einrichtungen um etwa einen Prozentpunkt auf 48 Prozent gestiegen. Der Anteil arbeitsloser Patienten war in stationären Einrichtungen insgesamt höher als in ambulanten Einrichtungen. Der größte Unterschied zwischen ambulantem und stationärem Setting in Bezug auf die Hauptdiagnosen fand sich bei Fällen mit HD Cannabis. Bei diesen Fällen lag im Jahr 2015 der Anteil Erwerbsloser bei 31 Prozent im ambulanten und bei 60 Prozent im stationären Setting.

    Die Anteile der arbeitslosen Klienten an allen Klienten in ambulanten und stationären Einrichtungen insgesamt sowie differenziert nach den Hauptdiagnosen Alkohol, Opioide, Cannabis, Kokain, Stimulanzien und Pathologisches Glückspielen sind in Abbildung 1 dargestellt. Der Anteil an erwerbslosen Patienten ist zwischen 2007 und 2015 im stationären Bereich bei Fällen mit HD Stimulanzien am stärksten (+16 Prozentpunkte) und bei Fällen mit HD Opioide am zweitstärksten (+9 Prozentpunkte) angestiegen. In ambulanten Einrichtungen war der stärkste Anstieg der Anteile Arbeitsloser ebenfalls bei Fällen mit HD Stimulanzien (+8 Prozentpunkte) zu beobachten, während der Anteil bei Fällen mit HD Alkohol am stärksten (-7 Prozentpunkte) zurückging.

    Abbildung 1: Anteil arbeitsloser Klientel in der Deutschen Suchthilfestatistik von 2007 bis 2015 gesamt und nach Hauptdiagnosen, getrennt für ambulantes und stationäres Setting

    Merkmale der Klientel mit unterschiedlichem Erwerbsstatus in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen im Jahr 2015

    Fast alle Klienten (97 Prozent), die einen Tag vor der Betreuung erwerbstätig waren, befanden sich bereits sechs Monate vor Betreuungsbeginn in einem Arbeitsverhältnis, und 91 Prozent der arbeitslosen Klienten bezogen bereits sechs Monate vor Betreuungsbeginn Arbeitslosengeld (elf Prozent ALG I; 80 Prozent ALG II).

    Der Anteil Alleinstehender war bei arbeitslosen Klienten deutlich höher (59 Prozent) als bei Erwerbstätigen (40 Prozent). Auch das Bildungsniveau der Klienten variierte nach dem Erwerbsstatus (s. Abbildung 2). Arbeitslose Klienten verfügten deutlich seltener über eine (Fach-)Hochschulreife (acht Prozent vs. Erwerbstätige: 18 Prozent) oder über einen Realschulabschluss (27 Prozent vs. Erwerbstätige: 38 Prozent) und hatten häufiger die Schule ohne Abschluss verlassen als Erwerbstätige (13 Prozent vs. Erwerbstätige: vier Prozent). Zudem hatte beinahe die Hälfte der arbeitslosen Klienten keine abgeschlossene Berufsausbildung (46 Prozent vs. Erwerbstätige: 14 Prozent).

    Abbildung 2: Höchster Schulabschluss erwerbstätiger und arbeitsloser Klienten in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen (DSHS 2015; Künzel, Specht & Braun, 2015)

    Neben soziodemographischen Merkmalen ergeben sich auch in der spezifischen Suchtproblematik Unterschiede zwischen Klienten in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen mit unterschiedlichem Erwerbsstatus. Während eine alkoholbezogene HD häufiger bei Erwerbstätigen vorlag, wiesen arbeitslose Klienten häufiger eine HD aus dem Spektrum der illegalen Substanzen auf. Die HD Opioide fand sich bei arbeitslosen Klienten fast viermal so häufig (22 Prozent  vs. Erwerbstätige: sechs Prozent) und die HD Stimulanzien mehr als doppelt so häufig (elf Prozent vs. Erwerbstätige: fünf Prozent) wie bei Erwerbstätigen. Substanzbezogene Zusatzdiagnosen waren bei arbeitslosen Klienten häufiger als bei erwerbstätigen, insbesondere alkoholbezogene Störungen kamen deutlich häufiger vor.

    Bezüglich der Betreuung von Klienten mit unterschiedlichem Erwerbsstatus in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen ergab sich, dass bei Substituierten fast viermal so häufig eine psychosoziale Begleitbetreuung vorlag, wenn sie arbeitslos waren, als wenn sie erwerbstätig waren (elf Prozent vs. drei Prozent). Zudem war der Anteil an Klienten, die ihre Betreuung unplanmäßig beendeten, unter den Arbeitslosen deutlich höher (43 Prozent) als unter den Erwerbstätigen (32 Prozent). Arbeitslose Klienten wurden nach Betreuungsende häufiger in eine stationäre Rehabilitationseinrichtung weitervermittelt als erwerbstätige (42 Prozent vs. 30 Prozent), während bei Erwerbstätigen die Vermittlung in eine Selbsthilfegruppe am häufigsten war (34 Prozent vs. 16 Prozent). Ein positives Betreuungsergebnis am Ende der Betreuung lag, unabhängig von der Art der Beendigung, bei erwerbstätigen Klienten häufiger vor als bei arbeitslosen Klienten (bei planmäßiger Beendigung: 86 Prozent vs. 72 Prozent; bei unplanmäßiger Beendigung: 43 Prozent vs. 28 Prozent). Arbeitslosen Klienten wurde häufiger eine Verschlechterung des Zustandes nach der Behandlung als Ergebnis attestiert als erwerbstätigen Klienten (bei planmäßiger Beendigung: zwei Prozent vs. ein Prozent; bei unplanmäßiger Beendigung: acht Prozent vs. vier Prozent).

    Diskussion

    Bei erwerbslosen Klienten liegen spezifische gesundheitsrelevante Risiken vor, die in der Literatur berichtet werden (Hollederer, 2008; Paul & Moser, 2009; Henkel et al., 2005; Zemlin et al., 2006). Dies spiegelt sich bei einem hohen Anteil arbeitsloser Klienten und Patienten in deutschen Suchthilfeeinrichtungen wider. Im Jahr 2015 war mehr als jeder dritte Klient in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen und fast jeder zweite Patient im stationären Setting arbeitslos. Im Verlauf von 2007 bis 2015 zeigte sich im ambulanten Setting ein leichter Rückgang und im stationären Setting ein leichter Anstieg des Anteils der arbeitslosen Klientel.

    Der größte Unterschied im Anteil arbeitsloser Klienten zwischen ambulanten und stationären Behandlungssetting fand sich im Jahr 2015 bei der HD Cannabis (31 Prozent vs. 60 Prozent). Dieser Unterschied erklärt sich möglicherweise dadurch, dass im Vergleich zu ambulanten Klienten stationäre Cannabispatienten eine deutlich schwerere Störungsausprägung aufweisen, die im Zusammenhang steht mit auffallend hohem Konsum weiterer Substanzen und dem damit verbundenen erhöhten Risiko für die Entwicklung komorbider psychischer Störungen (Brand et al., 2016). Zusätzlich sind stationäre Cannabispatienten durch eine äußerst ungünstige (psycho-)soziale Situation belastet und scheinen im Vergleich zu ambulanten Cannabispatienten gerade in den Bereichen „Schule, Ausbildung, Beruf“ deutlich benachteiligt zu sein (Brand et al., 2016).

    Der höchste Anteil arbeitsloser Klienten fand sich sowohl im ambulanten als auch im stationären Behandlungssetting bei der HD Opioide. Bei etwa zwei Drittel der Klienten, die sich aufgrund einer opioidbezogenen Störung in Behandlung begaben, lag Arbeitslosigkeit vor. Allerdings waren nicht nur Klienten mit der HD Opioide deutlich häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, sondern auch Klienten mit der HD Stimulanzien. So zeigten die Trendbeobachtungen seit 2007 auch einen deutlichen Anstieg des Anteils Erwerbsloser mit HD Stimulanzien, so dass im Jahr 2015 im stationären Bereich 63 Prozent der Klienten mit HD Stimulanzien erwerbslos waren. Dies könnte bedingt sein durch die schnelle Entwicklung psychischer Auffälligkeiten als Konsequenz des Stimulanzienkonsums, was auch den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge haben könnte (Milin, Schäfer & Mühlig, 2016). Dadurch wiederum könnte sich die Motivation für eine (insbesondere stationäre) Behandlung erhöhen (Kipke et al., 2015).

    Die Ergebnisse der Gegenüberstellung erwerbstätiger und arbeitsloser Klienten in ambulanten Einrichtungen bestätigen vorliegende Erkenntnisse zu soziodemographischen und gesundheitsrelevanten Zusammenhängen von Arbeitslosigkeit und Suchterkrankung (Henkel et al., 2005; Zemlin et al., 2006). Auch ein Vergleich des sozioökonomischen Status arbeitsloser Suchtkranker im Jahr 2009 (Kipke et al., 2015) mit der aktuellen Situation im Jahr 2015 bestätigt diese Befunde. Nach wie vor liegt bei arbeitslosen Suchtkranken eine deutlich schlechtere Qualifizierung hinsichtlich Schul- und Ausbildungsabschluss vor. Die aktuelle Situation arbeitsloser Suchtkranker zeigt auch, dass deutlich mehr arbeitslose als erwerbstätige Klienten ohne feste Partnerschaft leben. Entsprechend können fast zwei Drittel der arbeitslosen Klienten nicht auf diese wichtige Ressource zurückgreifen. Außerdem weisen Klienten, bei denen während der Suchtbehandlung Arbeitslosigkeit vorlag, häufiger eine HD aus dem Spektrum der illegalen Substanzen sowie deutlich häufiger substanzbezogene Zusatzdiagnosen auf als erwerbstätige Klienten. Diese Beobachtungen untermauern weiterhin bestehende Hinweise auf ein erhöhtes Risiko Arbeitsloser für riskanten Substanzkonsum und ein ungünstigeres Gesundheits- und Suchtverhalten (Hollederer, 2008; Henkel, 2011).

    Die spezifischen Suchtproblematiken, die bei arbeitslosen Klienten beobachtet wurden, schlagen sich offenbar auch in den Daten zum Betreuungsabschluss nieder. Klienten, die arbeitslos waren, brachen die ambulante Suchtbehandlung häufiger vorzeitig ab und bekamen, unabhängig von der Art der Beendigung, häufiger eine Verschlechterung ihres Zustandes nach Behandlungsende attestiert als erwerbstätige Klienten.

    Schlussfolgernd ist festzuhalten, dass sich die dargestellten epidemiologischen Trends in Bezug auf arbeitslose Klienten/Patienten in der Deutschen Suchthilfe (Kipke et al., 2015) weiter fortsetzen und die Unterschiede der sozioökonomischen Charakteristika zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen in der Suchthilfe über die letzten Jahre eine hohe Stabilität aufwiesen.

    Danksagung

    Das Projekt „Deutsche Suchthilfestatistik“ wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit gefördert. Unser Dank gilt den teilnehmenden Klienten/Patienten und Einrichtungen sowie den Mitgliedern des Fachbeirats Suchthilfestatistik (R. Gaßmann, A. Koch, P. Missel, G. Sauermann, R. Walter–Hamann, T. Wessel).

    Deklaration möglicher Interessenkonflikte

    Es bestehen keinerlei Interessenkonflikte im Zusammenhang mit der Erstellung dieser Publikation.

    Kontakt:

    Rebecca Thaller
    IFT Institut für Therapieforschung
    Parzivalstraße 25
    80804 München
    Tel. 089/36 08 04 63
    Fax 089 – 36 08 04 49
    thaller@ift.de
    http://www.ift.de/

    Angaben zu den Autorinnen:

    Rebecca Thaller (M.Sc. Psych.), Sara Specht (MPH) und Jutta Künzel (Dipl.-Psych.) sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am IFT Institut für Therapieforschung, München, im Bereich Therapie- und Versorgungsforschung. Dr. Barbara Braun (Dipl.-Psych.) leitet am IFT den Bereich Therapie- und Versorgungsforschung sowie den Bereich Forschung Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern.

