Schlagwort: Stimulanzien

  • Chemsex und seine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung

    Chemsex und seine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung

    Das Phänomen Chemsex wurde 2020 von Grümer und Iking (vgl. S. 6) als neue Herausforderung für die Suchthilfe beschrieben und früher als ein spezielles Thema der Communityberatungen behandelt. Inzwischen hat es auch eine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung erlangt. Der vorliegende Artikel widmet sich dem Überblick über das Phänomen Chemsex und beschreibt praxisorientierte Ansätze für die Beratung von Männern*, die Chemsex praktizieren und Beratungsstellen aufsuchen. Die Schreibweise Männer* bzw. die Verwendung der maskulinen Form mit Genderstern weist darauf hin, dass alle gemeint sind, die sich selbst als männlich positionieren, und nicht nur Cis-Männer.

    Überblick

    Herkunft und Bedeutung des Begriffs

    Der Begriff Chemsex ist eine aus dem Englischen entlehnte Wortneuschöpfung, welche sich aus den Worten „chemicals“ (engl. Substanzen) und „sex“ zusammensetzt. Die Kombination der beiden Begriffe führte zum Akronym Chemsex (vgl. Haslebacher et al. 2022, o. S.). Sander und Gamsavar (vgl. 2022, S. 5) beschreiben das Phänomen als eine spezifische kulturelle Praxis von Männern*, die Sex mit Männern* haben (MSM*), bei der häufiger in privaten Settings psychotrope Substanzen im sexuellen Kontext konsumiert werden. Erstmals wurde das Phänomen zu Beginn des Jahrtausends beschrieben. Nach David Stuart (2016) entstand der Begriff Chemsex auf Dating-Apps für homosexuelle Männer* und wurde vom Bereich der sexuellen Gesundheit übernommen.

    Obgleich die mediale Aufmerksamkeit dazu geführt haben mag, dass der Begriff in einer Weise verwendet wird, die den Konsum von Drogen in sexuellen Kontexten durch eine beliebige Gruppe an Menschen beschreibt, bezeichnet Chemsex tatsächlich die Verwendung von bestimmten Substanzen von Männern*, die Sex mit Männern* haben (MSM*), vor oder während des Geschlechtsverkehrs. Zu diesen Substanzen gehören unter anderem Crystal Meth, Mephedron, GHB/GBL und Ketamin (vgl. Stuart 2016, S. 295; Bourne et al. 2014a, S. 3 f.). Der Konsum der genannten Substanzen erfolgt in erster Linie oral, nasal oder durch Inhalation. Darüber hinaus wird auch ein intravenöser Konsum beobachtet, insbesondere von Methamphetamin (vgl. Deimel/Stöver 2015, S. 66). Der intravenöse Gebrauch von Substanzen wird durch den Begriff „Slamming“ beschrieben. Im deutschen Sprachgebrauch wird der Begriff mit „(zu)knallen“ assoziiert, da die Wirkung unmittelbar einsetzt (vgl. DAH 2014, o. S.). Allerdings wird der intravenöse Konsum lediglich von einer Minderheit der MSM* praktiziert (vgl. Deimel et al. 2017, S. 255).

    Motive des Konsums

    Die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung (Clubdrug Studie von Graf et al. 2016) legen dar, welche Motive hinter dem Substanzkonsum im sexuellen Setting bei MSM* stehen können. Die Befragten berichten von der Erfahrung von Entgrenzung, einer Steigerung der sexuellen Leistungsfähigkeit sowie einem intensiveren sexuellen Erleben. Zudem wird von einem Abbau von Scham und Tabus  berichtet (vgl. Deimel et al. 2017, S. 255).

    Im Laufe der Zeit hat sich die Perspektive auf die Praktik gewandelt und es konnten weitere Merkmale bzw. Motive identifiziert werden. Im Rahmen der Chemsexkonferenz (2016) wurde dargelegt, dass Klienten* einen starken Wunsch nach Intimität, Beziehung und Nähe hegen oder dass die Praktik eine Art des Eskapismus darstellt, da MSM* mit verschiedenen Stressoren konfrontiert sind. Der Konsum von Substanzen diene dazu, Unsicherheiten in Bezug auf den eigenen Körper und die sexuelle Praxis zu reduzieren (Sander & Gamsavar 2022, S. 5). Des Weiteren bewegen sich überproportional viele Männer* mit HIV in diesem Kontext. Dies lässt darauf schließen, dass es hier keine Stigmatisierung von HIV-positiven Männern* gibt (ebd.). Das Phänomen Chemsex bzw. die „sexuelle Subkultur“ kann auch als kollektiver psychologischer Abwehrmechanismus gegen Selbstwertkonflikte, Scham, Angst oder Selbstzweifel betrachtet werden (Großer 2022, S. 9). In der Folge kann die These aufgestellt werden, dass Chemsex als Strategie genutzt wird, um sich zeitweise der gesellschaftlichen und subkulturellen Optimierung zu entziehen (vgl. Sander & Gamsavar 2022, S. 5).

    Gesundheitsrisiken

    Der Konsum von Substanzen im Kontext sexueller Aktivitäten wird mit einem erhöhten Risiko für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (STI) assoziiert. Diese Annahme basiert auf der Hypothese, dass die Wirkung von Substanzen dazu führen kann, dass MSM* nicht mehr ausreichend Safer-Sex- und Safer-Use-Strategien anwenden (vgl. Deimel et al. 2017, S. 253). Tatsächlich kann der Konsum im sexuellen Setting zu Infektionen führen. Doch solche monokausalen Erklärungsmuster sollten in der Beratung vermieden werden (vgl. Bochow et al. 2011, S. 131 f.). Neben anderen physischen Auffälligkeiten wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schlafproblemen und Entzugserscheinungen beschreiben die MSM*, die in der Untersuchung von Deimel et al. (2017) befragt wurden, psychische Folgen wie „Panikattacken, Angstzustände und Psychosen“ (S. 256 f.).

    Globalisierung und Digitalisierung – Zugang zur schwulen Sexkultur

    Das Phänomen Chemsex manifestiert sich nicht ausschließlich in spezifischen geographischen Regionen, sondern muss aufgrund von Globalisierung und Digitalisierung international betrachtet werden (vgl. Großer 2022, S. 11). Aufgrund der globalen Mobilität, der Sexarbeit sowie des international verfügbaren Zugangs zur Pornoindustrie hat sich eine global agierende schwule Sexkultur entwickelt (vgl. ebd.). In dieser Kultur wurden Verhaltensregeln, Rituale und Substanzen etabliert, die gemeinschaftsbildende Erfahrungen und sexuelle Erlebnisse ermöglichen. Chemsex kann als Subkultur innerhalb der schwulen Sexkultur definiert werden, deren Verbreitung größtenteils über digitale Plattformen erfolgt (ebd.). Eine Besonderheit digitaler Kontaktseiten besteht darin, dass die Suche nach Sexpartnern nicht mehr örtlich oder zeitlich beschränkt ist. So werden Möglichkeiten geschaffen, dass MSM* in ländlichen Räumen mit schwacher Infrastruktur Zugang zur schwulen Sexkultur haben und Teil der schwulen Lebenswelt der Metropolen sein können (vgl. Großer 2022, S. 11). Es lässt sich jedoch ein Zusammenhang zwischen der Stadtgröße und dem Anteil von Usern* mit problematischem Substanzgebrauch feststellen (vgl. Sander, Gamsavar 2022, S. 5).

    Ein Thema für verschiedene Professionen

    Es ist insgesamt festzuhalten, dass Chemsex nicht ausschließlich als Subkultur innerhalb der schwulen Sexkultur zu werten ist, sondern auch als Praktik, die in verschiedenen Professionen thematisiert werden kann. So ist auch die Soziale Arbeit gefordert, wenn Männer* die negativen Konsequenzen ihres Substanzkonsums im sexuellen Kontext erleben und Unterstützung im System suchen. Daher sind nicht nur Projekte, die sich an der schwulen Lebenswelt orientieren, gefragt, sondern auch allgemeine Drogen- und Suchtberatungen, die sich der Dimensionen von Sexualität und Substanzkonsum bewusst sind (vgl. Deimel et al. 2017, S. 257 f.). Infolgedessen betrifft das Thema Chemsex verschiedene professionelle Handlungsfelder, darunter Drogenhilfe, sexuelle Gesundheit und psychosoziale Beratung. Die Nutzung digitaler Räume hat die Reichweite und Sichtbarkeit des Themas deutlich erhöht. Zudem beschränkt sich die Thematik nicht nur auf Großstädte, sondern stellt ein globales Phänomen dar.

    Praktische Ansätze für die Drogen- und Suchtberatung

    Die Beratung von Männern*, die zum Thema Chemsex Rat und Hilfe suchen, erfordert eine flexible und vernetzte Herangehensweise. Im Folgenden werden mögliche praktische Ansätze in der Beratung vorgestellt, die in Betracht gezogen werden sollten. Diese Ansätze wurden ausführlich im Rahmen einer Abschlussarbeit mit dem Titel „Rekonstruktion der professionellen Wissensbasis in der Drogen- und Suchtberatung zum Thema Chemsex – Substanzkonsum im sexuellen Setting bei Männern*, die Sex mit Männern* haben“ (Keßler 2023) beschrieben.

