Schlagwort: Substitution

  • Substitution und medizinische Reha

    Substitution und medizinische Reha

    Thomas Hempel

    Die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger ist eine hochwirksame, etablierte und gut evaluierte medikamentöse Standardbehandlung in der Suchtmedizin. Besonders im Zusammenspiel mit einer suffizienten psychosozialen Betreuung (PSB) stellt sie eine wichtige, auf allen Ebenen der ICF wirksame Behandlungsmethode für opiatabhängige Menschen dar. Diese multiprofessionelle Behandlung sollte, wenn möglich, in eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) münden. Das Setting der medizinischen Rehabilitation bietet optimale Kontextfaktoren für die Behandlung komplexer Abhängigkeitserkrankungen und der häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen, psychosomatischen und somatischen Erkrankungen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass rehabilitative Behandlungen unter Substitution grundsätzlich möglich sind! Die Substitutionsbehandlungen in der Reha sollten auf die individuellen Bedarfe und auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Rehabilitand:innen ausgerichtet sein. Ein Zwang zur Abdosierung sollte nicht mehr gefordert werden.

    Ausgangslage

    Diese Erkenntnisse schlagen sich aktuell in der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger nieder. Die Entwicklung dieser Leitlinie stellt einen wichtigen Schritt dahingehend dar, dass die substitutionsgestützte Behandlung zunehmend als gängige und normale Behandlungsmethode wahrgenommen wird. Die Bewertung der Wirksamkeit der Substitutionsbehandlung wurde in den letzten Jahrzehnten oft durch ideologisch geprägte Sichtweisen bestimmt. Dies ist auch heute noch häufig der Fall. Die vertretenen Positionen liegen weit auseinander, dazu gehören zum Beispiel: „Ich bin doch nicht der Dealer meiner Patient:innen“, „Nur die abstinente Lebensführung führt zur Linderung der Sucht“, „Reha ist nur unter abstinenten Bedingungen erfolgreich“, „Abdosierung gleich Tod des Substituierten“, „Substitutionsbehandlung ist der Goldstandard in der Behandlung von Opiatabhängigen“ etc.

    Diese Ideologisierung führte zu Schnittstellenproblemen und Behandlungshemmnissen, die die multiprofessionelle und multifaktorielle Planung und Durchführung einer auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Betroffenen abzielende Behandlung erheblich erschweren.

    Eine schwierige Schnittstelle ist z. B. der Zugang für Substituierten in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Die Schwierigkeiten liegen unter anderem darin begründet, dass ein Großteil der niedergelassenen substituierenden Ärzt:innen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker skeptisch gegenübersteht. Sie gehen davon aus, dass es nur wenige Fachkliniken gibt, die Substituierte behandeln, und dass in der Rehabilitation zwangsläufig eine Abdosierung der Substitutionsmedikation erfolgt, die dann mit einer erheblichen Gefährdung ihrer Patient:innen einhergehen würde. Diese Annahmen finden sich auch bei vielen Zuweisenden, insbesondere aus dem niedrigschwelligen und akzeptierenden Bereich.

    Aber auch, wenn eine Reha angestrebt und beantragt wird, entstehen häufig Probleme, da die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker nur bedingt bekannt sind. Das Bild der medizinischen Rehabilitation ist häufig noch von der Vorstellung einer „therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt. Die Vorstellung, dass ein wesentliches Behandlungsziel der Rehabilitation die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ist, ist vielen der substituierenden Ärzt:innen und Zuweisenden eher fremd, da Substitutionsbehandlungen primär als Hilfe zum Überleben und unter Harm Reduktion-Aspekten betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund werden häufig medizinische Rehabilitationen für Menschen beantragt, die noch nicht rehabilitationsfähig sind und eigentlich erst einmal z. B. im BTHG-Bereich betreut werden müssten. Es werden medizinische Rehabilitationen für Patient:innen beantragt, die noch nicht über die notwendige Mitwirkungsfähigkeit verfügen und in der Folge an den Anforderungen der Rehabilitationsbehandlung scheitern. Dieses Muster führte dazu, dass sowohl bei den zuständigen Leitungsträgern als auch bei Leistungserbringern der Reha ein negatives Bild der substituierten Rehabilitand:innen tradiert und Substitution während der Reha sehr kritisch gesehen wurde. In Anlage 4 zur „Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen“ von GKV und DRV wurde z. B. formuliert, dass während der Rehabilitation eine Abdosierung zu erfolgen hat.

    bus.-Umfrage: „Substitution in der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen“

    Vor dem Hintergrund der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger, der oben beispielhaft skizierten Problemlagen und der Zunahme der Anfragen bezüglich einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker unter Substitutionsbehandlung sowie mit dem Wissen um die dynamische Entwicklung im Bereich dieses Behandlungsangebotes führte der bus. im September 2021 eine Online-Abfrage unter seinen Mitgliedseinrichtungen durch. Gefragt wurde, welche ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe Substitution während der Rehabilitation anbieten und unter welchen Bedingungen dies geschieht (z. B. mit oder ohne Zwang zur Abdosierung, mit welchem Substitutionsmedikament etc.).

    Umfang des Angebots

    Es haben 66 Einrichtungen unterschiedlicher Einrichtungstypen an der Umfrage teilgenommen: Fachkliniken für Alkohol und Medikamente, Drogenfachkliniken, Adaptionen, Tageskliniken und Beratungsstellen. Von insgesamt 3.454 angegebenen Behandlungsplätzen entfallen 301 Plätze auf Substitution. Die Verteilung der Behandlungsplätze ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Jedem Behandlungsplatz für Substitution stehen auf Bundesebene rund 11 Behandlungsplätze für die reguläre Behandlung von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung gegenüber. Die größte Dichte an Behandlungsplätzen für Substitution hat Berlin mit 1:2, gefolgt von Rheinland-Pfalz mit 1:3 Behandlungsplätzen. Schleswig-Holstein bietet 1:6 Behandlungsplätze. Die wenigsten Behandlungsplätze für Substitution (relativ zur Gesamtzahl an Behandlungsplätzen) weisen Baden-Württemberg (1:23) und Nordrhein-Westfalen (1:20) auf.

    Überraschend war die hohe Zahl der teilnehmenden Einrichtungen. Diese hohe Zahl lässt die Interpretation zu, dass das Thema „Substitution und Rehabilitation“ eine hohe Aufmerksamkeit erzeugt und viele Einrichtungen sich diesem Behandlungsangebot zugewandt haben.

    Abdosieren oder Weiterführen der Substitution

    Interessant ist, dass 45,5 Prozent der an der Umfrage beteiligten Einrichtungen medizinische Rehabilitation und Substitution anbieten. 26 dieser 30 Einrichtungen führen keine Abdosierung während der Rehabilitation durch (86,7 Prozent). Lediglich drei Einrichtungen dosieren grundsätzlich während der stationären Behandlung ab.

    Diese Ergebnisse können als überraschend positiv bewertet werden, da es deutlich mehr Behandlungsmöglichkeiten für Substituierte gibt als erwartet. Kritisch anzumerken ist die ungleiche Verteilung der Behandlungsangebote auf die zuständigen DRVen und Bundesländer. Hier zeigt sich ein deutliches Missverhältnis.

    Substitutionsmedikamente

    Ein heterogenes Bild zeigt sich bei den eingesetzten Substitutionsmedikamenten. Dies mag zum einen an den persönlichen Erfahrungen in der Substitutionsbehandlung der zuständigen leitenden Ärzt:innen liegen. Zum anderen zeichnet sich auch eine Individualisierung der medikamentösen Behandlung ab. Dies steht mit Sicherheit auch damit im Zusammenhang, dass in den letzten Jahren weitere Medikamente für die Substitutionsbehandlung zugelassen wurden.

    Ausblick

    Zusammenfassend kann man feststellen, dass die medizinische Rehabilitation die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger als eine wichtige und normale suchtmedizinische Behandlungsmethode wahrnimmt. Es sind in den letzten Jahren mehr Behandlungsangebote entstanden und individualisiert worden.  Diese positive Entwicklung gilt es zu verstetigen. Insbesondere sollte diese Entwicklung bei den Zuweisenden und den substituierenden Ärzt:innen bekannt gemacht werden.

    Kontakt:

    Thomas Hempel
    Therapiehilfe gGmbH
    Geschäftsstelle Hamburg
    Thomas-Hempel(at)therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Thomas Hempel gehört zur Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH und ist Ärztlicher Gesamtleiter des Therapiehilfeverbundes. Er ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Suchthilfe e. V.

  • Die Checkpoint-S-App für Menschen in Substitutionsbehandlung

    Die Checkpoint-S-App für Menschen in Substitutionsbehandlung

    Scarlett Wiewald
    Prof. Dr. Gundula Barsch
    Dr. Lars George-Gaentzsch

    Checkpoint-S ist der Name einer Smartphone-App für Android-Betriebssysteme, die sich in erster Linie an die etwa 81.300 Menschen in substitutionsgestützter Behandlung in Deutschland (vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2021) sowie an deren Behandler*innen – sprich Substitutionsärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Sozialarbeiter*innen – richtet. Die Substitution einer Opiatabhängigkeit geht mit komplexen und vielfältigen Anforderungen an beide Seiten einher. Als sozial vulnerable Patient*innengruppe benötigen Substituierte vielseitige Hilfe und Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung. Mit der Checkpoint-S-App möchte ihnen das Team der Forscher- und Entwickler*innen ein Tool zur Seite stellen, das sie bei ihrer häufig lebenslangen Therapie begleitet und dazu beiträgt, ihren bio-psycho-sozialen Status zu stabilisieren und ihre Lebensqualität zu verbessern. Die App setzt dabei genau dort an, wo die Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten durch Behandler*innen aufhören: im Alltag der Patient*innen.

    Das Forschungsprojekt Checkpoint-S

    Entwickelt wird die Checkpoint-S-App im Rahmen eines gleichnamigen Forschungsprojekts an der Hochschule Merseburg, das seit 2019 für drei Jahre durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Die Ergebnisse unterschiedlicher empirischer Erhebungen unter substituierten Menschen und Behandler*innen werden als Bestandteil einer iterativen und agilen App-Programmierung direkt in Funktion und Design der App übersetzt. Auf diesem Wege entsteht schrittweise ein Tool, das direkt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten ist. Der Kerngedanke dabei ist: Je dichter Gestaltung und Funktionalität der App an der Lebensrealität der Adressat*innen orientiert sind, desto besser ist die Gebrauchstauglichkeit (usability) und das Nutzungserlebnis (user experience). Kooperationspartner*innen in Halle (Saale) und Berlin stehen dem Projekt mit ihrem Fach- und Praxiswissen beratend zur Seite. Alle eint die Idee, Checkpoint-S zu einem sinnvollen, therapiebegleitenden Hilfsmittel der Substitutionsbehandlung werden zu lassen.

    Die App in ihrer bisherigen Entwicklungsstufe räumt auch Menschen unabhängig von einer Substitutionsbehandlung Nutzungsmöglichkeiten ein. So bietet sie Drogengebraucher*innen und suchtkranken Menschen allgemein die Möglichkeit, bestimmte Aspekte ihres Alltags zu dokumentieren, um auf diesem Weg persönlichen Konsummustern auf die Spur zu kommen: Wie sehen die emotionalen und physischen Auswirkungen des Konsums aus? Was sind die individuellen Auslöser für den Konsum (Trigger)? 

    Abb. 1

    Die Checkpoint-S-App macht sich das Prinzip des so genannten Self-Trackings zunutze. Gemeint ist damit die freiwillige Erfassung von Aspekten des eigenen Körpers, des Verhaltens, der Emotion sowie der Kognition und ihres Verhältnisses zur physiologischen Umwelt (Aufenthaltsorte, Uhrzeiten, Wetterbedingungen u.v.m.) mittels technischer Gerätschaften. Ziel ist, Erkenntnisse über diese Aspekte zu gewinnen und ein entsprechendes Selbstwissen aufzubauen. Die so gewonnenen Einsichten können Ausgangspunkt für eine gezielte Gestaltung von Veränderungsprozessen werden (George-Gaentzsch 2021).

    Die Checkpoint-S-App setzt dieses Prinzip in Form unterschiedlicher digitaler Tagebücher um. Die aktuelle Version 6.3, die bereits im Google-Play-Store zum Download verfügbar ist, bietet die folgenden Funktionen (s. Abb. 1):

    1. Substitutionstagebuch zur Dokumentation der täglichen Einnahme des Substitutionsmittels in Bezug auf Dosis und Zeitpunkt. Zudem kann ein persönlicher Substitutionsplan in der App eingerichtet werden, wodurch eine reguläre Einnahme zukünftig nur noch bestätigt werden muss. Auch irreguläre Einnahmen lassen sich problemlos festhalten. In der zugehörigen Datenbank sind alle aktuell auf dem deutschen Markt erhältlichen Substitutionsmittel inklusive Depotmedikationen enthalten. Die App erinnert an die nächste Dosis, was insbesondere für Take-Home-Patient*innen sowie für Patient*innen, die Depotsubstitute erhalten, wichtig ist.
    2. Abb. 2

      Befinden-Tagebuch: In diesem Bereich können Patient*innen täglich ihr körperliches und emotionales Befinden beurteilen (Toll, Gut, Geht so, Mies) und festhalten, welche Gründe ihr aktuelles Befinden beeinflussen. Die Liste der Gründe kann durch den/die Nutzer*in selbstständig erweitert und um eigene Gründe ergänzt werden. Auf diesem Weg ist es möglich, die App zu individualisieren.

    3. Konsumdruck-Tagebuch: Hier lässt sich regelmäßig erfassen, wie stark oder schwach das Craving, d. h. das Bedürfnis, Drogen zu konsumieren, zum jeweiligen Zeitpunkt ist. Auch hier lassen sich Bewertungen in Bezug auf das Vorhandensein von Konsumdruck dokumentieren und individuelle Gründe dafür angeben (s. Abb. 2).
    4. Konsum-Tagebuch: Konsumieren Patient*innen während der Substitutionstherapie gelegentlich oder regelmäßig legale oder illegale Substanzen, kann das in diesem Bereich notiert werden. Das Konsum-Tagebuch erlaubt auch, Verhaltenssüchte wie Glückspiel, Kaufen oder Essen zu protokollieren. Da hier auch eigene ‚Substanzen‘ angelegt werden können, lässt sich das Konsum-Tagebuch nutzen, um die Einnahme verschriebener Medikamente wie etwa Schmerzmittel, Magen-Darm-Medikamente oder Psychopharmaka hinsichtlich Dosis und Zeitpunkt festzuhalten.
    5. Abb. 3

      Ziele-Tagebuch: Persönliche Ziele wie regelmäßig essen, Sport treiben oder spazieren gehen können in diesem Bereich definiert und die Umsetzung überwacht werden. Bei diesen Zielen kann es sich um eigene Vorhaben handeln oder auch um Ziele, die im Rahmen der Substitution, der Psychotherapie oder der psychosozialen Betreuung definiert wurden.

