Schlagwort: Suchtberatung

  • Der Beitrag der Suchtberatung zur Entstigmatisierung

    Der Beitrag der Suchtberatung zur Entstigmatisierung

    Der folgende Beitrag ist eine Verschriftlichung des Vortrags, den die Autorin im Rahmen der 34. Niedersächsischen Suchtkonferenz am 28. Oktober 2024 gehalten hat.

    Stigmatisierung: Definition und Dynamik

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens

    Stigmatisierung ist ein sozialer Prozess, bei dem Individuen oder Gruppen aufgrund bestimmter Merkmale negativ bewertet und ausgegrenzt werden. Diese Merkmale können physischer, psychischer oder sozialer Natur sein. Betroffene werden auf unerwünschte Eigenschaften reduziert, was ihre gesellschaftliche Teilhabe erheblich beeinträchtigt. Hirschauer (2021) beschreibt Stigmatisierung als eine Form der Humandifferenzierung, die kulturelle Unterscheidungen aufgreift, Personen auf unerwünschte Eigenschaften reduziert und so zu dauerhafter sozialer Ausgrenzung führt. Stigmatisierung fungiert hier als grundlegendes Prinzip sozialer Ordnung, das auf Komplexitätsreduktion und klassifizierenden Zuschreibungen basiert.

    Stigmatisierungen sind auch deshalb so stabil, weil Menschen sie für ihre Selbstbeschreibungen annehmen (Selbststigmatisierung). Dadurch verstärkt sich der Stigmatisierungsprozess. Ein zentrales Konzept in diesem Zusammenhang ist das Thomas-Theorem, das besagt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real.“ (Thomas & Thomas, 1928) Dies bedeutet, dass die subjektive Wahrnehmung einer Situation das Verhalten der Menschen beeinflusst und somit reale Konsequenzen nach sich zieht. Ein klassisches Beispiel hierfür aus einem anderen Kontext ist ein Bank-Run: Wenn Menschen glauben, dass eine Bank insolvent ist, werden sie massenhaft ihr Geld abheben, was tatsächlich zur Insolvenz der Bank führen kann, selbst wenn sie zuvor finanziell stabil war. Wenn also Menschen eine Selbststigmatisierung aufbauen und die negativen Zuschreibungen für real und gerechtfertigt halten, verhalten sie sich entsprechend und verstärken damit die Zuschreibungen von außen. Aus psychologischer Perspektive ist daher das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung, das von Merton (1948) eingeführt wurde, eng verbunden mit dem Thomas-Theorem. Eine selbsterfüllende Prophezeiung ist eine Vorhersage, die ihre eigene Erfüllung bewirkt, indem sie das Verhalten der Menschen so beeinflusst, dass die erwarteten Ereignisse eintreten.

    Stigmatisierung von Sucht

    Die Bewertung eines Verhaltens, das als „unmäßig“ beschrieben wird und in Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen, z. B. Alkohol, steht, ist seit der Antike eng mit gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen verknüpft. In vielen Kulturen wurde ein solches Verhalten als moralisches Versagen oder Charakterfehler angesehen, was zu sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung der Betroffenen führte, z. B. wurden sie als ungeeignet für Verantwortungspositionen eingeschätzt. Diese generalisierende Zuschreibung steht in einem engen Verhältnis mit einem weiteren Konstrukt, das als zentral für menschliches Zusammenleben eingeschätzt wird: Vertrauen. In sozialen Interaktionen ist Vertrauen essenziell. Es bildet die Grundlage für stabile und verlässliche Beziehungen. Hartmann (2020) definiert Vertrauen als das „Akzeptieren einer vulnerablen Position gegenüber einer anderen Person“. Menschen mit einem als unmäßig beurteilten Substanzkonsum, der als Sucht kategorisiert wird oder, wie es heute heißt, als Substanzkonsumstörung, werden oft als unzuverlässig und unberechenbar wahrgenommen. Sie gelten in unsicheren Situationen als „nicht vertrauenswürdig“. Ihnen gegenüber akzeptiert man nicht, in einer vulnerablen Position zu sein, denn es könnte eine Selbstgefährdung bedeuten, auf sie z. B. in der Familie oder am Arbeitsplatz angewiesen zu sein. Insofern haben Menschen, denen ein unmäßiger Konsum unterstellt wird, in sozialer Hinsicht seit der Antike ein Vertrauensproblem.

    Sucht und Krankheit

    Soziologisch betrachtet wird Krankheit als ein vorübergehender Zustand verstanden, der von gesellschaftlichen Normen abweicht und durch Behandlung gemildert oder geheilt werden kann. Für das Phänomen Sucht entsteht im Rahmen dieser Kategorisierung jedoch eine Herausforderung: Die Klassifizierung als „süchtig“ oder „abhängig“ dient einerseits als Voraussetzung für den Zugang zu Hilfsangeboten. Dahinter steht die wichtige Errungenschaft des Bundessozialgerichtsurteils von 1968, mit dem Sucht als Krankheit anerkannt wurde. Andererseits werden die Betroffenen durch die Klassifizierung mit negativen Zuschreibungen konfrontiert, das bestehende Stigma wird also verstärkt, weil es sich um eine klassifizierende Zuschreibung handelt. Diese Doppelfunktion der Krankheitsklassifikation führt dazu, dass Betroffene zwar Unterstützung erhalten können, gleichzeitig aber damit ihre soziale Ausgrenzung weiter vertiefen.

    Schwierige bürokratische Zugänge zu Hilfsangeboten tragen ebenfalls zur Verstärkung des Stigmas bei. Wenn dann noch Hilfeangebote aus Effizienzgründen standardisiert werden, kann dies dazu führen, dass individuelle Lebenslagen und spezifische Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden, was die Wirksamkeit der Hilfsangebote mindert und das Gefühl der Stigmatisierung bei den Betroffenen verstärkt. Die Etikettierung als „süchtig“ kann auch dazu führen, dass Betroffene von ihrem sozialen Umfeld auf ihre Suchtproblematik reduziert werden. Dadurch werden sie in ihren Aussagen und Wahrnehmungen nicht (mehr) ernst genommen und geraten aus systemischer Sicht in die Rolle einer Indexperson , deren Verhalten als zentrale Ursache für Schwierigkeiten in einem System wie z. B. Familie oder Arbeitsplatz gesehen wird.

    Rolle der Suchtberatung im sektorenübergreifenden Unterstützungssystem

    Teilhabe

    Die Tätigkeit der Suchtberatung ist aus sozialarbeiterischer Perspektive eng mit dem Konzept der Teilhabe verknüpft. Suchtberatung ermöglicht Teilhabe. Teilhabe bedeutet, dass Menschen aktiv am sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben auf der Basis ihrer Fähigkeiten teilnehmen können. Diese Teilnahme wird verstanden als eigene Entscheidung aufgrund einer Wahloption und erfolgt unter Einbringen der vorhandenen Fähigkeiten. Für suchterfahrene Personen bedeutet dies: Sie können selbst Angebote zur professionellen Unterstützung auswählen und auf Basis dessen, was sie mitbringen, daran teilnehmen. Vor dem Hintergrund, dass viele Angebote vor allem im medizinischen Kontext an ein Bekenntnis zu einer abstinenten Lebensweise gekoppelt sind, ist es nicht trivial, suchterfahrene Personen die Teilhabe an Hilfsangeboten zu ermöglichen. Sie gelten in medizinischen Kontexten als „schwierige Patienten“. Häufig kommen weitere Erkrankungen auf körperlicher oder psychischer Ebene (z. B. Schmerzen und/oder Depressionen) dazu, welche in Wechselwirkung mit der Suchterkrankung stehen können. Im medizinischen System Hilfe zu erhalten, ist für suchterfahrene Personen nicht selten mit weiteren Ausgrenzungserfahrungen verbunden, sodass Hilfe erst gar nicht gesucht wird. Oft wird die Ausgrenzung auch schon erwartet, und ein vorweggenommenes Abwehrverhalten (sich nicht an Terminabsprachen halten, intoxikiert kommen, latent aggressives Verhalten) trägt zum oben beschriebenen  Effekt der Selffulfilling Prophecy bei, was wiederum das gegenseitige Misstrauen erhöht.