    Sensibilisierung, Wissensaufbau und Arbeitsbeziehung

    Von essenzieller Bedeutung ist, dass die Beratenden für das Thema sensibilisiert sind und eine Grundidee von der Lebenswelt der Klientel haben. Hierdurch können Missverständnisse und erneute Outingprozesse vermieden werden. Es ist für Beratende unerlässlich, die sozialen und individuellen Dimensionen von Chemsex zu verstehen, um erfolgreich handeln zu können. Fortbildungen müssen sowohl die Substanzkunde als auch die Dynamiken von Chemsex-Settings abdecken. Im Weiteren sollten Beratende mit den Begriffen vertraut sein, die in Chemsex-affinen Räumen verwendet werden, um möglichst gezielte Fragen stellen zu können und eine Offenheit dem Thema gegenüber zu signalisieren. Zum Beispiel werden Substanzen nicht immer unter ihren eigentlichen Namen genannt, sondern oft codiert. So wird Methamphetamin als „Tina“ bezeichnet, während GHB/GBL den Namen „Gina“ trägt. Zudem kann auf Dating-Apps durch Abkürzungen wie „PnP“ („Party and Play“) signalisiert werden, dass man für Chemsex offen ist.

    Von besonderer Relevanz ist die Auseinandersetzung mit Stigmata und Vorurteilen, denen die Klientel potenziell ausgesetzt ist. Die Entwicklung eines Verständnisses für die Lebenswelt der Männer* erleichtert den Klienten* den Zugang zur Beratung. Dies setzt außerdem voraus, dass ein Raum geschaffen wird, in dem sich die Klienten* verstanden und wertfrei angenommen fühlen.

    Dabei ist es nicht das Ziel, dass jede*r Beratende unzählige Fortbildungen zu dem Thema absolviert und zur Expert*in wird. Vielmehr geht es darum, eine wertschätzende Haltung zu entwickeln, die es ermöglicht, in einen Dialog zu treten. Der Aufbau einer respektvollen, vertrauensvollen und vorurteilsfreien Beziehung ist essenziell für eine effektive Beratung im Kontext von Chemsex. Viele Klienten* erleben aufgrund ihres Substanzkonsums im sexuellen Setting Scham, Schuldgefühle und Angst vor Stigmatisierung, was ihre Bereitschaft, offen über ihre Situation zu sprechen, beeinträchtigen kann. Beratende sollten eine Atmosphäre schaffen, die Offenheit, Sicherheit und Akzeptanz signalisiert. Eine affirmierende Haltung gegenüber den Lebensrealitäten von LGBTQI*-Personen umfasst nicht nur die Vermeidung von Vorurteilen, sondern auch ein aktives Verständnis und die Anerkennung der spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse, mit denen die Klientel konfrontiert sein kann. Dazu gehört das Wissen um die kulturellen und sozialen Aspekte der LGBTQI*-Community ebenso wie die Sensibilität für Themen wie Diskriminierung, Minderheitenstress und die Rolle von Substanzen in diesem Kontext. Das Ziel ist, eine Beratungsbeziehung zu etablieren, in der sich Klienten* angenommen fühlen und ihre Bedürfnisse, Ängste und Ambivalenzen frei äußern können.

    Thematisierung von Konsummustern und Sexualität

    In der Beratung ist es entscheidend, Substanzkonsum und Sexualität als eng miteinander verknüpfte Themen zu betrachten. Viele der User* erleben Herausforderungen, die aus dieser Dynamik entstehen, wie beispielsweise keine Lust mehr zu empfinden, wenn der Substanzgebrauch wegfällt. Eine klare, wertschätzende und wertfreie Ansprache ist unerlässlich, um Hemmungen und Schamgefühle zu verringern. Sensibilität gegenüber den Themen Sexualität und Konsum ist besonders wichtig, da diese von Stigmatisierung und Schuldgefühlen begleitet werden können. Beratende sollten darauf achten, dass die Gespräche Raum für Offenheit bieten, ohne den Eindruck von Beurteilung oder moralischer Ablehnung zu vermitteln. Durch eine behutsame Thematisierung können Klienten* nicht nur ihre Konsummuster besser verstehen, sondern auch mögliche Risiken und Folgen erkennen, was eine Grundlage für Veränderungsprozesse schaffen kann.

    Förderung von Safer-Use- und Safer-Sex-Strategien

    Ein zentraler Bestandteil der Beratung im Kontext von Chemsex ist die Förderung von Safer-Use- und Safer-Sex-Strategien. Praktische und alltagstaugliche Maßnahmen zur Risikoreduktion tragen dazu bei, gesundheitliche Schäden zu minimieren und die Klientel dabei zu unterstützen, ein bewussteres Verhalten zu entwickeln. Die Bereitstellung und Vermittlung von Informationen über die sichere Nutzung von Konsumutensilien ist, insbesondere bei Praktiken wie dem Slamming, von Bedeutung. Das umfasst die Weitergabe von Informationen über die Bedeutung steriler Spritzen und Nadeln, um Infektionen wie HIV oder Hepatitis C zu vermeiden, sowie Informationen zur sicheren Entsorgung von gebrauchten Utensilien, um das Risiko für andere Personen zu minimieren. Darüber hinaus sollten risikoärmere Konsumformen empfohlen werden wie z. B. nasaler Konsum statt intravenöser Applikation, und es sollten Anwendungsformen wie „up your bum“ (Drogenapplikation in den Anus) thematisiert werden.

    Die Mischung verschiedener Substanzen im Chemsex-Kontext kann erhebliche gesundheitliche Risiken bergen wie z. B. unerwartete Wechselwirkungen oder Überdosierungen. Beratende sollten auf riskante Kombinationen bestimmter Substanzen hinweisen und über Symptome von Überdosierungen und Erste-Hilfe-Maßnahmen informieren. Auch in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das Zusammendenken von Substanzgebrauch und Sex erforderlich ist, da die Förderung sexueller Gesundheit ein integraler Bestandteil der Beratung sein sollte. Beratende können mit den Klienten* ins Gespräch gehen und auf gängige Safer-Sex-Strategien wie die Nutzung von Kondomen etc. hinweisen. Im Weiteren können Informationen über die Anwendung der PrEP (Prä-Expositionsprophylaxe) oder PEP (Post-Expositionsprophylaxe) unterstützend sein. Neben der Beratung zu diesen präventiven Maßnahmen sollten Beratende wissen, in welchen Institutionen die Klienten* einfachen Zugang zu diesen Maßnahmen haben, wo zum Beispiel niederschwellige Check-ups in Anspruch genommen werden können, um frühzeitig Infektionen zu erkennen und behandeln lassen zu können.

    Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Netzwerkbildung

    Hilfe und Beratung im Zusammenhang mit Chemsex erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise, um die vielfältigen Bedarfe der Klienten* zu adressieren. Beratende sollten enge Kontakte zu spezialisierten Einrichtungen wie HIV- und STI-Beratungsstellen, sexuellen Gesundheitsdiensten und LGBTQI*-Organisationen pflegen. Zentrale Aufgaben der Beratenden sind die gezielte Weiterleitung von Klienten*, die Unterstützung bei organisatorischen Hürden sowie die Koordination zwischen den beteiligten Stellen. Interdisziplinäre Fallbesprechungen können bei komplexen Situationen hilfreich sein, um gemeinsame Lösungsstrategien zu entwickeln. Die Zusammenarbeit in Netzwerken stärkt nicht nur die Betreuung der Klienten*, sondern fördert auch den Austausch und die Weiterbildung der Fachkräfte, wodurch die Versorgungsqualität nachhaltig verbessert wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Berliner Chemsex-Netzwerk, das sich aus verschiedenen Professionen zusammensetzt und in regelmäßigen Abständen zusammenkommt, um sich zu aktuellen Themen in Bezug auf Chemsex auszutauschen und zu kooperieren.

    Begleitung und Rückfallprävention

    Für Männer* mit komplexen Problemlagen im Zusammenhang mit Chemsex können langfristige Unterstützungsprozesse erforderlich sein. Wenn Klienten* sich z. B. für eine Veränderung der Konsummuster entschieden haben, kann eine Rückfallprävention darauf abzielen, dass sie Strategien zur Stressbewältigung und Selbstfürsorge vermittelt bekommen. Essenziell ist hierbei, individuelle Auslöser und Risikofaktoren für Rückfälle zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu erarbeiten, die sich an der tatsächlichen Lebensrealität der User* orientieren. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Rückfallprävention nicht gleich Abstinenzerhaltung bedeutet.