    6. Export- und Backup-Funktion: Die App verfügt schließlich über eine Exportfunktion, sodass Patient*innen ihre Daten ihren Behandler*innen zugänglich machen können. Ob die Daten geteilt werden oder nicht, ist allein den Patient*innen überlassen; ohne deren aktives Tun verbleiben die Daten auf dem persönlichen Handy und sind von Dritten nicht abrufbar. Auf der Projekt-Webseite https://checkpoint-s.de/ wird ein spezielles Excel-Sheet zum Download angeboten, das es ermöglicht, die exportierten Daten auf einfache Weise zu visualisieren und miteinander in Verbindung zu setzen. Wichtig wird, dass die App über eine Backup-Funktion verfügt, die es Nutzer*innen erlaubt, ihre Daten zu sichern.

    Die einzelnen Tagebucheinträge und ausstehenden Ereignisse werden in der App in einer komfortablen Kalenderansicht dargestellt (s. Abb. 3). Eingegebene Daten lassen sich als Diagramme visualisieren, wodurch zeitliche Verläufe erkennbar werden. Zusätzliche Kreisdiagramme informieren über Verhältnismäßigkeiten, etwa welches die häufigsten dokumentierten Gründe für ein „mieses“ Befinden sind. Die Visualisierungen sollen den Nutzer*innen ermöglichen, einfacher persönliche Einsichten über sich und ihre Erkrankung zu gewinnen und ggf. eigene Problembewältigungsstrategien zu entwickeln (s. Abb. 4).

    Abb. 4

    Zurzeit arbeitet das Projektteam an der Entwicklung und Implementierung einer Erinnerungsfunktionalität. Mittels selbstgesetzter Reminder können Nutzer*innen sich etwa daran erinnern lassen, regelmäßige Eintragungen in den Tagebüchern zu tätigen, oder sie können sich bestimmte alltägliche Zielvorgaben, wie beispielsweise regelmäßig zu essen, ins Gedächtnis rufen.

    Die Vorteile der App für Patient*innen, Klient*innen und Behandler*innen

    Folgende Vorteile ergeben sich für Patient*innen durch die Nutzung der Checkpoint-S-App:

    1. Ermöglichen von Selbstreflexion, Selbstwissen und Selbstexpertisierung: Für Patient*innen bietet sich die Chance, sich selbstinitiiert und eigenmotiviert ein besseres Verständnis für den Behandlungsprozess im Sinne einer bio-psycho-sozialen Gesamtentwicklung erarbeiten zu können. Mit der selbstinitiierten Sammlung körperlicher und psychischer Daten soll zu einer regelmäßigen, aktiven und bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, dem Verhalten und dem psychischen Befinden angeregt werden. Auf diesem Wege können Nutzer*innen ihre individuelle Erkrankung sowie positive und negative Einflussfaktoren auf die persönliche Entwicklung besser verstehen lernen. Dergestalt werden sie zu Expert*innen ihrer persönlichen Erkrankung sowie ihrer Bedürfnisse und Probleme.
    2. Steigerung der Eigenverantwortung und Patient*innen-Autonomie: Durch das Angebot der Reflexion und Dokumentation sollen Patient*innen motiviert und befähigt werden, sich als informierte Partner*innen in die Gestaltung der Behandlung und Betreuung einzubringen – ein Fakt, der gleichzeitig die therapeutischen Kriterien Compliance und Haltekraft stärkt.
    3. Kontinuierliche Unterstützung: Die App möchte Nutzer*innen zu einer konstanten Datensammlung und Auseinandersetzung mit den Daten bewegen – zukünftig sollen Push-Benachrichtigungen dieses Ziel unterstützen. Dies wiederum kann zu einem Impulsgeber für die Entwicklung von persönlichen Zielen sowie von Lösungsstrategien bei Suchtdruck, Konsum und anderen Krisensituationen werden.
    4. Informations- und Wissensvermittlung: Den Patient*innen soll in Form von gut recherchierten und fachlich geprüften Informationen und Tipps eine bedarfsgerechte, jederzeit verfügbare, kleinschrittige und individuelle Unterstützung in Alltag und Beruf geboten werden. Diese Informationsvermittlung erfolgt über den Bereich Wissenswelt auf der Projekt-Webseite. In diesem Sinne sind die App und die Webseite als eine Einheit zu verstehen.
    5. Inklusion: Mit den genannten Zielsetzungen lässt sich ein Stück Barrierefreiheit und Teilhabe für eine vulnerable und vielfach benachteiligte Patient*innengruppe schaffen, die ansonsten nicht nur vom digitalen Wandel im Gesundheitsbereich ausgeschlossen bliebe. Ihr Ausschluss aus diesen Entwicklungen würde auch zu einer weiteren sozialen Benachteiligung führen.

    Die App soll eine digitale Therapiebegleitung sein, die sowohl den Patient*innen als auch deren Behandler*innen zugutekommt. Die Vorteile, die die Checkpoint-S-App Substitutionsärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Sozialarbeiter*innen bieten kann, sind nach jetzigem Forschungsstand des Projekts:

    1. Vereinfachung von Diagnostik, Therapie und Beratung: Indem die Daten im Alltag der Patient*innen gesammelt und dokumentiert werden, erhalten Behandler*innen ein genaueres Bild von Symptomen und Alltagsproblemen. Wenngleich es sich hierbei nur um ‚weiche‘ – weil subjektiv gefärbte – Daten handelt, können diese doch wichtige Anhaltspunkte für die Therapieplanung liefern und auch dabei helfen, Erinnerungslücken auf Seiten der Patient*innen zu füllen.
    2. Individualisierung von Therapie und Beratung: Auf Basis der gesammelten Daten und der gemeinsamen Auswertung mit dem/der Patient*in kann es leichter möglich werden, Therapie und Beratung auf die jeweils individuellen Bedürfnisse zuzuschneiden und zielgerichteter zu planen – ein Fortschritt, der die Erfolgsaussichten deutlich verbessern kann.
    3. Arbeits- und Zeitersparnis: Aus einer zwar vereinfachten, aber umfassenderen Diagnostik, den erweiterten Individualisierungsmöglichkeiten und nicht zuletzt durch Befähigung und Stärkung der Patient*innen ergibt sich für deren Behandler*innen eine Ersparnis an Arbeit und Zeit.

    Anwendungsfelder der Checkpoint-S-App innerhalb und außerhalb der Substitution

    Ist ein/e Nutzer*in bereit, die Daten aus Checkpoint-S mit seinen/ihren Behandler*innen (Allgemeinmediziner*innen und Substitutionsärzt*innen, Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen oder Sozialarbeiter*innen) zu teilen, können beide Seiten profitieren. Hierdurch eröffnen sich Möglichkeiten, Therapie und Betreuung zu individualisieren, negativen Entwicklungen frühzeitig entgegenzuwirken sowie positive Tendenzen zu unterstützen. Die App ermöglicht, Therapie und Beratung im Sinne eines Shared-Decision-Making zu gestalten. Gestützt auf bisher vorliegende empirische Erkenntnisse lassen sich nachfolgende Anwendungsfelder der App innerhalb der Substitutionstherapie erkennen: 

    • Einstellung des Substituts, Dosissplitting und Abdosierung: Durch die regelmäßige Dokumentation der Einnahme des Substituts lässt sich erschließen, ob, wann und in welcher Dosis der/die Patient*in das verschriebene Substitut eingenommen hat. Wird parallel dazu das Konsumdruck-Tagebuch geführt, können Substitutionsärzt*innen die Daten nutzen, um zu überprüfen, ob ihr/e Patient*in richtig eingestellt ist. Werden zudem die Daten aus dem Befinden-Tagebuch einbezogen, lassen sich potenzielle Nebenwirkung und Unverträglichkeiten identifizieren. Auf diesem Wege ist es möglich, die Dosis des Substituts gezielt und individuell anzupassen oder zu entscheiden, ob vielleicht ein anderes Substitut besser geeignet sein könnte. Auch bei einem Dosissplitting von Take-Home-Patient*innen können die Wirksamkeit und Verträglichkeit der Einzeldosen geprüft und gezielt Anpassungen vorgenommen werden. Des Weiteren kann eine kontinuierliche Abdosierung des Substituts anhand der App-Daten systematisch begleitet und bei Problemen zeitnah gegensteuert werden.
    • Einstellung und Kontrolle weiterer Medikamente: Nimmt ein/e Patient*in regelmäßig weitere Medikamente (z. B. Schmerz-, Magen-Darm-Mittel oder Psychopharmaka), kann deren Einnahme mittels Konsum-Tagebuch dokumentiert und überprüft werden. In Kombination mit Daten aus dem Befinden-Tagebuch lassen sich Rückschlüsse in Bezug auf die korrekte Dosiseinstellung sowie auf mögliche unerwünschte körperliche oder psychische Nebenwirkungen ziehen. Werden innerhalb substitutionstherapeutischer Interventionen auch die Eintragungen im Substitutionstagebuch hinzugezogen, ist auf diesem Wege möglicherweise zu erkennen, ob es negative Wechselwirkungen zwischen Medikamenten und dem Substitut gibt. In der Folge können Dosierungen und Einnahmezeitpunkte angepasst oder es kann über einen Wechsel der Medikamente entschieden werden.
    • Dokumentation von Begleit- und Folgeerkrankungen: Die meisten Menschen in Substitutionsbehandlung haben einen multimorbiden Gesundheitszustand. Vor allem durch das Befinden-Tagebuch lassen sich Symptome – etwa chronische Schmerzen oder andere Beschwerden – sowie individuelle Krankheitsverläufe systematisch dokumentieren. Auf dieser Basis können therapeutische Ansätze und Medikamente angepasst werden.
    • Falldokumentation: Die exportierten Daten der Checkpoint-S-App lassen sich in den Excel-Sheets gemeinsam in einer Grafik visualisieren. Zusammenhänge sind so leichter erkennbar. Die Export-Datei kann deshalb auch ein wichtiges Hilfsmittel für die Falldokumentation der Behandler*innen sein, weil auf diese Weise Verläufe sowie Zeitpunkte und Erfolge von therapeutischen Interventionen genau nachvollzogen werden können.
    • Identifikation von Triggern und psychischen Leiden: Wird das Befinden-Tagebuch regelmäßig genutzt und werden für das jeweilige Befinden auch die Gründe notiert, lassen sich bestimmte Auslöser (Trigger) für positive oder negative Gefühlslagen identifizieren. Damit können Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen erkennen, welche Verhaltensweisen sich vorteilhaft auf therapeutische Ziele auswirken und an welchen gemeinsam gearbeitet werden sollte. Bei einer längerfristigen Nutzung lassen sich bestimmte Verhaltensmuster erkennen, die erlauben präventiv einzugreifen, um etwa das Aufkommen depressiver Phasen zu vermeiden.
    • Konsummuster erkennen und verändern: Eine klassische Aufgabe therapeutischer Interventionen und psychosozialer Betreuung ist, Konsummuster für legale und illegale Substanzen sowie Muster von Verhaltenssüchten zu erkennen. Wichtige Informationen dazu kann das Konsum-Tagebuch liefern. Werden der Konsum oder exzessive Verhaltensweisen hier regelmäßig festgehalten, lassen sich solche Muster schnell erkennen. Kombiniert man diese Daten mit denen aus dem Befinden-Tagebuch, ergibt sich ein dezidiertes Bild über mögliche Auslöser und Kompensationsstrategien.
    • Problemfelder erkennen und Ressourcen aufbauen: Führt ein/e Nutzer*in neben dem Substitutionstagebuch auch regelmäßig das Befinden-Tagebuch, das Konsumdruck-Tagebuch und das Konsum-Tagebuch, ergibt sich ein komplexes Bild über wiederkehrende problematische Zusammenhänge. Beispielsweise wird so ersichtlich, ob der Aufenthalt an bestimmten Orten einen hohen Konsumdruck oder der Kontakt mit bestimmten Personen eine Stressreaktion auslöst. Auf Basis dieses Wissens können Behandler*in und Patient*in gemeinsam Problemlösungsstrategien erarbeiten, wie sich diese Risikosituationen zukünftig vermeiden lassen.
    • Ziele vereinbaren und verfolgen: Mit dem Ziele-Tagebuch der Checkpoint-S-App können etwa im Rahmen der psychosozialen Betreuung unterschiedlichste Ziele bestimmt und deren Umsetzung im Alltag verfolgt werden. So könnten bei einem Wunsch nach Konsumreduktion beispielsweise konsumfreie Tage oder wöchentlich wiederkehrende Routinen definiert werden. Beim nächsten Termin mit dem/der Klient*in ließe sich anhand der Daten gemeinsam besprechen, inwieweit Ziele umgesetzt werden konnten oder wo es Probleme gab.

    Die Anwendungsfelder der Checkpoint-S-App sind nicht auf Substitution beschränkt. Es lassen sich schon jetzt einige Off-Label-Uses im Kontext unterschiedlicher Formen von Sucht- sowie chronischer Erkrankungen erkennen. So ist Checkpoint-S auch für die Dokumentation bestimmter Verhaltenssüchte wie Glückspiel, Videospielen, Kaufen oder Essen geeignet. Außerdem kann die App im privaten Bereich eingesetzt werden. Dies betrifft den so genannten Party- und Freizeitkonsum legaler und illegaler Drogen, den Substanzgebrauch zur Leistungssteigerung in Schule, Universität und Beruf oder aber den Gebrauch bestimmter Substanzen als eine Form der Selbstmedikation bei physischen oder psychischen Leiden. Weitere Nutzungsszenarien der Checkpoint-S-App werden die Ergebnisse des Praxistests aufdecken, der im Juli 2021 beendet wurde.