    Diese Konstellation hat nicht selten zur Folge, dass unbehandelte körperliche oder psychische Erkrankungen sich in Kombination mit dem Konsum weiter verstärken bzw. sich chronifizieren. Die Gesamtsituation kann dann weiter eskalieren, wenn Erwerbsarbeit nicht mehr geleistet werden kann, das Familiensystem die Personen nicht weiter mittragen will oder am Ende der Verlust der Wohnung droht.

    Soziale Nothilfe und zieloffene Beratung

    Anlass für das Aufsuchen von Suchtberatung ist häufig, dass eine soziale Situation eskaliert ist, z. B. der Verlust des Arbeitsplatzes droht oder das familiäre Umfeld mit Ausgrenzung gedroht hat (Partner:in will sich trennen, Kinder dürfen nicht mehr besucht werden). Diese Situation wird von den Betroffenen nicht immer sofort mit dem eigenen Konsumverhalten in Zusammenhang gebracht, erleben sie sich doch eher als Getriebene, deren Spielräume immer enger werden. Vor dem Hintergrund der drohenden sozialen Ausschließung ist ein Hauptziel der Suchtberatung wie im „Ankerwirkmodell Suchtberatung“ herausgearbeitet (Ottmann, Hansjürgens, Tranel, 2024) daher zunächst, solche Eskalationsprozesse zu unterbrechen und die Personen in ihrem sozialen Umfeld zu stabilisieren. Dies gelingt z. B. durch Reflexion potenziell eskalierender Situationen und ggf. durch die Einleitung von Soforthilfe, z. B. durch Unterstützung bei der Integration in medizinische Behandlung oder bei der Kontaktaufnahme mit Ämtern, die Transferleistungen kürzen. Hierzu werden die Netzwerke der Beratungsstelle genutzt.

    Diese soziale Nothilfe in Verbindung mit dem Reflexionsangebot in Bezug auf das Konsumverhalten ermöglicht es den Betroffenen, aus akuten Krisen herauszutreten und einen klareren Blick auf ihre Situation zu gewinnen. Durch zieloffene Beratung werden dann Wege erarbeitet, wie Betroffene ihre Lebenssituation verbessern, ggf. wieder mehr Verantwortung für ihr Leben übernehmen und damit mehr Kontrolle wiedergewinnen können. Die Zieloffenheit der Beratung stellt einen geschützten Raum dar, in dem Betroffene ihre Herausforderungen offen ansprechen können. Gemeinsam mit Berater:innen können sie Lösungen erarbeiten, die ihren persönlichen Bedürfnissen und ihrer Situation entsprechen. Die Berater:innen zeigen Vertrauen in die Fähigkeit der Klient:innen, selbst zur Verbesserung ihrer Situation beitragen zu können, und ermöglichen damit eine Gegenerfahrung zu anderen sozialen Situationen. Dies wiederum kann das Vertrauen der Klient:innen in sich selbst und professionelle Unterstützung wieder erhöhen.

    Förderung selbstverantworteter Entscheidungsprozesse

    Ein weiterer zentraler Aspekt der Suchtberatung ist die Förderung selbstverantworteter, auf die Zukunft gerichteter Entscheidungsprozesse. Dazu gehört z. B., dass sich eine Person entscheidet, ob sie die Krankenrolle annehmen und sich in ärztliche oder psychotherapeutische Behandlungen begeben möchte. Diese Entscheidung ist nicht trivial, weil damit Anforderungen an die Person bzgl. ihrer zukünftigen Lebensgestaltung gestellt werden, z. B. die Entscheidung für eine abstinente Lebensform. Diese Entscheidung hat in der Regel wichtige Konsequenzen für das weitere Leben der Klient:innen. Das Für und Wider wird in der Beratung ergebnisoffen abgewogen. Zentral ist, diese Entscheidung als Entscheidung der Klient:innen zu akzeptieren und im Falle einer Entscheidung gegen die Annahme der Krankenrolle auch weiter Beratung und Unterstützung anzubieten, um die Erfahrung der Ausgrenzung nicht zu wiederholen und gewonnenes Vertrauen nicht wieder zu zerstören. In jedem Fall werden die Betroffenen ermutigt, Veränderungsziele zu definieren und diese in ihrem eigenen Tempo mit Unterstützung der Suchtberatung zu verfolgen. Empowerment-Prozesse, die darauf abzielen, das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Lebensbewältigung zu stärken, sind integraler Bestandteil der Arbeit der Suchtberatung. Insofern ist ein Entscheidungsprozess für oder gegen eine medizinische Behandlung zwar ein wichtiger Bestandteil von Suchtberatung, aber auf keinen Fall ihr einziger und wird auch nicht in jeder Beratung angefragt.

    Brücken bauen

    Darüber hinaus hilft die Suchtberatung, Brücken zwischen den suchterfahrenen Personen und ihrem sozialräumlichen Umfeld zu bauen. Dies geschieht beispielsweise durch die Förderung von Selbsthilfegruppen oder durch die Zusammenarbeit mit anderen sozialen und medizinischen Einrichtungen. Netzwerkarbeit trägt dazu bei, soziale Räume zu schaffen, in denen suchterfahrene Menschen als vollwertige Mitglieder akzeptiert werden und sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können. Dadurch wird Teilhabe nicht nur ermöglicht, sondern aktiv gefördert.

    Entstigmatisierende Wirkung der Suchtberatung

    Durch die Annahme der Krankenrolle und die Integration in das medizinische Hilfesystem oder durch die aktive Umsetzung von Veränderungswünschen außerhalb des medizinischen Systems können Betroffene wieder Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, sich zunehmend wieder als verlässliche Interaktionspartner etablieren und sich für ihr Umfeld wieder als vertrauenswürdig erweisen. Dies gilt auch für die Selbstwahrnehmung und einen Zuwachs an „Selbst-Vertrauen“. In der Folge tragen diese Prozesse mit Blick auf einen gesellschaftlichen Impact zu der Botschaft bei, dass Sucht behandelbar und bewältigbar ist. Indem Menschen durch Selbstreflexion und Unterstützung in die Lage versetzt werden, selbstgewählte Veränderungsprozesse umzusetzen, und ein soziales Umfeld dies auch wahrnehmen kann, wird ein differenzierter Blick auf suchterfahrene Menschen gefördert.

    Die Unterstützung durch Suchtberatungen umfasst neben der individuellen Beratung und Begleitung von längeren Veränderungsprozessen auch die Förderung von Selbsthilfeaktivitäten und die Wiedereingliederung in soziale Netzwerke. Die Netzwerkarbeit der Beratungsstellen mit dem regionalen Unterstützungssystem (z. B. mit dem Jugendamt oder dem Jobcenter) trägt dazu bei, differenzierte Perspektiven auf Sucht auch in öffentlichen Räumen zu etablieren und Vertrauen in die Möglichkeit der Überwindung von Abhängigkeitsstörungen zu schaffen. Dies trägt dazu bei, ein generalisiertes Misstrauen abzubauen. Durch den Aufbau von Kooperationen (z. B. zwischen Selbsthilfe und Schulen) entstehen Gelegenheiten, weitere soziale Räume für suchterfahrene Menschen zu öffnen und ihnen die Möglichkeit zu geben, über ihre Erfahrungen und Veränderungsprozesse zu berichten und selbst aktiv zur Entstigmatisierung beizutragen. Indem suchterfahrende Personen (zu denen auch das soziale Umfeld gezählt werden kann) ermutigt werden, als authentische und verlässliche Interaktionspartner aufzutreten, wird ein Prozess der gegenseitigen Akzeptanz und damit die (Wieder-) Ermöglichung von Teilhabe gefördert.

    Fazit

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Suchtberatungen einen wesentlichen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten. Sie helfen suchterfahrenen Personen und ihrem sozialen Umfeld, gegenseitiges Vertrauen wieder aufzubauen. Durch die Unterstützung von selbstverantworteten Entscheidungen insbesondere in der Frage, ob eine suchtmedizinische Behandlung angestrebt wird, tragen sie zur Nachhaltigkeit einer solchen Behandlung bei. Darüber hinaus ermöglicht Netzwerkarbeit in den Sozialraum hinein eine differenziertere Wahrnehmung suchterfahrener Personen. Letzteres geschieht sowohl durch Bildungsarbeit als auch durch konkrete Unterstützungsangebote und die Selbsthilfe. Letztlich stellen Suchtberatungen damit eine Plattform bereit, die es suchterfahrenen Personen ermöglicht, selbst aktiv zur Entstigmatisierung beizutragen. Dies kann klassischerweise als ein Beitrag von Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden.