    Mit Motivierender Gesprächsführung (Motivational Interviewing, MI) können Beratungsstellen  Veränderungsprozesse unterstützen. Die MI bietet Orientierung, um die Klientel in ihrem Veränderungsprozess zu begleiten und ihre Motivation zu stärken. Langfristige Begleitung bedeutet auch, den Männern* eine verlässliche Anlaufstelle zu bieten, zu der sie im Falle von Krisen oder Rückfällen jederzeit zurückkehren können.

    Fazit

    Die Themenbereiche rund um Chemsex erfordern in der allgemeinen Drogen- und Suchtberatung an bestimmten Punkten ein spezialisiertes Wissen, Empathie und eine gute Vernetzung. Als eine der ersten Anlaufstellen spielen Beratungsstellen eine entscheidende Rolle, indem sie der Klientel niedrigschwelligen Zugang und gezielte Unterstützung bieten. Die Förderung von Sensibilisierung der Beratenden, die Vermittlung spezifischer Strategien und die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind essenziell, um die Beratungsqualität zu steigern und die Lebenssituation der Klientel nachhaltig zu verbessern. Die beschriebenen Maßnahmen sollten stets individuell auf die Lebensrealitäten und Bedürfnisse der Klienten* abgestimmt sein. Ein pragmatischer Ansatz, der nicht auf Abstinenz als alleiniges Ziel festgelegt ist, sondern die schrittweise Reduktion von Risiken in den Fokus rückt, schafft eine niedrigschwellige und akzeptierende Beratungsatmosphäre.  Klienten* sollten dabei unterstützt werden, eigenverantwortlich und informiert Entscheidungen zu treffen, um ihre physische und psychische Gesundheit zu schützen. Eine nicht pathologisierende Haltung ist dabei zentral, um Vertrauen und Offenheit zu fördern.

    Über das Beratungssetting hinaus sollte das Thema auch in einem breiteren Kontext berücksichtigt werden, also auch in Rehabilitationseinrichtungen, im Eingliederungsbereich, im Qualifizierten Entzug oder im Bereich der Weiterbildung Suchttherapie.

    Veranstaltungshinweis:
    Chemkon Berlin 2025
    Bundeskonferenz sexualisierter Substanzkonsum
    28.-29. März 2025
    Charité Campus Mitte, Berlin
    https://biss-chemsex.com/chemkon/

    Kontakt:

    Tizian Keßler
    tizian.kessler(at)vistaberlin.de

    Angaben zum Autor:

    Tizian Keßler (M.A. Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik / B.A. Soziale Arbeit) leitet eine Beratungsstelle der vista gGmbH in Berlin.

    Literatur:
    • Bochow, M., Lenuweit, S., Sekuler, T. & Schmidt, A. J. (2011). Schwule Männer und HIV/AIDS. Lebensstile, Sex, Schutz- und Risikoverhalten. Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
    • Bourne, A., Reid, D., Hickso, F., Torres Rueda, S. & Weatherburn, P. (2014). Die Chemsex Studie: Drogenkonsum in sexuellen Umfeldern unter schwulen und bisexuellen Männern in Lambeth, Southwark & Lewisham. Zusammenfassung der Studie in HIVreport Nr.3/2014. Abgerufen am 12.07.2022: http://www.hivreport.de/sites/default/files/documents/2014_03_hiv_report.pdf
    • DAH – Deutsche Aids Hilfe (2014). Slamming – Risiken senken beim Spritzen von Chems. Abgerufen am 19.12.2024: http://www.iwwit.de/wissenscenter/drogen/slamming
    • Deimel, D. & Stöver, H. (2015). Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten in der homo- und bisexuellen Community. In akzept e.V., Deutsche Aids-Hilfe, Jes e.V., 2. Alternativer Drogen- und Suchtbericht (S. 66-70). Lengerich: Pabst Science Publishers
    • Deimel, D., Dichtl, A. & Graf, N. (2017). Methamphetaminkonsum von Männern, die Sex mit Männern haben, in sexuellen Settings. In H. Stöver, A. Dichtl & N. Graf, Crystal Meth (S. 253-260). Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag
    • Graf, N., Dichtl, A., Hößelbarth, S., Deimel, D. & Stöver, H. (2016). Die Clubdrug Studie – Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten von Männern, die Sex mit Männern haben. 10.13140/RG.2.1.4238.6167
    • Großer, J. (2022). Good To Know! Eine Einführung in das Phänomen Chemsex. In U. Gamsavar, & D. Sander, Handbuch zur Durchführung von quapsss-Gruppen für ChemSex praktizierende Männer* (S. 9-12). Berlin: Deutsche Aidshilfe e.V.
    • Grümer, K. & Iking, A. (2020). Neue Herausforderung für die Suchthilfe: MSM mit Chemsex-Konsummustern. SUCHT (66), S. 303-308
    • Haslebacher, A., Brodmann Maeder, M. & Blunier, S. (2022). Chemsex – mehr als Sex unter Drogen. www.medicalforum.dh. Abgerufen am 19.12.2024: https://doi.org/10.4414/smf.2022.09061
    • Keßler, T. (2023). Rekonstruktion der professionellen Wissensbasis in der Drogen- und Suchtberatung zum Thema Chemsex – Substanzkonsum im sexuellen Setting bei Männern*, die Sex mit Männern* haben. Berlin: Alice Salomon Hochschule
    • Sander, D. & Gamsavar, U. (2022). Einleitung. In U. Gamsavar & D. Sander, Handbuch zur Durchführung von quapss-Gruppen für ChemSex praktizierende Männer* (S. 5-7). Berlin: Deutsche Aidshilfe e.V.
    • Stuart, D. (2016). A chemsex cruisble: the context and the controversy. BMJ Sexual & Reprodutive Health, S. 295-296
  • Cannabis weiterhin prominenteste illegale Droge

    Workbook Drogen
    Kurzbericht

    Am 7. Dezember 2018 wurde der aktuelle Jahresbericht der deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), ehemals bekannt unter dem Namen „REITOX-Bericht“, veröffentlicht. Er liefert umfangreiches Zahlenmaterial und Hintergrundinformationen zur Drogensituation in Deutschland.

    Cannabis

    Sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen nimmt Cannabis unter den illegalen Drogen weiterhin die prominenteste Rolle ein. Im Vergleich zu anderen Drogen dominiert Cannabis mit einer 12-Monats-Prävalenz von 7,3 Prozent unter 12- bis 17-Jährigen und 6,1 Prozent unter 18- bis 64-Jährigen deutlich. Der Anteil der Jugendlichen und Erwachsenen, die im gleichen Zeitraum irgendeine andere illegale Droge konsumiert haben, liegt bei 1,2 Prozent bzw. 2,3 Prozent. Insgesamt zeigt die Cannabisprävalenz bei Jugendlichen und Erwachsenen bei wellenförmigem Verlauf einen zunehmenden Trend.

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Cannabiskonsum ist und bleibt ein Thema, sowohl bei den Jugendlichen, als auch bei den Erwachsenen. Das ist keine gute Entwicklung! Wer in jungen Jahren regelmäßig kifft, schädigt sich fürs ganze Leben: Merkfähigkeit, Konzentration und Leistungsfähigkeit lassen nach, Depressionen und Schizophrenie können die Folge sein. Daher werden wir ab 2019 eine halbe Million Euro mehr für den Ausbau einer bundesweiten Cannabisprävention mit dem starken Fokus auf Schulen in die Hand nehmen. Damit machen wir klar und deutlich: „Cannabis kann abhängig machen, ist nicht harmlos und hip, sondern eine Droge mit immensen gesundheitlichen Nebenwirkungen!“

    Basierend auf den aktuellsten Bevölkerungsumfragen des Jahres 2015 haben in Deutschland etwa 14,4 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren sowie 479.000 Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren zumindest einmal in ihrem Leben eine illegale Droge konsumiert. Dies entspricht einer Lebenszeitprävalenz von 28,2 beziehungsweise 10,2 Prozent.

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen-und Drogensucht: „Die uns vorliegenden Daten zu Sicherstellungen und zum Konsumverhalten in der Bevölkerung weisen nicht immer in die gleiche Richtung – dennoch können uns beide Informationsquellen wertvolle Hinweise zu verschiedenen Aspekten des Marktgeschehens liefern, die unter Einbeziehung weiterer Informationen zu einem Gesamteindruck beitragen.“

    Sicherstellungen

    Die Sicherstellungsmenge von Kokain ging verglichen mit dem Vorjahr um 337 Prozent nach oben, damit ist bei Kokain der bedeutendste Anstieg im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Sicherstellungsmenge von Marihuana stieg um 30 Prozent an, was auf beträchtliche Einzelsicherstellungen zurückzuführen ist. Der stärkste Rückgang mit 693.668 sichergestellten Tabletten ist für Ecstasy, nach einer Rekordsicherstellungsmenge in 2016, zu verzeichnen  (-69 Prozent). Der starke Rückgang ist durch drei große Sicherstellungen im Jahr 2016 zu erklären, die die Rolle Deutschlands als Transitland zwischen den Niederlanden und der Türkei belegen. Sicherstellungen dieser Größenordnung wurden 2017 nicht verzeichnet. Im Vergleich zum Vorjahr wurde 10 Prozent weniger Heroin und 30,9 Prozent weniger Haschisch sichergestellt.