    Fazit

    Die Checkpoint-S-App bietet für Menschen in Substitution die Möglichkeit, sich selbst, ihre individuelle Erkrankung und ihre speziellen Problemfelder und Bedürfnisse besser zu verstehen. Auf diesem Wege können sich motivierte und emanzipierte Patient*innen aktiv in die Gestaltung von Therapie und psychosozialer Betreuung einbringen. Sind Nutzer*innen bereit, die Daten mit ihren Behandler*innen zu teilen, können auch diese auf vielfältige Art und Weise einen Nutzen aus der App ziehen. Die App kann so ein wichtiges Tool der Therapiebegleitung und der Therapievorbereitung bzw. der Überbrückung bis zum Therapiebeginn sein. Sie kann genutzt werden, um bis zum Freiwerden eines Therapieplatzes bereits relevante Informationen zu sammeln, den/die Patient*in zur Selbstreflexion anzuregen oder bestimmte Ziele zu verfolgen.

    Zusätzlich zu allen genannten Vorteilen hat die aktuelle Corona-Krise die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Entwicklung kontaktarmer, mobiler Formen der Therapiebegleitung verdeutlicht. Insbesondere für Risikogruppen wie ältere, komorbide und/oder chronisch kranke Patient*innen werden derartige digitale Ansätze zukünftig wichtig werden. Die Checkpoint-S-App kann bereits heute dazu beitragen, für substituierte Menschen lebensbedrohliche Versorgungs- und Therapieabbrüche in Folge von Kontaktbeschränkungen, Praxisschließungen oder persönlichem Quarantänefall etwas zu kompensieren. Positiv gewendet sind die mit Corona verbundenen Entwicklungen auch ein Schritt zu mehr Normalität für Substitutionspatient*innen, die bisher stark geregelten und kleinteilig kontrollierenden Behandlungsroutinen ausgesetzt sind.

    Unabhängig von einer Substitutionsbehandlung bietet Checkpoint-S ein breites Anwendungspotenzial auch für Psychotherapie oder Beratungen. Weitere Anwendungskontexte der Checkpoint-S-App sehen die Forscher*innen auch in der Allgemeinmedizin. Nach Auswertung des Praxistests werden sie dazu berichten.

    Kontakt:

    Dr. Lars George-Gaentzsch
    CheckPoint-S Projektteam
    Hochschule Merseburg, University of Applied Sciences
    Eberhard-Leibnitz-Straße 2
    06217 Merseburg
    checkpoint-s@hs-merseburg.de
    www.checkpoint-s.de

    Angaben zu den Autor*innen:

    Dr. phil. Lars George-Gaentzsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Checkpoint-S und kümmert sich im Wesentlichen um die Konzeption des Forschungsdesigns, die Durchführung und Auswertung der empirischen Erhebung sowie die theoretische Übersetzung der Forschungsergebnisse in Design und Funktionen der Checkpoint-S-App.
    Prof. Dr. habil. Gundula Barsch ist Projektleiterin und Impulsgeberin des Forschungsprojekts. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Dozentin und Forscherin an der Hochschule Merseburg im Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. Kultur. Ihr thematischer Schwerpunkt liegt im Bereich „Drogen und Soziale Arbeit“.
    Dipl.-Soz.päd. Scarlett Wiewald ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt und Dozentin an der Hochschule Merseburg. Neben der praktischen Konzeption der Inhalte und des Designs der App gemeinsam mit den Software-Entwicklern pflegt sie die Kontakte zu den Behandler*innen und Patient*innen und managt den Transfer der App in die Praxis.

    Literatur:
  • Substitutionsbehandlung während der Corona-Pandemie

    Substitutionsbehandlung während der Corona-Pandemie

    Antje Matthiesen

    Im Januar 2020 tauchten erste Nachrichten über eine unbekannte, leicht übertragbare, mit schweren Krankheitsverläufen einhergehende Infektionskrankheit auf. Dies sorgte für Aufregung, auch unter suchterkrankten Menschen und denen, die mit und für sie arbeiten. Die Sorge, dass sich schnell Infektionsketten unter dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe ausbreiten würden, einhergehend mit der Sorge, dass mit einer Vielzahl an möglichen Todesfällen zu rechnen sei aufgrund der gesundheitlich z. T. stark vorbelasteten Personen, war nicht nur bei uns im Träger spürbar. Zudem wurde ein Ansturm auf die Einrichtungen erwartet, bedingt durch den befürchteten Zusammenbruch des Drogenmarktes sowie infektionsbedingte Schließungen von Substitutionspraxen. Gerade die großen Substitutionspraxen wurden als potentielle Zentren für die Verbreitung von SARS-CoV-2 unter dem Personal und den Patient*innen eingeschätzt – besonders unter dem Aspekt der täglichen Vergabe des Substituts unter Sicht.

    Kurze Vorstellung des Trägers Notdienst Berlin e.V.

    Eine jahrelange Suchtmittelabhängigkeit führt häufig zu gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Problemen wie Schulden, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit sowie gesellschaftlicher Isolation. Die Teilhabe ist deutlich eingeschränkt. Daher bietet der Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V. eine Kombination aus verschiedenen aufeinander abgestimmten Hilfen für die Betroffenen, um eine sinnvolle und nachhaltige Perspektive zu eröffnen. Wir informieren, beraten, betreuen und begleiten Menschen und vermitteln sie bei Bedarf in weiterführende Hilfen. Die Vermittlung in weiterführende Hilfen gelang jedoch unter Pandemiebedingungen kaum, da Einrichtungen geschlossen oder anderweitig genutzt wurden.

    Grundsätzlich unterstützen wir bei der gesellschaftlichen Re-Integration, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Entwicklung einer sinnstiftenden Tagesstruktur und Aufgabe. Unsere Schwerpunkte liegen in den Bereichen:

    • Beratung/ambulante Rehabilitation
    • Substitution (Psychosoziale Betreuung und Betreutes Wohnen)
    • Beschäftigung, Qualifizierung, Tagesstruktur
    • Angebote nur für Frauen
    • Angebote für Familien
    Psychosoziale Betreuung für Substituierte am Standort Genthiner Straße in Berlin

    Einen besonderen Ansatz verfolgen wir in unseren vier Ambulanzen für integrierte Drogenhilfe, A.I.D. Dies bedeutet: konzeptionell eng verzahnte und interdisziplinäre Zusammenarbeit von Medizin und Sozialarbeit unter einem Dach für die Zielgruppe opioidabhängige Menschen. In diesen Schwerpunktpraxen werden jeweils zwischen 220 bis 330 Patient*innen mit Ersatzstoffen medizinisch behandelt und begleitend psychosozial betreut. Diese Einrichtungen bieten vor allem den schwerstabhängigen, so genannten Nicht-Wartezimmer-fähigen Patient*innen ein auf ihre Bedürfnisse spezialisiertes und eng verknüpftes Angebot. Im Mai 2020 eröffneten wir, mitten in der ersten Corona-Welle, in Lichtenberg unseren vierten Berliner Ambulanzstandort – in Zusammenarbeit mit dem Praxiskombinat Neubau, in dem auch mit dem Originalersatzstoff Diamorphin behandelt wird.

    Corona – die neue Situation

    Nicht nur die bereits erwähnten Ängste vor Praxisschließungen und Ansteckung vor Ort beschäftigten Mitarbeiter*innen und Patient*innen. Auch der Weg zur Substitutionspraxis wurde nun zu einem unkalkulierbaren Ansteckungsrisiko. Die Bitte der Regierung an die Bevölkerung, möglichst zuhause zu bleiben, verschärfte die Problematik und war für diesen Personenkreis kaum umsetzbar.

    Zusätzlich strömten täglich neue Drogenabhängige in die Praxen, die aus Angst vor einem zusammenbrechenden Drogenschwarzmarkt in die Substitution aufgenommen werden wollten. Diese eigentlich positive Entwicklung stellte sich schon bald als temporär heraus, da viele dieser Neu-Patient*innen die Praxis schnell wieder verließen. Dies führte zu einem erheblichen Mehraufwand bei Praxispersonal und PSB-Mitarbeiter*innen.

    Auch fehlende Vermittlungsoptionen durch geschlossene, reduziert besetzte oder anderweitig genutzte Behörden, Einrichtungen und/oder Kliniken prägten den Arbeitsalltag. Stationäre Behandlungsplätze (Entgiftungsbehandlung, Entwöhnungs-, aber auch Schmerztherapie) waren nur noch schwer, wenn überhaupt, verfügbar.

    Mit dem Infektionsschutzgesetz, den SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen, den Corona-Beschlüssen des Landes Berlin sowie der Eingliederungshilfe-Covid-19-Verordnung wurden schnell die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst, vorgegeben und fortlaufend aktualisiert. Hier galt es, pragmatisch zwischen Sicherstellung der Versorgung und Infektionsschutz abzuwägen. Dazu gehörte auch, soweit möglich und vertretbar, die Menschen nicht in die Praxen/Einrichtungen kommen zu lassen und die dafür zur Verfügung stehenden neuen Möglichkeiten der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) und der Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger (BÄK-Richtlinie) vollumfänglich zu nutzen. Obwohl bereits 2017 Neuregelungen getroffen worden waren, wurden diese vor der Pandemie eher zaghaft genutzt.

    Neue Vorkehrungen und Arbeitsweisen

    Masken und Desinfektionsmittel für die Klient*innen

    Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung für die Patient*innen/Klient*innen war für uns selbstverständlich und ist zudem ein expliziter Auftrag. Die zur Aufrechterhaltung der Angebote notwendigen Veränderungen mussten schnell umgesetzt werden, dazu gehörten:

    • Einlassmanagement in den Praxen/Einrichtungen
    • „Sicherung der Einrichtungen“ mit individuell angepassten Hygienekonzepten
    • verstärkte Nutzung der Take-Home-Regelungen
    • Überprüfung und – wo möglich – Anpassung der Rahmenbedingungen der Behandlung/Betreuung
    • noch engere Abstimmung zwischen Medizin und PSB
    • Umgang mit dem anfänglichen „Sturm“ in die Behandlung
    • Nutzung digitaler Medien wie Messenger, SMS, Chatberatung, Videokonferenzen
    • Etablierung neuer Angebote wie „Fenstern“ oder „Walk to talk“
    • Aufklärung und Durchführung von Testangeboten (ab 12/2020)
    • Aufklärung und Vermittlung in Impfangebote (ab 03/2021)

    Schnell etablierten sich auch bei uns im Träger neue Methoden des miteinander Arbeitens, besonders die „Vikos“. Videokonferenzen wurden das neue Kommunikationsinstrument im Träger sowie darüber hinaus. Die dafür notwendigen technischen Ausstattungsgegenstände wie Laptops und Smartphones wurden auf schnellem Wege angeschafft. Das Schulen der Mitarbeiter*innen gelang meist im üblichen „Do it yourself“-Verfahren – nicht immer reibungslos, aber letztlich mit dem gewünschten Ergebnis.

    Auswirkungen für die Substitutionspatient*innen

    Die SARS-CoV-2-Pandemie wurde für die Substitutionspatient*innen nicht zur anfänglich erwarteten Katastrophe. Ob das an dem eher jüngeren Alter, dem nur selten vorhandenen Übergewicht oder der eventuell präventiven Wirkung der Substitutionsmedikamente liegt, ist bislang unklar. Die klassischen Superspreader Events wie Kreuzfahrten, Skitouren oder Abibälle gehören zudem weniger zum bevorzugten Freizeitverhalten dieser Bevölkerungsgruppe, und die soziale Distanz haben viele auch schon vor der Pandemie verinnerlicht.

    Positiv, vor allem für die medizinische Behandlung, waren die 2017 angepassten gesetzlichen Neuregelungen der BtMVV sowie der ärztlichen Richtlinien, die eine gute Grundlage für die Anpassungen in der Pandemiezeit darstellten. Dazu gehörten der Aufruf zur konsequenten Nutzung der erweiterten Take-Home-Regelungen, die Möglichkeit der Abrechnung von mehr Gesprächen (auch telefonischer und/oder digitaler Art) oder der Postversand von BtM-Rezepten (amtliche Formblätter zur Verschreibung von Betäubungsmitteln). Einige Praxen erweiterten ihre Öffnungszeiten und/oder sorgten durch ein Einlassmanagement für Entzerrung der Patient*innenströme, was sicherlich half, einen Massenausbruch von Covid-19-Infektionen in den Praxen und damit einhergehende Schließungen zu verhindern.

    Die Ausweitung der Take-Home-Regelungen und die dafür an vielen Stellen von Patient*innen, PSB und Ärztin/Arzt gemeinsam vorgenommene Einschätzung der jeweiligen Möglichkeiten sorgte für eine neue positive Bewertung dieses Behandlungsdreiecks. Aufklärung über die aktuelle Pandemieentwicklung, Hygienemaßnahmen, Infektionsgefahren sowie die geltenden Auflagen und Bestimmungen war so schnell und wirkungsvoll möglich.

    Schnelltest

    Eine spannende Erfahrung war, dass es Patient*innen gab und gibt, die lieber wieder häufiger in die Praxis kommen wollten und wollen, da ihnen diese Aktivität als Tagesstruktur, aber auch als menschlicher Kontakt, fehlt. Durch den Lockdown und die eingeschränkten Möglichkeiten, das eigene Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt ausreichend zu stillen, haben die Einrichtungen einen (noch) wichtigeren Stellenwert bei den Patient*innen/ Klient*innen eingenommen. Über einen längeren Zeitraum waren die Betreuungseinrichtungen der einzige Ort, der auch weiterhin täglich geöffnet hatte. Die auch dort notwendigen Einschränkungen wurden weniger negativ wahrgenommen als „draußen“. Vor allem, dass mit den täglichen Ansprechpartner*innen vor Ort auch mal „wohltuende Smalltalks“ möglich waren, wurde positiv kommuniziert. Hier gab es eine große Dankbarkeit der Patient*innen/Klient*innen. Vielerorts entstand ein neues „gutes Miteinander“.

    Die medizinische Versorgung wurde an einigen Stellen umfassender, und Corona als Gesundheitsthema sorgte für ein größeres Bewusstsein für die eigene gesundheitliche Fürsorge. Im Zuge der Impfvorbereitung führte der Blick in den Impfausweis zu der einen oder anderen Nachimpfung, mitunter aber auch dazu, dass ein Impfausweis überhaupt erst einmal ausgestellt wurde. Die verschärften Hygieneregeln und natürlich die Maskenpflicht hatten zudem deutlich weniger Erkältungs- und Grippeinfekte im Herbst/Winter 2020 zur Folge.