    Literatur:
    • Brand, H., Künzel, J., Pfeiffer-Gerschel, T. & Braun, B. (2016). Cannabisbezogene Störungen in der Suchthilfe: Inanspruchnahme, Klientel und Behandlungserfolg. SUCHT, 62(1), 9 -21.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2016a). Deutsche Suchthilfestatistik 2015. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2016b). Deutsche Suchthilfestatistik 2015. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitations-einrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2015a). Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2015b). Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitations-einrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H., Künzel, J. & Pfeiffer- Gerschel, T. (2014a). Deutsche Suchthilfestatistik 2013. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2014b). Deutsche Suchthilfestatistik 2013. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Bundesagentur für Arbeit (2017). Arbeitsmarkt in Zahlen. Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, Februar 2017. Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit.
    • Dauber, H., Specht, S., Künzel, J. & Braun, B (2015). Suchthilfe in Deutschland 2015. Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS). Online Bericht. Verfügbar unter http://www.suchthilfestatistik.de
    • DGB Bereich Arbeitsmarktpolitik (2010). Gesundheitsrisiko Arbeitslosigkeit – Wissensstand, Praxis und Anforderungen an eine arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung. Arbeitsmarkt aktuell, 9. Berlin: DGB.
    • Henkel, D. & Schröder, H. (2015). Suchtdiagnoseraten bei Hartz-IV-Beziehenden in der medizinischen Versorgung im Vergleich zu ALG-I-Arbeitslosen und Erwerbstätigen: eine Auswertung der Leistungsdaten aller AOK-Versicherten der Jahre 2007–2012. Suchttherapie, 16(03), 129-135.
    • Henkel, D. (2011). Unemployment and substance use: a review of literature (1990 – 2010). Current Drug Abuse Reviews 4, 24 – 28.
    • Henkel, D., Dornbusch, P. & Zemlin, U. (2005). Prädiktoren der Alkoholrückfälligkeit bei Arbeitslosen 6 Monate nach Behandlung: Empirische Ergebnisse und Schlussfolgerungen für die Suchtrehabilitation. Suchttherapie, 6(04), 165-175.
    • Hollederer, A. (2008). Psychische Gesundheit im Fall von Arbeitslosigkeit. Praktische Arbeitsmedizin, 12(10), 29-32.
    • Kipke, I., Brand, H., Geiger, B., Pfeiffer-Gerschel, T. & Braun, B. (2015). Arbeitslosigkeit und Sucht–Epidemiologische und soziodemographische Daten aus der Deutschen Suchthilfestatistik 2007–2011. SUCHT, 61(2), 81-94.
    • Künzel J., Specht, S. & Braun B. (2016). Klientinnen und Klienten in ambulanten Einrichtungen der Suchthilfe mit unterschiedlichem Erwerbsstatus vor und nach der Betreuung. Kurzbericht Nr.2/2016 – Deutsche Suchthilfestatistik 2015. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Milin, S., Schäfer, I., Mühlig, S. (2016). Epidemiologie. In: Drogenbeauftrage der Bundesregierung, BMG, BÄK & DGPPN (Hrsg.), S-3-Leitlinie Methamphetamin-bezogene Störungen (5-9). Berlin: Springer Verlag.
    • Paul, K. I. & Moser, K. (2009). Unemployment impairs mental health: Meta-analyses. Journal of Vocational behavior, 74(3), 264-282.
    • Pfeiffer-Gerschel, T. Steppan, M. & Brand, B. (2013a).  Deutsche Suchthilfestatistik 2012. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T. Steppan, M. & Brand, B. (2013b). Deutsche Suchthilfestatistik 2012. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2012a).  Deutsche Suchthilfestatistik 2011. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2012b).  Deutsche Suchthilfestatistik 2011. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2011a).  Deutsche Suchthilfestatistik 2010. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2011b). Deutsche Suchthilfestatistik 2010. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2010a). Deutsche Suchthilfestatistik 2009. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2010b). Deutsche Suchthilfestatistik 2009. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel T., Hildebrand A. & Wegmann, L. (2009a). Deutsche Suchthilfestatistik 2008. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel T., Hildebrand A. & Wegmann, L. (2009b). Deutsche Suchthilfestatistik 2008. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitations-einrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Piontek, D., Gomes de Matos, E., Atzendorf, J. & Kraus, L. (2016). Kurzbericht Epidemiologischer Suchtsurvey. Tabellenband: Trends des Konsums illegaler Drogen und des klinisch relevanten Cannabisgebrauchs nach Geschlecht und Alter 1990 – 2015. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Sonntag, D., Bauer, C. & Eichmann, A. (2008a). Deutsche Suchthilfestatistik 2007. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Sonntag, D., Bauer, C. & Eichmann, A. (2008b). Deutsche Suchthilfestatistik 2007. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Zemlin, U., Henkel, D. & Dornbusch, P. (2006). „Predictors of alcohol relapses among the unemployed 6 months after treatment. ARA-Study. Empirical results and conclusions for addiction therapy and rehabilitation in Germany.” Vortrag, The 11th International Conference on Treatment of Addictive Behaviors (ICTAB 11).
  • Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Kurzversion des gleichlautenden Beitrags, der in SuchtAktuell 01.17, 15-33, publiziert wurde. Zur besseren Lesbarkeit wird die männliche Schreibweise verwendet. Damit sind Männer und Frauen gemeint.

    Dr. Volker Weissinger

    1. Ausgangslage: Suchterkrankungen in Deutschland

    Suchterkrankungen sind – wie auch die weiteren psychischen Störungen – mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten verbunden. Sie verlaufen häufig chronisch und weisen zudem eine hohe Komorbidität auf (vgl. Trautmann & Wittchen 2016). Zudem sind sie weit verbreitet. So rechnet man – ohne Berücksichtigung der Tabakabhängigkeit – in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen mit 4,61 Millionen Menschen, die unter einer stoffgebundenen Abhängigkeit leiden (s. Abb. 1). Hinzu kommen abhängige Menschen von stoffungebundenen Suchtformen wie pathologischem Glücksspiel oder pathologischem PC-/Internetgebrauch.

    2. Politischer Handlungsbedarf zur Förderung der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel alkoholbezogener Störungen

    Im Verlauf einer Suchterkrankung kommt es meist zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen der Teilhabe sowie zu einem erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen und frühzeitige Mortalität. Suchterkrankungen gehören zu den Erkrankungen mit der höchsten individuellen Krankheitslast.

    Schädlicher Alkoholkonsum verursacht beispielsweise in Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, diese werden auf 39,3 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt und unterteilen sich in 9,15 Milliarden Euro direkte und 30,15 Milliarden Euro indirekte Kosten (Effertz 2015). Zu den direkten Kosten gehören vor allem die Ausgaben für medizinische Behandlungen, Medikamente, Rehabilitationsmaßnahmen und Pflegeleistungen. Zu den indirekten Kosten gehören die alkoholbedingten Produktionsausfälle in der Volkswirtschaft, Kosten durch Frühverrentung, Arbeitslosigkeit und vorzeitigen Tod. Zusätzlich zu diesen Kosten entstehen durch schädlichen und abhängigen Alkoholkonsum auch erhebliche psychosoziale Belastungen, welche das Leid, den Schmerz und den Verlust an Lebensqualität der betroffenen Menschen sowie von deren Angehörigen beinhalten. Aufgrund der hohen Relevanz gehört „Alkoholkonsum reduzieren“ zu den zentralen Gesundheitszielen in Deutschland (Gesundheitsziele.de, Bundesanzeiger, 19.05.2015), denn die negativen gesundheitlichen Folgen von zu hohem Alkoholkonsum sind eines der gravierendsten und vermeidbaren Gesundheitsrisiken in Deutschland.

    Im Gesundheitsziel „Alkohol reduzieren“ heißt es: „Alkoholkranke Menschen sehen sich oft erst nach vielen Jahren der Abhängigkeit dazu veranlasst, sich wegen der Grundstörung in Behandlung zu begeben. Versorgungsanlässe sind häufig allgemeine somatische Krisen, bei deren Abklärung die Alkoholbezogenheit als ursächlicher Faktor identifiziert werden kann. Das gleiche gilt für psychische Krisen, in denen das psychiatrische, psychosomatische und psychotherapeutische Hilfesystem aus unterschiedlichen Beweggründen konsultiert wird. Es kann aber auch zu psycho-sozialen Krisen kommen, in deren Folge nicht nur die Partnerin oder der Partner bzw. die Familie, sondern auch Behörden (z. B. Jobcenter) oder die Betriebe gefordert sind. Nur ein kleiner Teil der Menschen mit alkoholbezogenen Problemen bzw. einer Alkoholabhängigkeit findet ohne Umwege und zeitnah Zugang zum suchtspezifischen Versorgungssystem.“

    Ein grundlegendes Problem besteht demnach darin, dass nur ein geringer Teil der Betroffenen in Deutschland auf seine Suchterkrankung angesprochen wird und professionelle Hilfe im Gesundheitssystem erhält. Trautmann & Wittchen (2016, S. 11) stellen hierzu fest: „Die Behandlungsraten betragen zwischen 5 und 33% (Kraus, Pabst, Gomes de Matos und Piontek 2014; Mack et al. 2014), mit den niedrigsten Raten für Alkohol (5-16%) und Cannabisstörungen (4-8%) (Hildebrand, Lippert, Sonntag, Bauer, Bühringer 2009; Kraus et al. 2014). Damit gehören Suchterkrankungen zu den psychischen Störungen mit der größten Behandlungslücke (…). Zudem werden Betroffene häufig erst dann erreicht, wenn die Störung bereits fortgeschritten ist und erste psychische und körperliche Folgeschäden bereits eingetreten sind (Hildebrand et al. 2009; Trautmann et al. – in Druck -). Dieser Umstand wiegt umso schwerer, da inzwischen zahlreiche ambulante und stationäre Interventionsbehandlungen von Suchterkrankungen verfügbar sind (insbesondere für die o. g. Alkohol- und Cannabisstörungen) (Bottlender & Soyka 2005; Hoch et al. 2012) und eine rechtzeitige Behandlung nachweislich die psychische und körperliche Morbidität senken kann (Rehm et al. 2014).“

    Eine Auswertung des Fachverbandes Sucht e.V. zeigt, dass bis zur Erstbehandlung in einer Fachklinik für alkohol-/medikamentenabhängige Menschen im Durchschnitt 12,9 Jahre vergehen. Darüber hinaus fanden durchschnittlich über drei Entzugsbehandlungen im Vorfeld der stationären Entwöhnungsbehandlung statt (s. Abb. 2).

    Eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungssituation speziell für abhängigkeitskranke Menschen erfordert ein Maßnahmenbündel auf verschiedenen Ebenen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Früherkennung und Frühintervention in den unterschiedlichen Handlungsfeldern, welche mit abhängigkeitskranken Menschen zu tun haben, ebenso gestärkt werden wie ein sektorenübergreifendes Fallmanagement und die engere Vernetzung zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen. Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf den Umgang mit psychischen und insbesondere mit Suchterkrankungen zu fördern. „Sowohl Bagatellisierung als auch Stigmatisierung sind trotz wichtiger Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten nach wie vor weit verbreitet. Diese tragen nicht nur zu einem reduzierten Hilfesuchverhalten, sondern auch – gemessen an den hohen individuellen gesellschaftlichen Kosten – zu sehr geringen Investitionen in Forschung und Versorgung von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und Suchterkrankungen im Speziellen bei (…)“ (Trautmann & Wittchen 2016, S. 12).

    Bereits im Jahr 1992 sprach Wienberg bezogen auf Suchtkranke aufgrund der vergleichsweise geringen Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfen von der „vergessenen Mehrheit“. In Abb. 3 ist der Bereich des spezialisierten Suchthilfesystems als Sektor 1 an der Spitze der Pyramide zu finden.

    Abb. 3: Das Hilfesystem – wie es aussieht (Wienberg 1992)

    Demgegenüber befindet sich eine deutlich höhere Anzahl suchtkranker Menschen im Sektor II, d. h. der psychosozialen und psychiatrischen Basisversorgung. Hierzu zählen neben psychiatrischen Einrichtungen auch Angebote zur Förderungen der beruflichen Teilhabe, der Wohnungslosenhilfe, der Straffälligenhilfe und vieles mehr. Ebenso findet man Suchtkranke vergleichsweise häufig im Sektor III der medizinischen Primärversorgung, wozu insbesondere niedergelassene Ärzte und Allgemeinkrankenhäuser gehören. Die Sektoren stehen in diesem Modell relativ unverbunden nebeneinander, dies verdeutlicht, dass nur eine relativ geringe Anzahl betroffener Menschen Zugang zu den hoch qualifizierten Angeboten der Suchtberatung und -behandlung erhält.

    Zusammenfassend lässt sich bezogen auf die aktuelle Situation feststellen, dass Deutschland über ein differenziertes und qualifiziertes System der Suchthilfe und -behandlung verfügt, das Hilfesystem jedoch nur einen vergleichsweise geringen Teil der behandlungsbedürftigen Menschen erreicht, die meisten suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen aber Kontakt zur medizinischer Versorgung und/oder sozialen Hilfen haben. Daraus folgt, dass Screening, Früherkennung und frühzeitige Intervention sowie die Optimierung einer sektorenübergreifenden Vernetzung zentrale Zukunftsaufgaben darstellen, um den frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu passgenauen Hilfsangeboten zu fördern.

    3. Entwicklungspotentiale und Handlungsmöglichkeiten zur Förderung eines frühzeitigen und nahtlosen Zugangs

    Im Weiteren werden entsprechende Entwicklungspotenziale, welche einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Entwöhnungsbehandlung ermöglichen, beispielhaft dargestellt (vgl. Fachverband Sucht e.V. 2012; Missel 2016). Eingegangen wird hierbei auf folgende Bereiche:

    • Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten
    • Qualifizierter Entzug
    • Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung
    • Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung
    • Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
    • Betrieblicher Bereich
    • Routinedaten der Leistungsträger
    • Jobcenter/Agenturen für Arbeit
    • Fallmanagement und Fallbegleitung
    • Nutzung moderner Informationstechnologien

    Von zentraler Bedeutung ist es generell, an den Übergängen der unterschiedlichen Versorgungsbereiche Brücken zu bilden durch ein entsprechendes Fallmanagement. Zudem können auch durch die gezielte Nutzung moderner Informationstechnologien Zugänge erleichtert und verbessert werden.

    Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten

    Ein früher, fachlich wie persönlich bedeutsamer Kontaktpartner von Menschen mit Suchtproblemen ist der niedergelassene Arzt. Er kann somit eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, frühzeitig suchtgefährdete und suchtkranke Menschen gezielt anzusprechen. Deshalb wird seine Bedeutung auch im Rahmen der der AWMF-S3-Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen besonders hervorgehoben (Mann et al. 2016). Bislang ist allerdings eine flächendeckende Umsetzung entsprechender Frühinterventionsansätze zum Umgang des Arztes mit substanzbezogenen Störungen noch weit entfernt. Bestandteil einer solchen Umsetzung müsste sein, dass Ärzte in eigener Praxis dahingehend geschult sind, mittels geeigneter Screening-Verfahren riskante Konsumenten sowie suchtgefährdete und abhängige Personen zu erkennen und das Ergebnis als Einstieg in das Gespräch mit dem Patienten zu nutzen. In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen werden zur Früherkennung und Frühintervention durch niedergelassene Ärzte folgende Einzelempfehlungen gegeben:

    Die im AUDIT-C-Fragebogen enthaltenen Fragestellungen sind beispielsweise gut in allgemeine Gesundheitsuntersuchungen zu Risikofaktoren oder Patientengespräche integrierbar.