    Wirkstoffgehalt

    Während der Wirkstoffgehalt bei Cannabisblüten mit durchschnittlich 13,1 Prozent einen neuen Höchststand erreicht und sich dieser beim Kokain im Straßenhandel seit 2011 mehr als verdoppelt hat (2017 bei 78,4 Prozent), ist bei den Amphetaminen ein markanter Rückgang zu verzeichnen. Nach einem Peak im Jahr 2016 (42,1 mg/Konsumeinheit (KE)) hat sich der Wirkstoffgehalt wieder deutlich auf 18 mg/KE reduziert.

    Der vorliegende Jahresbericht wird jährlich durch die Deutsche Drogenbeobachtungsstelle (DBDD) als Beitrag zum Europäischen Drogenbericht erstellt. Die acht Workbooks und der zehnseitige Kurzbericht finden Sie unter www.dbdd.de.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und der DBDD, 07.12.2018

  • Kulturdrogen – Drogenkultur

    Kulturdrogen – Drogenkultur

    Jost Leune

    Drogenkonsum ist kein neuzeitliches Phänomen. Drogen begleiten die Menschheit seit ihren Anfängen. Rauschmittel waren stets präsent und nie unumstritten. Mit der industriellen Herstellung von Wirkstoffen und dem daraus zu erzielenden Profit entwickelten sie sich sowohl zu einem unverzichtbaren Heilmittel als auch zu einem im Extremfall gesundheitsgefährdenden Konsumgut. Nicht zuletzt deshalb ist Gesundheitsförderung im Sinne von Prävention eine gesellschaftliche Aufgabe, der aber die nötigen finanziellen Mittel fehlen, um dem Angebotsdruck der Drogenproduzenten standzuhalten.

    Entdeckungen und Erfindungen – Drogen im Lauf der Jahrtausende

    Bis zum 16. Jahrhundert blieben die Gewohnheiten einzelner Völker in der Verwendung von Drogen aufgrund der geographischen Isolation erhalten, und Drogenmissbrauch wurde gewöhnlich durch soziale und religiöse Kontrolle in Grenzen gehalten. Im klassischen Altertum (ca. 3500 v. Chr. bis 600 n. Chr.) wurden Cannabis und Opium zu medizinischen Zwecken und die Cannabispflanze als Fasertyp zur Herstellung von Gegenständen des täglichen Bedarfs verwendet. Es gibt keine Hinweise auf einen bedeutsamen Konsum von Cannabis und Opium als Genuss- und Rauschmittel im Mittelmeerraum. Die einzige Droge, die soziale Probleme verursachte, war und ist Alkohol. Zweifellos geht das Trinken von Bier und Wein bis in prähistorische Zeiten zurück. Zeugnisse, die die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Bier und Wein sowie die Bemühungen, ihren Genuss zu kontrollieren, diskutieren, reichen bis in das alte Ägypten und Mesopotamien zurück. Das klassische griechisch-römische Schrifttum ist angefüllt mit kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und voller Lob der Tugend der Mäßigkeit (Legarno 1982).

    Bereits in der Geschichte des Alten Ägyptens (vor 4000 v. Chr. bis 395 n. Chr.) finden wir Belege für alkoholische Getränke. Bier ist schon 3000 v. Chr. bezeugt. Bei der Herstellung war das Brotbacken als Vorstadium des Brauens wichtig. Da man weder das Destillieren noch den Gebrauch von Hopfen kannte, wurde Brotteig, vermischt mit gegorenem Dattelsaft oder Honig, als Maische verwendet. Bier war ein gebräuchliches Heil- oder Nahrungsmittel, aber es war auch das Hauptgetränk in den verrufenen Bierhäusern und Schenken, wo leichte Mädchen junge Männer von ihrem Studium abhielten, so dass die Moralprediger mahnten: „Du verlässt die Bücher und Du gehst von Kneipe zu Kneipe, der Biergenuss allabendlich, der Biergeruch verscheucht die Menschen (von Dir)!“ (von Cranach 1982). An anderer Stelle wird empfohlen: „Ein Napf Wasser stillt schon den Durst“ – eine frühe Präventionsbotschaft. Gegorene Fruchtsäfte waren in Ägypten schon in der Vorgeschichte (vor 4000 v. Chr.) bekannt, ebenso Dattel- und Granatapfelwein. Die ersten Rebsorten wurden vermutlich aus dem mesopotamischen Raum nach Ägypten gebracht (von Cranach 1982).

    Wein war für die Bewohner des antiken Griechenlands (1600 v. Chr. bis 146 v. Chr.) Grundnahrungs- und Genussmittel und damit auch Opfergabe sowie Mittel des sozialen Kontaktes. Beobachtungen und Urteile zum Weingenuss und seinen Folgen finden sich zu damaliger Zeit in allen Literaturgattungen in Fülle, dafür gibt es genügend Belege (Preiser 1982).

    Hanf ist wahrscheinlich ursprünglich in China in den Dienst des Menschen gestellt worden, und zwar als Faserpflanze, als nahrhafte Körnerfrucht und als Rauschmittel. Es wird vermutet, dass Reitervölker der Steppen Ostasiens die Anwendung von Hanf als Rauschmittel von den Chinesen gelernt und dann weitervermittelt haben. Herodot (450 v. Chr.) berichtet von den Skythen, einem Volk von Reiternomaden, die ab etwa dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine besiedelten: „In die Hütte stellen sie ein flaches Gefäß mit glühenden Steinen gefüllt und werfen mitgebrachte Hanfsamen zwischen die Steine. Sofort beginnt es zu rauchen und zu dampfen, mehr noch als in einem griechischen Schwitzbad. Begeistert heulen die Skythen auf (…).“ (zit. n. Völger & von Welck 1982)

    Über die Germanen schreibt der römische Historiker und Senator Tacitus im Jahr 98 n. Chr.:

    22 Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. (…)
    23 Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. (…) Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.
    24 Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. (zit. n. Reclam-Ausgabe 1972)

    Im Mittelalter spielte der Hexenglaube eine große Rolle. Die Herkunft des Wortes „Hexe“ verweist auf eine Frau mit okkultem oder Naturheilwissen, die unter Umständen einer Priesterschaft angehörte. Diese Zuschreibungen sind eine Übertragung der Fähigkeiten der Göttin Freya aus der nordischen Mythologie und vergleichbarer Göttinnen in anderen Regionen (Heilen, Zaubern, Wahrsagen) auf die mittelalterlichen Priesterinnen, die im frühchristlichen Umfeld noch lange in der gewohnten Weise agierten. Mit dem Vordringen des Christentums wurden die heidnischen Lehren und ihre Anhänger dämonisiert. Der Begriff des Hexenglaubens ist im Übrigen doppeldeutig. Er bezeichnet nicht nur die Überzeugung, dass Hexen real und bedrohlich sind – eine Überzeugung, die im Volksglauben verwurzelt war und sich zum Hexenwahn steigern konnte. Sondern er kann heute auch die (naturreligiösen) Überzeugungen beschreiben, die sich auf ein vorchristliches Verständnis berufen, nach dem es Menschen beiderlei Geschlechts gibt, die über besondere Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen und die als Hexen bezeichnet werden. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse bezogen sich mit Sicherheit auch auf Pflanzen, die unter den Sammelbegriff Drogen fallen.

    Spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts beschrieben zuerst, dass in Südamerika ein weitverbreiteter Gebrauch einer Vielzahl von Pflanzen mit außergewöhnlichen, zu Weissagungen und Ekstasen führenden Wirkungen auf die Sinne zu beobachten ist. In den Überlieferungen wird dabei besonders auf Pilze, Peyote und Trichterwinde Bezug genommen (Völger & von Welck 1982).

    Die Weinproduktion erreicht in Europa im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt, und die Berichte über ausgedehnte Saufgelage von Feudalherren und Bauern häufen sich in dieser Zeit. Dies nahm Luther 1534 zum Anlass, zu wettern: „Es muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben (…) unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauf heißen.“ (Völger & von Welck 1982)

    500 Jahre Drogen-Geschichte in Stichworten

    Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Publikationen von Günter Amendt (1984), Norman Ohler (2017) und Irmgard Vogt (1982). 

    1618–1648
    30-jähriger Krieg, Weinberge werden verwüstet, Branntwein wird in größeren Mengen produziert und ist das beliebteste alkoholische Getränk bei Soldaten.

    1677
    Die Holländer bekommen das Monopol für Opiumlieferungen nach China. Städte wie Macao, Hongkong und Shanghai werden als Handelsstützpunkte gegründet.