    Kooperierende Ärztinnen und Ärzte berichteten, dass sich manche Patient*innen durch die Vereinsamung ihnen gegenüber offener zeigten. Gespräche über Rückfälle oder den Konsum anderer Substanzen konnten gut für therapeutische Interventionen genutzt werden. Die Pandemie selbst stellte zudem oft ein „verbindendes Thema“ zwischen den Lebenswelten der Klient*innen und der Helferpersonen dar.

    Schutz durch Impfung

    Die Entscheidung, suchterkrankte Menschen wegen ihrer schweren psychischen Erkrankung in die Impfpriorisierungsgruppe 2 aufzunehmen und damit bevorzugt zu impfen, war für die Menschen ein sehr wichtiges Signal. Immer wieder berichteten uns Patient*innen/ Klient*innen, wie neu es für sie sei, als besonders schützenswert angesehen zu werden. Dass die Impfpriorisierung 2 auch für das Behandlungs- und Betreuungspersonal galt, sorgte für große Entspannung und Erleichterung im Arbeitsalltag der Mitarbeitenden.

    Ausblick: Verbesserungen für Behandler*innen und Patient*innen

    Die Pandemie bot die Möglichkeit, auch die Substitutionsbehandlung zu vereinfachen. Abläufe wurden an vielen Stellen verschlankt, und plötzlich waren innerhalb kürzester Zeit Änderungen von Vorgaben möglich, die unter „normalen Umständen“ undenkbar gewesen wären.

    Beim diesjährigen interdisziplinären Suchtkongress in München wurde von einer hohen Corona-Disziplin der Patient*innen gesprochen, von deutlich gesunkenen Behandlungsabbrüchen bis hin zu neuen therapeutischen Zugängen, weil sich die jeweiligen Blickwinkel veränderten. Suchtmediziner*innen berichteten von einem vereinfachten Verfahren, positiven Erfahrungen mit der Ausweitung der Take-Home-Regelungen (inklusive Diamorphin!), einer höheren Patientenzufriedenheit sowie einer Flexibilität der Behandlung. Auch dass weder der Schwarzmarkt mit Substitutionsmedikamenten überflutet wurde noch es zu zahlreichen „verlorenen“ Rezepten kam, war für viele eine Überraschung. Die Rede war an verschiedenen Stellen von einer „stillen Normalisierung“ dieser so wichtigen Behandlung, und demzufolge wurde (erneut) die Forderung laut, dass die ärztlichen Richtlinien dem wissenschaftlichen Stand (nach Pandemie) anzupassen seien.

    Kontakt:

    Antje Matthiesen
    Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V.
    (Notdienst Berlin e.V.)
    Genthiner Straße 48
    10785 Berlin
    Tel. 030-233 240 100
    info@notdienstberlin.de
    https://drogennotdienst.de/ 

    Angaben zur Autorin:

    Antje Matthiesen hat beim Notdienst Berlin e.V. die „Fachbereichsleitung Arbeit & Beschäftigung, Substitution & PSB, Frauen“ inne. Die gelernte Tischlerin und Sozialpädagogin ist seit fast 20 Jahren beim Notdienst Berlin in verschiedenen Funktionen tätig.

  • Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Länder der Region Zentralasien – Kasachstan, die Kirgisische Republik, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – umfassen mehr als 60 Millionen ethnisch, kulturell und religiös vielfältige Menschen und ein geografisches Gebiet, das doppelt so groß ist wie das von Kontinentaleuropa. Im Zentrum des eurasischen Kontinents befinden sich diese Binnenländer, die im Jahre 1991, als die Sowjetunion aufgelöst wurde, unabhängig wurden. Seit der Unabhängigkeit haben sie sich großen Herausforderungen gestellt. Eine davon ist der Handel mit Opiaten (vor allem Heroin) und die Opiatabhängigkeit von hunderttausenden Menschen (vgl. Abb. 1). Die Europäische Kommission unterstützt die fünf Partnerländer durch das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (Central Asia Drug Action Programme, CADAP) seit mehreren Jahren in dem Versuch, die negativen Folgen des Drogenkonsums zu lindern. CADAP befürwortet eine ausgewogene Drogenpolitik im Hinblick auf die Drogennachfrage und das (illegale) Drogenangebot im Einklang mit der EU-Drogenstrategie 2013–2020 und dem EU-Zentralasien-Drogenaktionsplan 2014–2020. CADAP zielt darauf ab, folgende Maßnahmen zu unterstützen:

    • Weitere Qualifizierung der Behandler und Schulung in psychotherapeutischen Methoden für Kurzinterventionen
    • Motivational Interviewing (MI)
    • Rückfallverhütung und soziale Rehabilitation
    • Opioidgestützte Behandlung (Opioid Substitution Treatment, OST)

    Mehr als 2.000 Experten und Regierungsvertreter wurden bereits zwischen 2010 und 2012 geschult. Der Zugang zu OST konnte in Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan (leicht) erhöht werden. In der laufenden 6. Phase des Programms wird eine bessere Institutionalisierung des Behandlungssystems angestrebt, und die Implementierung der Internationalen Standards der WHO/UNODC für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen wird unter Verwendung von Best Practices der EU geschult und systematisiert.

    Abb. 1: Drogensituation in Zentralasien – geschätzte Zahl von Heroinkonsumenten

    Das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (CADAP) verfolgt eine bessere Verbreitung von und Zugänglichkeit zu einer qualitativ hochwertigen Behandlung bei Drogenabhängigkeit, sowohl pharmakologisch als auch abstinenzorientiert, und ihre Kombination mit sozialer Rehabilitation und psychosozialer Unterstützung (wie Beratung, kognitive Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung). Das Programm soll die Schadensbegrenzung (Harm Reduction) verstärken, um die nachteiligen Konsequenzen des Drogenkonsums für Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes zu verringern, wobei es nicht nur um die Vermeidung von Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis B und C (vgl. Abb. 2) und Tuberkulose geht. Ziel ist es, ein offizielles Netzwerk von Fachleuten zu etablieren. Aber das stellt eine große Herausforderung dar, denn regionale Kooperation ist in den postsowjetischen Staaten weniger gewollt als ‚nationale‘ Selbständigkeit.

    Abb. 2: Prävalenz von HIV und Hepatitis C unter den (injizierenden) Drogenkonsumenten (in Prozent)

    Methoden des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms CADAP

    Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich führen zwei- bis viertägige Trainings mit Expertinnen und Experten aus der zentralasiatischen Region durch. Die Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich kommen überwiegend selbst aus Zentralasien oder Osteuropa, sprechen Russisch, kennen die Kultur der Länder und bringen langjährige Expertise aus ihrer Arbeit im deutschen und österreichischen Sucht- und AIDS-Hilfesystem mit. Es wird in unterschiedlichen Bereichen trainiert:

    1. Schulungen für Fachpersonal

    Training mit Suchtmediziner/innen in Bishkek: Oleg Aizberg (vorne Mitte) und Irina Zelyeni (vorne Zweite von rechts)

    Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte erhalten Schulungen zu folgenden Themen:

    • Psychosoziale Beratung und Behandlung Drogenabhängiger im Rahmen von ambulanter und stationärer Rehabilitation
    • Reintegration Drogenabhängiger in die Gesellschaft
    • Entwicklung von regionalen und überregionalen Suchthilfenetzwerken

    Es werden außerdem aktuelle Kenntnisse der Suchtmedizin vermittelt:

    • Allgemeine Prinzipien medizinischer Ethik
    • Besonderheiten der medizinischen Ethik bei der Behandlung von Suchtkranken und Besprechung verschiedener Beispielsituationen
    • Alkoholabhängigkeit als Begleiterkrankung bei Drogenabhängigen
    • Komorbide Störungen
    • Umgang mit Neuen psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • Notfallzustände bei Suchtkranken und psychisch Erkrankten
    • Sexuelle Störungen bei Suchtpatientinnen und Suchtpatienten

    2. Schulungen im Justizbereich

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    Für das Personal von Strafanstalten, für Richter, Staatsanwälte, NGOs und Fachleute, die auf dem Gebiet der Behandlung von Drogenabhängigen tätig sind, finden Schulungen statt. Dazu gehören auch Schulungen über Gesundheitsprogramme in Gefängnissystemen zur Verhütung von Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis C) und zur Opiat-Substitutionsbehandlung (OST) in Gefängnissystemen.

    Die zweitägigen Workshops, die in allen zentralasiatischen Ländern mit Unterstützung der jeweiligen Gefängnisverwaltungen für Gefängnismitarbeiter durchgeführt wurden, bestanden aus Präsentationen und Gruppenarbeit. Interessen und Vorlieben der Teilnehmer wurden dabei berücksichtigt. Als Ergebnis der Workshops ergab sich eine Liste priorisierter Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von drogenabhängigen Gefangenen. Diese Liste soll als Roadmap für die zukünftige Entwicklung dienen.

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    In der Kirgisischen Republik und in Tadschikistan wird im Gegensatz zu den anderen Ländern offen (an)erkannt, dass es injizierenden Drogenkonsum auch im Gefängnis gibt und dass deshalb sowohl Nadel- bzw. Spritzenaustauschprogramme als auch OST sinnvoll sind. Allerdings werden hier Infektionsschutzprogramme nur auf niedrigem Niveau und unter scharfen Kontrollmechanismen (die den Verlust der Anonymität bedeuten) angeboten. Substitutionsbehandlungen im Strafvollzug werden in Kirgistan gut umgesetzt, in Tadschikistan wurde damit gerade erst begonnen, nach jahrelanger Diskussion.

    3. Schulungen für NGOs

    Training mit Ludger Schmidt und NGO-Vertreter/innen in Kirgistan

    Ein weiteres Arbeitspaket wird in enger Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) durchgeführt, um Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu erreichen. NGOs spielen in Zentralasien eine zentrale Rolle bei der niedrigschwelligen Erreichbarkeit von Drogenabhängigen, bei der Infektionspräventionsarbeit, bei der Psychosozialen Betreuung (PSB) nach Entzugsbehandlungen und bei der Substitutionsbehandlung (OST). Die Hauptakteure von NGOs werden geschult, damit sie ihre Fähigkeiten erweitern, ein unterstützendes Umfeld für die Klienten zu entwickeln und ihnen zu helfen, sich behandeln zu lassen und in der Behandlung zu bleiben. NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von Programmen niedrigschwelliger Arbeit.

    Schwerpunkte der Trainings

    Training mit Inga Hart und Gerhard Eckstein

    Das theoretische Wissen über psychiatrische Erkrankungen und Suchterkrankungen ist bei den meisten Teilnehmern gut bis sehr gut. Gleichwohl zeigte sich bei den Trainings auch, dass wenige Grundkenntnisse in der Praxis der Psychiatrie vorliegen, u. a. weil Narkologie (= Suchtmedizin) und Psychiatrie getrennt sind und wenig kooperieren. Die praktische Umsetzung und Erfahrung ist zudem immer noch sehr unterschiedlich. Zudem war die Zeit für die Trainings sehr knapp bemessen.

    Es geht in den Trainings u. a. um die Vertiefung von Behandlungsmethoden der Kognitiven Verhaltenstherapie, der Familientherapie, des Motivational Interviews, der Rückfallprophylaxe sowie der psychosozialen Beratung, vor allem des Case Managements. Im Mittelpunkt der Seminare stehen weiterhin die Überprüfung, ob die westlichen Beratungs- und Behandlungskonzepte in der konkreten zentralasiatischen Praxis angewendet werden können, und die damit zusammenhängende Sicherung des Behandlungserfolges.

    In den Trainings werden die von den Seminarteilnehmern eingebrachten Erfahrungen, Anregungen und Vorschläge weitgehend berücksichtigt. Die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer effektiven therapeutischen Arbeit sowie den Wirkfaktoren der therapeutischen Beziehung stellt für die Teilnehmer einen Rahmen für berufliche Selbstreflektion dar. Beim Betrachten der Interaktionsbeiträge der Angehörigen und der möglichen therapeutischen Interventionen wurde deutlich, dass der kulturelle Hintergrund die Aufrechterhaltung sowohl der Abhängigkeit als auch der Co-Abhängigkeit unterstützt. Dies macht es den Experten schwer, passende Interventionen einzuleiten und sich von den Erwartungen der Angehörigen abzugrenzen.

    Herausforderungen in der Arbeit mit den NGOs

    Die NGO-Gruppen in Kirgistan und Tadschikistan sind sehr engagiert und interessiert, dabei aber nicht unkritisch. Die Skepsis gegenüber internationalen Trainingsmaßnahmen wird offen angesprochen und diskutiert. Die Erwartung gegenüber solchen Maßnahmen scheint mehrheitlich gedämpft zu sein. Ähnlich wie in Ländern Westeuropas oder Australiens, wo NGOs eine lange Tradition haben und Unterstützung auch von Regierungen erhalten, arbeiten viele Organisationen mit Wurzeln in der Selbsthilfe überraschend ‚professionell‘, sind kompetent und reflektiert in ihrem Arbeitsfeld.

    Überlegungen, wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Wissen, das sie im unmittelbaren Klientenkontakt benötigen, pragmatisch vermittelt werden kann, führte zur Idee der Adaption von „J Key Cards“ der dänischen NGO „Gadejuristen“ (Street Lawyers) an zentralasiatische Verhältnisse (insbesondere in Kirgistan und Tadschikistan). Die J Key Cards funktionieren nach dem Prinzip der FAQ (frequently asked questions) und beinhalten jeweils eine Frage mit einer Antwort zu häufig auftauchenden Themen und Problemen aus den Lebenswelten von Drogengebrauchenden. Die Karten sind thematisch in die Gebiete physische und psychische Gesundheit, Infektionsprävention, Substanzaufklärung, Safer Use und Recht unterteilt und werden kulturspezifisch und landestypisch illustriert. Als Vorteil für die ‚Ausbildung‘ von Peers wurde die leichte Handhabbarkeit des Formats, der spielerische statt verschulte Umgang mit Wissensinhalten (insbesondere angesichts der Ungeübtheit vieler Peers mit längeren Texten), die Konzentration auf eine konkrete Frage statt auf einen ganzen Wissensbereich sowie der unmittelbare Praxisbezug hervorgehoben. Die J Key Cards können überdies als Unterrichtsmaterial im Rahmen von Ausbildung/Qualifizierung genutzt werden.

    In Kirgistan und Tadschikistan werden entsprechende Kartensets hergestellt, um sie in der Straßensozialarbeit zu benutzen (vgl. Abb. 3 und 4).