    Angaben zur Autorin und Kontakt:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens
    Professorin für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik
    Supervisionsbeauftrage
    Sozialarbeiterin M. A. Professional Studies, Clinical Social Worker & Clinical Mentor (ECCSW)
    Systemische Beraterin
    Alice-Salomon-Hochschule, Berlin
    E-Mail: Hansjuergens(at)ash-berlin.eu

    Literatur:
    • Bartelheimer, P., Behrisch, B., Daßler, H., Dobslaw, G., Henke, J., & Schäfers, M. (2022). Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Wansing, G., Schäfers, M., & Köbsell, S. (Hrsg.): Teilhabe­forschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, S. 13–34. Wiesbaden: Springer.
    • Hansjürgens, Rita; Ottmann, Sebastian (2025): Ankerwirkmodell Suchtberatung. Wirkannahmen zur Funktion Suchtberatung in: Soziale Arbeit. Berlin: DZI S. 17-24
      DOI: doi.org/10.5771/0490-1606-2025-1-17 (open access)
    • Hartmann, M. (2020). Vertrauen: Die unsichtbare Macht. Frankfurt am Main: S. Fischer
    • Hirschauer, S. (2021). Menschen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Humandifferenzierung. Zeitschrift für Soziologie, 50, 155–174.
    • Merton, R. K. (1948). The Self-Fulfilling Prophecy. Antioch Review, 8 (2), 193–210.
    • Thomas, W. I., & Thomas, D. S. (1928). The Child in America: Behavior Problems and Programs. New York: Knopf.
  • Chemsex und seine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung

    Chemsex und seine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung

    Das Phänomen Chemsex wurde 2020 von Grümer und Iking (vgl. S. 6) als neue Herausforderung für die Suchthilfe beschrieben und früher als ein spezielles Thema der Communityberatungen behandelt. Inzwischen hat es auch eine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung erlangt. Der vorliegende Artikel widmet sich dem Überblick über das Phänomen Chemsex und beschreibt praxisorientierte Ansätze für die Beratung von Männern*, die Chemsex praktizieren und Beratungsstellen aufsuchen. Die Schreibweise Männer* bzw. die Verwendung der maskulinen Form mit Genderstern weist darauf hin, dass alle gemeint sind, die sich selbst als männlich positionieren, und nicht nur Cis-Männer.

    Überblick

    Herkunft und Bedeutung des Begriffs

    Der Begriff Chemsex ist eine aus dem Englischen entlehnte Wortneuschöpfung, welche sich aus den Worten „chemicals“ (engl. Substanzen) und „sex“ zusammensetzt. Die Kombination der beiden Begriffe führte zum Akronym Chemsex (vgl. Haslebacher et al. 2022, o. S.). Sander und Gamsavar (vgl. 2022, S. 5) beschreiben das Phänomen als eine spezifische kulturelle Praxis von Männern*, die Sex mit Männern* haben (MSM*), bei der häufiger in privaten Settings psychotrope Substanzen im sexuellen Kontext konsumiert werden. Erstmals wurde das Phänomen zu Beginn des Jahrtausends beschrieben. Nach David Stuart (2016) entstand der Begriff Chemsex auf Dating-Apps für homosexuelle Männer* und wurde vom Bereich der sexuellen Gesundheit übernommen.

    Obgleich die mediale Aufmerksamkeit dazu geführt haben mag, dass der Begriff in einer Weise verwendet wird, die den Konsum von Drogen in sexuellen Kontexten durch eine beliebige Gruppe an Menschen beschreibt, bezeichnet Chemsex tatsächlich die Verwendung von bestimmten Substanzen von Männern*, die Sex mit Männern* haben (MSM*), vor oder während des Geschlechtsverkehrs. Zu diesen Substanzen gehören unter anderem Crystal Meth, Mephedron, GHB/GBL und Ketamin (vgl. Stuart 2016, S. 295; Bourne et al. 2014a, S. 3 f.). Der Konsum der genannten Substanzen erfolgt in erster Linie oral, nasal oder durch Inhalation. Darüber hinaus wird auch ein intravenöser Konsum beobachtet, insbesondere von Methamphetamin (vgl. Deimel/Stöver 2015, S. 66). Der intravenöse Gebrauch von Substanzen wird durch den Begriff „Slamming“ beschrieben. Im deutschen Sprachgebrauch wird der Begriff mit „(zu)knallen“ assoziiert, da die Wirkung unmittelbar einsetzt (vgl. DAH 2014, o. S.). Allerdings wird der intravenöse Konsum lediglich von einer Minderheit der MSM* praktiziert (vgl. Deimel et al. 2017, S. 255).

    Motive des Konsums

    Die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung (Clubdrug Studie von Graf et al. 2016) legen dar, welche Motive hinter dem Substanzkonsum im sexuellen Setting bei MSM* stehen können. Die Befragten berichten von der Erfahrung von Entgrenzung, einer Steigerung der sexuellen Leistungsfähigkeit sowie einem intensiveren sexuellen Erleben. Zudem wird von einem Abbau von Scham und Tabus  berichtet (vgl. Deimel et al. 2017, S. 255).

    Im Laufe der Zeit hat sich die Perspektive auf die Praktik gewandelt und es konnten weitere Merkmale bzw. Motive identifiziert werden. Im Rahmen der Chemsexkonferenz (2016) wurde dargelegt, dass Klienten* einen starken Wunsch nach Intimität, Beziehung und Nähe hegen oder dass die Praktik eine Art des Eskapismus darstellt, da MSM* mit verschiedenen Stressoren konfrontiert sind. Der Konsum von Substanzen diene dazu, Unsicherheiten in Bezug auf den eigenen Körper und die sexuelle Praxis zu reduzieren (Sander & Gamsavar 2022, S. 5). Des Weiteren bewegen sich überproportional viele Männer* mit HIV in diesem Kontext. Dies lässt darauf schließen, dass es hier keine Stigmatisierung von HIV-positiven Männern* gibt (ebd.). Das Phänomen Chemsex bzw. die „sexuelle Subkultur“ kann auch als kollektiver psychologischer Abwehrmechanismus gegen Selbstwertkonflikte, Scham, Angst oder Selbstzweifel betrachtet werden (Großer 2022, S. 9). In der Folge kann die These aufgestellt werden, dass Chemsex als Strategie genutzt wird, um sich zeitweise der gesellschaftlichen und subkulturellen Optimierung zu entziehen (vgl. Sander & Gamsavar 2022, S. 5).

    Gesundheitsrisiken

    Der Konsum von Substanzen im Kontext sexueller Aktivitäten wird mit einem erhöhten Risiko für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (STI) assoziiert. Diese Annahme basiert auf der Hypothese, dass die Wirkung von Substanzen dazu führen kann, dass MSM* nicht mehr ausreichend Safer-Sex- und Safer-Use-Strategien anwenden (vgl. Deimel et al. 2017, S. 253). Tatsächlich kann der Konsum im sexuellen Setting zu Infektionen führen. Doch solche monokausalen Erklärungsmuster sollten in der Beratung vermieden werden (vgl. Bochow et al. 2011, S. 131 f.). Neben anderen physischen Auffälligkeiten wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schlafproblemen und Entzugserscheinungen beschreiben die MSM*, die in der Untersuchung von Deimel et al. (2017) befragt wurden, psychische Folgen wie „Panikattacken, Angstzustände und Psychosen“ (S. 256 f.).