    „Bezogen auf die unterschiedlichen Konsumformen von Alkohol ergeben sich verschiedene Interventionsziele, welche mit den Betroffenen im Rahmen einer individualisierten Beratung bzw. Therapiezielplanung abzustimmen und zu modifizieren sind.“ (Günthner, Weissinger et al. 2016) Falls sich ein Verdacht auf eine alkoholbezogene Störung ergibt, können weitere diagnostische Schritte zur Feststellung erfolgen, ob ein riskanter, schädlicher oder abhängiger Konsum vorliegt. Während bei riskantem Konsum Kurzinterventionen mit dem Ziel einer Verhaltensänderung im Sinne einer Konsumreduktion im Vordergrund stehen, würde bei Abhängigkeit die Vermittlung in eine spezialisierte Suchtberatung und -behandlung im Mittelpunkt der Interventionen stehen (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Differenzielle Interventionsangebote nach Schweregraden (s. DSM 5)

    Bei denjenigen Patienten, die einer umfassenderen suchtspezifischen Beratung und Behandlung bedürfen, ist eine enge Kooperation von Seiten des Arztes mit den Angeboten der Suchtkrankenhilfe und Suchtbehandlung erforderlich. Gestützt auf den Austausch mit Suchtfachkräften sollte der Hausarzt begründete Behandlungsempfehlungen aussprechen. Nach wie vor bestehen allerdings hinsichtlich einer breiteren Umsetzung aus Sicht der Hausärzte erhebliche Probleme, die folgende Aspekte betreffen: die suchmedizinische Qualifikation, die Integration von entsprechenden Leistungen in den Praxisalltag, die Kooperation mit suchttherapeutischen Einrichtungen wie auch die Vergütung der niedergelassenen Ärzte (vgl. Liegmann 2015).

    Von daher sollten entsprechende Grundlagen, welche einen flächendeckenden Einsatz von Screening- und Diagnostikverfahren sowie von Frühinterventionen fördern, von der Ärzteschaft und den gesetzlichen Krankenversicherungen ausgebaut werden. Darüber hinaus sollte die Umsetzung durch Qualifizierungsmaßnahmen begleitet und durch die Vernetzung mit suchtspezifischen Spezialeinrichtungen unterstützt werden.

    Auch zwischen niedergelassenen Psychotherapeuten und dem Suchthilfe-/Suchtbehandlungssystem bedarf es einer verbesserten Kooperation, welche insbesondere die Früherkennung, Diagnostik und Vermittlung in Suchtberatungs- und Suchtbehandlungseinrichtungen wie auch die ambulante Weiterbehandlung durch Psychotherapeuten nach der Rehabilitationsleistung betrifft.

    Angesichts der häufigen Komorbidität von psychischen Störungen mit einer Abhängigkeitserkrankung sollte im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik eine Sucht- und Medikamentenanamnese bei neu aufgenommenen Patienten oder im Rahmen der diagnostischen Abklärung der neu eingeführten psychotherapeutischen Sprechstunde zwingender Bestandteil sein. Derzeit plant der Gemeinsame Bundesausschuss, Psychotherapeuten auch eine Verordnungsbefugnis für medizinische Rehabilitationsleistungen zu erteilen. Die Verordnungsbefugnis medizinischer Rehabilitationsleistungen sollte aus Sicht des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS) psychische und psychosomatische Rehabilitationsleistungen für Erwachsene und Kinder ebenso umfassen wie den Bereich der Abhängigkeitserkrankungen. Um möglichst nahtlos eine Entwöhnungsbehandlung einleiten zu können, würde es sich empfehlen, einen speziellen Befundbericht für Psychotherapeuten vorzusehen, der die wesentlichen Angaben enthält, die aus Sicht des Leistungsträgers erforderlich sind. Die verbindliche Einforderung eines zusätzlichen Sozialberichts einer Suchtberatungsstelle durch die Krankenkassen, um über einen Antrag auf eine Entwöhnungsbehandlung entscheiden zu können, sollte bei der Verordnung durch Vertragspsychotherapeuten entfallen.

    Eine Verschlankung des Antragsweges, welche auch mit einer deutlich kürzeren Entscheidungszeit des zuständigen Leistungsträgers hinsichtlich der Bewilligung einer entsprechenden Leistung einhergeht, wäre ein wichtiges Element, um den nahtlosen Zugang zu unterstützen (Martin 2016).

    Qualifizierter Entzug

    Die Qualifizierte Entzugsbehandlung enthält im Unterschied zur körperlich orientierten Entgiftung zusätzlich Leistungen zur Förderung der Motivation, Einzel- und Gruppengespräche sowie eine psychosoziale Betreuung und sollte auch die Vermittlung der Betroffenen in weiterführende Behandlung umfassen. Sie bedarf von daher auch einer entsprechenden Behandlungsdauer (bei alkoholbezogenen Störungen i. d. R. 21 Tage gemäß S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen). Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Qualifiziertem Entzug und allgemeiner Entgiftung/Entzugsbehandlung ergeben sich auch unterschiedliche Handlungsstrategien für die Früherkennung und Frühintervention.

    In Entwicklung befindet sich infolge der Initiative der Unterarbeitsgruppe (UAG) „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“, an der Vertreter der Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) und der Suchtverbände (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Fachverband Sucht e.V.) beteiligt waren, ein Nahtlosverfahren der GKV und DRV aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnungsbehandlung. Dieses Verfahren soll beinhalten:

    • Nahtlose Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung
    • Kurzfristige Bearbeitung des Reha-Antrags durch die Reha-Träger
    • Enge Abstimmung zwischen Krankenhaus und Entwöhnungseinrichtung
    • Organisierter und begleiteter Transport, vorzugsweise durch Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung
    • Fahrtkostenregelung nach § 53 SGB IX

    Entsprechende Rahmenempfehlungen der DRV/GKV befinden sich derzeit noch in Abstimmung. Deren Umsetzung wird dann mit entsprechenden Akteuren (z. B. Deutsche Krankenhausgesellschaft, Suchtkrankenhilfe) auf Landesebene erfolgen (geplant in 2017). Diese Initiative ist aus Sicht der Patienten und der Suchtverbände zu begrüßen. Kritisch angemerkt sei aber, dass nach derzeitigem Stand die Leistungsträger mehrheitlich beim Nahtlosverfahren am bestehenden umfangreichen Antragsverfahren (inkl. bisherigem Sozialbericht) festhalten werden. Bereits bestehende Nahtlosverfahren in einzelnen Bundesländern (z. B. Mitteldeutschland) sollen dadurch allerdings nicht berührt werden.

    Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung

    Gemäß der AWMF-S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen sollen postakute Interventionsformen generell im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden. Dies impliziert, dass eine entsprechende Motivierung, Beratung und Vermittlung Bestandteil der Entzugsphase ist und dies nicht nur im Rahmen des Qualifizierten Entzugs erfolgt.

    Angesichts der kürzeren Behandlungsdauer einer körperlich orientierten Entgiftung-/Entzugsbehandlung im Vergleich zum Qualifizierten Entzug und der damit verbundenen geringeren Personalausstattung ist das Nahtlosverfahren aus dem Qualifizierten Entzug nicht einfach auf diesen Bereich übertragbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauspatienten mit alkoholbezogenen Störungen derzeit nicht aufgrund der F10-Diagnose, sondern aufgrund der somatischen Folgeerkrankungen behandelt wird, die Grunderkrankung der Suchtstörung hierbei häufig unberücksichtigt bleibt und eine Ansprache der Patienten auf den schädlichen oder abhängigen Konsum i. d. R. nicht erfolgt. Suchtspezifische Handlungskonzepte und Interventionsstrategien fehlen in Krankenhäusern weitgehend, Vermittlungen in Suchtfacheinrichtungen erfolgen nur zu einem geringen Teil. Angesichts des Erlebens der körperlichen Folgeerkrankungen ist bei vielen Betroffenen allerdings gerade während eines Krankenhausaufenthalts mit einer erhöhten Sensibilität und Offenheit für die zugrunde liegenden Substanzprobleme zu rechnen.

    Die Umsetzung von Früherkennungs- und Frühinterventionsstrategien erfordert den Einsatz entsprechender personeller Ressourcen, welche in den Krankenhäusern i. d. R. nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Dies betrifft auch die Kapazitäten der Sozialen Dienste in den Krankenhäusern.

    Verschiedene Modellvorhaben zur Verbesserung der sekundärpräventiven Versorgung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Menschen, z. B. in Lübeck, Bielefeld, Erlangen, Boppard und im Rems-Murr-Kreis, zeigen, dass im Krankenhausbereich durch den Einsatz qualifizierten Personals im Rahmen von Konsiliar-/Liaisondiensten die (Früh-)Erkennung und Inanspruchnahme einer suchtspezifischen Behandlung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Patienten deutlich verbessert werden kann (Görgen & Hartmann 2002; Schneider et al. 2005; Rall 2012).

    Problematisch ist auch hier generell die Frage, wie dieser Mehraufwand finanziert werden kann. Dienstleistungen der Frühintervention, welche i. d. R. mit dem vorhandenen Krankenhauspersonal (inkl. Sozialer Dienst) nicht in ausreichendem Umfang geleistet werden können, bedürfen einer verbindlichen Finanzierungsgrundlage. Was die Frage der Vermittlung angeht, könnten die Regelungen zum Entlassmanagement im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes die Möglichkeit bieten, Qualitätskriterien zu definieren, die auch eine Verbesserung der Kooperation mit dem Suchthilfe- und Suchtbehandlungssystem umfassen.

    Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung

    Das Modell der „Integrierten stationären Behandlung Abhängigkeitskranker“ (ISBA) wurde von den AHG Kliniken Daun und der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gemeinsam entwickelt. Dabei handelt es sich um eine stationäre Kombi-Leistung, welche sowohl die Entgiftungs- wie auch die Entwöhnungsphase umfasst. Dieses Verfahren wurde speziell in einer Rehabilitationsklinik für Patienten mit Antragstellung auf eine Rehabilitationsleistung im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. Es beinhaltet einen Abholdienst am Wohnort zu Lasten der DRV Knappschaft-Bahn-See als Leistungsträger, der zugleich gesetzliche Krankenversicherung wie auch Rentenversicherung unter einem Dach ist.

    Aus Sicht der DRV Knappschaft-Bahn-See lässt sich folgendes Resümee zu diesem Verfahren ziehen (vgl. Kirchner 2016):

    • Die Entgiftung in der Rehabilitationsfachklinik ist erfolgreich (planmäßige Entlassungen, katamnestische Erfolgsquote).
    • Die Antrittsquote zur Entwöhnung beträgt 99,3 Prozent.
    • Die Entfernung zwischen Wohnort und Rehabilitationsfachklinik kann überbrückt werden.
    • Schnittstellen unter den Sozialversicherungsträgern können überwunden werden.
    • Deutliche Kostenersparnis entsteht durch die Entgiftung in der Rehabilitationsklinik.

    Durch den nahtlosen Übergang von Patienten mit anschließender Entwöhnungsbehandlung können somit Mehrfachentgiftungen vermieden, Arbeitsunfähigkeitszeiten reduziert und das Schnittstellenmanagement über Sektorengrenzen hinweg überwunden werden. Es zeigen sich zudem deutliche Kosteneinsparungseffekte.

    Einen anderen Ansatz, der ebenfalls auf der Verknüpfung zwischen Leistungen der Kranken- und Rentenversicherung beruht, stellt die stationäre Motivierungsbehandlung bzw. Reha-Abklärung dar. Dieses Verfahren wird langjährig insbesondere in Rehabilitationskliniken in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für Versicherte von Betriebskrankenkassen angeboten. Die stationäre Motivierungsbehandlung zu Lasten der GKVen bietet die Möglichkeit, eine bis zu vierwöchige Motivierungsbehandlung durchzuführen und, sofern indiziert, im unmittelbaren Anschluss daran eine Rehabilitationsbehandlung durchzuführen, bei der i. d. R. die Rentenversicherung Kostenträger ist.

    Beide Verfahren dienen insbesondere dazu, bei vorhandener Motivation den unmittelbaren Zugang zu den erforderlichen Leistungen zu ermöglichen und auf diesem Wege auch die Nichtantrittsquote – welche durch Wartezeiten und Lücken der Versorgung entsteht – zu reduzieren.

    Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

    Die Notwendigkeit, diagnostische und therapeutische Interventionen bei Rehabilitanden mit Suchtproblemen einzusetzen, betrifft auch die somatische und psychosomatische Rehabilitation, da Suchtprobleme als Komorbidität neben der ursprünglichen Hauptdiagnose (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Störungen) vorliegen können. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat deshalb Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation mit Suchtexperten, Vertretern der Wissenschaft und Patienten aus somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen entwickelt

    Bislang finden sich nur wenige Konzepte von somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen, in denen der Umgang mit komorbiden Suchtproblemen konkret beschrieben wird. Die Praxisempfehlungen sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine möglichst hohe Zufriedenheit bei Patienten und Mitarbeitern zu erreichen.

    Übertragbar sind diese Handlungserfordernisse auch auf den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. So können Suchtprobleme beispielsweise auch bei Rehabilitanden in Berufsförderungswerken auftreten und den Erfolg einer beruflichen Teilhabemaßnahme bedrohen. Spezifische Konzepte zum Umgang mit abhängigkeitskranken Menschen oder spezifische Beratungsangebote sind hier ebenfalls bislang eher die Ausnahme. Ein frühzeitiger Zugang zu suchtspezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten für suchtkranke Rehabilitanden sollte in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen gefördert werden, um damit auch berufliche Teilhabemöglichkeiten langfristig und nachhaltig zu unterstützen. Ein entsprechendes Positionspapier haben der Bundesverband der Deutschen Berufsförderungswerke und der FVS entwickelt (s. SuchtAktuell 01.17).

    Betrieblicher Bereich

    In der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (01.08.2014) wird die Zielsetzung formuliert, dass Anzeichen eines möglichen Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe frühzeitig erkannt werden sollen. Das Erkennen solcher Anzeichen wird als gemeinsame Aufgabe der Rehabilitationsträger sowie aller potenziell am Rehabilitationsprozess beteiligten Akteure gesehen. So hat beispielsweise die Rentenversicherung ein hohes Interesse daran, die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Versicherten zu erhalten. Hierzu dient auch der neu etablierte Firmenservice der Rentenversicherung (RV), der insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen bei dieser Zielsetzung unterstützen soll. In diesem Kontext sollen die Mitarbeiter des Reha-Beratungsdienstes der RV, welche hinsichtlich von Suchterkrankungen entsprechend geschult sind, auch auf abhängigkeitsspezifische Auffälligkeiten (etwa im Arbeits-, Sozial-, Gesundheitsverhalten bzw. im Erscheinungsbild) hinweisen, im Bedarfsfall den Kontakt zu Suchtberatungsstellen herstellen oder ggf. Rehabilitationsleistungen auch direkt einleiten (vgl. Gross 2016). Eine bundesweite Telefonhotline der Rentenversicherung wurde hierzu ebenfalls eingerichtet.

    Auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die betriebliche Gesundheitsförderung ein prioritäres Handlungsfeld der Prävention dar. Die Krankenkassen unterstützen Betriebe hierbei auch hinsichtlich der frühzeitigen Erkennung von Suchtproblematiken, bei der Schaffung von entsprechenden Strukturen und der Inanspruchnahme entsprechender Hilfsangebote.

    Ein Ansatzpunkt, das frühzeitige Erkennen einer Suchtproblematik zu fördern, bietet darüber hinaus der § 132 f SGB V des Präventionsgesetzes. Danach können die Krankenkassen oder ihre Verbände mit Betriebsärzten oder deren Gemeinschaften Verträge über die Durchführung von Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 Abs. 1 SGB V schließen. Ziel ist es, erwerbstätigen Versicherten damit einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen zu ermöglichen. Hierbei sollte auch routinemäßig ein Screening hinsichtlich suchtbezogener Störungen integriert werden.

    Routinedaten der Leistungsträger

    Ein weiterer Ansatzpunkt für eine frühzeitige Bedarfsfeststellung besteht in der gezielten Analyse der Routinedaten der Leistungsträger.

    Routinedaten der Krankenversicherung
    Als Anlass für einen möglichen Rehabilitationsbedarf wird in der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation beispielsweise genannt:

    • „Länger als 6 Wochen ununterbrochene oder wiederholte Arbeitsunfähigkeit innerhalb der letzten 12 Monate,
    • Gesundheitsstörung, der vermutlich eine psychische Erkrankung, eine psychosomatische Reaktion oder eine Suchtmittelabhängigkeit zugrunde liegt.“

    Entsprechende Analysen sind – unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen – von Seiten der Krankenkassen möglich. Diese müssten routinemäßig mit einem Fallmanagement verknüpft werden, dessen Aufgabe in einer Ansprache des Versicherten mündet, bei Bedarf Beratungen leistet und ggf. Vermittlungen in Absprache mit dem Versicherten einleitet.

    Routinedaten der Rentenversicherung
    Auf Basis ihrer vorhandenen Routinedaten hat die Rentenversicherung festgestellt, dass nahezu jeder zweite Zugang zur Erwerbsminderungsrente (EM) ohne eine vorherige medizinische Rehabilitationsleistung erfolgt ist (Gross 2016). Vor diesem Hintergrund wurde geprüft, ob eine sich abzeichnende Gefahr für die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit frühzeitig ermittelt werden kann, um darauf aufbauend sofort konkrete Angebote unterbreiten zu können. In einem durch die DRV Bund geförderten Forschungsprojekt, „Risikoindex Erwerbsminderungsrente“, konnte gezeigt werden, dass die zur Verfügung stehenden Routinedaten der Rentenversicherung einen hohen Vorhersagewert für das Risiko eines zukünftigen EM-Rentenzugangs besitzen. So kann eine zu 75 Prozent korrekte Vorhersage hinsichtlich eines EM-Rentenzugangs in den fünf folgenden Jahren getroffen werden. Zudem beschäftigte sich eine weitere Untersuchung, „Sozialmedizinisches Panel von Erwerbspersonen“, mit der Frage, wie sich die gesundheitliche und berufliche Situation von Versicherten entwickelt, die zwar Krankengeldempfänger sind, bislang jedoch noch keine Rehabilitationsleistung der Rentenversicherung in Anspruch genommen hatten (Gross 2016).

    Zielsetzung ist es, proaktiv auf potentielle EM-Rentenantragssteller zuzugehen und diese über die zur Verfügung stehenden Rehabilitationsleistungen zu informieren und zu einer Antragsstellung zu motivieren. Es ist davon auszugehen, dass bei einem Teil dieses Personenkreises auch substanzbezogene oder substanzungebundene Störungen eine Rolle spielen. Unterstützt werden soll die Förderung einer frühzeitigen Inanspruchnahme auch über die Internetseite www.reha-jetzt.de, welche über die entsprechenden Schritte aufklärt und informiert.

    Jobcenter/Agenturen für Arbeit

    Arbeitslose Menschen leiden im Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich häufiger an psychischen und psychosomatischen Belastungen und Erkrankungen wie etwa depressiven Symptomen, Angststörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Suchterkrankungen. So belegen Auswertungen der Krankenkassen, dass psychische Störungen unter Arbeitslosen deutlich erhöht sind. Darauf weist auch ein IAB-Forschungsbericht (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hin (Schubert et al. 2013).

    Das Beispiel des Jobcenters Essen verdeutlicht, wie eine gesundheitliche Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung zusammen mit lokalen Partnern des Gesundheitswesens so ausgebaut werden kann, dass ein umfangreiches Angebot zur Diagnostik und Versorgung von Kunden/Patienten mit psychischen, somatischen und Suchterkrankungen vorgehalten werden kann (Mikoteit 2016). Grundlage bildet ein Konzept des Jobcenters zur integrierten Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der seelischen Gesundheit, substanzbezogene Störungen bei Langzeitarbeitslosen werden dabei berücksichtigt. Spezialisierte, in der Führung von motivierten Gesundheitsgesprächen geschulte Fachkräfte des Jobcenters stehen an allen zehn Standorten des Jobcenters Essen zur Verfügung. Eine wichtige Zielsetzung der Gespräche der Fallmanager ist es, so genannte ‚Verdachtsfälle‘ zu identifizieren und bei diesen Menschen eine Motivation z. B. für die Inanspruchnahme einer professionellen Fachberatung aufzubauen. Diese Inanspruchnahme von Beratungsleistungen ist grundsätzlich freiwillig.

    Um den Zugang zu erleichtern, wurde in den Räumlichkeiten des Jobcenters eine ‚Zweigstelle‘ der Institutsambulanz des Klinikums der Psychiatrie eingerichtet. Neben einer psychiatrischen wird auch eine suchtmedizinische Sprechstunde im Jobcenter selbst angeboten. Damit ist es möglich, dass die Jobcenter-Fachkräfte direkt den Kontakt zu Spezialisten für psychische oder suchtbezogene Störungen herstellen. Gemeinsam werden von den Jobcenter-Fachkräften, den Klinikmitarbeitern und den Kunden die weiteren Schritte abgestimmt, und es wird auch Unterstützung, z. B. bei den Zugängen zu einer erforderlichen stationären Rehabilitation, geleistet. Hierzu gibt es Verfahrensabsprachen mit entsprechenden Rehabilitationseinrichtungen.

    Ein weiterer Ansatz zur Förderung eines nahtlosen Zugangs aus dem Jobcenter in eine Suchtrehabilitation stellt das kooperative Modellprojekt „Magdeburger Weg“ der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland für ALG II-Empfänger dar. Ziel dieses Ansatzes ist ebenfalls die frühzeitige Intervention, um aktuelle Vermittlungshemmnisse bezüglich eines regulären Beschäftigungsverhältnisses zu beseitigen und einem vorzeitigen krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken (Ueberschär et. al 2017). Die Antragsstellung erfolgt nach § 145 SGB III mit einem Rehabilitationsantrag und dem sozialmedizinischen Gutachten des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit ohne zusätzlichen Sozialbericht (seit 01.09.2007). In diesem Zusammenhang hat die DRV Mitteldeutschland 2010 auch einen Kooperationsvertrag mit den beiden Regionaldirektionen Sachsen und Sachsen-Anhalt/Thüringen geschlossen. Aus Sicht der DRV Mitteldeutschland hat sich gezeigt, dass die Öffnung der Zugänge – welche auch weitere Bereiche wie Entzugsbehandlungen, niedergelassene Ärzte, Justizvollzugsanstalten betrifft – richtig war. Die Erfolgsaussichten hinsichtlich der Rückfallquote unterscheiden sich bei den bisherigen Verfahren und den neuen Zugangswegen nicht, die betroffenen Menschen kommen aber früher und sicherer im Hilfesystem an (ebd.).

    Fallmanagement und Fallbegleitung

    In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen wird darauf hingewiesen, dass das Versorgungssystem für Menschen mit alkoholbezogenen Störungen in Deutschland sehr differenziert ist, eine Vielzahl von Angeboten umfasst und aufgrund historisch gewachsener Strukturen und den Zuständigkeiten der Kostenträger auch stark fragmentiert ist (Günthner, Weissinger et al. 2016). Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen ist es aufgrund der hohen Rückfallgefahr der betroffenen Menschen umso notwendiger, die Nahtlosigkeit zwischen den Leistungserbringern durch Brückenbildungen herzustellen. Erhebungen der Suchtfachverbände wie auch der Deutschen Rentenversicherung Bund belegen, dass eine vergleichsweise hohe Anzahl an Personen eine bewilligte stationäre Suchtrehabilitation nicht antritt (s. Abb. 5).

    Die DRV Rheinland-Pfalz hat gemeinsam mit den Universitäten Freiburg und Koblenz/Landau ein Modellprojekt zur Reha-Fallbegleitung durchgeführt. Teilnehmer waren Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige mit arbeitsplatzbezogenen Problemen bzw. Arbeitslosigkeit, welche in der Vergangenheit bereits eine Entwöhnungsbehandlung absolviert oder nicht angetreten hatten und im regionalen Umkreis der vorgesehenen Entwöhnungsklinik wohnten. Die Reha-Fallbegleiter waren in diesem Projekt an den 15 beteiligten Fachkliniken angesiedelt, vorgesehen waren bis zu 20 Kontakte, insbesondere in der Prä- und Postphase der Entwöhnungsbehandlung.

    Als wichtiges Zwischenergebnis zeigte sich, dass die Antrittsquote der Entwöhnungsbehandlung bei den Teilnehmern im Vergleich zu Nichtteilnehmern deutlich höher war (92,6 Prozent im Vergleich zu 60,8 Prozent). Ferner war auch die Quote der planmäßigen Beender deutlich erhöht.

    Fallmanagement bietet grundsätzlich die Möglichkeit, die Prozesse auf eine stärkere Personenzentrierung hin zu optimieren, und erfordert, dass die Prozessverantwortung festgelegt ist. Festzuhalten ist aber, dass Fallmanagement zeit- und personalintensiv ist und eine entsprechende Finanzierung der damit verbundenen Leistungen im gegliederten System erforderlich ist, um diesen Ansatz flächendeckend in der Versorgung zu implementieren.

    Nutzung moderner Informationstechnologien

    Zunehmend spielt der Einsatz neuer Medien in den Bereichen Prävention, Frühintervention sowie Beratung, Therapie und Nachsorge eine wichtige Rolle. Über entsprechende Informationskanäle lassen sich Betroffene, deren Angehörige wie auch Multiplikatoren gezielt ansprechen. Zukünftig werden die elektronischen Medien deutlich an Einfluss gewinnen, während die traditionellen Printmedien (z. B. Zeitschriften, Broschüren) mit einer rückläufigen Erreichungsquote der Bevölkerung zu rechnen haben.

    Die kommerziellen Anbieter von Apps und Programmen, die sich mit der Gesundheit beschäftigen, entwickeln laufend neue Programme. Hier ist ein enormer Wirtschaftsmarkt entstanden. Laut Deutschem Ärzteblatt umfasst in den USA der App-Store von Apple bereits über 100.000 Apps zur Lebensqualität, zu Fitness und Gesundheit. Das Marktvolumen mobiler Gesundheitsangebote (mhealth 2016) umfasste ca. 20 Milliarden US-Dollar (Beerheide 2016). Zudem weisen Gesundheits-Apps wenig Evidenz auf, es gibt keine Standards und Qualitätskriterien dafür, auch ist die Frage eines Zulassungsverfahrens ungeklärt (ebd.).

    Hier stellt sich die Frage, ob es beispielsweise im Rahmen der Nationalen Präventionsstrategie in Deutschland möglich wäre, zertifizierte und anerkannte Angebote zu schaffen, die wissenschaftlich abgesichert, interessensneutral und kostenfrei zugänglich sind. Denkbar wäre es, spezifische Apps für Betroffene, Multiplikatoren und Angehörige zu entwickeln, die als Wegweiser für die jeweiligen Nutzer eine Chance bieten, sich umfassend zu informieren über entsprechende Erkrankungsbilder, Behandlungsangebote, Antragsverfahren etc. Über Gesundheits-Apps lassen sich Gesundheitsthemen lebendig, anschaulich und zielgruppenspezifisch aufbereiten. Suchtbezogene Themen lassen sich hierbei zum einen in allgemeine Gesundheitsthemen integrieren, zum anderen aber auch sehr spezifisch darstellen.

    Der Ausbau von bundesweit abgestimmten, interessensneutralen und anerkannten Angeboten ist auch im Bereich der Online-Beratung oder der Telefonserviceangebote denkbar.

    4. Schlussbemerkungen und Ausblick

    Es gibt zwar einen breiten Konsens hinsichtlich der allgemeinen Zielsetzung, einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu einer bedarfs- und leitliniengerechten Therapie und Rehabilitation bei Suchterkrankungen sicherzustellen. Allerdings bestehen in der Realität erhebliche Hürden und Schnittstellenprobleme, die nicht zuletzt auf unterschiedlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Leitungsträgern und Leitungserbringern beruhen. Aus Sicht der betroffenen Menschen wäre es erforderlich, dass ein integriertes, berufsgruppenübergreifendes und bedarfsgerechtes Versorgungs- und Hilfesystem existiert, das einen möglichst nahtlosen Zugang zu den erforderlichen Leitungen ermöglicht. Dies ist auch eine wesentliche Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes, des Flexirentengesetzes und des Präventionsgesetzes. Gefragt sind somit Brückenkonzepte und sektorenübergreifende Interventionsstrategien.