    Abb. 3: Beispiel Kartenset Kirgistan
    Abb. 4: Beispiel Kartenset Tadschikistan

    Hauptergebnisse der Trainings

    In einigen Ländern und Regionen Zentralasiens ist das Suchthilfesystem gut entwickelt (etwa in Kasachstan, Usbekistan und auch in Kirgistan), sodass sowohl die Behandlung als auch die Rehabilitation sowie die poststationäre Weiterversorgung für die Abhängigen umfassend und auf einem hohen professionellen Niveau angeboten werden. Die Effektivität der Behandlung beruht aber auf einem vernetzten System, das in vielen anderen Regionen und Ländern noch sehr ausbaufähig ist, vor allem in Turkmenistan, Tadschikistan und den ländlichen Regionen von Kirgistan. Im Beratungs- und Behandlungssystem sind Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Ex-User und andere Fachkräfte verantwortlich integriert. Es existiert eine Übereinstimmung über Ziele und Konzepte der Resozialisierung. 

    In der Kirgisischen Republik, in Tadschikistan und Kasachstan wurden nationale Arbeitsgruppen gegründet mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Narkologie, Psychologie, Sozialarbeit und Selbsthilfe. Im Rahmen der Arbeitsgruppen fanden Vorlesungen und Diskussionen über folgende Themen statt:

    • Prinzipien der Behandlung von Drogenabhängigkeit
    • Prinzipien der Diagnose und Therapie der Opioidsucht
    • Leitlinien zur Opioidsubstitution
    • Opioidsubstitution in besonderer Situation (Schwangerschaft, komorbide psychiatrische Störungen, komorbides HIV-Syndrom)
    • abstinenzorientierte Therapie (Entgiftung, Psychotherapie, psychosoziale Hilfe, Opioid-Antagonisten)
    • aktuelle Situation bei Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • aktuelle Situation bei psychopathologischen und somatischen Erkrankungen

    Insgesamt scheint die Implementierung von Maßnahmen zur Motivierung und Behandlung und damit die Weiterentwicklung des Suchthilfesystems in Zentralasien durch die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie durch die kulturellen Hintergründe (starke Co-Abhängigkeitsstrukturen) deutlich erschwert zu werden. Bei den meisten Experten besteht ein Konsens über den Sinn und die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Suchthilfesystems im Hinblick auf Weiterqualifizierung und Vernetzung.

    Die praxisorientierte Gestaltung der Seminare und die Möglichkeit, die Anliegen aus dem Alltag in die Seminare einzubringen, werden von den Seminarteilnehmern besonders positiv bewertet. 

    Weitere Zielsetzungen

    Bei der Commission on Narcotic Drugs (CND) im März 2016 wurde eine Entschließung zur Entwicklung und Verbreitung der internationalen Standards für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen verabschiedet. Darin wird gefordert, dass der „Zugang zu einer angemessenen wissenschaftlichen evidenzbasierten Behandlung von Drogenkonsumstörungen, auch für Personen, die von Drogenkonsum im Gefängnissystem betroffen sind, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften, zu gewährleisten (ist)“.

    Im April 2016 wurden im Rahmen der UNGASS Special Session (United Nations General Assembly on the World Drug Problem) in New York die „WHO/UNODC International Standards for the Treatment of Drug Use Disorders“ offiziell eingeführt. Aufgabe ist nun, die Umsetzung der internationalen Standards zu unterstützen. Dies geschieht jetzt in Trainings in allen zentralasiatischen Ländern in Kooperation mit dem UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime).

    Alle Länder in Zentralasien teilen die gemeinsame Auffassung der UN-Organe (UN-Drogenübereinkommen 1961, Art. 38, und Politische Erklärung 2009), dass alle praktikablen Maßnahmen zu Prävention und Früherkennung und zur Behandlung, Bildung, Rehabilitation und Nachsorge sowie zur sozialen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen umgesetzt werden sollen. In Zusammenarbeit mit dem WHO- und dem UNODC-Hauptsitz in Genf und Wien wird diskutiert, wie die Zentralasien-Staaten in dieser Umsetzung durch Schulungen unterstützt werden können. Es wurde z. B. eine russischsprachige Version der Standards erstellt, um als Trainingsmaterial verwendet zu werden.

    Mit dem Ziel, die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterin im Bereich der Behandlung von Drogenkonsumstörungen zu unterstützen, richtete die Frankfurt University of Applied Sciences (Fachhochschule Frankfurt am Main) an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Vorschlag, mit Hochschulen in Zentralasien, die Sozialarbeiter ausbilden, intensiver zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit soll mit folgenden Hochschulen stattfinden:

    • Eurasische Nationale Gumiljow-Universität (Abteilung für Soziale Arbeit), Astana, Kasachstan
    • Tadschikische Nationaluniversität (Fakultät für Phliosophie, Abteilung für Soziale Arbeit), Duschanbe
    • Universität für Humanwissenschaften Bischkek (Abteilung für Soziale Arbeit und Psychologie), Kirgisische Republik

    Die Zusammenarbeit soll dem Austausch von Erfahrungen der Mitarbeitenden und Studierenden sowie zur Erstellung von Schulungs- und Ausbildungsunterlagen (Projekt InBeAIDS, Laufzeit bis Ende 2019) dienen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stimmte Anfang März 2017 dem Vorschlag der Frankfurter Universität zu, so dass nun die Kooperation vorbereitet wird. Eine erste „fact finding Mission“ fand dazu in den drei Partnerländern im Mai 2018 statt. Da die Unterstützung und die Ausbildung der Sozialarbeit ein wichtiger Bestandteil der Component 4-Aktivitäten des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms (CADAP) ist, passt dieses Projekt gut in die CADAP-Ziele und unterstützt die Leistungen des Programms.

    Fazit

    Es gibt in Zentralasien einige grundlegende strukturelle Probleme im Hilfesystem für suchtkranke Menschen, insbesondere für opiatabhängige Menschen. Dazu gehören:

    • der Ausschluss von injizierenden Drogenkonsumenten (IDUs) aus dem (öffentlichen) Gesundheitssystem außerhalb der Narkologie
    • ein nur begrenzter Zugang von IDUs zur Behandlung der Drogenabhängigkeit oder zur Prävention von Drogenabhängigkeit
    • ein nur begrenzter Zugang zur Behandlung von IDUs mit HIV oder Hepatitis C
    • eine nur begrenzte Anzahl von Sozialarbeitern, Psychologen oder Psychotherapeuten
    • das Fehlen eines Akkreditierungssystems für Psychotherapie
    • ein nur sehr beschränkter Zugang zur Substitutionsbehandlung (OST)
    • eine begrenzte Kooperation im Hinblick auf die Prävention und Behandlung von HIV und Hepatitis bei Drogenkonsumenten in (narkologischen) Rehabilitationszentren

    Schulungen zur Förderung des Aufbaus von Kapazitäten sind wirksam und effizient. Dennoch verlangen alle Partner auch finanzielle und technische Unterstützung. Es wird die Notwendigkeit für weitere Qualifikationen und Schulungen in den Bereichen psychotherapeutische Methoden für Kurzzeitinterventionen, Motivationsbefragung, Rückfallverhütung, soziale Rehabilitation, medikationgestützte Behandlung und Behandlung von HIV gesehen.

    Die Trainings wurden durchgeführt von einer Gruppe erfahrener Trainerinnen und Trainer:

    Heino Stöver, Professor für Sozialwissenschaftliche Suchtforschung, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main

    Gerhard Eckstein, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Suchtreferent Deutsche Rentenversicherung Schwaben, Psychotherapeutische Praxis, Augsburg

    Inga Hart, Dipl.-Sozialpädagogin (M.A., M.Sc.), stellvertretende Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz, München

    Oleg Aizberg, Assistenzprofessor, Belarussische Medizinische Akademie, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Minsk, Belarus

    Irina Zelyeni, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik am Kronsberg STEP, Hannover

    Katharina Schoett, Fachärztin für Psychiatrie / Psychotherapie, Chefärztin der Abt. für Suchtmedizin des ÖHK Mühlhausen

    Ludger Schmidt, Erziehungswissenschaftler, Deutsche AIDS-Hilfe (DAH), Berlin

    Jörg Pont, Professor, Medizinische Universität Wien, Österreich

    Ingo Ilja Michels, Soziologe, Fachberater für Suchtkrankenhilfe, langjähriger Leiter des Arbeitsstabes der Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Bundesministerium für Gesundheit; Internationaler Koordinator für CADAP (Behandlungsfragen)

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Ingo Ilja Michels
    Frankfurt University of Applied Sciences
    Nibelungenstraße1
    60318 Frankfurt am Main
    ingoiljamichels@gmail.com
    michels.ingo@fit.fra-uas.de

  • Bericht zur Drogensituation in Deutschland (REITOX) veröffentlicht

    Workbook Drogen
    Kurzbericht

    Seit 15. Dezember ist der jährlich erscheinende „Bericht zur Drogensituation in Deutschland“, früher unter dem Namen „REITOX-Bericht“ bekannt, online verfügbar. Das Standardwerk zur Situation illegaler Drogen in Deutschland liefert in acht thematisch in sich geschlossenen Kapiteln („Workbooks“) umfangreiche Informationen zu den verschiedenen Aspekten des Phänomens illegale Drogen in Deutschland.

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Der heute vorgelegte Bericht zeigt, dass wir mit unseren Maßnahmen gegen den Konsum von illegalen Drogen zwar vieles, aber längst noch nicht alles erreicht haben. In weiten Teilen ist der Konsum illegaler Drogen in Deutschland stabil. Was wir in den kommenden Jahren aber ganz dringend brauchen, ist eine wirklich flächendeckende Präventionsarbeit in Sachen Cannabis. Keine andere illegale Droge ist so weit verbreitet, und keine andere führt so viele Menschen in ambulante und stationäre Therapieangebote. Ganz klar ist auch, dass die Versorgung suchtkranker Menschen in und nach der Haft besser werden muss und wir mehr gegen die Stigmatisierung suchtkranker Menschen tun müssen. Sucht ist eine Krankheit und als solche müssen wir sie behandeln.“

    Nach den Ergebnissen des Epidemiologischen Suchtsurveys 2015 hat mehr als jeder vierte erwachsene Deutsche (zwischen 18 und 64 Jahren) bereits mindestens einmal im Leben illegale Drogen konsumiert. Cannabis ist dabei unverändert die mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Droge: Unter den 12- bis 17-Jährigen gaben 7,3 Prozent an, in den letzten zwölf Monaten wenigstens einmal Cannabis konsumiert zu haben, bei den 18- bis 64-Jährigen waren es 6,1 Prozent. Über die letzten 25 Jahre hinweg zeigt die Cannabisprävalenz mit Schwankungen einen insgesamt zunehmenden Trend. Der Wirkstoffgehalt des in Deutschland sichergestellten Cannabis steigt seit Jahren an und hat in diesem Jahr erneut einen Höchststand erreicht. Der markanteste Anstieg von Wirkstoffgehalten ist in diesem Jahr aber bei den Amphetaminen zu verzeichnen: von 2015 auf 2016 hat er sich vervierfacht. Für MDMA lässt sich eine Verdopplung des Wirkstoffgehaltes verzeichnen.

    Unter den Stimulanzien dominieren in Deutschland bei den 18- bis 64-Jährigen die Amphetamine mit einer 12-Monats-Prävaenz von einem Prozent. Während Indikatoren aus Strafverfolgung und Behandlung in den letzten Jahren auf eine steigende Bedeutung von Amphetamin und Methamphetamin hinweisen, zeichnet sich dieser Anstieg in den bundesweiten Erhebungen in der Allgemeinbevölkerung nicht ab.

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Leiter der DBDD: „Das Drogenangebot und die Konsumgewohnheiten verändern sich zunehmend. Dies erfordert im Sinne einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Drogensituation ein Bündel aus verschiedenen Maßnahmen, die dieser wachsenden Komplexität gerecht werden. Dazu gehören z. B. sowohl die Entwicklung weiterer Präventionsangebote insbesondere im Bereich der neuen psychoaktiven Stoffe (NPS) als auch der Einsatz des Medikamentes Naloxon, um tödliche Überdosierungen unter Konsumentinnen und Konsumenten von Opiaten – vor allem Heroin – zu verhindern. Auch die Erweiterung der Angebote zur Cannabisprävention liegt angesichts der Verbreitung dieser Droge nahe, um negative gesundheitliche und soziale Folgen des Konsums zu minimieren.“

    Maßnahmen zur Prävention des Konsums illegaler Drogen werden in Deutschland regelmäßig und zielgruppenspezifisch auf kommunaler, regionaler und Bundesebene durchgeführt. Im Jahr 2016 haben die kommunalen Fachkräfte mehr als 34.000 suchtpräventive Maßnahmen dokumentiert. Die am häufigsten thematisierte illegale Substanz war Cannabis, gefolgt von amphetaminartigen Stimulanzien. Mit seiner hohen Reichweite trägt das Informationsportal www.drugcom.de der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wesentlich zur Prävention des Konsums illegaler Drogen bei. Das BZgA-Portal bietet neben Wissens- und Selbsttests auch ein individualisiertes Verhaltensänderungsprogramm zur Reduzierung des Cannabiskonsums.

    Der vorliegende „Bericht zur Drogensituation in Deutschland“ wird jährlich durch die Deutsche Drogenbeobachtungsstelle (DBDD) als Beitrag zum Europäischen Drogenbericht erstellt. Die acht Workbooks, ein zehnseitiger deutschsprachiger Kurzbericht sowie die aktuellen Veröffentlichungen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) finden Sie unter www.dbdd.de.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Bundesdrogenbeauftragten und der DBDD, 15.12.2017

  • Drogenabhängige zwischen Therapie und Strafe

    Seit über 45 Jahren gibt es ‚Drogenhilfe‘ in Deutschland. Eine der ersten Drogenberatungsstellen wurde 1972 in München eröffnet. Federführend dabei: Alexander Eberth, damals Vereins-, heute Aufsichtsratsvorsitzender von Condrobs e. V., einem der größten deutschen Suchthilfeträger. Im Hauptberuf ist er seit 1972 Rechtsanwalt und hat sich als Experte für Betäubungsmittelrecht einen Namen gemacht. Ein ‚Betäubungsmittelgesetz‘ gibt es in Deutschland seit 1971. 1981 wurde es um die heftig umstrittenen Therapiebestimmungen für betäubungsmittelabhängige Straftäter ergänzt.