    Globalisierung und Digitalisierung – Zugang zur schwulen Sexkultur

    Das Phänomen Chemsex manifestiert sich nicht ausschließlich in spezifischen geographischen Regionen, sondern muss aufgrund von Globalisierung und Digitalisierung international betrachtet werden (vgl. Großer 2022, S. 11). Aufgrund der globalen Mobilität, der Sexarbeit sowie des international verfügbaren Zugangs zur Pornoindustrie hat sich eine global agierende schwule Sexkultur entwickelt (vgl. ebd.). In dieser Kultur wurden Verhaltensregeln, Rituale und Substanzen etabliert, die gemeinschaftsbildende Erfahrungen und sexuelle Erlebnisse ermöglichen. Chemsex kann als Subkultur innerhalb der schwulen Sexkultur definiert werden, deren Verbreitung größtenteils über digitale Plattformen erfolgt (ebd.). Eine Besonderheit digitaler Kontaktseiten besteht darin, dass die Suche nach Sexpartnern nicht mehr örtlich oder zeitlich beschränkt ist. So werden Möglichkeiten geschaffen, dass MSM* in ländlichen Räumen mit schwacher Infrastruktur Zugang zur schwulen Sexkultur haben und Teil der schwulen Lebenswelt der Metropolen sein können (vgl. Großer 2022, S. 11). Es lässt sich jedoch ein Zusammenhang zwischen der Stadtgröße und dem Anteil von Usern* mit problematischem Substanzgebrauch feststellen (vgl. Sander, Gamsavar 2022, S. 5).

    Ein Thema für verschiedene Professionen

    Es ist insgesamt festzuhalten, dass Chemsex nicht ausschließlich als Subkultur innerhalb der schwulen Sexkultur zu werten ist, sondern auch als Praktik, die in verschiedenen Professionen thematisiert werden kann. So ist auch die Soziale Arbeit gefordert, wenn Männer* die negativen Konsequenzen ihres Substanzkonsums im sexuellen Kontext erleben und Unterstützung im System suchen. Daher sind nicht nur Projekte, die sich an der schwulen Lebenswelt orientieren, gefragt, sondern auch allgemeine Drogen- und Suchtberatungen, die sich der Dimensionen von Sexualität und Substanzkonsum bewusst sind (vgl. Deimel et al. 2017, S. 257 f.). Infolgedessen betrifft das Thema Chemsex verschiedene professionelle Handlungsfelder, darunter Drogenhilfe, sexuelle Gesundheit und psychosoziale Beratung. Die Nutzung digitaler Räume hat die Reichweite und Sichtbarkeit des Themas deutlich erhöht. Zudem beschränkt sich die Thematik nicht nur auf Großstädte, sondern stellt ein globales Phänomen dar.

    Praktische Ansätze für die Drogen- und Suchtberatung

    Die Beratung von Männern*, die zum Thema Chemsex Rat und Hilfe suchen, erfordert eine flexible und vernetzte Herangehensweise. Im Folgenden werden mögliche praktische Ansätze in der Beratung vorgestellt, die in Betracht gezogen werden sollten. Diese Ansätze wurden ausführlich im Rahmen einer Abschlussarbeit mit dem Titel „Rekonstruktion der professionellen Wissensbasis in der Drogen- und Suchtberatung zum Thema Chemsex – Substanzkonsum im sexuellen Setting bei Männern*, die Sex mit Männern* haben“ (Keßler 2023) beschrieben.

    Sensibilisierung, Wissensaufbau und Arbeitsbeziehung

    Von essenzieller Bedeutung ist, dass die Beratenden für das Thema sensibilisiert sind und eine Grundidee von der Lebenswelt der Klientel haben. Hierdurch können Missverständnisse und erneute Outingprozesse vermieden werden. Es ist für Beratende unerlässlich, die sozialen und individuellen Dimensionen von Chemsex zu verstehen, um erfolgreich handeln zu können. Fortbildungen müssen sowohl die Substanzkunde als auch die Dynamiken von Chemsex-Settings abdecken. Im Weiteren sollten Beratende mit den Begriffen vertraut sein, die in Chemsex-affinen Räumen verwendet werden, um möglichst gezielte Fragen stellen zu können und eine Offenheit dem Thema gegenüber zu signalisieren. Zum Beispiel werden Substanzen nicht immer unter ihren eigentlichen Namen genannt, sondern oft codiert. So wird Methamphetamin als „Tina“ bezeichnet, während GHB/GBL den Namen „Gina“ trägt. Zudem kann auf Dating-Apps durch Abkürzungen wie „PnP“ („Party and Play“) signalisiert werden, dass man für Chemsex offen ist.

    Von besonderer Relevanz ist die Auseinandersetzung mit Stigmata und Vorurteilen, denen die Klientel potenziell ausgesetzt ist. Die Entwicklung eines Verständnisses für die Lebenswelt der Männer* erleichtert den Klienten* den Zugang zur Beratung. Dies setzt außerdem voraus, dass ein Raum geschaffen wird, in dem sich die Klienten* verstanden und wertfrei angenommen fühlen.

    Dabei ist es nicht das Ziel, dass jede*r Beratende unzählige Fortbildungen zu dem Thema absolviert und zur Expert*in wird. Vielmehr geht es darum, eine wertschätzende Haltung zu entwickeln, die es ermöglicht, in einen Dialog zu treten. Der Aufbau einer respektvollen, vertrauensvollen und vorurteilsfreien Beziehung ist essenziell für eine effektive Beratung im Kontext von Chemsex. Viele Klienten* erleben aufgrund ihres Substanzkonsums im sexuellen Setting Scham, Schuldgefühle und Angst vor Stigmatisierung, was ihre Bereitschaft, offen über ihre Situation zu sprechen, beeinträchtigen kann. Beratende sollten eine Atmosphäre schaffen, die Offenheit, Sicherheit und Akzeptanz signalisiert. Eine affirmierende Haltung gegenüber den Lebensrealitäten von LGBTQI*-Personen umfasst nicht nur die Vermeidung von Vorurteilen, sondern auch ein aktives Verständnis und die Anerkennung der spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse, mit denen die Klientel konfrontiert sein kann. Dazu gehört das Wissen um die kulturellen und sozialen Aspekte der LGBTQI*-Community ebenso wie die Sensibilität für Themen wie Diskriminierung, Minderheitenstress und die Rolle von Substanzen in diesem Kontext. Das Ziel ist, eine Beratungsbeziehung zu etablieren, in der sich Klienten* angenommen fühlen und ihre Bedürfnisse, Ängste und Ambivalenzen frei äußern können.

    Thematisierung von Konsummustern und Sexualität

    In der Beratung ist es entscheidend, Substanzkonsum und Sexualität als eng miteinander verknüpfte Themen zu betrachten. Viele der User* erleben Herausforderungen, die aus dieser Dynamik entstehen, wie beispielsweise keine Lust mehr zu empfinden, wenn der Substanzgebrauch wegfällt. Eine klare, wertschätzende und wertfreie Ansprache ist unerlässlich, um Hemmungen und Schamgefühle zu verringern. Sensibilität gegenüber den Themen Sexualität und Konsum ist besonders wichtig, da diese von Stigmatisierung und Schuldgefühlen begleitet werden können. Beratende sollten darauf achten, dass die Gespräche Raum für Offenheit bieten, ohne den Eindruck von Beurteilung oder moralischer Ablehnung zu vermitteln. Durch eine behutsame Thematisierung können Klienten* nicht nur ihre Konsummuster besser verstehen, sondern auch mögliche Risiken und Folgen erkennen, was eine Grundlage für Veränderungsprozesse schaffen kann.

    Förderung von Safer-Use- und Safer-Sex-Strategien

    Ein zentraler Bestandteil der Beratung im Kontext von Chemsex ist die Förderung von Safer-Use- und Safer-Sex-Strategien. Praktische und alltagstaugliche Maßnahmen zur Risikoreduktion tragen dazu bei, gesundheitliche Schäden zu minimieren und die Klientel dabei zu unterstützen, ein bewussteres Verhalten zu entwickeln. Die Bereitstellung und Vermittlung von Informationen über die sichere Nutzung von Konsumutensilien ist, insbesondere bei Praktiken wie dem Slamming, von Bedeutung. Das umfasst die Weitergabe von Informationen über die Bedeutung steriler Spritzen und Nadeln, um Infektionen wie HIV oder Hepatitis C zu vermeiden, sowie Informationen zur sicheren Entsorgung von gebrauchten Utensilien, um das Risiko für andere Personen zu minimieren. Darüber hinaus sollten risikoärmere Konsumformen empfohlen werden wie z. B. nasaler Konsum statt intravenöser Applikation, und es sollten Anwendungsformen wie „up your bum“ (Drogenapplikation in den Anus) thematisiert werden.