    Angesichts des zum Krankheitsbild einer Abhängigkeit gehörenden vergleichsweise geringen Problembewusstseins der Betroffenen und der bestehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen ist es besonders wichtig, dass alle in den verschiedenen Versorgungssektoren Tätigen (z. B. niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhaus- und Pflegepersonal) ihre Aufmerksamkeit für substanzgebundene und -ungebundene Störungen systematisch erhöhen (Günthner, Weissinger et al. 2016).

    Darüber hinaus sind – so entsprechende Kernpunkte zur Implementierung der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen (ebd., S. 202 f.) – folgende Erfordernisse zu beachten:

    • niedrigschwelle wohnortnahe Zugangswege zu qualifizierten Beratungs- und Behandlungseinrichtungen vorzuhalten,
    • zeitnah personenzentrierte und passgenaue Hilfen für Menschen mit einer suchtbezogenen Störung wie auch für deren Angehörige zur Verfügung zu stellen,
    • Maßnahmen zum Screening/zur Früherkennung, insbesondere zur Identifizierung von Risikogruppen, in allen Einrichtungen der Versorgung mit geeigneten Instrumenten durchzuführen.

    Dort, wo es erforderlich ist, sollten die Leistungserbringer durch Fallmanager (z. B. Konsil- und Liaisondienste in Krankenhäusern) systematisch unterstützt werden. Durch das systematische Zusammenwirken der beteiligten Leistungsträger und Leistungserbringer sollten entsprechende Leistungen wie aus einer Hand erbracht werden.

    Kontakt:

    Dr. Volker Weissinger
    Geschäftsführer
    Fachverband Sucht e.V.
    Walramstraße 3
    53175 Bonn
    Tel. 02 28/26 15 55
    sucht@sucht.de

     

     

    Angaben zum Autor:

    Dr. Volker Weissinger ist Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS), Bonn.

    Literatur:

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    • Beerheide, R., (2016): Gesundheits-Apps – Viele Chancen, wenig Evidenz, Deutsches Ärzteblatt Jg. 113, Heft 26, 1. Juli 2016, A 1242 f.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2016): Komorbide Suchtprobleme – Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation, Berlin
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    • Ueberschär, I., Kampschick, U., Schmidtke, B., Retzlaff, R. (2017): Die Notwendigkeit eines einfachen Zugangs in die Rehabilitation Suchtkranker, SuchtAktuell 01.17, 11-14
    • Wienberg, G. (1992): Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen, Bonn
  • „Alkohol 2020“

    „Alkohol 2020“

    Lenea Reuvers

    Prävalenz

    Alkoholerkrankungen sind in Österreich ein weit verbreitetes Problem: Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Geburtstag sind alkoholabhängig (betroffen sind 7,5 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen), weitere zwölf Prozent weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf und sind gefährdet, abhängig zu werden (Uhl et al. 2009). In Wien gelten bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,7 Millionen Menschen zwischen 35.000 und 75.000 Personen als alkoholabhängig, bei weiteren 135.000 bis 175.000 besteht ein Alkoholmissbrauch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Prävalenz der Alkoholerkrankung in Österreich über dem europäischen Durchschnitt und ist fast 70 Prozent höher als in Deutschland (WHO 2014). Zur Verbildlichung: Fast jeder dritte Mann im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ist in Österreich von einer Alkoholerkrankung betroffen (Czypionka et al. 2013, S. 28).

    Ausgangssituation

    Das Behandlungsangebot für alkoholkranke Menschen wurde in Wien traditionell von einzelnen stationären Suchthilfeeinrichtungen geprägt, die als separate ‚Insellösungen‘ nebeneinander bestanden und nur geringfügig ambulante Leistungen zur Vor- und Nachbereitung eines stationären Aufenthaltes erbrachten (Uhl et al. 2009, S. 343 ff.). Diese Einrichtungen waren sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen Gesundheits- und Sozialsystem kaum vernetzt; eine entsprechende Koordination der Suchthilfeeinrichtungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Angebote aufeinander abzustimmen und Nahtstellen zu schaffen, fehlte.

    Langfristige poststationäre ambulante Betreuungen oder rein ambulante Angebote für Menschen, die eine stationäre Betreuung nicht in Anspruch nehmen konnten, waren nicht vorhanden. Durch das Fehlen ambulanter Angebote gab es keine begleitenden Betreuungsmöglichkeiten, um die Therapieinhalte nachhaltig im Alltag umzusetzen und die Teilhabe der Patient/innen am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Die Folge waren hohe Rückfallraten und so genannte Drehtür-Effekte in den Einrichtungen und damit verbunden großes persönliches Leid auf Seite der Betroffenen sowie hohe volkswirtschaftliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Allein im Jahr 2011 entstand in Österreich laut einer Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Höhere Studien netto ein volkswirtschaftlicher Schaden von 737,9 Millionen Euro, der auf die Alkoholerkrankung zurückzuführen war (Czypionka et al. 2013).

    Das Projekt „Alkohol 2020“

    Vor diesem Hintergrund wird seit Oktober 2014 in Wien unter dem Titel „Alkohol 2020“ im Rahmen eines Pilotprojekts ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen umgesetzt, das einen frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu spezialisierten und qualifizierten Betreuungsangeboten sowie ein enges Nahtstellenmanagement und ein konstruktives Zusammenwirken der verschiedenen Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ermöglicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam von der Pensionsversicherungsanstalt, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien ins Leben gerufen und stellt in Österreich eine historisch erstmalige Kooperation dieser Kostenträger dar. Erstmals treten sie als gemeinsame Partner in der Konzeption, Umsetzung und Finanzierung der Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen auf.

    In Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF 2015) sieht das integrierte Versorgungssystem eine umfassende langfristig geplante multiprofessionelle Betreuung, ein begleitendes Case Management sowie integrierte Nahtstellen mit dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem vor. Ziel ist es, in einem guten Versorgungssystem durch frühzeitige Diagnose und Intervention eine erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation alkoholkranker Menschen zu ermöglichen und eine nachhaltige soziale wie berufliche Reintegration dieser Menschen zu erreichen. Im Rahmen der integrierten Betreuung von „Alkohol 2020“ wird daher angestrebt, dass der niedergelassene Bereich, der klinische Bereich, die spezialisierte Suchtkrankenhilfe und das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem ihre Angebote aufeinander abstimmen, sich gegenseitig ergänzen und nahtlos miteinander kooperieren.

    Versorgung von alkoholkranken Menschen

    Dem spezialisierten Bereich der Suchtkrankenhilfe mit den Einrichtungen des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) kommt in der Betreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung die Schlüsselrolle zu. Die suchtspezifische Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen soll im Regelfall sowohl ambulant als auch stationär im spezialisierten Bereich des SDHN erfolgen. Der niedergelassene Bereich als häufig erste Anlaufstelle für Patient/innen mit gesundheitlichen Problemen übernimmt eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, Frühintervention und Nachbetreuung. Die Versorgung im klinischen Bereich konzentriert sich auf Akut- und Schwerstfälle.

    Um keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern alkoholkranke Menschen in allen Bereichen in die Gesellschaft zu integrieren, werden darüber hinaus Einrichtungen aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem durch einen eigenen Liaisondienst für die spezifischen Bedürfnisse alkoholkranker Menschen sensibilisiert und befähigt, ihre bestehenden Angebote auch für diese Zielgruppe zu öffnen. So können die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem die spezialisierte Suchtkrankenhilfe bestmöglich ergänzen.

    Im Mittelpunkt des integrierten Versorgungssystems stehen so genannte regionale Kompetenzzentren, die zum einen als erste Anlaufstelle für Menschen mit einer Alkoholerkrankung dienen und zum anderen das einrichtungsübergreifende Case Management verantworten und den niedergelassenen Bereich, den klinischen Bereich, den spezialisierten Bereich und die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem miteinander vernetzen. Über die regionalen Kompetenzzentren ist ein niederschwelliger Zugang in das Betreuungssystem möglich. Alkoholkranke Menschen können sich direkt an ein regionales Kompetenzzentrum wenden oder aus dem Gesundheits- und Sozialsystem an ein Kompetenzzentrum vermittelt werden. In vielen Fällen wird diese Vermittlung durch Liaisondienste unterstützt.

    Abbildung 1: Das integrierte Versorgungssystem „Alkohol 2020“ (PV = Pensionsversicherung, KV = Krankenversicherung)

    Im regionalen Kompetenzzentrum wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten/Ärztinnen (Allgemeinmedizin und Psychiatrie), Psycholog/innen und Sozialarbeiter/innen mittels umfassender multidimensionaler Diagnostik die bio-psycho-soziale Ausgangslage der Patient/innen erhoben und gemeinsam mit den Patient/innen ein individueller, an ihrem Bedarf orientierter Maßnahmenplan für die weitere Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation erarbeitet. Faktoren wie Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden dabei von Anfang an mitbetrachtet.

    Die erstellten Maßnahmenpläne decken jeweils den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl in Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation der jeweiligen Patient/innen ab und werden aus stationären und ambulanten Modulen zusammengesetzt, die sich in Dauer und Betreuungsintensität voneinander unterscheiden. Maßnahmenpläne können rein ambulant sein; kommt es zu einem stationären Aufenthalt, erfolgt immer eine ambulante Weiterbetreuung.

    Solange definierte Mindeststandards eingehalten werden, können Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe auf Basis wissenschaftlicher Betreuungskonzepte ein vielfältiges Betreuungsangebot bereitstellen. Auch das Therapieziel muss den Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Patient/innen entsprechen und kann durch Abstinenz, kontrolliertes Trinken, Trinkmengenreduktion oder sonstige Angebote erreicht werden.

    Im regionalen Kompetenzzentrum, das die Angebote der verschiedenen Einrichtungen im Detail kennt, wird bei der Erstellung des Maßnahmenplans unter den vielfältigen Angeboten jeweils die Einrichtung gewählt, die über das für den individuellen Bedarf der jeweiligen Patient/innen am besten geeignete Therapiekonzept und Angebot verfügt. Gegenüber dem jetzigen System, in dem sich Patient/innen eigenständig über die bestehenden Angebote informieren und bei den Einrichtungen bzw. den Kostenträgern um einen Therapieplatz ansuchen müssen, bedeutet diese Unterstützung eine wichtige Verbesserung für die Patient/innen.

    Gemeinsamer Bewilligungsprozess

    Das regionale Kompetenzzentrum beantragt anschließend die Bewilligung des Maßnahmenplans beim Institut für Suchtdiagnostik (ISD) der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Die zeitnahe Bewilligung erfolgt im Rahmen einer einmaligen persönlichen Begutachtung direkt in den Räumlichkeiten des regionalen Kompetenzzentrums durch ein multiprofessionelles Team des ISD.

    Im Sinne eines integrierten Versorgungssystems gibt es im Projekt „Alkohol 2020“ einen kostenträgerübergreifenden gemeinsamen Bewilligungsprozess: Mit der Bewilligung des Maßnahmenplans durch das Institut für Suchtdiagnostik liegt gleichzeitig auch die Finanzierungszusage aller Kostenträger für die im Maßnahmenplan festgelegten Module vor. Die Kostenträger (Krankenversicherung, Pensionsversicherung und die Stadt Wien) verzichten damit im Interesse der Patient/innen auf die bisher üblichen eigenen, voneinander getrennten Bewilligungsprozesse. Durch den gemeinsamen Bewilligungsprozess kann die Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation vorab langfristig sichergestellt werden, und Unterbrechungen im Betreuungsverlauf werden vermieden.

    Infolge der Bewilligung informiert das regionale Kompetenzzentrum die Suchthilfeeinrichtungen über die bevorstehende Betreuung und vermittelt die Patient/innen an die erste betreuende Einrichtung im Maßnahmenplan. Eine Änderung des Maßnahmenplans ist während des Betreuungsverlaufs jederzeit nach entsprechender Bewilligung möglich. Während der gesamten Betreuungsphase übernimmt das regionale Kompetenzzentrum das einrichtungsübergreifende Case Management und bleibt zentraler Ansprechpartner für die Patient/innen sowie für alle betreuenden Einrichtungen. Durch die individuelle, bedarfsorientierte und langfristige Betreuung im Rahmen der Maßnahmenpläne können Patient/innen nachgehend betreut und ‚Drehtür-Effekte‘ deutlich reduziert werden.

    Finanzierung

    Im Vordergrund des integrierten Versorgungssystems „Alkohol 2020“ steht die Bereitstellung eines patientenorientierten Systems, in dem Patient/innen eine zentrale Anlaufstelle haben und die komplexe Art der Finanzierung im Hintergrund abläuft. Im Gegensatz zu Deutschland ist daher im suchtspezifischen Bereich keine Trennung der Leistungen und Zuständigkeiten in Form einer durch die Krankenkasse finanzierten Akutbehandlung („Entzugsbehandlung“) und einer von der Rentenversicherung bezahlten Rehabilitation („Entwöhnungsbehandlung“) vorgesehen. Stattdessen werden alle Leistungen zentral geplant, bewilligt und gemeinsam von der Krankenkasse, der Rentenversicherung und dem Land über einen variablen Finanzierungsschlüssel finanziert, der die in den Leistungen enthaltenen kurativen und rehabilitativen Anteile berücksichtigt. Dadurch kann ein gemeinsames, einheitliches administratives wie inhaltliches Prozessmanagement gewährleistet werden. Diese Art der Finanzierung bezieht sich nur auf den Bereich der spezialisierten Suchthilfe. Die Finanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems inklusive des niedergelassenen Bereichs, der Krankenhäuser und der sonstigen Rehabilitationseinrichtungen bleibt davon unangetastet.

    Die Steuerung wird ermöglicht durch die strukturelle Trennung zwischen den regionalen Kompetenzzentren (als zentrale Anlaufstelle für die Planung der Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen), der unabhängigen gemeinsamen Bewilligungsstelle und den für die Umsetzung der Maßnahmen zuständigen ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen. Um ein ökonomisches Eigeninteresse auszuschließen, dürfen die Träger der regionalen Kompetenzzentren und des Instituts für Suchtdiagnostik keine eigenen ambulanten und stationären Leistungen anbieten. Darüber hinaus ist durch ein flächendeckendes gemeinsames Dokumentationssystem im Suchthilfebereich für die Kostenträger eine transparente wirkungsorientierte Steuerung des Versorgungssystems möglich.