    In einem KONTUREN-Interview gab Alexander Eberth Anfang November Auskunft darüber, was in den vergangenen 35 Jahren aus den „Therapie statt Strafe“-Regelungen im Betäubungsmittelgesetz geworden ist. Angesichts der Doppelbelastung, die drogenabhängige Menschen durch ihre Abhängigkeitserkrankung und die Strafbestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes erleben, erläuterte er, was Fachkräfte bei der Beratung und Behandlung Drogenabhängiger unbedingt berücksichtigen müssen. Schließlich formulierte er seine Wünsche an die Zukunft der Rechtsprechung im Bereich Betäubungsmittelkriminalität.

    Es bleibt ein desillusionierendes Fazit: Das Betäubungsmittelgesetz mit seinen Therapiebestimmungen hat sich in den vergangenen 35 Jahren zu einem Strafverfolgungsrecht verdichtet. Die Interessen der Drogenabhängigen – Verbesserung und Schutz ihrer Gesundheit – verlieren sich heute in einer rigorosen Verfolgung und dem (Irr)Glauben, durch Verknappung und verschärftes Recht das Drogenproblem in den Griff bekommen zu können. Alle Maßnahmen, die bisher eingeleitet wurden, sind kontraproduktiv, weil sie Drogenabhängige daran hindern, Hilfeangebot anzunehmen, denn sie müssen bei einer Offenlegung ihrer Abhängigkeit immer damit rechnen, dass strafrechtliche Konsequenzen gezogen werden. Das Interview führte Jost Leune vom Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V.

    Jost Leune

  • Mensch und Milligramm

    Mensch und Milligramm

    Flyer Drogentagung 150518.pubSubstitution ist in Deutschland die mit Abstand häufigste Behandlungsform bei Opiatabhängigkeit: Etwa 77.000 Personen mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit werden derzeit substituiert. Demgegenüber befinden sich ca. 5.000 Personen in einer Reha-Maßnahme, und nur weniger als fünf Prozent wechseln aus der Substitution in eine abstinenzorientierte Therapie. Ein Übergang zwischen den Behandlungsformen ist also selten, und die ‚Unverbundenheit‘ der beiden ‚Systeme‘ erschwert eine optimale, passgenaue Behandlung.

    Deshalb haben sich die fünf Suchtverbände zum Ziel gesetzt, die Brückenbildung zwischen Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu fördern und Opiatabhängigen den Zugang zur Entwöhnungsbehandlung zu erleichtern. Dazu veranstalteten sie am 18. Mai 2015 in Berlin den Workshop „Wie geht es weiter … mit der Behandlung Opiatabhängiger?“, in dessen Rahmen die Ausgangslage analysiert und darüber diskutiert wurde, wie eine integrierte und systemübergreifende Behandlungsplanung erreicht werden kann. Eingeladen waren Experten/-innen und Fachleute aus Forschung und Praxis und Vertreter/-innen der Leistungsträger, die einladenden Verbände waren der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), die Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), der Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS), der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und der Fachverband Sucht e. V. (FVS).

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    In der folgenden Darstellung werden die Beiträge und Aussagen der Referenten/-innen und Teilnehmer/-innen wiedergegeben. Diese repräsentieren die teilweise gegensätzlichen Positionen unterschiedlicher Expertengruppen und Institutionen und entsprechen nicht immer der Sichtweise der Veranstalter. Es war den Suchtverbänden aber ein wichtiges Anliegen, mit der Veranstaltung ein offenes Forum zu schaffen, bei dem jede relevante Meinung zur Behandlung Opiatabhängiger dargestellt und diskutiert werden konnte.

    Einführung und Grußwort: Auf dem Weg zur optimalen Behandlungsform

    Dr. Theo Wessel, Geschäftsführer des GVS, begrüßte die Teilnehmer und betonte das Ziel, jedem Abhängigen die optimale Behandlungsform anbieten zu können. Bei dem Workshop gehe es darum, einen offenen Dialog über Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu führen und sich insbesondere über die substitutionsgestützte Entwöhnungsbehandlung zu verständigen. Es folgte ein Grußwort von Dr. Ingo Ilja Michels, Leiter der Geschäftsstelle der Bundesdrogenbeauftragten. Michels berichtete über die Vorzüge und Verdienste der Substitutionsbehandlung: Sie sichert Leben, verhindert die Übertragung von Krankheiten, die Betroffenen agieren nicht mehr in der Illegalität, eine soziale Integration ist möglich, und die Abhängigen, für die Abstinenz kein Ziel ist, können durch die Substitution dennoch erreicht werden. Michels sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen Substitutionsärzten und Reha-Einrichtungen aus. Die Abstinenzorientierung in der Substitution solle unterstützt werden, gleichzeitig sollten mehr Reha-Einrichtungen substituierte Patienten aufnehmen. Zum Abschluss stellte er die geplante Änderung der Betäubungsmittelgesetz-Verordnung dar, die vorsieht, den substituierenden Ärzten mehr Handlungs- und Therapiefreiheit zu geben und den Druck von Seiten des Strafrechts zu mindern.

    Epidemiologie: Weniger neue Klienten und eine alternde Kohorte

    Microsoft PowerPoint - Pfeiffer-GerschelAuf die Grußworte folgte der erste Themenblock mit einführenden Übersichtsreferaten. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), präsentierte aktuelle Zahlen zum Thema „Epidemiologie der Opiat- und Drogenabhängigkeit in Deutschland“. Die Prävalenz riskanten Opioidkonsums ist schwer zu schätzen. Laut DBDD-Jahresbericht 2014 führen Berechnungen auf der Basis von Zahlen aus Behandlung, Polizeikontakten und Drogentoten zu einer Schätzung der Zahl riskanter Konsumenten von Heroin in Deutschland auf 57.000 bis 182.000. Dies entspricht einer Rate von 1,05 bis 3,4 Personen pro 1.000 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren. Legt man der Schätzung nur Behandlungsdaten zugrunde, ist die Prävalenz seit 2005 ansteigend, nach Polizeikontakten und Todesfällen geschätzt ist die Prävalenz sinkend. Die europäischen Daten zeigen Anzeichen eines rückläufigen Heroingebrauchs: weniger neue Klienten, eine alternde Kohorte und ein Rückgang des iv-Konsums.

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik 2014 weisen 15 Prozent der Zugänge in den Beratungsstellen und den Fach-/Institutsambulanzen die Hauptdiagnose Opioidkonsum auf. Damit liegt eine Stabilisierung bzw. ein leichter Rückgang vor. Stark angestiegen sind dagegen Neuzugänge wegen Stimulanziengebrauchs. In der Rehabilitation (stationär und teilstationär) und der Adaption trifft auf sieben Prozent der Patienten die Hauptdiagnose Opioidabhängigkeit zu, was ebenfalls einer Stabilisierung entspricht. Rund ein Drittel der Klienten mit der Hauptdiagnose Opioide im ambulanten Bereich weist zusätzlich die Einzeldiagnose Cannabinoide auf, rund ein Viertel Alkohol und rund ein Fünftel Kokain (DSHS 2013).

    Das Durchschnittsalter der Opioidkonsumenten hat sich in den letzten Jahren deutlich nach hinten verschoben. Ein Großteil ist älter als 40 Jahre, das Durchschnittsalter bei den Todesfällen liegt bei 38 Jahren. Weniger junge Menschen unter 25 kommen nach. Aufgrund ihrer soziodemografischen Voraussetzungen sind Opioidkonsumenten sehr schwer in die Arbeitswelt zu integrieren. Über 60 Prozent (im ambulanten Bereich) sind arbeitslos (DSHS 2013). Die Straftaten im Zusammenhang mit Heroin (Besitz und Handel) sind zurückgegangen (BMI 2014). Heroin wird zunehmend ersetzt durch Stimulanzien, ‚neue‘ Drogen, andere Opiate und v. a. Medikamente (Fentanyl, Lyrica). Hepatitis C ist nach wie vor eine große Gefahr für i.v.-Dogenkonsumenten, ca. 80 Prozent sind infiziert.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Anschließend präsentierte Pfeiffer-Gerschel Daten zur Substitution. Diese ist zunehmend verfügbar, gut 50 Prozent der problematischen Opiatkonsumenten werden EU-weit erreicht. Das sind ca. 700.000 Personen (Europäischer Drogenbericht 2015). Fast 70 Prozent werden mit Methadon substituiert. Seit 2010 bewegt sich die Zahl der Substituierten in Deutschland zwischen 75.000 und 77.000 Personen, dabei bestehen zwischen den einzelnen Bundesländern sehr große Unterschiede. Die meisten Substituierten verzeichnet Bremen mit 264 Patienten pro 100.000 Einwohner. Baden-Württemberg liegt mit 96 Patienten pro 100.000 Einwohner im Mittelfeld. Versuche, das Substitutionsmittel abzusetzen, werden in den meisten Fällen nicht unternommen.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Die psychische Morbidität ist unter Substitution weiterhin stark ausgeprägt. Zu den häufigsten komorbiden Störungen gehören Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Stress- und psychotische Störungen. Über Substitutionsbehandlung in Haft sind so gut wie keine Daten bekannt.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Prävalenz der Opioidhängigkeit seit den 80er Jahren nicht verändert hat. Die Inzidenz geht zurück, aber die Prävalenz bleibt aufgrund besserer Überlebenschancen durch Harm-Reduction-Maßnahmen und Substitution konstant. Als offene Fragen stellte Pfeiffer-Gerschel abschließend in den Raum: Wie kann die Qualität der Drogentherapie optimiert werden, z. B. durch definierte Behandlungspfade? Wie verbessert man den Übergang zwischen Substitution und Entwöhnung? Und wie kann die Versorgungssituation reguliert werden, wenn die substituierenden Ärzte in Rente gehen?

    Versorgungssystem: Wie gut sind die aktuellen Angebote für Opioidabhängige?

    02_Leune_rIm zweiten Übersichtsreferat behandelte Jost Leune, Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V., das Thema „Das Versorgungssystem für Opioidabhängige: Wer behandelt wen mit welcher Zielsetzung?“. Er bezog sich dabei auf die Strukturanalyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“, die die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) im Februar 2014 veröffentlicht und auf ihrer Homepage bereitgestellt hat. Als Grundlage seines Vortrags diente ihm das Kapitel „4.4. Matrix 2 – Versorgungsrealität“. Diese Matrix kombiniert sämtliche Interventionen in der Suchthilfe (von Prävention über Rehabilitation bis Selbsthilfe) mit exemplarischen Zielgruppen und bewertet, wie gut im jeweiligen Bereich für die jeweilige Zielgruppe die Versorgungsrealität ist.

    Die einzelnen Daten und Fakten, die der jeweiligen Bewertung zugrunde liegen, können hier nicht für jede Intervention wiedergegeben werden. Dazu sei auf die PDF-Version der Strukturanalyse verwiesen. Diese steht auf der Homepage der DHS zur Verfügung (www.dhs.de > DHS Stellungsnahmen).

    Für die Zielgruppe „Erwachsene mit Drogenabhängigkeit“ ergibt sich aus der Strukturanalyse, dass eine gute Funktion und eine gute Integration in das Hilfesystem für folgende Angebote gegeben sind: Stationäre psychiatrische Behandlung, Niedrigschwellige Hilfen und Sucht- und Drogenberatung (inkl. Schuldnerberatung). Ebenfalls erfolgreich sind Entgiftung und Qualifizierter Entzug, Stationäre medizinische Rehabilitation, Adaption und (Reha-)Nachsorge, aber auch Ambulant betreutes Wohnen, Stationäres sozialtherapeutisches Wohnen, Übergangswohnen und (soweit vorhanden) Tagesstrukturierende Maßnahmen – obwohl es insbesondere in der medizinischen Rehabilitation für Substituierte noch einige Probleme gibt. Außen vor in der Bewertung bleibt der Bereich der Justiz, weil die Suchthilfe keinen Einfluss darauf hat.

    Eine eingeschränkte Funktion im Hilfesystem und Schnittstellenprobleme zeigen – vor allem bei substituierten Opioidabhängigen – die Bereiche Stationäre somatische Akutbehandlung (im Allgemeinkrankenhaus), Sozialpsychiatrische Betreuung, Ambulante psychiatrische Behandlung (in psychiatrischen Institutsambulanzen) sowie – aufgrund mangelnder finanzieller Förderung – Psychosoziale Begleitung Substituierter.

    Hilfen zur Erziehung, Angebote für die Teilhabe an Arbeit sowie Ambulante Substitution, Ambulante medizinische Rehabilitation und Ganztägig ambulante Rehabilitation können aufgrund der problematischen Situation in der psychosozialen Betreuung nicht im notwendigen Umfang angeboten werden. Bezogen auf die Suchtberatung im Betrieb sind kaum Aussagen möglich. Selbsthilfe ist zwar bei JES (Junkies, Ex-User, Substituierte) organisiert, aber gemessen an der hohen Zahl Substituierter nur in geringem Umfang.

    Es bestehen Defizite durch fehlende Versorgung in den Bereichen Ambulante psychotherapeutische Behandlung, Berufliche Rehabilitation, Beschäftigung für behinderte Menschen (in Werkstatt) sowie Hilfen für Pflegebedürftige. Ambulante somatische Akutbehandlung inkl. Frühintervention, Qualifizierung sowie Arbeitsförderung bzw. Maßnahmen von Arbeitsagentur/Jobcenter sind zwar möglich, aber so abgegrenzt vom Hilfesystem, dass fast kein Übergang dorthin möglich ist.

    Leune schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass das Versorgungssystem für Opioidabhängige noch besser werden würde, wenn das gegliederte System der sozialen Sicherung durchlässiger wäre, wenn Einrichtungsgrenzen überwunden werden und eine gemeinsame (Fach-)Sprache gefunden werden könnte und das System auskömmlich finanziert wäre.