    Die Mischung verschiedener Substanzen im Chemsex-Kontext kann erhebliche gesundheitliche Risiken bergen wie z. B. unerwartete Wechselwirkungen oder Überdosierungen. Beratende sollten auf riskante Kombinationen bestimmter Substanzen hinweisen und über Symptome von Überdosierungen und Erste-Hilfe-Maßnahmen informieren. Auch in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das Zusammendenken von Substanzgebrauch und Sex erforderlich ist, da die Förderung sexueller Gesundheit ein integraler Bestandteil der Beratung sein sollte. Beratende können mit den Klienten* ins Gespräch gehen und auf gängige Safer-Sex-Strategien wie die Nutzung von Kondomen etc. hinweisen. Im Weiteren können Informationen über die Anwendung der PrEP (Prä-Expositionsprophylaxe) oder PEP (Post-Expositionsprophylaxe) unterstützend sein. Neben der Beratung zu diesen präventiven Maßnahmen sollten Beratende wissen, in welchen Institutionen die Klienten* einfachen Zugang zu diesen Maßnahmen haben, wo zum Beispiel niederschwellige Check-ups in Anspruch genommen werden können, um frühzeitig Infektionen zu erkennen und behandeln lassen zu können.

    Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Netzwerkbildung

    Hilfe und Beratung im Zusammenhang mit Chemsex erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise, um die vielfältigen Bedarfe der Klienten* zu adressieren. Beratende sollten enge Kontakte zu spezialisierten Einrichtungen wie HIV- und STI-Beratungsstellen, sexuellen Gesundheitsdiensten und LGBTQI*-Organisationen pflegen. Zentrale Aufgaben der Beratenden sind die gezielte Weiterleitung von Klienten*, die Unterstützung bei organisatorischen Hürden sowie die Koordination zwischen den beteiligten Stellen. Interdisziplinäre Fallbesprechungen können bei komplexen Situationen hilfreich sein, um gemeinsame Lösungsstrategien zu entwickeln. Die Zusammenarbeit in Netzwerken stärkt nicht nur die Betreuung der Klienten*, sondern fördert auch den Austausch und die Weiterbildung der Fachkräfte, wodurch die Versorgungsqualität nachhaltig verbessert wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Berliner Chemsex-Netzwerk, das sich aus verschiedenen Professionen zusammensetzt und in regelmäßigen Abständen zusammenkommt, um sich zu aktuellen Themen in Bezug auf Chemsex auszutauschen und zu kooperieren.

    Begleitung und Rückfallprävention

    Für Männer* mit komplexen Problemlagen im Zusammenhang mit Chemsex können langfristige Unterstützungsprozesse erforderlich sein. Wenn Klienten* sich z. B. für eine Veränderung der Konsummuster entschieden haben, kann eine Rückfallprävention darauf abzielen, dass sie Strategien zur Stressbewältigung und Selbstfürsorge vermittelt bekommen. Essenziell ist hierbei, individuelle Auslöser und Risikofaktoren für Rückfälle zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu erarbeiten, die sich an der tatsächlichen Lebensrealität der User* orientieren. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Rückfallprävention nicht gleich Abstinenzerhaltung bedeutet.

    Mit Motivierender Gesprächsführung (Motivational Interviewing, MI) können Beratungsstellen  Veränderungsprozesse unterstützen. Die MI bietet Orientierung, um die Klientel in ihrem Veränderungsprozess zu begleiten und ihre Motivation zu stärken. Langfristige Begleitung bedeutet auch, den Männern* eine verlässliche Anlaufstelle zu bieten, zu der sie im Falle von Krisen oder Rückfällen jederzeit zurückkehren können.

    Fazit

    Die Themenbereiche rund um Chemsex erfordern in der allgemeinen Drogen- und Suchtberatung an bestimmten Punkten ein spezialisiertes Wissen, Empathie und eine gute Vernetzung. Als eine der ersten Anlaufstellen spielen Beratungsstellen eine entscheidende Rolle, indem sie der Klientel niedrigschwelligen Zugang und gezielte Unterstützung bieten. Die Förderung von Sensibilisierung der Beratenden, die Vermittlung spezifischer Strategien und die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind essenziell, um die Beratungsqualität zu steigern und die Lebenssituation der Klientel nachhaltig zu verbessern. Die beschriebenen Maßnahmen sollten stets individuell auf die Lebensrealitäten und Bedürfnisse der Klienten* abgestimmt sein. Ein pragmatischer Ansatz, der nicht auf Abstinenz als alleiniges Ziel festgelegt ist, sondern die schrittweise Reduktion von Risiken in den Fokus rückt, schafft eine niedrigschwellige und akzeptierende Beratungsatmosphäre.  Klienten* sollten dabei unterstützt werden, eigenverantwortlich und informiert Entscheidungen zu treffen, um ihre physische und psychische Gesundheit zu schützen. Eine nicht pathologisierende Haltung ist dabei zentral, um Vertrauen und Offenheit zu fördern.

    Über das Beratungssetting hinaus sollte das Thema auch in einem breiteren Kontext berücksichtigt werden, also auch in Rehabilitationseinrichtungen, im Eingliederungsbereich, im Qualifizierten Entzug oder im Bereich der Weiterbildung Suchttherapie.

    Veranstaltungshinweis:
    Chemkon Berlin 2025
    Bundeskonferenz sexualisierter Substanzkonsum
    28.-29. März 2025
    Charité Campus Mitte, Berlin
    https://biss-chemsex.com/chemkon/

    Kontakt:

    Tizian Keßler
    tizian.kessler(at)vistaberlin.de

    Angaben zum Autor:

    Tizian Keßler (M.A. Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik / B.A. Soziale Arbeit) leitet eine Beratungsstelle der vista gGmbH in Berlin.

    Literatur:
    • Bochow, M., Lenuweit, S., Sekuler, T. & Schmidt, A. J. (2011). Schwule Männer und HIV/AIDS. Lebensstile, Sex, Schutz- und Risikoverhalten. Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
    • Bourne, A., Reid, D., Hickso, F., Torres Rueda, S. & Weatherburn, P. (2014). Die Chemsex Studie: Drogenkonsum in sexuellen Umfeldern unter schwulen und bisexuellen Männern in Lambeth, Southwark & Lewisham. Zusammenfassung der Studie in HIVreport Nr.3/2014. Abgerufen am 12.07.2022: http://www.hivreport.de/sites/default/files/documents/2014_03_hiv_report.pdf
    • DAH – Deutsche Aids Hilfe (2014). Slamming – Risiken senken beim Spritzen von Chems. Abgerufen am 19.12.2024: http://www.iwwit.de/wissenscenter/drogen/slamming
    • Deimel, D. & Stöver, H. (2015). Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten in der homo- und bisexuellen Community. In akzept e.V., Deutsche Aids-Hilfe, Jes e.V., 2. Alternativer Drogen- und Suchtbericht (S. 66-70). Lengerich: Pabst Science Publishers
    • Deimel, D., Dichtl, A. & Graf, N. (2017). Methamphetaminkonsum von Männern, die Sex mit Männern haben, in sexuellen Settings. In H. Stöver, A. Dichtl & N. Graf, Crystal Meth (S. 253-260). Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag
    • Graf, N., Dichtl, A., Hößelbarth, S., Deimel, D. & Stöver, H. (2016). Die Clubdrug Studie – Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten von Männern, die Sex mit Männern haben. 10.13140/RG.2.1.4238.6167
    • Großer, J. (2022). Good To Know! Eine Einführung in das Phänomen Chemsex. In U. Gamsavar, & D. Sander, Handbuch zur Durchführung von quapsss-Gruppen für ChemSex praktizierende Männer* (S. 9-12). Berlin: Deutsche Aidshilfe e.V.
    • Grümer, K. & Iking, A. (2020). Neue Herausforderung für die Suchthilfe: MSM mit Chemsex-Konsummustern. SUCHT (66), S. 303-308
    • Haslebacher, A., Brodmann Maeder, M. & Blunier, S. (2022). Chemsex – mehr als Sex unter Drogen. www.medicalforum.dh. Abgerufen am 19.12.2024: https://doi.org/10.4414/smf.2022.09061
    • Keßler, T. (2023). Rekonstruktion der professionellen Wissensbasis in der Drogen- und Suchtberatung zum Thema Chemsex – Substanzkonsum im sexuellen Setting bei Männern*, die Sex mit Männern* haben. Berlin: Alice Salomon Hochschule
    • Sander, D. & Gamsavar, U. (2022). Einleitung. In U. Gamsavar & D. Sander, Handbuch zur Durchführung von quapss-Gruppen für ChemSex praktizierende Männer* (S. 5-7). Berlin: Deutsche Aidshilfe e.V.
    • Stuart, D. (2016). A chemsex cruisble: the context and the controversy. BMJ Sexual & Reprodutive Health, S. 295-296
  • Apps zu Substanzkonsum, Glücksspiel und psychosozialer Gesundheit