    1771
    Die importierten Konsumgüter Tabak, Kaffee und Tee sind so populär wie kostspielig. Dies erregt Ärger bei Kaufleuten und Regierung. Dieser Handel liegt außerhalb ihrer Kontrolle, er führt zu einer ungünstigen Handelsbilanz und bedroht andere wichtige Einnahmen. In Preußen förderte Friedrich der Große das Kaffeetrinken, bis er entdeckte, dass es seine Einkünfte aus dem Biermonopol schmälerte und – wie er in seinem 1771 erlassenen Kaffeemanifest feststellte – dazu führte, dass ein „abscheulich hoher Geldbetrag“ außer Landes ging. Der Konsum wurde auf heimische Produkte abgestellt – das sind in der Konsequenz Bier und Branntwein aus, wie man heute sagt, „regionaler Produktion“ (Austin 1982).

    1773
    Das Handelsmonopol für Mohnsaft liegt bei der englischen Ostindien-Kompanie.

    1780
    Kartoffeln werden zur Schnapsherstellung verwendet.

    1804
    Morphium (Morphin) wird erstmals von dem deutschen Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Adam Sertürner in Paderborn aus Opium isoliert.

    19. Jahrhundert
    Technische Neuerungen verbessern die Schnapsproduktion, es entwickeln sich mittelgroße und Großfabriken.

    1850
    Die Injektionsspritze wird erfunden. Es beginnt der Siegeszug des Morphiums in Europa.

    1859/60
    Albert Niemann isoliert die aktiven Komponenten des Cocastrauches. Er gibt dem Alkaloid den Namen Kokain.

    1845
    Laut Friedrich Engels führen die schlechten Lebensbedingungen des Proletariats fast zwangsläufig zur Trunksucht. Auch Teile der SPD sehen den Alkoholismus vor allem als Hindernis im Klassenkampf an. Diese Position wird vehement vom 1903 gegründeten Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund (DAAB) vertreten.

    1862
    Die Firma Merck produziert Kokain als Medikament – u. a. gegen Husten, Depressionen und Syphilis.

    1875
    Eine Morphiumwelle erreicht Europa als Folge des amerikanischen Bürgerkrieges und des deutsch-französischen Krieges.
    „Morphin ist der Absinth der Frauen.“ (Alexandre Dumas)

    1878
    20.000.000 Opiumabhängige in China

    1893
    Das Vereinigte Königreich erteilt der Regierung von Indien den Auftrag, in Bengalen Hanf anzubauen und die Gewinnung von Drogen, den Handel damit und die Auswirkung auf den Zustand der Bevölkerung sowie die Frage eines etwaigen Verbotes zu überprüfen. Ergebnis: Die Kommission stellt fest, dass die medikamentöse Anwendung von Hanfdrogen umfangreich ist und daher ein Verbot unzweckmäßig erscheint.

    1896
    Bayer entwickelt ein Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin und lässt sich dafür den Markennamen „Heroin“ schützen.

    1912
    MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin) wird von Merck als Beiprodukt zur Herstellung von Hydrastinin (Blutstiller) patentiert.

    1920er Jahre
    Die Firmen Merck, Böhringer und Knoll beherrschen 80 Prozent des Weltmarktes für Kokain.

    1920er Jahre
    In München entsteht der Nationalsozialismus. München ist Gründungsort der NSDAP. Die Stadt wird zur „Hauptstadt der Bewegung“, weil es den wenigen nationalsozialistischen Gründungsaktivisten hier gelingt, ihre anfängliche Splitterpartei von ein paar versprengten Verwirrten zu einer Massenbewegung anwachsen zu lassen. Dabei spielen die großen Bierkeller in München eine zentrale Rolle. Hier werden nicht nur Volksfeste gefeiert, sondern auch die großen politischen Versammlungen abgehalten. Im Kindl-Bräu sah und hörte Ernst „Putzi“ Hanfstaengl Hitler zum ersten Mal reden. Er war es, der Hitler auch in den großbürgerlichen Kreisen salonfähig machte. Auf den Rednerbühnen des Bürgerbräukellers avancierte Hitler unter Johlen und Bierkrugschwenken seiner Anhänger allmählich zum Volksheld und schließlich zum Führer des Deutschen Reiches. Der Aufstieg Adolf Hitlers – der selbst keinen oder kaum Alkohol getrunken hat – ist ohne das Bier nicht denkbar. Bier, das in München auch bei politischen Versammlungen in rauen Mengen konsumiert wurde, verwandelte Hitlers Zuhörer regelmäßig in eine berauschte, betrunkene Masse, die fast beliebig zu steuern war. Die durch den Alkohol bewirkte Enthemmung schuf aus Hitlers kleinbürgerlichen Anhängern gefährliche, gewaltbereite Extremisten. Der NS-Terror auf Münchens Straßen in den Zwanziger Jahren ist ohne Alkohol nicht denkbar (Hecht 2013).

    1926
    Deutschland steht an der Spitze der Morphin produzierenden Staaten und ist Exportweltmeister bei Heroin: 98 Prozent der Produktion gehen ins Ausland. Zwischen 1925 und 1930 werden 91 Tonnen Morphin hergestellt.

    1926
    Die Firma Parke-Davis entwickelt Phencyclidin (Abkürzung PCP, in der Drogenszene bekannt als „Angel Dust“) als Arzneistoff der Klasse der Anästhetika.

    Berlin mutiert zur Experimentierhauptstadt Europas. 1928 gehen in Berlin 73 Kilogramm Morphin und Heroin legal auf Rezept in Apotheken über den Ladentisch. 40 Prozent der Berliner Ärzte sind angeblich morphinsüchtig.
    „Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversität!“ (Klaus Mann)

    1937
    Am 31. Oktober melden die Temmler-Werke Berlin das erste – an Potenz das amerikanische Benzedrin weit in den Schatten stellende – deutsche Methylamphetamin zum Patent an. Der Markenname: Pervitin. Der Tübinger Pharmakologe Felix Haffner schlägt die Verordnung des Pervitin sogar als „höchstes Gebot“ vor, wenn es um den „letzten Einsatz für das Ganze“ gehe: eine Art „chemischer Befehl“.
    Pervitin wird zum Symptom der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Selbst eine mit Methamphetamin versetzte Pralinensorte kam auf den Markt. Pro Genusseinheit waren stolze 14 Milligramm Methamphetamin beigemischt – beinahe das Fünffache einer Pervitin-Pille. „Hildebrand Pralinen erfreuen immer“, lautete der Slogan der potenten Leckerei. Die Empfehlung lautete forsch, drei bis neun Stück davon zu essen mit dem Hinweis, dies sei, ganz anders als Koffein, ungefährlich. Die Hausarbeit ginge dann leichter von der Hand, zudem schmelzen bei dieser außergewöhnlichen Süßigkeit sogar die Pfunde, da der Schlankmacher Pervitin den restlichen Appetit zügle (Ohler 2017).

    1938
    Albert Hofmann stellt Lysergsäurediethylamid (LSD) her.

    1940
    Weckmittelerlass der Reichswehr vom 17. April: „Die Erfahrung des Polen-Feldzuges hat gezeigt, dass in bestimmten Lagen der militärische Erfolg in entscheidender Weise von der Überwindung der Müdigkeit einer stark beanspruchten Truppe beeinflusst wird. Die Überwindung des Schlafes kann in besonderen Lagen wichtiger als jede Rücksicht auf eine etwa damit verbundene Schädigung sein, wenn durch den Schlaf der militärische Erfolg gefährdet wird. Zur Durchbrechung des Schlafes (…) stehen die Weckmittel zur Verfügung.“
    Pervitin wurde in der Sanitätsausrüstung planmäßig eingeführt. Daraufhin bestellte die Wehrmacht für Heer und Luftwaffe 35 Millionen Tabletten, die noch bis ca. 1950 im Umlauf waren.

    1945
    Der Zweite Weltkrieg endet, der Konsum von Aufputschmitteln geht weiter. Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.

    1949
    Die Firma Sandoz bringt LSD unter dem Namen „Delysid“ in den Handel. Es soll Psychiatrie-Ärzten ermöglichen, sich in die Wahrnehmungswelt psychotischer Patienten einzufühlen.

    1953
    Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.

    1954
    In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den ‚Raketentreibstoff‘ Pervitin eingeflößt zu haben.

    1954
    Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.

    1967
    Hippies in den USA berauschen sich an der ‚Liebesdroge‘ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.

    1968
    Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung sind Schlagworte der gesellschaftlichen Entwicklung der späten 1960er Jahre in Deutschland. Dazu muss man sich verdeutlichen, dass die Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre in der BRD von denselben Personen, derselben Doppelmoral und denselben Ritualen beherrscht wird, die Deutschland in den 1930er Jahren eingeübt hatte. Als sich der Vietnamkrieg zum Völkermord entwickelt, in Bonn eine große Koalition gebildet wird und diese über Notstandsgesetze berät, die im Krisenfall das demokratische System außer Kraft setzen sollen, regt sich in der Gesellschaft ein lange angestauter Widerstand. Dabei geht es vor allem um eine Abgrenzung zur Elterngeneration und zum politischen System. Dazu gehören Provokation, Widerstand und Drogen. In Westdeutschland entwickelt sich daraus ein ‚hedonistischer Antifaschismus‘, während Ostdeutschland seinen moralischen Antifaschismus bewahrt: Die DDR erschafft sich einen perfekten Entstehungs- und Rechtfertigungs-Mythos, der sie gegen jede Kritik immunisiert. In der DDR sind Drogen nicht Teil des Widerstandes, sondern dienen den großen und kleinen Fluchten, mit denen man sich dem nicht minder spießigen System in der ‚Volksrepublik Preußen‘ entziehen kann.