    Pilotprojekt Phase 1

    Dieses neue integrierte Versorgungssystem, das von der Pensionsversicherung, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien gemeinsam entwickelt wurde, wird seit Oktober 2014 in Wien im Rahmen des Pilotprojekts „Alkohol 2020“ umgesetzt.

    In der ersten Pilotphase von Oktober 2014 bis März 2016 (18 Monate) wurden in Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk in Wien Kapazitäten geschaffen, um bis zu 500 Personen in das Pilotprojekt aufzunehmen und im Rahmen des neuen integrierten Versorgungssystems zu betreuen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Pilotprojekt war für Patient/innen das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung sowohl bei der Stadt Wien, der Wiener Gebietskrankenkasse als auch der Pensionsversicherungsanstalt, zusätzlich gab es eine Altersgrenze von maximal 55 Jahren bei Eintritt ins Pilotprojekt. Über diese formellen Kriterien hinaus gab es keine inhaltliche Einschränkung der Zielgruppe.

    Insgesamt suchten während der ersten Pilotphase 843 Personen das regionale Kompetenzzentrum auf. Der Großteil dieser Personen meldete sich ohne Vermittlung aus dem Gesundheits- und Sozialsystem eigenständig beim regionalen Kompetenzzentrum (46 Prozent). Knapp ein Drittel wurde von einer teilnehmenden Einrichtung aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk an das regionale Kompetenzzentrum vermittelt. Zehn Prozent wurden jeweils über die Liaisondienste aus den Wiener Krankenanstalten und über die Case Manager der Wiener Gebietskrankenkasse und der Pensionsversicherungsanstalt vermittelt. Ein geringer Anteil kam über eine Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich zum regionalen Kompetenzzentrum. Der Frauenanteil betrug konstant ein Drittel, zwei Drittel der Personen waren Männer. Dies entspricht den Prävalenzzahlen in Wien.

    Etwa ein Viertel der Personen, die sich in der ersten Pilotphase beim regionalen Kompetenzzentrum meldeten, war nicht anspruchsberechtigt, wies keine relevante Indikationsstellung auf oder wurde akut in eine Notaufnahme gebracht.

    Abbildung 2: Personen im regionalen Kompetenzzentrum

    In der ersten Pilotphase wurde in Folge für insgesamt 524 Personen ein Maßnahmenplan erstellt. Mehr als zwei Drittel dieser Maßnahmenpläne bestanden aus rein ambulanten Modulen, nur ein Drittel beinhaltete stationäre Maßnahmen. Dies zeigt deutlich, dass die neu geschaffenen ambulanten Angebote einen bestehenden Bedarf erfüllen, der bisher nicht ausreichend abgedeckt wurde. Bis Ende März 2016 wurden 465 Personen vom Institut für Suchtdiagnostik begutachtet, für 461 Personen wurden die jeweiligen Maßnahmenpläne (zum Teil nach Änderung durch das Institut für Suchtdiagnostik) bewilligt, fünf Personen wurden indikationsentsprechend in andere Behandlungsangebote vermittelt (Regionalpsychiatrie/Drogeneinrichtungen). 58 Personen sind nicht zur Bewilligung erschienen bzw. der Bewilligungsprozess war mit Ende der Pilotphase 1 noch nicht abgeschlossen.

    Abbildung 3: Erstellte Maßnahmenpläne

    Die Patient/innen, die in der ersten Pilotphase im neuen Versorgungssystem betreut wurden, waren im Schnitt 43 Jahre alt, wobei Frauen (43,7 Jahre) geringfügig älter waren als Männer (43,3 Jahre). Fast die Hälfte der Personen war zwischen 40 und 50 Jahre alt, knapp zehn Prozent der Personen waren 30 Jahre alt oder jünger, und 20 Prozent waren älter als 50 Jahre. 15 Prozent der Patient/innen waren obdachlos oder in einer betreuten Wohnform untergebracht. Die Hälfte der Patient/innen lebt allein, etwa 30 Prozent leben in einer Beziehung (davon zwölf Prozent in einer gemeinsamen Wohnung mit Kindern), sechs Prozent sind alleinerziehend.

    Die meisten der Patient/innen hatten einen guten Bildungsabschluss: 43 Prozent verfügen über eine abgeschlossenen Lehre, 25 Prozent haben Abitur oder studiert. Nur ein Prozent verfügt über keinen Abschluss. Während der Betreuung in der Pilotphase waren 60 Prozent der Patient/innen arbeitslos, 25 Prozent hatten einen Arbeitsplatz, und 15 Prozent waren nicht erwerbstätig.

    Insgesamt wurde das Pilotprojekt von den Patient/innen sehr gut angenommen. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und begrüßen, dass das neue integrierte Versorgungssystem eine Erleichterung und eine verbesserte Betreuung für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien bewirkt. Die Angebote des Pilotprojektes werden sehr positiv angenommen, was sich auch in einer sehr geringen Abbruchsquote widerspiegelt: Nur drei Prozent der Personen, die einen Maßnahmenplan erhalten haben, haben diesen nicht angetreten, nur 19 Prozent der Patient/innen haben bisher den Maßnahmenplan vor dem geplanten Ende der Betreuung abgebrochen.

    Abbildung 4: Nicht-Antritts-Quote und Abbruchquote (MNP = Maßnahmenplan)

    Die Kosten für diese erste Pilotphase beliefen sich auf weniger als drei Millionen Euro und lagen damit um 13 Prozent unter den prognostizierten Kosten von 3,5 Millionen Euro. Dieser Betrag beinhaltet alle ambulanten und stationären Leistungen in den betreuenden Einrichtungen (Leistungsmodule) sowie die Leistungen des regionalen Kompetenzzentrums, die Kosten für den Bewilligungsprozess durch das Institut für Suchtdiagnostik, für das Nahtstellenmanagement durch die Liaisondienste sowie für das Dokumentationssystem und für eine umfassende externe Evaluierung (Rahmenmodule).

    Trotz der deutlich umfassenderen Leistungen und einer Betreuungsdauer von mehr als einem Jahr entsprechen die Betreuungskosten im integrierten Versorgungssystem „Alkohol 2020“ während der Pilotphase 1 damit pro Person den bisherigen Betreuungskosten im rein stationären Versorgungssystem bei einer Aufnahmedauer von durchschnittlich nur knapp zwei Monaten.

    Fallbeispiele aus der Pilotphase 1

    Herr. W ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach der Scheidung von seiner Partnerin und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Konsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber als wenig hilfreich.
    Von seinem Sohn erfuhr er vom Projekt „Alkohol 2020“ und wandte sich an das regionale Kompetenzzentrum. Dort wurde mit dem Klienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.S.S. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten.
    Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. im Herbst 2016 seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.

    ***

    Frau Y. ist 41 Jahre alt und begann bereits mit elf Jahren, Alkohol zu konsumieren. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hatte Frau Y. einen episodisch stark auftretenden Konsum (bis zu elf Gläser Wein). Bei Frau Y. wurden bereits zuvor mehrere psychische Störungen diagnostiziert. Sie gilt als zu 50 Prozent behindert und bezieht Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Frau Y. besitzt keinen Schulabschluss und hatte bisher meist nur kurze Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Tagesstruktur besteht hauptsächlich aus Computerspielen – laut eigenen Angaben, um ihren Problemen zu entfliehen. Sie wurde im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts auf das Projekt „Alkohol 2020“ hingewiesen.
    Aufgrund der sehr komplexen Multiproblemlage wurde im regionalen Kompetenzzentrum gemeinsam mit Frau Y. vereinbart, dass eine längere Betreuung im Ausmaß von zwölf Monaten sinnvoll wäre. Ebenso wurde eine Beschäftigungsmaßnahme organisiert, um die Fähigkeiten von Frau Y. zu stärken, ihr langfristig eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu ermöglichen.
    Frau Y. begann ihre ambulante Therapie beim Verein Grüner Kreis. Sie kann das Erarbeitete im Alltagsleben gut umsetzen und macht eindeutige Fortschritte. Sie ist seit einigen Monaten auch rückfallfrei. Des Weiteren konnte Frau Y. in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Teilzeitbeschäftigte in einem sozialökonomischen Betrieb in Wien.

    Ausblick: Pilotprojekt Phase 2

    Seit April 2016 wird das Projekt „Alkohol 2020“ in Wien im Rahmen einer zweiten Pilotphase fortgeführt. In dieser Pilotphase beteiligen sich zusätzlich die vier bundesweit zuständigen Sonderversicherungsträger (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft/SVA, Sozialversicherungsanstalt der Bauern/SVB, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau/VAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter/BVA) sowie örtlich ansässige Krankenversicherungsträger (Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien/KFA, Betriebskrankenkassen) an der Finanzierung des Projekts. Pro Monat können bis zu 100 alkoholkranke Menschen, die bei einem der teilnehmenden Kostenträger krankenversichert sind, neu in das Projekt aufgenommen und im Rahmen von „Alkohol 2020“ versorgt werden.

    Das integrierte Versorgungskonzept wird kontinuierlich weiterentwickelt und adaptiert. Unter anderem wird das Leistungsangebot durch Kooperationen mit weiteren Einrichtungen laufend ausgebaut, um die Patient/innen bedarfsgerecht zu versorgen. Auch das Case Management des regionalen Kompetenzzentrums wurde seit Beginn der Pilotphase 2 intensiviert. Nach Ende des Maßnahmenplans erfolgt nun ein Abschlussgespräch mit den Patient/innen im regionalen Kompetenzzentrum, in dem unter anderem rückblickend die Betreuung im Maßnahmenplan sowie zukünftige Möglichkeiten zur Rückfallbewältigung thematisiert werden und eine gute Anbindung an das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem sichergestellt wird.

    Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 ein integriertes Versorgungssystem aufzubauen, das bewirkt, dass alkoholkranke Menschen nachhaltig subjektiv und objektiv gesünder und in das gesellschaftliche Leben integriert sind.

    Kontakt:

    Lenea Reuvers, M.A.
    Leiterin Projekt „Alkohol 2020“
    Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH
    Modecenterstraße 14/Block B/2.OG
    1030 Wien
    Österreich
    lenea.reuvers@sd-wien.at
    Projekt „Alkohol 2020“

    Angaben zur Autorin:

    Lenea Reuvers studierte Internationale Beziehungen und Ökonomie an der University of Warwick (UK) und der SAIS Johns Hopkins University (Bologna/USA). Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Außen- und Entwicklungspolitik, bevor sie zur Sucht- und Drogenkoordination Wien wechselte. Dort leitet sie seit August 2013 das Projekt „Alkohol 2020“ mit dem Ziel, ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen aufzubauen, in dem erstmals die verschiedenen Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems wie auch verschiedene Kostenträger miteinander kooperieren.

    Literatur:
    • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”. AWMF-Register Nr. 076-001. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html (letzter Zugriff am 01.02.2017).
    • Czypionka, T., Pock, M., Röhrling, G., Sigl, C. (2013). Volkswirtschaftliche Effekte der Alkoholkrankheit. Eine ökonomische Analyse für Österreich. Wien: Institut für höhere Studien.
    • PVA/SDW/WGKK (2014). Alkohol 2020 – Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH.
    • Reuvers, L. (2015). Alkohol 2020 – Integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung: Das Wiener Modell, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH. Online verfügbar unter: https://sdw.wien/wp-content/uploads/Alkohol-2020_Konzept-Wiener-Modell-Phase-I.pdf (letzter Zugriff am 07.03.2017)
    • Uhl, A., Bachmayer, S., Kobrna, U., Puhm, A., Kopf, N., Beiglböck, W., Eisenbach-Stangl, I., Preinsberger, W., Musalek, M. (2009). Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen, Daten, Fakten, Trends. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien: Bundesministerium für Gesundheit.
    • World Health Organization (WHO) (2014). Global status report on alcohol and health 2014. Geneva: WHO.
    • World Health Organization (WHO) (2015). The European health report 2015 / Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. Copenhagen: WHO.
  • Der Kerndatensatz 3.0

    Der Kerndatensatz 3.0

    Dr. Raphael Gaßmann

    Seit dem 1. Januar 2017 gilt bundesweit der komplett überarbeitete „Deutsche Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe (KDS)“. Der Kerndatensatz ist das Instrument zur einheitlichen Datenerhebung in Einrichtungen der ambulanten und stationären Suchthilfe. Nach zehnjähriger Laufzeit seines Vorgängers hat der DHS-Vorstand nunmehr diesen neuen Erhebungsstandard veröffentlicht. Da ihm auch die Bundesländer zustimmten, ist er nunmehr ‚amtlich‘.

    Während der vergangenen drei Jahre wurde der bisherige Kerndatensatz von Vertreter/innen aus Verbänden, Praxis und Wissenschaft in jedem Detail überprüft. Zu diesem Prozess haben auch viele Nutzer/innen durch eine große Zahl von Hinweisen beigetragen. Rund drei Jahre lang diskutierten die Mitglieder des Fachausschusses Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) zusammen mit externen Expert/innen weit mehr als 100 Anregungen und Überarbeitungshinweise. Das Ziel war ein neuer Kerndatensatz, der die Erfahrungen und Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre berücksichtigt und dennoch so knapp wie möglich bleibt. Dabei wurde Wert auf eine praxisgerechte Handhabung und die möglichst hohe Aussagekraft der erhaltenen Auskünfte gelegt.

    Historie

    Die erste Version des KDS entstand 1998/99 mit der Absicht, die Arbeit in Einrichtungen der Suchthilfe nach einem festgeschriebenen Kriterienkatalog zu erfassen. Auf diese Weise sollte einerseits die aktuelle Situation der Beratung, Betreuung und Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen einheitlich dargestellt werden. Andererseits sollten die erhobenen Daten eine Einschätzung des Bedarfs an Therapieangeboten und -kapazitäten ermöglichen. Und schließlich sollten Behandlungserfolge zuverlässig erfasst werden, um daraus Rückschlüsse auf Therapieziele und -möglichkeiten zu ziehen.