    Apps zu Substanzkonsum, Glücksspiel und psychosozialer Gesundheit

    Das Smartphone haben die meisten Menschen ständig dabei – ein Umstand, der zur Förderung der Gesundheit genutzt werden kann. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Apps, die bei Problemen mit Substanzkonsum und exzessiven Verhaltensweisen sowie im Bereich psychosoziale Gesundheit Hilfe und Unterstützung anbieten. Zwei Apps zur Rauchstopp-Unterstützung wurden bereits in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA-Verzeichnis) des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen.

    KONTUREN online hat das Angebot an sucht- und Mental Health-bezogenen Apps in den Blick genommen und einige Anbieter gebeten, ihre Apps anhand eines standardisierten Fragebogens vorzustellen. Die vorliegende Übersicht stellt selbstverständlich nur einen kleinen Ausschnitt eines schnell wachsenden Angebotes dar, und nicht alle angeschriebenen Anbieter haben geantwortet. Mit den vielfältigen Steckbriefen möchten wir einen Impuls geben, sich dieses Feld an Hilfemöglichkeiten zu erschließen und neue, effektive Wege der Prävention und Behandlung zu erkunden.

    Über folgende Apps können Sie sich hier informieren:

    • SUBSTANZKONSUM: MINDZONE-App „sauberdrauf!“, Elma-App, CariTapp, coobi care
    • GLÜCKSSPIEL: PlayOff
    • PRÄVENTION / PSYCHISCHE GESUNDHEIT: blu:app, ready4life, „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe“-App, belinu
    • RAUCHEN: NichtraucherHelden, Smoke Free – Rauchen aufhören

    SUBSTANZKONSUM

    MINDZONE-App „sauberdrauf!“

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Verfügbar bei Google Play für Android oder im App-Store für Betriebssystem iOS bzw. iPhone. Weitere Infos unter: https://mindzone.info/aktuelles/update-mindzone-app-sauberdrauf/

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Speziell: Themenbereich Freizeitdrogen bzw. Partydrogen und Suchtrisiken
    Allgemein: Prävention und Gesundheitsförderung im Partysetting

    3. An wen richtet sich die App?
    An drogenaffine, konsuminteressierte Partygängerinnen und Partygänger im Alter zwischen 14 und 30 Jahren sowie an informations- und ratsuchende Angehörige und Bezugspersonen von Betroffenen. Die Mindzone-App richtet sich zudem an Fachkräfte aus dem Sucht- und Jugendhilfebereich.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App ist quasi eine mobile Version der Mindzone-Homepage: https://mindzone.info/. Diese kann direkt auf dem Smartphone installiert werden und ist dann mobil abrufbar ohne Browser-Zugriff.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Umfassende Informations-Plattform rund ums Thema Partydrogen (Substanzinfos A-Z), aktuelle Substanzwarnungen, Pillen-Finder, Drogennotfall-Infos, Online-Beratung über Kontaktformular, kostenfreie Bestellung von Info-Materialien

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Ja, der Pillen-Finder, er ist das am häufigsten genutzte Tool: umfangreiche Datenbank mit Suchfilter-Funktion gibt eine Übersicht zu besonders hochdosierten bzw. gesundheitsschädlichen Ecstasy-Pillen (z. B. unerwartete Wirkstoffe, gefährliche Streckmittel), siehe auch unter https://mindzone.info/aktuelle-infos/pillenwarnungen/

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nein, es gibt keine Zugangsvoraussetzungen oder Beschränkungen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Es handelt sich um eine Gratis-App.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde vom App-Entwickler vmapit.de aus Mannheim in Form eines Sponsorings komplett kostenlos für Mindzone entwickelt. Siehe auch weiterführende Infos zum Sponsoring-Angebot unter: https://www.vmapit.de/1000-apps-fuer-1000-vereine

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Ja, im Rahmen der Mindzone-Evaluation 2023 durch das IFT Institut für Therapieforschung, München, wurde u. a. auch die App evaluiert, siehe Auszug aus IFT-Evaluationsbericht, S. 42 f.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App selbst ist nicht in anderen Sprachen verfügbar. Aber auf der Mindzone-Homepage ist direkt auf Startseite (oben rechts) ein mehrsprachiger Google-Translator installiert: https://mindzone.info Die mobile Web-Version der Mindzone-Homepage inklusive Google-Translator ist auch problemlos über die App abrufbar.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Im September 2016 wurde die Mindzone-App erstmals veröffentlicht und ist seitdem als Gratis-App erhältlich. Im Jahr 2023 (nachdem die Mindzone-Evaluationsergebnisse feststanden) wurde die Funktionalität der App verbessert, das System wurde upgedatet und die App anwenderfreundlicher gestaltet, z. B.: übersichtlichere Struktur, mittels automatisierter Push-Nachrichten erhalten Nutzerinnen und Nutzer aktuelle Substanzwarnungen, neue Live-Chat-Funktion (ist allerdings wegen fehlender Personalressourcen momentan nicht aktiv), direkte Verlinkungen zu Social-Media-Profilen von Mindzone auf Instagram, Facebook und X, neue Feedback-Funktion, Anfahrt bzw. Wegbeschreibung über Google-Maps, neues App-Weiterempfehlungs-Tool.

    Die Fragen beantwortete Sonia Nunes, Fachliche Projektleitung, Projekt MINDZONE, München.

    Elma-App

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Elma steht für Elternsein motiviert und abstinent. Die Elma-App kann im Google Play Store und im Apple App Store heruntergeladen werden. Zur Aktivierung benötigen die Nutzer:innen einen Code, dieser kann unter elma@zi-mannheim.de angefordert werden.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Die App richtet sich an suchterkrankte Mütter und Väter sowie werdende Eltern mit einer Abhängigkeitserkrankung und unterstützt diese bei der Erlangung und Aufrechterhaltung einer stabilen Abstinenz sowie bei der Stärkung der Erziehungskompetenzen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich an die Betroffenen. Der Angehörigenbereich kann gemeinsam mit den Kindern genutzt werden. Hier erhalten sie auf eine kindgerechte Art Informationen zur elterlichen Erkrankung.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Es werden die Themenbereiche Abhängigkeitserkrankung und Kindererziehung behandelt. Alle Themenbereiche sind gegliedert in einen „Werde Experte“-Teil und einen „Werde aktiv“-Teil. Im „Werde Experte“-Teil erhalten die Nutzer:innen Informationen zu den jeweiligen Themenbereichen, der „Werde aktiv“-Teil dient zur Reflexion über die eigene Situation mit vielen Mitmachmöglichkeiten. Die Inhalte sind multimedial und mehrsprachig aufbereitet.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die Elma-App enthält
    – eine Tagebuchfunktion zum Monitoring von Abstinenz, Stimmung, Stimmung in der Familie und Schlaf sowie
    – einen Erfolge- und einen Zielebereich, in dem sich die Nutzer:innen eigene Ziele oder Erfolgsmeilensteine setzen können.
    Außerdem kann ein individueller Notfallplan für Suchtdruck- und Rückfallsituationen erstellt werden.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Alle Textbausteine sind auch als Audios in der App integriert. Die Elma-App ist mehrsprachig gestaltet.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Die Elma-App ist kostenfrei unbegrenzt lange nutzbar. Es muss für die Nutzung ein Aktivierungscode unter elma@zi-mannheim.de angefordert werden.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App ist kostenlos ohne Rezept nutzbar.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit entwickelt, das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ist Herausgeber der App. Webadresse unseres Projekts: https://www.elma-app.de/

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Die Elma-App-Einführung wird in einer Begleitstudie aktuell evaluiert, sowohl unter den Nutzer:innen als auch unter den Fachkräften.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Ja, in Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch, Ukrainisch, Italienisch, Spanisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Alle Eingaben der Nutzer:innen werden nur lokal auf deren Endgerät gespeichert, es erfolgt keine Speicherung auf einem zentralen Server.