    Zielgruppen: Substitution ist nicht gleich Substitution

    03_Heinz_rIm Vortrag von Werner Heinz, Leiter der AG Substitution der Caritas Suchthilfe (CaSu), ging es um die Frage „Mit welchen Zielgruppen und Methoden ist Suchtbehandlung bei Opiatabhängigen möglich?“. Als Ausgangslage stellte er fest, dass Substitution in der heutigen Behandlung von Opiatabhängigkeit der Normalfall sei und dass die Behandlung nur auf der Grundlage der Substitutionstherapie weiterentwickelt werden könne. Zwei Hürden müssten überwunden werden, die er in seiner Präsentation so formuliert: „Substitution verhindert medizinische Rehabilitation – Medizinische Rehabilitation sperrt Substituierte aus“. Wenn hier ein Brückenschlag gelingt, dann können die Defizite der aktuellen Substitutionspraxis aufgefangen und mehr Drogenabhängige zur Chance (nicht dem Zwang) der Abstinenzorientierung hingeführt werden. Als Defizit der Substitution nannte Heinz, dass keine Suchttherapie stattfinde. Die psychosoziale Betreuung, die außerdem nur wenig Substituierte erreiche, sei Suchtsozialarbeit und motivationale Suchtberatung, mit der jedoch das hohe Ausmaß an psychischen Störungen und psychosozialen Entwicklungsdefiziten nicht bewältigt werden könne – eine Feststellung, die die Ergebnisse der PREMOS-Studie bestätigen.

    Wie können die ‚Systeme‘ Substitution und Reha also sinnvoll zusammengebracht werden? Heinz näherte sich dieser Frage systematisch, indem er die Substituierten zunächst in verschiedene Zielgruppen einteilte und dann jeder Gruppe passende Maßnahmen aus dem Hilfesystem zuordnete. Er unterschied folgende Zielgruppen:

    1. Opiatabhängige mit Abstinenzorientierung: Diese Personen haben positive Reha-Erfahrungen gemacht und verfügen über gute soziale Ressourcen. Sie haben bereits Abstinenzfähigkeit erlebt und wollen diese wieder herstellen.
    2. Substitution als Ausstiegsmedikation: Diese Personen sind motiviert und abstinenzorientiert mit vorausgehender Abstinenzerfahrung, haben aber zu wenig Zuversicht und Selbstvertrauen, dauerhaft abstinent bleiben zu können, und lehnen deshalb eine (erneute) Reha ab. Sie verfügen über gute soziale Ressourcen und oft über einen Arbeitsplatz, beides soll durch die Substitution gesichert werden.
    3. Maintenance-Substitution bei fortschreitender sozialer Integration: Diese Personen erleben sich als ‚clean‘. Durch Take-home-Verschreibungen verfügen Sie über die Autonomie, ihr Leben relativ frei zu gestalten. Gute soziale Ressourcen und oftmals ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz sind vorhanden. Diese Zielgruppe hat keinen Anlass abzudosieren. Das Therapieziel heißt hier Arbeit und Teilhabe.
    4. Auf Dauer gestellte Ambivalenz: Diese Personen ändern häufig das Substitutionsmittel und die Dosierung, sie leiden häufig unter psychischen Beeinträchtigungen und Belastungen, es fehlen psychische Bewältigungskompetenzen. Als Betreuungsziele sind hier zu nennen: Beikonsumfreiheit und psychosoziale Stabilisierung unter Substitution, Therapiemotivation und -Vermittlung.
    5. Stagnierende Langzeitsubstitution bei verfestigter sozialer Randständigkeit: Diese Personen leben im ‚Substitutionsmilieu‘ als sozialem Umfeld. Sie haben ein reduziertes Aktivitätsniveau, sind langzeitarbeitslos mit geringer Tagesstruktur, überwiegend mit Methadon substituiert und haben einen sedierenden Cannabis- oder Alkoholkonsum.
    6. Ersatzdrogenvergabe bei chronifizierter Polytoxikomanie: Diese schwerstabhängigen Klienten weisen eine desolate Lebenssituation mit hoher Szenebindung auf. Sie konsumieren eine Reihe von Drogen und Alkohol. Das Substitutionsmittel dient als ‚Grundversorgung‘ und wird häufig in hoher Dosierung eingenommen mit spürbarer Sedierung. Dies ist die Zielgruppe für eine Diamorphinvergabe.

    Was kann die Behandlungslandschaft nun für die genannten Zielgruppen tun? Für die Zielgruppen 1, 2 und 3 kommt eine substitutionsgestützte ambulante Rehabilitation in Frage, denn Psychotherapie unter Substitution ist möglich. Auch eine ambulante Reha ohne Substitution kann geeignet sein. Für die Zielgruppen 4 und 5 sind eine dauerhaft gestützte ambulante Rehabilitation, eine Intervalltherapie oder eine Tagesreha geeignet oder auch eine stationäre Rehabilitation. Für die Zielgruppe 6 kommen Angebote wie stationäre Krisenintervention, Übergangseinrichtungen, substitutionsgestützte stationäre Rehabilitation oder soziotherapeutische Einrichtungen in Frage.

    Eine weitere Zielgruppe sind Substituierte mit schweren psychiatrischen Komorbiditäten. Für diese Gruppe sind besondere Behandlungsangebote nötig. Als positives Beispiel führte Heinz das Asklepios-Krankenhaus Göttingen an, das eine eigene Abteilung für Substituierte mit Traumata oder Borderline-Störung hat und sehr erfolgreich eine ambulant-stationäre Intervalltherapie durchführt.

    Heinz appellierte an die Leistungsträger, an das Rehabilitationssystem und die Drogenpolitik, dass sie sich im Hinblick auf Finanzierungswillen und Behandlungskonzepte mehr öffnen für die Integration von Substitution und Rehabilitation und das Therapieziel Arbeit statt Abstinenz. Er regte die Durchführung von Bundesmodellprojekten an, um die Behandlung der Opiatabhängigkeit zu verbessern.

    Suchtberatung und PSB: Case Management und Kooperationsarbeit

    04_Zehr_rIm Anschluss an die Übersichtsreferate folgten mehrere Vorträge, die sich mit den Behandlungsmodulen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschäftigten. Zu Beginn dieses neuen Themenblocks stellte Uwe Zehr vom Verein für Jugendhilfe e. V. in Sindelfingen „Die Rolle der Suchtberatung und der psychosozialen Betreuung“ vor. Als Erstes steckte er die Rahmenbedingungen ab: Suchtberatung wird von den Kommunen finanziert. Daraus ergibt sich, dass die Kommunen auch überwiegend die Aufgaben der psychosozialen Betreuung (PSB), die durch die Suchtberatungen wahrgenommen werden, definieren. Laut BtMVV § 5, Abs. 2, Nr. 2 muss jeder substituierte Patient eine PSB erhalten, oder anders herum: Jeder substituierende Arzt hat einen rechtlichen Anspruch auf PSB für seine Klienten, den die Kommune in dieser Region erfüllen muss. Selten wird PBS im Rahmen individueller Eingliederungshilfe geleistet, selten ist sie ein verbindlicher Teil des medizinischen Versorgungssystems.

    Suchtberatungen führen PSB im Auftrag der Kommunen durch. Sie bringen beste Voraussetzungen mit, um als ‚proaktive‘ Case Manager zu agieren: Sie bieten ein multiprofessionelles Team, eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, eine zeitnahe Krisenintervention und Netzwerkkenntnis. Die Leistungen des Suchthilfesystems haben sich in den letzten Jahren weiter differenziert. Diese Leistungen werden von den substituierenden Ärzten gar nicht vollständig abgerufen. Hierbei könnten die Suchtberatungen als Case Manager ihr Knowhow erfolgreich einbringen.

    Zehr analysierte im Einzelnen die Kooperationsbeziehungen, die bei der Durchführung der PSB entstehen. Die Beziehungen zu den substituierenden Ärzten können sehr unterschiedlich sein, je nach Schwerpunktsetzung der medizinischen Behandlung. Zehr rief die Suchtberatungen dazu auf, auf die Ärzte zuzugehen. Sie hätten eine bessere Ausgangsposition, um eine gute Zusammenarbeit anzustoßen. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist das Jugendamt. Hier fehlen einheitliche Standards. Bei substituierten Eltern sollten Jugendamt und Suchtberatung eng zusammenarbeiten, dies kann sehr positive Auswirkungen haben: Der ‚Faktor Elternschaft‘ kann sogar zum Übergang in eine Reha motivieren. Manche Jugendhilfemaßnahmen müssten erst gar nicht durchgeführt werden (was auch Kosteneinsparungen bedeutet). Kooperationen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem wären angesichts der stark vertretenen komorbiden Störungen bei Substituierten wichtig, sind aber in der Praxis schwierig. Substituierte (und Suchtpatienten generell) sind häufig unzuverlässig, es stellt sich das Problem der Verträglichkeit von Substitutionsmittel und Psychopharmaka, und manche Therapeuten halten eine Psychotherapie unter Substitution nicht für durchführbar. Eine Kooperation zwischen Suchtberatung und dem sozialpsychiatrischen Dienst wird zu wenig genutzt. Eine Vermittlung von Substituierten in die Suchtreha findet nur selten statt, obwohl viele Substituierte die Reha bereits kennen und die Substitution irgendwann auch beenden möchten. An einer Reha unter Erhaltungsdosis hätten Substituierte einer Umfrage in Schleswig-Holstein zufolge jedoch ein deutlich höheres Interesse, v. a. im ambulanten Setting. Als weitere Kooperationspartner kämen die Jobcenter in Frage, da über 50 Prozent der Substituierten in PSB ALG II beziehen. Aber von Seiten der Jobcenter gibt es keine besonderen Maßnahmen oder Kooperationen mit der Suchtberatung.

    Als Entwicklungschancen fasste Zehr zum Abschluss folgende Aspekte zusammen: Der ‚Motivationsfaktor Elternschaft‘ sollte genutzt werden, für die Kooperation zwischen Jugend- und Suchthilfe müssen und können einheitliche Standards geschaffen werden. Die Suchtberatung sollte den Ärzten proaktiv ihr Case Management anbieten und sich um einen ‚Quasi-Versorgungsauftrag‘ durch die Kommune bemühen. Die Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Versorgung sollte verbessert und Modelle der Suchtreha unter Erhaltungsdosis sollten genutzt und ausgeweitet werden.

    Suchtmedizin: Zielhierarchie und Substitutionsrecht

    05_Meyer-ThompsonHans-Günter Meyer-Thompson, bis August 2015 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), stellte in seinem Vortrag die „Substitutionsbehandlung aus Sicht der Suchtmedizin“ dar und setzte sich kritisch mit dem von FVS und fdr gemeinsam veröffentlichten „Positionspapier zur stärkeren Vernetzung von Substitution und Entwöhnungsbehandlung“ (SuchtAktuell 2-2014) auseinander. Er hob die Vorteile der Substitution hervor: Sie sichert Überleben, stillt den Opiathunger und ermöglicht es den Klienten, stabile Lebensverhältnisse aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie hat die Ausbreitung von AIDS und die Zahl der Drogentoten reduziert. Meyer-Thompson stellte dar, inwiefern die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen zur Substitution die Patienten/-innen diskriminieren – zwangsweise PSB, keine Abgabe des Substitutionsmittels in der Apotheke, tägliche Termine in der Arztpraxis, dadurch keine Urlaubsmöglichkeit, Unterdosierung in Reha-Einrichtungen – und die Ärzte von vornherein „mit einem Bein im Gefängnis“ stehen lassen.

    Deshalb fordert die DGS zum einen eine neue Zielhierarchie in der Behandlung. Abstinenzorientierung soll gleichrangig mit Zielen sein, die durch Substitution erreicht werden, wie Hilfe zum Überleben, Behandlung von Begleiterkrankungen, Reduktion des Gebrauchs psychotroper Substanzen sowie Verringerung der Risiken einer Opiat-/Opioidabhängigkeit während Schwangerschaft und Geburt. Außerdem wird eine bessere Versorgung bestimmter Patientengruppen gefordert. Dazu gehören opioidabhängige Strafgefangene, substituierte Eltern, Einwanderer und Flüchtlinge sowie Patienten mit Beikonsum. Für Substituierte mit schweren psychischen Störungen soll der Zugang zur ambulanten Psychotherapie verbessert werden. Zum anderen fordert die DGS eine Änderung des Substitutionsrechts. Die unmittelbare ärztliche Tätigkeit gehört in Richt- und Leitlinien geregelt, Behandlungsfehler sind demzufolge durch das Berufsrecht und nicht durch das Strafrecht zu sanktionieren.

    Abschließend plädierte Meyer-Thompson dafür, dass ambulante Substitutionsbehandlung und stationäre Therapie aufeinander zugehen sollten, um die jeweiligen Stärken, Schwächen und Erfahrungen zu analysieren. Auf dieser Grundlage sollten gemeinsam die Kriterien für die im Einzelfall beste Behandlung weiterentwickelt werden.

    Entzug: Motivationsförderung und Anschlussperspektiven

    06_Kuhlmann_rÜber „Opioidabhängige im Entzug“ referierte Dr. Thomas Kuhlmann von der Psychosomatischen Klinik Bergisch Gladbach. Er stellte zunächst die wesentlichen Inhalte des qualifizierten Entzugs dar. Dazu gehören Motivationsförderung, Teilhabeorientierung und das Erarbeiten einer Anschlussperspektive. Anschließend berichtete Kuhlmann detailliert über verschiedene Aspekte des medikamentengestützten Entzugs. Dieser ist bei Entzugserscheinungen die Methode der ersten Wahl. Hierbei werden die eingesetzten Medikamente entweder homolog abdosiert, als ‚Krücke‘ für den Entzug, oder bis zur Erhaltungsdosis aufdosiert, wenn eine Substitutionsbehandlung durchgeführt werden soll. Neben der Reduzierung der Entzugserscheinungen können die verabreichten Opiatanaloga eine Reihe weiterer Wirkungen hervorrufen: Sie wirken sedierend oder nicht sedierend, können zu Verstopfung, Schweißneigung und Atemdepression führen und die Libido dämpfen. Um Letzteres auszugleichen, konsumieren Substituierte häufig Kokain. Die Ausprägung der Nebenwirkungen fallen individuell sehr unterschiedlich aus.

    Eine besonders wichtige Rolle beim Entzug spielt die Motivationsförderung. Dabei soll der Behandler dem Patienten Perspektiven aufzeigen können, da die Patienten sich meist selbst gar keine Perspektiven vorstellen können. Diese Perspektiven sollen nach der Entzugsbehandlung nahtlos weiterverfolgt werden können. Gleichzeitig soll als Ziel der Behandlung ein „Menu of options“ in Frage kommen, von der diamorphingestützten Behandlung bis hin zur medizinischen Reha. Um eine kurzfristige und mittelfristige Anschlussperspektive herzustellen, müssen z. B. folgende Punkte geklärt werden: Bestehen Probleme mit der Justiz oder dem Ausländeramt? Wie ist die Wohn- und Arbeitssituation? Wie geht es in der Behandlung weiter?