    Drogen und ihre Kultur

    Alkoholkonsum

    Drogenkultur in Deutschland ist Alkoholkultur, genauer gesagt Bierkultur. Der Blick auf den Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland zeigt dies deutlich (Abbildung 1). 

    Abbildung 1: Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland (eigene Grafik)

    Während der jährliche Branntweinkonsum von einem Höchststand Anfang des 20. Jahrhunderts mit wenigen Schwankungen seit vielen Jahren bei fünf bis sechs Litern pro Kopf liegt, ist der Weinkonsum in über 100 Jahren von etwa fünf Litern auf fast 25 Liter gestiegen. Absoluter Spitzenreiter ist das Bier, das mit einem nicht erklärbaren Tiefpunkt in den späten 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Konsumhöhepunkt im Jahre 1975 erreichte und jetzt bei einem Durchschnittsverbrauch von etwas über 100 Litern pro Kopf und Jahr liegt. Der in Rein-Alkohol umgerechnete Verbrauch erreichte erst 1970 wieder die hohen Werte um 1900 und sank dann allmählich auf jetzt etwa 9,5 Liter pro Kopf ab (DHS 2017).

    Über die Schattenseite dieser Kultur informiert der Alkoholatlas Deutschland 2017:

    • 18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen nehmen riskante Mengen Alkohol zu sich, vor allem unter 25-Jährige und Personen zwischen 45 und 65 Jahren.
    • Der Anteil der Risikokonsumenten ist bei den Männern in Thüringen, Sachsen und Berlin (je 22 Prozent) am höchsten.
    • 2015 standen zehn Prozent aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss.
    • 2015 ereigneten sich rund 34.500 Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter alkoholisiert war. Bei über 13.000 dieser Unfälle wurden Personen verletzt oder getötet.

    Konsum illegaler Drogen

    An zweiter Stelle bei den konsumierten psychotropen Substanzen steht in Deutschland Cannabis. Bei Cannabis handelt es sich allerdings um eine illegale Droge, so dass die Ergebnisse von Konsument/innen-Befragungen sich nur in einer Grauzone abspielen können und die Realität abbilden können, aber nicht müssen. Nach den vorliegenden Daten (DBDD 2016) konsumieren bundesweit innerhalb einer Jahresfrist knapp über 4,5 Millionen Menschen Cannabis. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Werte für alle illegalen Substanzen:

    Abbildung 2. Konsum illegaler Drogen pro Jahr. *Aufgrund zu geringer Zellbesetzungen werden für einige Zellen keine Prozentwerte angegeben. Werte im niedrigen Prozentbereich sind mit großer Vorsicht zu interpretieren, da von einer erheblichen Unschärfe bei der Extrapolation der Messwerte auszugehen ist. Quelle: DBDD 2016

    Gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich

    Der Grund, Drogen zu nehmen, liegt nicht nur in wie auch immer gearteten Rauscherlebnissen. Fast jede Droge erzeugt eine gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich. Auch darüber muss im Zusammenhang mit verbotenen illegalen Substanzen immer wieder diskutiert werden.

    Alkohol
    Alkohol ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Ethanol. Die Vergärung von Zucker zu Ethanol ist eine der ältesten bekannten biochemischen Reaktionen. Ethanol wird als Lösungsmittel für Stoffe verwendet, die für medizinische oder kosmetische Zwecke eingesetzt werden, wie Duftstoffe, Aromen, Farbstoffe oder Medikamente. Außerdem dient es als Desinfektionsmittel. Die chemische Industrie verwendet Ethanol als Lösungsmittel sowie als Ausgangsstoff für die Synthese weiterer Produkte wie Carbonsäureethylester. Ethanol wird auch als Biokraftstoff, etwa als so genanntes Bioethanol, verwendet. 

    Die folgenden Informationen zu illegalen Drogen stützen sich auf die Publikation von Fred Langer et al. (2017). 

    Amphetamin
    Amphetamin wurde erstmals 1887 synthetisiert. Zunächst wurde es gegen Asthma und als Appetitzügler eingesetzt, heute findet es Anwendung bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Narkolepsie (Schlafsucht). Wegen seiner aufputschenden Wirkung ist es als Partydroge beliebt (Speed). 

    Barbiturate
    Barbitursäure wurde erstmals 1864 hergestellt. Barbiturate waren ab dem frühen 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte das Schlafmittel schlechthin. Sie werden als Narkosemittel, bei Epilepsie und auch in der Sterbehilfe eingesetzt. In den USA werden sie in Kombination mit anderen Präparaten zur Hinrichtung mittels Spritze verwendet. Abhängigkeit und Entzug verlaufen ähnlich wie beim Alkohol. 

    Cannabis
    Seit Jahrtausenden nutzen Heilkundige die Wirkstoffe der Hanfpflanze (Cannabinoide). Cannabis wird gegenwärtig in immer mehr Ländern für medizinische Zwecke freigegeben. Einsatz findet es u. a. in der Schmerztherapie, bei Multipler Sklerose, gegen Übelkeit und Erbrechen, unterstützend in der Therapie von Krebs und Aids. Als Drogen werden die getrockneten Blütentrauben und Blätter als Marihuana geraucht (‚Gras‘) oder extrahiertes Harz als Haschisch. Die Wirkung ist entspannend und stimmungsaufhellend.

    Kokain
    Kokain wird aus den Blättern des Cocastrauches extrahiert. Es ist das älteste Mittel zur örtlichen Betäubung und spielte früher eine wichtige Rolle in der Augenheilkunde. Bei Eingriffen am Kopf ist es heute noch zulässig. Als Droge wird Kokain wegen seiner euphorisierenden Wirkung geschnupft (Pulver) oder als Crack geraucht.

    Ketamin
    Ketamin wurde ab 1962 gezielt als Arzneimittel entwickelt und wird als Analgetikum (schmerzstillendes Mittel) und Narkosemittel angewendet, vor allem in der Notfall- und Tiermedizin, neuerdings auch gegen schwere Depressionen. Als Rauschdroge (geschluckt, geschnieft oder gespritzt) löst es starke Wahrnehmungsveränderungen aus.

    LSD
    LSD wurde 1938 erstmals als Derivat der Lysergsäure hergestellt, die im Mutterkornpilz auch natürlich vorkommt. Früher wurde es zur psychotherapeutischen Behandlung von Krebspatienten und bei Alkoholismus eingesetzt. Vermutlich ist es wirksam gegen Cluster-Kopfschmerzen. LSD ist eine starke halluzinogene Droge (Acid) und löst einen intensiven psychedelischen Rausch aus.

    MDMA
    MDMA wurde 1912 synthetisiert und in den 1960er Jahren von US-Chemikern wiederentdeckt. Es ist ein viel versprechender Wirkstoff in der Therapie Posttraumatischer Belastungsstörungen. In Pillenform (Ecstasy) oder pulverisiert (Molly) ist es eine beliebte Partydroge.

    Opiate
    Opiate werden aus dem Saft geritzter Samenkapseln des Schlafmohns gewonnen. Durch Trocknen des Saftes entsteht Rohopium. Rohopium enthält u. a. die Wirkstoffe Morphin (eingesetzt als Schmerzmittel) und Codein (eingesetzt als gegen Hustenreiz). Das bekannteste Morphinderivat ist Heroin, ein sehr starkes Schmerzmittel, dessen therapeutische Anwendung heute in den meisten Ländern verboten ist aufgrund seines starken Abhängigkeitspotenzials. Opium ist nur noch zur Behandlung chronischen Durchfalls erlaubt. Gespritzt, geschnupft oder geraucht wirken Opiate euphorisierend und sedierend. 

    Psilocybin
    Psilocybin kommt in diversen Pilzarten vor (Magic Mushrooms) und wurde ab 1959 auch synthetisch hergestellt. Seit Jahrhunderten ist es Teil spiritueller Rituale. In der modernen Medizin wird es zur Linderung von Depressionen und Angstzuständen, möglicherweise auch gegen Alkoholismus und Nikotinsucht eingesetzt. Es ruft einen bewusstseinsverändernden Rausch hervor, ähnlich wie bei LSD, aber kürzer.

    Schlussbemerkung

    Die Dosis macht das Gift: Drogen haben eine heilsame und eine unheilvolle Seite. Eine Ausnahme bildet Alkohol. Dieser ist vor allem als Lösungsmittel wirksam – zum Beispiel in menschlichen Beziehungen. Menschen aus anderen Kulturkreisen bringen andere Haltungen gegenüber Drogen und andere Konsumkulturen mit. Prävention muss sich einer Arbeit im Feld interkultureller Begegnung öffnen. Ein solcher Prozess ist angesichts der Zuwanderung in allen Bereichen erforderlich. Voraussetzung für diesen Prozess ist die Entwicklung interkultureller Kompetenz. Diese Entwicklung kann nur als mittel- bis langfristiger Prozess gedacht werden, dessen Realisierung u. a. gezielte Fortbildungs- und Supervisionsmaßnahmen erfordert. 