    Die Fragen beantwortete Prof. (apl.) Dr. Anne Koopmann, Oberärztin der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

    CariTapp

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die App ist grundsätzlich im Google Play Store und im Apple App Store verfügbar. Aktuell ist es so, dass wir die App von einem ursprünglich semiprivaten Account auf einen offiziellen Caritas-Account überführen wollen. Deshalb wird die App vorübergehend nicht im Apple App Store erhältlich sein.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich
    Die App kommt beim Thema Sucht zum Einsatz. Sie ist zur Begleitung einer Suchttherapie oder Suchtberatung entwickelt worden.

    3. An wen richtet sich die App?
    An Menschen mit Abhängigkeitserkrankung, die sich im besten Fall in einem Beratungs- oder Behandlungsprozess befinden, und an Berater:innen und Behandler:innen.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die CariTapp unterstützt und erleichtert den Therapieprozess und hilft dabei, motiviert zu bleiben, um sein Suchtverhalten nachhaltig zu verändern. Die Leistungen und Funktionen sind sehr umfangreich. Die Wichtigsten wären: Motivation, Selbstbeobachtung, Rückfallvermeidung, Arbeit an den Therapiezielen und viele mehr … Auf unserer Website gibt es ein Erklärvideo: https://www.caritas-suchtambulanz-junge-muenchen.de/de/caritapp Um es anschauen zu können, muss man die Marketing-Cookies akzeptieren.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Tracken von Stimmung, Verlangen und Konsum. Vereinbarungen und Therapieziele inkl. Zwischenzielen formulieren und ergänzen. Es steht eine Fotobox zur Verfügung, in der man sich wichtige Bilder abspeichern kann. Dazu kann man verschiedene Ordner anlegen, z. B. „Privat“ oder „Therapie“ etc. Außerdem bietet die App: ein Quiz, einen Notfallbutton, Frühwarnsignale, einen Zugang zur Onlineberatung.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Nein

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nein

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Kostenlos

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke der Erzdiözese München und Freising.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Ja, mit positivem Ergebnis. Das Ergebnis ist während eines Hackerangriffs verloren gegangen.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Nein

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Es war die allererste App zur Therapiebegleitung auf dem Markt. Die Fachambulanz für junge Suchtkranke hat die App on top zum Alltagsgeschäft realisiert.

    Die Fragen beantwortete Ralf Hermannstädter, Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke, München. 

    coobi care

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Im Rahmen einer Testphase erhältlich ab Ende August 2024. App Store & Google Play Store (Für einen Zugangscode kontaktieren Sie bitte julian@coobi.health.)

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    coobi care bietet eine digitale Unterstützung für die Nachsorge von Abhängigkeitserkrankungen nach einer Entwöhnungstherapie. Die erste Version richtet sich an Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit. In den nächsten Monaten wird die App auch für Nutzer:innen mit anderen substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen, problematischem Konsum und Verhaltenssüchten angepasst.

    3. An wen richtet sich die App?
    – Betroffene Personen ≥18 Jahre in der Nachsorge
    – Nachsorge-Gruppenleiter:innen können mit Zustimmung der Betroffenen coobi care-Daten erhalten (mehr unter „Dashboard für Therapeut:innen“)

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App soll in Synergie mit Nachsorge-Gruppengesprächen einen wertvollen Beitrag zur langfristigen Aufrechterhaltung der Abstinenz und zur Rückfallprävention leisten.
    Die App unterstützt folgende Kernaufgaben der Nachsorge: kontinuierliche Unterstützung direkt nach der Rehabilitation, Aufrechterhaltung der Abstinenzmotivation, Förderung der Eigenaktivität, Erkennen von Krisensituationen und Bereitstellung geeigneter Konfliktlösungsstrategien bei drohenden oder aktiven Krisen, Förderung sozialer Kontakte, Einbeziehung von Bezugspersonen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Chatfunktion für die Nachsorgegruppe: Chat mit Nachsorgegruppe zur Verbesserung der Compliance und sozialen Integration durch selbsthilfeähnliche Kommunikation zwischen den Nachsorgegesprächen.
    • Module: Nutzer:innen haben Zugang zu einer Reihe von kurzen Modulen, die verschiedene nachsorgebezogene Themen abdecken. Die Module beinhalten Übungen, Videos und Texte zu Themen wie z. B. Suizidalität, Umgang mit Rückfällen, Emotionen, Selbstsicherheitstraining.
    • Craving-Bereich: Im Falle eines akuten Cravings können Nutzer:innen schnelle Unterstützung durch Reflexion und Bewältigungsstrategien im Craving-Bereich finden.
    • Motivation: Zur Aufrechterhaltung der Motivation bietet die App Streaks zu Abstinenz, tägliche Übungen und Reflexion.
    • Zielsetzung: Nutzer:innen werden angehalten, sich erreichbare tägliche Ziele zu setzen, und können Langzeitziele erarbeiten und verfolgen.
    • Abend Check-Out: Abends können Nutzer:innen ihren Tag hinsichtlich der Aspekte Abstinenz, Craving, Trigger, Stimmung und Tagesziel reflektieren.
    • Trends: In diesem Bereich können Nutzer:innen ausgewertete Daten der abendlichen Check-Ins und Wearable-Messungen einsehen und analysieren. Dadurch gibt coobi care einen Überblick über Parameter wie Schlaf, Aktivität, Stimmung, Stress und Craving. Über dieses Biofeedback kann coobi care die Eigenaktivität der Nutzer:innen fördern und sie dabei unterstützen, Problembereiche und Trigger zu erkennen und Krisensituationen bewusst wahrzunehmen.
    • Werkzeugkasten: Nutzer:innen können im Werkzeugkasten freigeschaltete Übungen, Konfliktlösungsstrategien für unterschiedliche Problembereiche und favorisierte Inhalte schnell zugänglich finden.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?

    • Die App wird in einem Paket mit einem Garmin Wearable angeboten.
    • Dashboard für Therapeut:innen: Damit coobi care auch in den Nachsorgegesprächen einen Mehrwert leisten kann, werden wir die gesammelten Daten bei Zustimmung der Nutzer:innen in regelmäßigen Berichten für Therapeut:innen zugänglich machen. Durch Einblicke in Daten zu Schlaf, App-Nutzung, Aktivität, Stress, Craving und selbstberichteten Rückfällen können Therapeut:innen Anomalien und Problembereiche erkennen und in kritischen Situationen intervenieren.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?