    Im Jahr 2006 erschien der überarbeitete, 2. Deutsche Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe mit den Modulen Klient, Einrichtung und Katamnese. Er stellte eine umfassende Aktualisierung und Präzisierung des Deutschen Kerndatensatzes von 1998 dar und galt, wie bei seiner Einführung angekündigt, für die Dauer von zehn Jahren.

    Für die neueste Version „KDS 3.0“ wurden nun sämtliche Abfragen überprüft und aktualisiert, so dass eine zeitgemäße Beschreibung des Leistungsspektrums der Suchthilfepraxis für Menschen mit Abhängigkeitsstörungen möglich ist: etwa auf Einrichtungs-, Verbands-, Länder- oder Bundesebene. Und auch die neue Version des KDS soll für zehn Jahre gelten. In diesem Jahrzehnt können zwar – wie schon bislang – Aktualisierungen der Erläuterungen im Manual erfolgen, die Item-Liste aber bleibt unverändert. Überarbeitungen des Manuals sind künftig durch die Versionsnummer noch deutlicher kenntlich: von 3.1 bis 3.x.

    Nutzen der erhobenen Daten

    Eine wichtige Aufgabe des KDS besteht auch künftig in den einrichtungs- und verbandsbezogenen Auswertungen. Auf diese Weise können die beteiligten Institutionen der Suchthilfe die Ausrichtung und Effekte ihrer therapeutischen Arbeit besser beurteilen und damit auch steuern. Zudem erhalten sie höchst relevante Daten etwa für Verhandlungen mit Kostenträgern.

    Der neue KDS 3.0 sorgt außerdem für eine bessere Vergleichbarkeit von Konsummustern, Behandlungsmöglichkeiten und -erfordernissen auf europäischer Ebene. Dazu wurden seine Abfragen mit dem europäischen Kerndatensatz abgeglichen. Die erhobenen Daten werden jährlich an die Europäische Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon gesandt und dort auch für internationale Studien genutzt.

    Auf nationaler Ebene fließen die Ergebnisse der Erhebungen in die Deutsche Suchthilfestatistik ein, deren jährlicher Bericht seit 2007 soziodemografische Daten zu Klienten, Diagnosen, Daten zu Behandlungsbeginn, -verlauf und -ende sowie Veränderungen in diesen Bereichen aufzeigt. Die Deutsche Suchthilfestatistik ist im bundesweiten wie auch im internationalen Vergleich eine der umfangreichsten und differenziertesten Statistiken im Gesundheits- und Sozialwesen.

    Der KDS 3.0 steht sämtlichen Anbietern entsprechender Dokumentationssoftware zur Verfügung. Und beinah alle haben ihn bereits in ihre Software integriert. Die DHS wünscht allen Anwender/innen einen angenehmen Umgang mit dem KDS 3.0 und aussagekräftige Erkenntnisse.

    Kontakt:

    Dr. Raphael Gaßmann
    Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V.
    Westenwall 4
    02381/90 15 15
    59065 Hamm
    gassmann@dhs.de
    www.dhs.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Raphael Gaßmann ist Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) in Hamm.

  • Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ausgangslage

    Dr. Theo Wessel
    Prof. Dr. Andreas Koch
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Die Zahl der Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung ist seit vielen Jahren unverändert, die volkswirtschaftlichen Kosten und die gesellschaftlichen Folgen sind enorm, und der Behandlungsbedarf ist weiterhin hoch. Dennoch häufen sich seit rund fünf Jahren die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen bei Suchtreha-Einrichtungen. In den Jahren 2013 bis 2016 hat beispielsweise der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) 15 Mitgliedseinrichtungen mit rund 700 Behandlungsplätzen (= zehn Prozent) verloren. Das ist ein größerer Verlust als 1997 in der so genannten Rehakrise im Zusammenhang mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG). Der Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland ist ebenfalls durch Klinikschließungen (etwa 200 Behandlungsplätze) in den letzten drei Jahren betroffen. Eine ähnlich dramatische Situation hat es in dem knapp 60-jährigen Bestehen des GVS noch nicht gegeben. Es ist wohl nicht übertrieben, in diesem Zusammenhang von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation zu sprechen.

    Rote Zahlen in Suchthilfe-Einrichtungen (bundesweit)

    Eine Mitgliederumfrage des buss aus dem Jahr 2015 zum Betriebsergebnis des Vorjahres zeigt für den Bereich medizinische Reha, dass knapp 60 Prozent der Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten konnten (siehe Abbildung 1, zur Mitgliederumfrage siehe auch den Artikel auf KONTUREN online). Es wurde explizit nur das Betriebsergebnis für die Reha abgefragt, da die meisten Träger auch noch über andere Einrichtungen und Leistungsangebote verfügen.

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Kliniksterben in Bayern und Nordrhein-Westfalen

    Auffällig ist, dass sich das Kliniksterben auf zwei Regionen zu konzentrieren scheint:

    • Stand Mai 2016: In Bayern gibt es 39 Suchtreha-Einrichtungen mit knapp 1.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit zusammen rund 260 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von 14 Prozent entspricht. Außerdem wurden fünf Einrichtungen durch andere Träger übernommen und konnten so vor der Schließung bewahrt werden.
    • Stand Juni 2016: In NRW gibt es 46 Suchtreha-Einrichtungen mit rund 2.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit rund 450 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von über 20 Prozent entspricht. Ende 2016 werden zwei weitere kleine Fachkliniken mit zusammen 40 Plätzen geschlossen.

    Aktuelles Beispiel: Klinikschließungen am Niederrhein

    Das Diakoniewerk Duisburg stellt nach 35 Jahren die stationäre Rehabilitation für Drogenabhängige in den Fachkliniken Scheifeshütte und Peterhof zum 31. Dezember 2016 ein. Der Peterhof war von Beginn an eine gemischtgeschlechtliche Einrichtung mit 22 Plätzen und ist heute eine reine Männereinrichtung, dagegen wurde die Scheifeshütte mit 18 Plätzen als Reha-Einrichtung ausschließlich für Frauen konzipiert. Der federführende Kostenträger für beide Kliniken ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für alle Kostenträger im Rahmen der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft (RAG) die Entgelte verhandelt und mit dem Träger der Einrichtung die Behandlungskonzepte vereinbart. Die Grundlagen für die Behandlungskonzepte sind Vorgaben der Leistungsträger, die bestimmten medizinischen Kriterien genügen müssen und aus denen die Forderungen an die Personal-, Konzept- und Strukturqualität der Kliniken abgeleitet werden. Den Qualitätsanforderungen an die Träger der Einrichtungen wurde durch die verbindliche Einführung von Qualitätsmanagementsystemen Rechnung getragen, sodass beide Kliniken zu den ersten Einrichtungen gehörten, die vor rund 15 Jahren ein internes Qualitätsmanagement (QM) eingeführt haben und zertifiziert worden sind.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat als Träger der Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Kliniken immer wettbewerbsfähig waren und in der Fachöffentlichkeit wie auch durch die Partner in den Sozialräumen eine hohe Akzeptanz erfahren haben. Beide Kliniken haben im Laufe der Jahre ihre Konzeptionen weiterentwickelt, um den besonderen Lebenslagen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Somit wurden zusätzliche Therapieangebote konzeptioniert und umgesetzt:

    • Behandlung von Substituierten
    • Behandlung von Müttern mit Kindern
    • Angebote für Paare (Paartherapie)
    • ganztägige ambulante Therapie und Kombinationsbehandlung

    Die Arbeit mit den Zielgruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit vor dem Hintergrund ihrer Suchterkrankung Ambivalenzen und Unberechenbarkeiten mitbringen, die dazu führen können, dass es selten zu einer 100-prozentigen Belegung kommt. Schwierige Aufnahmeplanungen durch Nichtantritte bei genehmigten Rehabilitationen, Rückfälle und Abbrüche während der Therapie oder auch disziplinarische Entlassungen führen dazu, dass das Belegungsrisiko ausschließlich bei den Trägern liegt. Ist eine Klinik nicht entsprechend ausgelastet, kann sie nicht ökonomisch arbeiten. Eine Absicherung durch die Kostenträger gibt es in diesem Zusammenhang nicht. So konnten beide Einrichtungen in den letzten 35 Jahren nur durch Quersubventionen des Diakoniewerkes Duisburg (aus anderen Leistungsbereichen) überleben. Diese Quersubventionierung war in der Vergangenheit immer eine bewusste Entscheidung. Der Einrichtungsträger mit seiner Geschäftsführung hat dieses Risiko auf sich genommen, weil solche Auslastungsrisiken für die Einrichtungen letztendlich mit dem Wesen von Suchterkrankungen einhergehen.

    Unter anderem durch die in den letzten Jahren immer weiter steigenden Anforderungen der Leistungsträger sind vor allem kleine Einrichtungen (vorwiegend im Drogenbereich) unter Druck geraten, und langbewährte Konzepte wurden in Frage gestellt. Das etablierte und wirksame Grundprinzip der ‚therapeutischen Gemeinschaft’ in kleineren Einrichtungen soll offensichtlich ersetzt werden durch eine funktionelle Krankenhausbehandlung. Damit verbundene unverhältnismäßige Anforderungen an Personal und technische Ausstattung und nicht nachvollziehbare Qualitätsforderungen, die die Kosten in die Höhe treiben, ohne dass die Pflegesätze entsprechend angepasst wurden, haben viele kleine Einrichtungen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht. Inzwischen haben im ganzen Bundesgebiet kleine Einrichtungen den Betrieb eingestellt, auch wenn sie gut ausgelastet waren, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander gegangen ist. Eine ihrer therapeutischen Bedeutung entsprechende Wertschätzung hat die schwierige Arbeit in den kleinen Einrichtungen nie erfahren, obwohl Überzeugung und praktische Evidenz dafür sprechen, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit am besten vom familienähnlichen Setting einer kleinen und überschaubaren Rehabilitationseinrichtung profitieren können.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat von 1999 an bis zum Jahr 2015 jährliche Verluste der beiden Kliniken in Höhe von in der Summe fast zwei Millionen Euro ausgeglichen. Die durchschnittliche Belegung in diesen Jahren lag für beide Einrichtungen bei knapp 93 Prozent. Um eine schwarze Null zu erreichen, hätten die beiden Einrichtungen inzwischen eine Belegung von mehr als 100 Prozent gebraucht. Durch die zunehmend schwierige Entwicklung der letzten drei Jahre kann nur durch den Schließungsbeschluss für beide Einrichtungen die Gefahr einer finanziellen Schieflage des gesamten Einrichtungsträgers abgewendet werden. Quersubventionen können nicht mehr geleistet werden, und eine andere Politik der Leistungsträger ist nicht zu erwarten. Damit entsteht in dieser Region und für diese spezifischen Zielgruppen (inbesondere drogenabhängige Frauen mit massiven zusätzlichen psychischen, sozialen und beruflichen Problemen) eine Versorungslücke, die kaum geschlossen werden kann.

    Ursachenanalyse

    Das aktuelle Kliniksterben ist, wie das oben stehenden Beispiel zeigt, ein schleichender Prozess, der sicherlich vielfältige Ursachen hat. Grundsätzlich haben zwei Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Betrieb einer Einrichtung: die Auslastung bzw. Belegung und die Vergütung bzw. der Tagessatz. Seit etwa drei Jahren sind die Antragszahlen für die medizinische Rehabilitation rückläufig, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Leistungsträgern gibt: Der Antragsrückgang scheint im Norden und Osten Deutschlands stärker als im Süden und Westen zu sein. Im Indikationsbereich Drogen verschiebt sich die Leistungsträgerschaft von den Regionalträgern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur DRV Bund sowie von der DRV insgesamt zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber unabhängig von der Belegungssituation besteht schon seit Jahren ein gravierendes strukturelles Problem: Die Einrichtungen sind unterfinanziert, die Tagessätze decken nicht die Kosten. Kleine Einrichtungen sind von diesem Problem verstärkt betoffen, weil bestimmte Basiskosten (Nachtdienst, Qualitätsmanagement, Küche, höherer Therapeutenschlüsses bei Drogenpatienten etc.) unabhängig von der Größe anfallen und diese Kosten somit auf weniger Verrechnungstage umgelegt werden können. Kleine Einrichtungen müssten also proportional höhere Vergütungssätze haben, was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist.

    Leistungsrechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen

    Der Gesetzgeber hat für die medizinische Rehabilitation im SGB V, SGB VI und SGB IX leistungsrechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die Leistungsträger und Leistungserbringer binden. Es handelt sich um ein stark reglementiertes Versorgungssystem, in dem Marktmechanismen nicht so funktionieren wie beispielsweise in der stationären Akutversorgung (‚Nachfrage-Oligopol‘ auf Seiten der Leistungsträger der medizinischen Reha). Einrichtungen in der Suchtrehabilitation haben kaum unternehmerischen Handlungsspielraum, da die Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) gemäß gesetzlichem Auftrag fast alle strukturellen und personellen Rahmenbedingungen vorgeben. In den vergangenen Jahren wurden diese Anforderungen an die Leistungserbringer kontinuierlich erhöht, während die Vergütungsentwicklung kaum für den Inflationsausgleich reichte und schon gar nicht für die zusätzlich erforderlichen Investitionen. In der medizinischen Rehabilitation (also auch in der Suchtreha) besteht eine monistische Finanzierung über tagesgleiche Vergütungssätze, die alle Kosten abdecken müssen. Die Preise werden aber im Wesentlichen von der Nachfrageseite (Leistungsträger) festgesetzt unter Berücksichtigung so genannter bundesweiter ‚Marktpreisbandbreiten‘.

    Gutachten der aktiva zur Kostenstruktur und Vergütung

    Ein Gutachten der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH für das Jahr 2011 (aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?) weist nach, dass in den Hauptindikationen der medizinischen Reha die Kosten die realen Vergütungen (zwischen 110 und 118 Euro in den genannten Indikationen) bei Weitem übersteigen und eine strukturelle Unterfinanzierung von zehn bis 20 Prozent existiert (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.
    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.