    „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern, schreibt Karl Marx in seinen Thesen über Feuerbach. In der Suchtprävention reicht es daher nicht aus, das Gefüge von Kultur und Drogen zu beschreiben und soweit möglich zu interpretieren, sondern es bedarf auch einer Handlungsanleitung für die Praxis. Für die Fachkräfte in der Suchtprävention könnte diese heißen, zu überprüfen, in welchem Umfeld ihre Arbeit stattfindet und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beeinflussen.

    Prävention ist Gesundheitsförderung und versucht die Wirkungen zu lindern, die von den Drogenproduzenten durch den Verkauf ihrer Produkte und die entsprechende Werbung dafür erzeugt werden. Für illegale Drogen finden Werbung und Verkauf auf dem Schwarzmarkt statt, über den naturgemäß keine Daten vorliegen. Bei legalen Drogen dagegen – und hier reden wir nur über Alkohol – liegen die Informationen offen vor. Abbildung 3 zeigt die Werbeausgaben für alkoholische Getränke. Bundesweit sind das 544 Millionen Euro.

    Abbildung 3: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke bundesweit (in Millionen Euro) (eigene Grafik, Quelle: DHS, Daten und Fakten)

    Abbildung 4 zeigt, wie sich die Situation umgerechnet auf Thüringen darstellt (Angaben in Millionen Euro). Aussagekräftig ist der Vergleich der Ausgaben für Werbung und für Prävention.

    Abbildung 4: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke in Thüringen (in Millionen Euro) (eigene Grafik)

    Auf Thüringen entfallen 14,62 Millionen Euro an Werbeausgaben. Präventionsangebote werden in Thüringen von den Kommunen und dem Land gefördert. Für die Kommunen liegen keine Zahlen vor. Für das Land finden sich Angaben im Haushaltsplan 2017 des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Titel: 684 71 314 (Freistaat Thüringen 2017). Es handelt sich um Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung, des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitshilfen, für die 1,7005 Millionen Euro aufgewendet werden. Selbst wenn wir unterstellen, dass die Kommunen noch einmal eine Million Euro drauflegen, was wahrscheinlich sehr optimistisch ist, stünden dann diese 2,7 Millionen Euro Werbeaufwendungen der Alkoholindustrie in Höhe von 14,62 Millionen Euro gegenüber. Dieses als Ungleichgewicht zu bezeichnen, ist eine maßlose Untertreibung.

    Wenn Gesundheitsförderung in Form von Suchtprävention nicht so wirkt, wie wir uns das wünschen, liegt das nicht an der Qualifikation und dem Fleiß der Fachkräfte. Es liegt an dem Ungleichgewicht zwischen Angebotsdruck bei legalen und illegalen Drogen und den gesundheitsfördernden Leistungen, die die Gesellschaft diesem Druck entgegenstellt. Und da tut Thüringen Einiges. Das darf an dieser Stelle auch mal gelobt werden. Ein kulturverträglicher Drogenkonsum funktioniert nämlich nur, wenn die möglichen Risiken von Substanzen und Verhalten durch ein wirksames Konzept der Gesundheitsförderung ausgeglichen werden können. Dazu braucht man Geld und guten Willen, sonst kann der Genuss schnell zum Verdruss führen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor anlässlich der 5. Thüringer Jahrestagung Suchtprävention am 25. Oktober 2017 in Erfurt gehalten hat.
    Redaktion des Vortragsmanuskripts: Simone Schwarzer 

    Kontakt:

    Jost Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

     Angaben zum Autor:

    Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.

     Literatur:
    • Amendt, G. (2014), Legalisieren! Vorträge zur Drogenpolitik. Herausgegeben von Andreas Loebell, Rotpunktverlag
    • Amendt, G. (1984), SUCHT – PROFIT – SUCHT, Zweitausendeins Verlag Frankfurt
    • Austin, G. (1982), Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Cranach, D. von (1982), Drogen im alten Ägypten, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) (Hg.) (2016), Bericht 2016 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD (Datenjahr 2015/2016), Workbook 3 Drogen. Internet: http://www.dbdd.de/fileadmin/user_upload_dbdd/01_dbdd/PDFs/wb_03_drogen_2016_germany_de_2016.pdf (Zugriff am 23.11.2016)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hg.) (2017), Jahrbuch Sucht 2017, Papst-Verlag Lengerich
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Daten und Fakten. Internet: http://www.dhs.de/datenfakten.html (Zugriff am 11.10.2017)
    • Deutsches Krebsforschungszentrum (Hg.) (2017), Alkoholatlas Deutschland 2017. Internet: http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/sonstVeroeffentlichungen/Alkoholatlas-Deutschland-2017_Auf-einen-Blick.pdf (Zugriff am 19.10.2017)
    • Freistaat Thüringen, Haushaltsplan 2017. Internet: https://www.thueringen.de/th5/tfm/haushalt/aktuell/index.aspx (Zugriff am 16.10.2017)
    • Hecht, M. (2013), Die Stadt, das Bier und der Hass. Der Zusammenhang von Politik und Alkohol in der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus. Vortrag gehalten vor dem 36. fdr-Kongress am 7. Mai 2013 in München. Internet: https://fdr-online.info/wp-content/uploads/file-manager/redakteur/downloads/veranstaltungen/36_fdrkongress/S29-3_Hecht.pdf (Zugriff am 10.09.2017)
    • Langer, F., Khazan, O., Hanske,P. (2017), Vom Segen der Drogen, in: Zeitschrift GEO, Ausgabe 06 2017 Seite 68-89
    • Legarno, A. (1982), Ansätze zu einer Soziologie des Rausches – zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Ohler, N. (20172), Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Kiepenheuer & Witsch, Köln
    • Preiser, G. (1982), Wein im Urteil der griechischen Antike, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Springer, A. (1997), Anthropologisch-gesellschaftliche Aspekte des Drogengebrauchs, in: Heckmann, W. (Hg.), Fleisch, E., Haller R., Suchtkrankenhilfe. Lehrbuch zur Vorbeugung, Beratung und Therapie, Beltz-Verlag Weinheim/Basel
    • Tacitus (1972), Germania, Reclam Ditzingen
    • Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Vogt, I., Alkoholkonsum, Industrialisierung und Klassenkonflikte, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Factsheet zu Neuen psychoaktiven Substanzen

    Das Projekt MINDZONE vom Landes-Caritasverband Bayern e.V. hat im Oktober 2017 das „Factsheet Neue psychoaktive Substanzen (NpS). Basisinformationen für Fachkräfte und Multiplikatoren“ herausgegeben. Darin finden sich ausführliche aktuelle Informationen und wichtige Fakten zu NpS. Folgende Substanzklassen werden beschrieben:

    • Synthetische Cannabinoide / Cannabimimetika
    • Synthetische Cathinone (Designer-Stimulanzien)
    • Phenethylamine
    • Piperazine
    • Tryptamine
    • Synthetische Opioide / Fentanyl-Derivate
    • Ketamin-Derivate / Dissoziativa
    • Designer-Benzodiazepine
    • Synthetische Kokain-Analoga
    • LSD-Analoga

    Das Factsheet gibt Empfehlungen für die Suchtprävention und hält spezielle Informationen für Fachkräfte und Multiplikatoren aus der Suchthilfe bereit. Dargestellt werden z. B. Konsumenten-Typen und Konsummotive, Bezugs- und Informationsquellen von Konsumenten, Indikatoren für einen NpS-Konsum, Tipps für den Umgang mit NpS-Konsumenten in der Beratungsstelle sowie Schnittstellen zu Kooperationspartnern. Der Anhang widmet sich dem Verhalten im Drogennotfall und Minimalregeln zur Risikominimierung.

    Das 44-seitige Factsheet kann über die Online-Infobörse „Neue Drogen“ heruntergeladen werden. Die Website http://infoboerse-neue-drogen.de/ ist im Dezember 2017 an den Start gegangen und richtet sich an alle, die mit dem Thema NpS zu tun haben: Konsumenten, Angehörige, Fachstellen der Suchtversorgung sowie der Jungendhilfe etc. Sie hält ein breit angelegtes Informations- und Beratungsangebot vor. Projektträger ist der Landes-Caritasverband Bayern e.V.

    Redaktion KONTUREN, 11.01.2018

  • Drogenpatienten sind anders

    Drogenpatienten sind anders

    Andreas Reimer
    Andreas Reimer

    Die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, „den Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.“ Insbesondere in der medizinischen Rehabilitation drogenabhängiger Menschen erfordert die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe besondere Maßnahmen.