    Als Fazit fasste Kuhlmann zusammen, dass eine sozialpsychiatrische Haltung entscheidend für eine gute (Entzugs-)Behandlung Opiatabhängiger ist. Dafür stellt die Spaltung des Hilfesystems in niederschwellig, überlebenssichernd und ausstiegsorientiert ein großes Problem dar. Diese Spaltung muss überwunden werden, um Überleben und Teilhabe zu sichern. Substitution darf kein Ausschlusskriterium für medizinische Reha sein, und auch Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnangebote (z. B. Clean-WGs) müssen weiterentwickelt werden.

    Entwöhnung: Abstinenzquoten und Prädiktoren für den Behandlungserfolg

    07_Fischer_rMartina Fischer von der AHG Klinik Daun-Altburg stellte in ihrem Vortrag anhand von Katamnesedaten den Erfolg der stationären Entwöhnungsbehandlung bei Opioid- und Drogenabhängigkeit dar. Sie berichtete über den Entlassjahrgang 2012 in sieben Drogenkliniken des FVS (mit einem Rücklauf von mindesten 25 Prozent). Die Gesamtstichprobe umfasste insgesamt 1.275 Patienten. Diese zeichneten sich durch eine hohe Haltequote aus (planmäßige Behandlungsdauer 59 Prozent). Der Anteil der opioidabhängigen Patienten sinkt gegenüber den Vorjahren, er machte nur noch 16,8 Prozent aus. Am stärksten vertreten (30,8 Prozent) waren Patienten mit multiplem Substanzgebrauch.

    Fischer berichtete über die katamnestischen Erfolgsquoten, die den Anteil abstinent lebender ehemaliger Patienten erfassen. Die katamnestischen Erfolgsquoten werden üblicherweise mit den Berechnungsformen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DGSS) ermittelt. Für die oben genannte Stichprobe betrug die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS 3 66,0 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf die in der Katamneseuntersuchung erreichten Patienten (Antworter) bezogen. Nach DGSS 4 betrug die katamnestische Erfolgsquote 21,2 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf alle entlassenen Patienten bezogen. Die Quote der Antworter (Ausschöpfungsquote) lag in dieser Untersuchung bei 32,1 Prozent. Von den planmäßig entlassenen Patienten wurden 43,2 Prozent innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung rückfällig.

    Bezogen auf den Entlassjahrgang 2011 wurde untersucht, welche Prädiktoren auf das Behandlungsergebnis und die katamnestische Erfolgsquote schließen lassen. Im Hinblick auf die Entlassform wirken sich Auflagen vom Gericht und sonstige Auflagen, F 12- und F 14-Diagnosen (Störungen durch Cannabinoide bzw. Störungen durch Kokain, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10) und eine längere Therapiezeit positiv aus. Frauen schließen häufiger regulär ab als Männer. Männer antworten seltener als Frauen bei der Katamnesebefragung, weitere ungünstige Faktoren hierfür sind keine Ausbildung, Auflagen vom Gericht, Arbeitslosigkeit und eine F 11-Diagnose (Störungen durch Opioide, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10). Eine reguläre Entlassung und eine längere Therapie begünstigen Abstinenz, wohingegen gerichtliche Auflagen häufig in Zusammenhang mit einer schlechteren Abstinenzquote vorkommen.

    Als besonders nützliche Intervention in der stationären Reha hob Fischer die Entwicklung der Ausstiegsmotivation hervor, d. h. Ausstieg aus der schlechten Gesamtsituation. Voraussetzungen dafür sind Drogenfreiheit sowie eine realistische und subjektiv wertvolle Zukunftsperspektive. Den Patienten/-innen soll bewusst werden, dass es eine Ausstiegsmöglichkeit gibt, dazu brauchen sie auch die Kenntnis des Hilfesystems.

    Die stationäre Reha weist eine Reihe an Wirkfaktoren auf. Dazu gehören insbesondere das Herauslösen des Patienten/der Patientin aus dem gewohnten Umfeld, die individuelle Anpassung von Behandlungsangeboten aus Medizin, Psychotherapie, Ergo-/Arbeitstherapie und sozialer Arbeit sowie die Möglichkeit, innerhalb einer Gemeinschaft neue Beziehungserfahrungen zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die stationäre Reha mit stabilen Abstinenzquoten sehr erfolgreich ist.

    Reha mit Substitution: Patienten mit höherer Problembelastung

    08_Claussen_rDen Abschluss in der Reihe der Vorträge machte Ulrich Claussen von der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ mit seinem Beitrag „Substitutionsgestützte Rehabilitation als zusätzliche Angebotsform“. Die Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ nimmt seit 2012 substituierte Patienten/-innen auf. Ziele der Behandlung sind die Abstinenz und die Abdosierung des Substitutionsmittels. Letztere wird über die Jahre gesehen bisher von einem Viertel die Patienten/-innen erreicht. Vor Beginn der Reha soll der Beikonsum eingestellt und die Eingangsdosis von 60 Milligramm Methadon erreicht sein. Der Zugang über eine Übergangseinrichtung sichert diese Voraussetzungen.

    Die Rehabilitationsbehandlung selbst ist in drei Phasen eingeteilt. Nachdem in Phase I, der Klärungsphase, Diagnostik und Motivationsarbeit durchgeführt und Ziele vereinbart wurden, soll in Phase II, der Veränderungsphase, abdosiert und Symptome behandelt werden. Phase III dient der Stabilisierung der Abstinenz, hier soll eine Orientierung nach außen erfolgen, ebenso Rückfallprävention und die Planung der Nachsorge. Zu den Herausforderungen, die im Verlauf der Behandlung gemeistert werden müssen, gehört es, Krisen beim Ausdosieren und Rückfälle nach dem Ausdosieren zu vermeiden bzw. Krisen schnell zu erkennen und zu bewältigen. Die Patienten/-innen erhalten jeweils einen individuellen Behandlungsplan zur Ausdosierung, es finden unterstützende und motivierende Gespräche in der Gruppe und psychotherapeutische Einzelsitzungen statt.

    Die substituierten Patienten/-innen sind gegenüber nicht substituierten Drogenpatienten durch eine erhöhte Problembelastung gekennzeichnet: Sie haben seltener einen Ausbildungsabschluss, beziehen häufiger Transferleistungen, weisen vermehrt körperliche und psychische Erkrankungen auf, hatten häufiger Vorbehandlungen, waren aber seltener vorher in Reha. In der Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ waren unter den Substituierten bisher vergleichsweise viele Frauen: Von den 57 Personen, die ihre Behandlung abgeschlossenen haben, waren 30 Prozent Frauen. Der Frauenanteil unter den nicht substituierten Opiatpatienten beträgt durchschnittlich zehn Prozent. Weiterhin zeigten die substituierten Patienten/-innen schlechtere Leistungen in Konzentration, Sorgfalt und Tempo beim Erledigen von Aufgaben.

    Rund 25 Prozent der Klientel haben die Ausdosierung erreicht, 30 Prozent haben die Ausdosierung begonnen, und 47 Prozent haben nicht ausdosiert. Dies kann daran liegen, dass sich komorbide Störungen wie Psychosen dadurch verschlimmern würden oder die Patienten körperlich dazu nicht in der Lage sind und das Rückfallrisiko zu sehr steigen würde. Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist die Nachsorge im Netzwerk des Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. Allen Patienten/-innen wird eine Weitervermittlung angeboten, bei irregulären Beendigungen der Behandlung hält der Träger verschiedene Auffangangebote bereit.

    Zur Weiterentwicklung und Verbesserung der substitutionsgestützten Reha wünscht sich Claussen eine breitere Datenbasis und Untersuchungen zu Prädiktoren eines erfolgreichen Reha-Verlaufs. Substitutionsgestützte Reha soll getrennt beforscht werden.

    Kommentare: Was wollen DRV, GKV, Bundesärztekammer und Suchtverbände?

    Im dritten Block der Veranstaltung waren Vertreter/-innen von DRV und GKV, der Bundesärztekammer und der Suchtverbände dazu aufgerufen, aus ihrer Sicht Kommentare zum Entwicklungsbedarf bei der Behandlung Opiatabhängiger abzugeben. Marie-Luise Delsa von der Deutschen Rentenversicherung Bund äußerte sich aufgrund des Inputs aus den vorangegangenen Vorträgen spontan. Ihrer Ansicht nach sollten die Patienten/-innen vor Beginn der Substitution besser über alle Möglichkeiten, die das Suchthilfesystem bietet, informiert werden, die Zahl der Personen in Substitution sei zu hoch. Wichtig seien nahtlose Übergänge in die Reha für Drogenpatienten und schnelle Bewilligungen der Anträge.

    10_Tolzin_rDr. Christoph Jonas Tolzin äußerte sich aus Sicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Er verwies auf die für die GKV verbindlichen rechtlichen Grundlagen der Behandlung Opiatabhängiger. Dazu zählen das Betäubungsmittelgesetzt, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV), die Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger und das SGB V. Aus den Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger zitierte er wesentliche Bestimmungen und die letzten Änderungen der Richtlinie Methadon aus dem Jahr 2013. Hier wurden die räumlichen und personellen Anforderungen an diamorphinsubstituierende Einrichtungen den realistischen Möglichkeiten angepasst. Eine Evaluation der Substitution mit Diamorphin sei abzuwarten.

    11_von_Ascheraden_rDr. Christoph von Ascheraden stellte dar, wie sich aus Sicht der Bundesärztekammer die BtMVV zur substitutionsgestützten Behandlung weiterentwickeln solle. Demnach solle die Zielhierarchisierung geändert und das absolute Diktum der Abstinenzorientierung entfernt werden. Substituierenden Ärzten dürften keine strafrechtlichen Sanktionen drohen. Etwaige Behandlungsfehler sollten ausschließlich berufsrechtlich geahndet werden. Beikonsum solle als „Beigebrauch“ oder „komorbider Substanzgebrauch“ bezeichnet und nicht ‚bestraft‘, sondern therapiert werden. Den Ärzten solle mehr Therapiefreiheit gegeben werden und eine Verschreibung des Substitutionsmittels auch für mehr als sieben Tage möglich sein. Eine enge Kontrolle und Sichtbezug zu Beginn der Behandlung seien absolut angemessen, aber bei stabilen Verhältnissen solle den Ärzten mehr Flexibilität möglich sein. von Ascheraden forderte, sich sehr um eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Substitution zu bemühen, damit sich mehr junge Ärzte für diesen Bereich entscheiden.

    12_Weissinger_rDas Abschlussstatement aus Sicht der Suchtverbände hielt Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. Er fasste zusammen, dass ein sehr vielfältiges und spezialisiertes Behandlungsangebot zur Verfügung steht, in dem jedoch die Übergänge zwischen den Behandlungsformen besser organisiert werden müssten. Insbesondere müsse die Brückenbildung zwischen Substitution und Reha ausgebaut werden, 200 bis 300 Übergänge pro Jahr aus der Substitution bei insgesamt 4.000 bis 5.000 Drogenpatienten in einer Reha-Maßnahme sei zu wenig. Grundlage der Behandlung ist ein ganzheitliches Bild des Patienten/der Patientin, für den/die je nach individuellem Bedarf ein passendes Behandlungsangebot gefunden werden muss. Um das sektorierte Behandlungssystem in Bewegung zu bringen, schlug Weissinger drei Maßnahmen vor:

    1. die Fortführung der Substitution in regelmäßigen Abständen kritisch zu hinterfragen. In Abstimmung mit der psychosozialen Betreuung sollen geeignete Patienten/-innen für die Reha motiviert werden.
    2. die nahtlose Überleitung in den Entzug bzw. in die Entwöhnungsbehandlung durch ein Überleitungs- bzw. Fallmanagement zu unterstützen. Ebenso soll bei Abbruch der Entwöhnungsbehandlung ein Fallmanagement unterstützend eingreifen und zeitnah die erforderlichen Hilfen einleiten.
    3. die Kriterien und Ziele der substitutionsgestützten Reha, wie sie in Anlage 4 der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen beschrieben sind, zu überprüfen, damit diese Behandlungsform vermehrt genutzt wird und sie ihre Funktion der Brückenbildung ausüben kann.

    Diskussion: Patienten und Kommunen einbinden

    An die Vorträge und Statements schloss sich eine sehr angeregt Diskussion an. Gefordert wurde, dass auch die Betroffenen und die Selbsthilfe am Diskurs beteiligt werden sollten. Auch im Rahmen der Behandlung selbst sollten die Patienten/-innen bei der Frage der Abdosierung ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht erhalten. In einem Teilnehmerstatement wurde angeregt, dass man von der Fokussierung auf Milligramm-Mengen des verabreichten Substitutionsmittels abrücken und die Gesamtsituation des Patienten betrachten müsse. Für ein zufriedenes Leben sind v. a. Tagesstruktur und Arbeit äußerst wichtig. Diese müssten für Substituierte geschaffen werden und könnten ggf. eine gute Grundlage für eine Abdosierung bieten.

    Neben einer Beteiligung der Betroffenen wurde auch die Einbindung von Kommunen und Ländern in den Diskurs gefordert – denn die bezahlen ‚Fallmanagement‘ und psychosoziale Betreuung, also diejenigen Interventionen, denen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Substituierten in die Reha zukommt. Kritisch wurde angemerkt, ob niedergelassene Psychotherapeuten tatsächlich eine Ressource für die ambulante Betreuung Substituierter darstellen, da sie meist keine Zusatzqualifikation Sucht aufweisen und Suchtkranke für sie oftmals ‚unattraktive‘ Patienten sind. Auch die Frage nach der Zuständigkeit wurde aufgeworfen. Da für Substituierte die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht immer möglich ist, sei für ihre Entwöhnung und den Entzug vom Substitutionsmittel die Krankenkasse zuständig.

    Die Hauptaufgabe zur Verbesserung der Behandlung Opiatabhängiger besteht darin, die Grenzen innerhalb des sektorierten Behandlungssystems zu überwinden. Dafür gehen die Mitarbeiter/-innen in den Einrichtungen bereits weit über ihren Auftrag hinaus. Weitere Brücken sollen gebaut werden! Gewünscht wurde ein offener Dialog mit allen Beteiligten: DRV, GKV, Ärztekammer, niedergelassene Ärzte, Suchtverbände und Betroffene. Ein Anfang wurde mit dieser Veranstaltung gemacht!

    Kontakt:

    Simone Schwarzer
    Redaktion KONTUREN online
    redaktion@konturen.de