    Für die Suchtrehabilitation hat die aktiva Ende 2015 eine ergänzende Kalkulation vorgelegt, die sich ebenfalls auf Kostenstrukturen aus 2011 bezieht (aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation). Hierbei handelt es sich nur um die Kalkulation der strukturbedingen Kosten in der Suchtrehabilitation (siehe Tabelle 1). Die leistungsorientierten Werte dürften – analog der anderen Beispielindikationen – noch höher liegen.

    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.
    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Die Kalkulationen zeigen bereits für das Jahr 2011, dass sich die eigentlich erforderlichen Vergütungssatzhöhen deutlich über so genannten Marktpreisen bewegen. Aufgrund der Kostensteigerungen in den Jahren 2012 bis 2015 sind die Anforderungen an leistungsgerechte Vergütungssatzhöhen weiter gestiegen. Die Übersicht in Tabelle 2 simuliert den Anstieg der Vergütungssätze anhand der tatsächlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation im Bereich der Strukturanforderungen.

    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kosten-steigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situ-ation, S. 19.
    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kostensteigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Kostenstrukturen und Vergütungen in den Einrichtungen

    Es kann anhand von Kalkulationen aus über 40 Mitgliedseinrichtungen des buss (sowohl Drogen- als auch Alkoholeinrichtungen) aus dem Jahr 2014 nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen Kosten (bezogen auf einen Behandlungstag bei Erfüllung aller Struktur- und Personalanforderungen) etwa 131 Euro betragen. Dabei sind die Kapitalkosten auf Vollkostenbasis berechnet worden, d. h. mit ortsüblichen Mieten bzw. Pachtzahlungen oder Abschreibungen bzw. Rückstellungen, die einen langfristigen Erhalt der Gebäudestruktur ermöglichen. Weiter unten wird noch dargestellt, warum das für viele Einrichtungen nicht selbstverständlich ist. Die die entsprechenden Kostenstrukturen sind in Tabelle 3 als Mittelwerte dargstellt.

    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014
    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014

    Die Analyse der Vergütungssätze für 2014 in den Mitgliedseinrichtungen des buss zeigt folgendes Bild:

    • Der Mittelwert über alle Regionen und Leistungsträger liegt in Fachkliniken für Alkohol bei 114 Euro (Spektrum zwischen 95 und 129 Euro) und in Fachkliniken für Drogen bei 111 Euro (Spektrum zwischen 90 und 127 Euro). Das ist auffällig, da Drogeneinrichtungen aufgrund der höheren Personalanforderungen (kleinere Therapiegruppen) eigentlich auch höhere Vergütungssätze haben müssten. Zudem sind Drogeneinrichtungen i.d.R. kleiner als Alkoholeinrichtungen und können daher bestimmte Kostenblöcke, die von der Größe unabhängig sind (Bereitschaftsdienste, Qualitätsmanagement, Verwaltung, Versorgung etc.) auf weniger Behandlungstage verteilen.
    • Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen die Vergütungen, die von der DRV Bund und der DRV Braunschweig-Hannover gezahlt werden. Der Mittelwert beträgt für die federgeführten Einrichtungen 120 Euro (Spektrum zwischen 112 und 129 Euro).
    • Deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen hingegen die Vergütungen für Einrichtungen, deren Federführer ein Regionalträger in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist. Der Mittelwert beträgt hier 107 Euro (Spektrum zwischen 90 und 119 Euro). Während in Bayern vor allem die Vergütungen der DRV Bayern Süd relativ niedrig ausfallen, was vermutlich mit ‚historischen’ Entwicklungen zu erklären ist, sind in NRW die Ursachen eher in den besonderen Rahmenbedingungen auf Seiten der Leistungsträger (siehe nächster Abschnitt) zu suchen.

    Die Arbeitsgemeinschaften der Leistungsträger in NRW

    In NRW existieren besondere Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Suchtreha, weil die Träger von DRV und GKV in der Rheinischen bzw. Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (RAG/WAG) zusammengeschlossen sind. Die Vorteile dieser Konstruktion bestehen darin, dass die Leistungszusagen für Rehamaßnahmen ‚aus einer Hand’ kommen sowie die konzeptionellen und finanziellen Absprachen nur mit einer Stelle getroffen werden müssen (die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaften liegt in beiden Fällen bei der jeweiligen DRV). Der wesentliche Nachteil besteht aber darin, dass die GKV als deutlich kleinerer Partner in der AG über viele Jahre die Vergütungsentwicklung ‚ausgebremst’ hat und i.d.R. nur bereit war, Steigerungen in Höhe der Veränderungsrate (= Entwickung der Grundlohnsumme, d. h. der Summe der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter der Mitglieder der Sozialversicherung) zu bewilligen. Vergütungen für klinikspezifische Entwicklungen sind somit für die Geschäftsführungen von RAG/WAG deutlich schwieriger zu verhandeln. Insbesondere in den Jahren, als die Veränderungsrate deutlich unter einem Prozent lag (2004 bis 2008), ist eine Lücke zur Vergütungsentwicklung im Bundesdurchschnitt entstanden, weil andere Regional- und Bundesträger der DRV in dieser Zeit Vergütungssteigerungen bewilligt haben, die eher den tatsächlichen Kostenentwicklungen entsprachen (zwei bis drei Prozent). Die durchschnittliche Vergütung der Mitgliedseinrichtungen des buss liegt mittlerweile bei der DRV Bund im gesamten Bundesgebiet und bei den übrigen Regionalträgern der DRV (außer in Bayern) bei deutlich über 120 Euro und somit mehr als zehn Prozent über dem Durchschnitt in NRW (110 Euro). Zukünftig könnte aber auch ein Vorteil in der gemeinsamen Trägerschaft von DRV und GKV innerhalb der RAG/WAG liegen: Im Bereich des SGB V (GKV) existieren bereits seit einigen Jahren Landesschiedsstellen für Vergütungsfragen, und damit wäre es grundsätzlich möglich, den von den Krankenkassen als Teil der AG bewilligten Vergütungssatz durch diese Schiedsstelle überprüfen zu lassen. Interessant ist dabei die Frage, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen auch für die DRV als anderen Partner in der AG hat.

    Wie überleben die Einrichtungen?

    Wenn diese strukturelle Unterfinanzierung schon seit vielen Jahren besteht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum das Kliniksterben nicht schon früher und viel umfassender eingesetzt hat. Welcher Betreiber ist denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereit, ein defizitäres Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten? Die meisten Träger von Suchteinrichtungen sind sich aber ihrer Verantwortung für die Versorgungsstrukturen bewusst und suchen nach verschiedenen Möglichkeiten, die Schließung von Fachkliniken zu vermeiden und hinauszuzögern. Folgende Maßnahmen kommen zum Tragen:

    • Quersubventionierung der Reha durch Eigenmittel (beispielsweise aus anderen Leistungsbereichen, in denen kostendeckende Vergütungen gezahlt werden) oder Spenden bei Neu- und Umbaumaßnahmen. Das konkrete Beispiel eines diakonischen Einrichtungsträgers mit einer 35-jährigem Tradition im Bereich der Drogenrehabilitation ist oben ausgeführt.
    • Bestandsverzehr bei Gebäuden und Infrastruktur, d. h. keine hinreichende Berücksichtigung von Abschreibungen und Rückstellungen in den Vergütungen. Dadurch ist ein erheblicher Investitionsstau entstanden, der insbesondere bei von den Leistungsträgern geforderten Um- und Neubaumaßnahmen zu erheblichen Finanzierungsproblemen führt. Häufig wird auch bei einer Trennung von Gebäudeeigentum und Klinikbetrieb eine nicht ortsübliche Miete gezahlt, sondern nur die Miete verrechnet, die im Vergütungssatz der Klinik abgebildet werden kann. Letztlich führt aber auch dieses Modell zu einem Bestandsverzehr zu Lasten des Gebäudeeigentümers.
    • Zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (u. a. Mehrarbeit, Überstunden, psychischer Druck) und/oder Absenkung der Gehaltsstrukturen (u. a. Verlassen von Tarifsystemen, Outsourcing, Streichung des Weihnachtsgeldes). Beides wird zunehmend zu einem Problem bei der Mitarbeitergewinnung im Wettbewerb mit anderen Organisationen auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe. Die verstärkte Belastung des Personals wird auch durch zunehmende (insbesondere langfristige) krankheitsbedingte Ausfälle deutlich.

    Marktbereinigung?

    Häufig hört man in Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die mit der sehr komplexen Funktionsweise des deutschen Suchthilfesystems nicht vertraut sind, dass es sich doch um eine ‚ganz normale Marktbereinigung‘ handeln würde. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass es sich bei der medizinischen Reha im Allgemeinen und der Suchtreha im Besonderen nicht um einen Bereich handelt, in dem Marktmechanismen zum Tragen kommen. Zudem muss man wissen, dass nur wenige Suchtkranke überhaupt Zugang zum Hilfesystem und noch weniger Menschen den Weg in die Entwöhnung finden. Dort, wo keine professionellen Strukturen mehr vorhanden sind, kümmert sich auch niemand mehr um die Sensibilisierung für und die Aufklärung über Suchterkrankungen. Mit dem Verlust von Fachkliniken (vor allem kleinen Einrichtungen mit einem familiären Therapiesetting) fehlen auch den übrigen Einrichtungen, insbesondere den Beratungsstellen und Fachambulanzen, wichtige Kooperationspartner. Es droht somit der Verlust von über viele Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebauten Versorgungsstrukturen und Hilfeangeboten für Suchtkranke.

    Lösungsansätze

    Auf Landesebene

    In einigen Bundesländern (Niedersachsen und Baden-Württemberg sowie im Bereich der DRV Mitteldeutschland) finden derzeit intensive Gespräche mit den jeweiligen regionalen DRV-Trägern statt, die u. a. zu einer gemeinsamen Feststellung der Unterfinanzierung der Kliniken und der intensiven Diskussionen von Lösungsmöglichkeiten geführt haben. Bei einer entsprechenden Initiative in weiteren Regionen – insbesondere in Bayern und NRW – könnten folgende Aspekte zur kurzfristigen Verbesserung der Situation der Einrichtungen diskutiert werden:

    • Nutzung der Handlungsspielräume bei der Festlegung von Struktur- und Personalanforderungen (das so genannte 100-Betten-Anforderungsprofil lässt bei den einzelnen Funktionsgruppen Abweichungen innerhalb eines Korridors von 20 Prozent zu), sozialverträgliche und sukzessive Anpassungen bei größeren Abweichungen, Berücksichtigung von konzeptionellen Besonderheiten einzelner Kliniken, Bestandsschutz für erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne aktuelle Formalqualifikation.
    • Explizite Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten in den Einrichtungen bei Vergütungsverhandlungen auf der Basis von Vollkosten (auch Investitions- und Kapitalkosten sowie marktübliche Gehälter insbesondere für ärztliches Personal).
    • Abstimmung zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern über ‚Grundsätze der Preisbildung‘ – beispielsweise Festlegung von Kalkulationsgrundlagen für bestimmte Leistungselemente wie Kosten im Bereich Infrastruktur, Kapitaldienst oder Personal (unter Berücksichtigung des Erfüllungsgrades der gestellten Anforderungen) – in diesem Zusammenhang auch transparenter Umgang mit Kennzahlen u. a. aus dem Qualitätssicherungsprogramm der DRV (Erfüllung der Strukturanforderungen, Rehabilitanden-Zufriedenheit, Laufzeit der E-Berichte, KTL-Statistik etc.).

    Ein entsprechender Dialog zwischen den Trägern der DRV in Bayern und den Suchtverbänden, der im Herbst 2013 vom bayerischen Sozialministerium initiiert wurde, ist im Frühjahr 2014 leider ergebnislos abgebrochen worden. In Bayern wurde nun aber aufgrund eines Beschlusses des Landtages ein ‚Runder Tisch’ zur Zukunft der Suchtfachkliniken eingerichtet, der am 1. Juni 2016 erstmalig zusammenkam und in den kommenden Wochen verbindliche und konstruktive Lösungen für die existenzielle Krise der Suchtfachkliniken erarbeiten soll.

    Vor allem das Beispiel der DRV Braunschweig-Hannover zeigt, dass die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog zu deutlich mehr Transparenz im Leistungsgeschehen und insgesamt sehr positiven Entwicklungen geführt hat. Seit 2015 finden regelmäßige strukturierte Gespräche mit Vertretern der Leistungserbringer statt. Nicht nur das relativ hohe Vergütungsniveau in Niedersachsen, sondern auch zahlreiche andere Abstimmungen (beispielsweise bei der Umsetzung von BORA oder der Durchführung von Visitationen) zeigen, dass beide Seiten und nicht zuletzt auch die Rehabilitanden von diesem Dialog profitieren.

    Auf Bundesebene

    Es wäre dringend erforderlich, dass eine Initiative zur Verbesserung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen und damit auch der Finanzierungssituation der Leistungserbringer in der medizinischen Reha auf Bundesebene gestartet wird. Folgende Aspekte sind dabei relevant:

    • Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend den jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungen berücksichtigen.
    • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV). Zur Begründung und rechtlichen Konstruktion liegt eine ausführliche Darstellung im Kurzgutachten von Dr. Sebastian Weber vom 07.10.2013 vor.
    • Gemeinsame Festlegung (Leistungsträger und Leistungserbringer) von Standards für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im SGB VI oder SGB IX analog zur Regelung in § 137d SGB V (QS-Reha Verfahren der GKV). Hier werden die Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung in einem gemeinsamen Ausschuss von Leistungsträgern und Leistungserbringern gemeinsam geregelt.

    Die aktuelle Überarbeitung des SGB IX (neue §§ 36 bis 38) im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) würde die Möglichkeit bieten, die entsprechenden Regelungen anzupassen. Leider enthält der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundeskabinett verabschiedet wurde und nun in der parlamentarischen Abstimmung ist, dazu nur wenige und unzureichende Ansätze.

    Literatur bei den Verfassern

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.