    Soziodemografische Merkmale und berufliche Problemlagen

    In Abgrenzung zu anderen Indikationsbereichen in der medizinischen Rehabilitation (Somatik, Psychosomatik, Alkoholabhängigkeit) ergeben sich Unterschiede bei den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die von illegalen Drogen abhängig sind. Drogenabhängige Rehabilitandinnen und Rehabilitanden

    • sind im Durchschnitt deutlich jünger,
    • sind häufiger arbeitslos,
    • sind häufiger Schulabbrecher,
    • haben häufiger keine abgeschlossene Berufsausbildung,
    • sind häufiger vorbestraft oder kommen direkt aus der Haft in die Reha,
    • haben häufiger Brüche in ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiografie,
    • sind impulsiver in ihrem Entscheidungsverhalten.

    Berufsbezogene Maßnahmen für Abhängige von illegalen Drogen müssen diese Aspekte berücksichtigen.

    In den Einrichtungen des Deutschen Ordens (Hauptindikation: Abhängigkeit von illegalen Drogen) wird seit Ende 2013 das in den BORA-Empfehlungen u. a. genannte Würzburger Screening angewendet, um Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen zu identifizieren und die arbeitsbezogenen Behandlungsmaßnahmen an den besonderen Bedarfen der Betroffenen auszurichten. Bis einschließlich Februar 2015 wurden insgesamt 1.156 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit diesem Instrument gescreent.

    Das Durchschnittsalter lag bei 32,5 Jahren. 1.004 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme arbeitslos (86,9 Prozent). 1.022 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zeigten nach dem Würzburger Screening eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (88,4 Prozent), 34 eine hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (2,9 Prozent) und 100 keine beruflichen Problemlagen (8,7 Prozent). Die bei Aufnahme arbeitslosen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren durchschnittlich 3,1 Jahre vor der Aufnahme ohne Arbeit. 230 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme unter 25 Jahre alt (19,9 Prozent). Davon waren 197 (85,7 Prozent) arbeitslos. Auch diese jüngeren Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme bereits durchschnittlich 2,1 Jahre ohne Arbeit.

    Arbeitsbezogene Basisfähigkeiten fördern

    Aus diesen Daten ergibt sich, dass die Klientel in der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger in der überwiegenden Mehrzahl besondere berufliche Problemlagen aufweist und lange dem Arbeitsleben entwöhnt ist oder u .U. auch noch nie gearbeitet hat. Den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden fehlen vielfach basale Grundarbeitsfähigkeiten.

    In einer Online-Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) aus dem Jahr 2013 unter mehr als 15.000 Betrieben gaben die Arbeitgeber Defizite bei Schulabgängerinnen und Schulabgängern in der Ausbildungsreife im Bereich arbeitsbezogener Basisfähigkeiten wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin an. Aus dem Alltag in unseren Einrichtungen wissen wir, dass ein großer Teil unserer Klientel exakt in diesen Bereichen ebenfalls deutliches Entwicklungspotential hat.

    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)
    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)

    Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konkurrieren die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern. Es liegt nahe, während der Rehabilitationsmaßnahme auch insbesondere auf diese Aspekte zu fokussieren und den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden die zentrale Wichtigkeit dieser Inhalte zu vermitteln.

    Die BORA-Empfehlungen

    Die nun vorliegenden Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14.11.2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA), bieten eine fundierte Grundlage, um die arbeitsbezogenen Teilhabechancen der drogenabhängigen Klientel zu verbessern. Die Arbeitsgruppe hat durch ihre Zusammensetzung aus Vertreterinnen und Vertretern der Rentenversicherung wie auch von Suchtverbänden die Anforderungen der Rentenversicherung mit den Erfahrungen der Praktiker in einem schlüssigen Konzept vereint. Kern dieses Konzeptes ist, dass auf der Grundlage eines Befundes oder einer Ausgangssituation arbeitsbezogene Ziele formuliert und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vereinbart werden. Nach einem anfangs definierten Zeitraum wird die Zielerreichung überprüft, und es werden entweder neue Ziele formuliert oder die Maßnahmen angepasst, falls die Ziele nicht erreicht wurden.

    Neben der ausbildungs- und arbeitsbezogenen Anamnese gehört ein Instrument wie das Würzburger Screening zur Erhebung der Ausgangssituation. Ähnlich der Kategorisierung der beruflichen Problemlagen im Würzburger Screening (drei Kategorien, s. o.) schlägt das BORA-Konzept die Einteilung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in fünf Gruppen vor, aus denen sich dann differenzierte Maßnahmen ableiten lassen.

    Fähigkeitsprofil und Anforderungsprofil

    In den ersten Wochen des Aufenthaltes wird durch Verhaltensbeobachtung in den angebotenen Arbeitsbereichen ein Fähigkeitsprofil erarbeitet und mit dem Anforderungsprofil einer angestrebten Tätigkeit oder des allgemeinen Arbeitsmarktes abgeglichen. Dabei sollte  der Fokus u. a. auch auf die von den Arbeitgebern favorisierten Merkmale wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin gelegt werden. Auf dieser Grundlage werden dann Ziele mit den Betroffenen vereinbart, die sich einerseits auf Verbesserungen in den arbeitsbezogenen Basisfähigkeiten und andererseits auf die nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme angestrebte Tätigkeit beziehen. Zur Zielerreichung werden mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bestimmte Maßnahmen vereinbart, und es wird ein Zeitpunkt festgelegt, zu dem überprüft wird, ob die Ziele erreicht wurden. Maßnahmen zur  Zielerreichung können sein:

    • interne und externe Arbeitserprobung (Training),
    • Festlegung eines Trainingsbereiches,
    • Inhalte des arbeitsbezogenen Trainings,
    • Besuch von arbeitsbezogenen Indikativgruppen,
    • PC-Schulung,
    • Bewerbungstraining,
    • Sozialberatung,
    • Vorstellung im Berufsförderungswerk.

    Dieses in den BORA-Empfehlungen vorgeschlagene Vorgehen macht den Prozess der arbeitsbezogenen Zielformulierung und Maßnahmenfestlegung für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparent und nachvollziehbar.

    In dem Konzept werden noch weitere diagnostische Instrumente (Assessments und zusätzliche Module) vorgeschlagen, die in Einrichtungen zum Teil schon Anwendung finden und auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.

    Interne Trainingsfelder

    Wie oben schon betont, wird es bei den meisten drogenabhängigen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wegen der relativen Arbeitsmarktferne im Wesentlichen um das Training von arbeitsbezogenen Grundfähigkeiten gehen. Diese lassen sich nicht theoretisch erlernen, sondern müssen im praktischen Tun trainiert werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders zu begrüßen, dass das BORA-Konzept als Trainingsfelder für die interne Belastungserprobung z. B. auch „Garten-, Renovierungs-, Küchen- und andere allgemeine Tätigkeiten“ nennt. Voraussetzung ist eine individuelle Indikationsstellung, d.h. es muss vor Beginn der Maßnahme in einem bestimmten Trainingsbereich festgelegt werden, welche Fähigkeiten mit welchem Ziel trainiert werden sollen.

    Unter dieser Voraussetzung ist sichergestellt, dass Einrichtungen sich nicht mehr der Kritik erwehren müssen, von den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden so genannte systemerhaltende Arbeiten durchführen zu lassen. Letztlich ging es den Leistungserbringern immer darum, den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden arbeitsbezogene Grundfertigkeiten anzutrainieren. Durch das jetzt im Konzept beschriebene indikationsgeleitete strukturierte Vorgehen eröffnet sich wieder die Chance, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Arbeitsbereichen zu trainieren, aus denen sie zum Teil vorübergehend ausgeschlossen waren (z. B. Küche und Renovierungsarbeiten).

    Anpassung der Personalausstattung

    Auch wenn die Einführung von BORA sehr begrüßenswert ist, so stehen die beschriebenen erhöhten Anforderungen in krassem Gegensatz zu der Personalausstattung, die in den Strukturanforderungen 2014 beschrieben ist. Wenn über 80 Prozent der Klientel eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen aufweisen und entsprechend in die BORA-Gruppen 3 und 4 mit den höchsten Unterstützungsbedarfen einzuordnen sind und gleichzeitig mit dem BORA-Konzept die besondere Wichtigkeit der Fokussierung auf arbeitsbezogene Maßnahmen festgeschrieben wird, dann muss der Bereich Arbeits- und Ergotherapie auch entsprechend personell ausgestattet sein. Mit nur 4,5 Stellen im Bereich Ergo-, Beschäftigungs- und Kreativtherapie auf 100 Betten (s. Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung 2014) ist die Umsetzung eines solchen Konzeptes unrealistisch.

    Kontakt:

    Andreas Reimer
    Deutscher Orden Ordenswerke
    Geschäftsbereich Suchthilfe
    Klosterweg 1
    83629 Weyarn
    andreas.reimer@deutscher-orden.de
    www.deutschordenswerke.de

    Angaben zum Autor:

    Andreas Reimer ist leitender Arzt im Geschäftsbereich Suchthilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, und Mitherausgeber von KONTUREN online.