    • ≥18 Jahre alt
    • Teilnahme an der Nachsorge (für Selbstzahler:innen ist dies keine Zugangsvoraussetzung)
    • Nachsorgedauer ist sechs Monate, mit Verlängerung zwölf Monate. coobi care wird für diesen Zeitraum begleitend angeboten. Nach Beendigung der Nachsorge kann coobi care von Selbstzahler:innen weiter genutzt werden.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Wir befinden uns derzeit in einer kostenlosen Testphase. Um Zugang zur App zu erhalten oder die App mit Ihrer Nachsorgegruppe zu testen, wenden Sie sich bitte an Julian@coobi.health. In Zukunft streben wir an, coobi care über ein digitales Nachsorgekonzept von der DRV erstatten zu lassen. Damit könnten alle nachsorgeberechtigten Rehabilitand:innen dieses Nachsorgekonzept wählen. Wir wollen in den nächsten Monaten auch ein Angebot für Selbstzahler:innen schaffen. Der Preis steht noch nicht fest.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Stigma Health GmbH – ein junges Start-up-Unternehmen mit Sitz in Berlin, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, mitfühlende und zugängliche Lösungen anzubieten, die die komplexen Herausforderungen, mit denen Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen konfrontiert sind, wirklich verstehen und berücksichtigen und eine unterstützende und integrative Gemeinschaft fördern. Das Team vereint Fachwissen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Informatik und Wirtschaft.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    coobi care befindet sich gerade in einer ersten Testphase. Nach Zustimmung der DRV wollen wir coobi care in einem Modellprojekt erproben. Wir konnten für das Modellprojekt bereits einige wichtige Kliniken gewinnen und sind nun auf der Suche nach weiteren Kollaborationspartnern. Falls Sie als Nachsorgeeinrichtung, Rehabilitationsklinik, Entzugsklinik oder Forschungsinstitut Interesse an einer Teilnahme am Modellprojekt oder einer anderen Zusammenarbeit haben, wenden Sie sich bitte an Julian@coobi.health.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Deutsch & Englisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Datenschutz: Das Datenschutzkonzept von coobi care basiert auf vollständiger Anonymität. Der Zugang zur App erfolgt über einen Code. Eine E-Mail-Adresse oder Telefonnummer wird nicht benötigt. coobi care sammelt keinerlei persönliche Daten. Die Identität der Nutzer ist coobi also nicht bekannt, und alle erhobenen Daten sind immer anonym. Um den Zugriff durch Dritte zu verhindern, wird der Nutzer vor dem Öffnen der Anwendung biometrisch authentifiziert. Die Übertragung aller Daten erfolgt über eine gesicherte Verbindung (SSL-Verbindung), so dass die Daten vor dem Zugriff Unbefugter geschützt sind. Der Gruppenchat wird vollständig mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verschlüsselt.

     Die Fragen beantwortete Dr. Julian Kruse, Co-Founder & CMedO.


    GLÜCKSSPIEL

    PlayOff

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    PlayOff ist eine von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) entwickelte App, die für alle iOS- und Android-Geräte im Google Play Store und Apple App Store kostenlos heruntergeladen werden kann.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    PlayOff ist eine Selbsthilfe-App vor allem für Betroffene eines problematischen Glücksspielverhaltens. Sie kann darüber hinaus von allen Nutzer:innen von Glücksspielen genutzt werden, die ihr Spielverhalten kontrollieren, reduzieren oder beenden möchten.

    3. An wen richtet sich die App?
    PlayOff richtet sich an Nutzer:innen von Glücksspielen aller Altersgruppen, die ihr Spielen entweder komplett beenden möchten oder versuchen möchten, kontrolliert und in einem persönlich festgelegten Ausmaß weiterzuspielen. Die App kann auch begleitend zu einer Beratung oder Therapie eingesetzt werden (die Tagebucheinträge und damit die Angaben zum Glücksspielverhalten können als PDF exportiert werden) und ist damit auch für Profis interessant.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    PlayOff basiert auf verhaltenstherapeutischen Methoden und bietet zahlreiche Features wie eine Tagebuchfunktion, einen Wochenplan und eine Auswertung des eigenen Spielverhaltens. Diese Features können bei der Kontrolle und Reflexion des Spielverhaltens wie auch bei der Bewältigung von Glücksspielproblemen helfen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Erfassen des aktuellen Glücksspielverhaltens
    • Erfassen persönlicher Gründe fürs Glücksspielen
    • Individuelle Zielsetzung, das Spielen aufzugeben, zu reduzieren oder in einem festgelegten Rahmen fortzuführen
    • Auswahl von Lebensbereichen, auf die sich die Nutzer:innen als Alternative zum Glücksspielen verstärkt konzentrieren möchten
    • Wochenplan zum Gestalten der glücksspielfreien Zeit und zum Festlegen der Spielzeit bei kontrolliertem Konsum
    • Tagebuch zum Erfassen von Aktivitäten, darunter die für Glücksspiele aufgewendete Zeit, das verspielte Geld und die Situation, in der die Entscheidung zum Spielen getroffen wurde

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?

    • Aktivitätsvorschläge für eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung
    • In-App-Alerts zum aktuellen Spielverhalten und Erfolg bei der Zielerreichung
    • Risikoprofil zur Auswertung der Umstände, die häufig zu ungeplantem Glücksspielen führen
    • Wertvolle Hinweise, wie das ungeplante Spielen künftig verhindert werden kann
    • Wechselnde Tipps zur Änderung des eigenen Glücksspielverhaltens und für eine zufriedenstellende Gestaltung des Alltags
    • Weitere Informationen und Hilfemöglichkeiten bei Problemen durch übermäßiges Glücksspielen

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine Zugangsvoraussetzungen, die App ist kostenfrei und ohne Anmeldung nutzbar. Die Nutzungsdauer ist nicht limitiert, Nutzer:innen können sich von PlayOff dauerhaft begleiten lassen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    PlayOff ist kostenlos und rezeptfrei erhältlich.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    PlayOff wurde von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) entwickelt. Die LSG ist die zentrale Schnittstelle für alle an der Prävention, Suchthilfe, Suchtforschung und Beratung bei Glücksspielsucht beteiligten Organisationen und Akteure. Beteiligt an der LSG sind die Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen BAS Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), das IFT Institut für Therapieforschung und der Betreiberverein der Freien Wohlfahrtspflege Landesarbeitsgemeinschaft Bayern für die Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern e. V. Die LSG wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention finanziert, ist nicht weisungsgebunden und arbeitet fachlich unabhängig.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    2017/2018 hat die Geschäftsstelle der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) die Nutzer:innen der Selbsthilfe-App PlayOff befragt und zusätzliche Daten aus einem (anonymen) Datentracking gemeinsam mit dem IFT Institut für Therapieforschung ausgewertet. Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse, dass die App zwar nur von einem Teil der Personen, die sie sich herunterladen, langfristig und regelmäßig genutzt wird, dass sie von diesen jedoch als hilfreiches Instrument zur Bearbeitung des Spielverhaltens bewertet und gut angenommen wird. Vor allem die Tagebuchfunktion der App ist hier hervorzuheben. Auch die in die App eingetragenen Daten weisen darauf hin, dass die Nutzer:innen während der Verwendung von PlayOff ihren Geldeinsatz und ihre Spieldauer reduzieren. Zum vollständigen Evaluationsbericht geht es hier.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    PlayOff kann in der aktuellen Version auf Deutsch oder Türkisch verwendet werden.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    2019 wurde PlayOff mit dem Sozialpreis der Bayerischen Landesstiftung ausgezeichnet.
    Die App wird Ende 2024 neu aufgesetzt und dabei einerseits vereinfacht und andererseits um weitere Funktionen ergänzt. So können künftig neben dem Spielen auch das Verlangen zu spielen und damit einhergehend Bewältigungsstrategien bei „Spieldruck“ erfasst und ausgewertet werden. Außerdem fließen erledigte therapeutische „Hausaufgaben“ und ein zuverlässiges Führen des Tagebuchs in einen neuen Erfolgsmesser ein. Das Kapitel Risikoprofil/Auswertung wird erweitert und neu strukturiert. Außerdem wird die App direkt mit einem Zugang zu der Online-Beratungsplattform der LSG PlayChange und mit einem persönlich gestaltbaren „Notfallpass“ bei Spieldruck ausgerüstet.

    Die Fragen beantwortete Lisa Mehrbrodt, Fachstellenbetreuung und Projektentwicklung, Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern, München.


    PRÄVENTION / PSYCHISCHE GESUNDHEIT

    blu:app

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die „blu:app“ ist auf allen gängigen Smartphones über den Google Play Store oder Apple App Store kostenlos erhältlich. Auch während der Nutzung entstehen keine Zusatzkosten. Die blu:app ist ein Produkt von blu:prevent. Als Teil des Blauen Kreuzes e.V. in Deutschland und durch Förderungen sowie Spendengelder können wir die Plattform kostenfrei zur Verfügung stellen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    3. An wen richtet sich die App?
    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die blu:app richtet sich an alle Personen, die sich informieren und eine Meinung zum Thema Konsum bilden möchten. Das Ziel der integrierten Plattform blu:base ist, ein an das Kommunikations- und Nutzerverhalten der Gen Z angepasstes Portal für Hilfsangebote primär der Suchtprävention zu etablieren. Dabei werden sowohl Informationen als auch der Erstkontakt mit dem Hilfesystem niedrigschwellig bereitgestellt.

    Die App bietet vollen Zugang zur Plattform blu:base, die viele Infos rund um die Themen Cannabis, Alkohol, Mental Health, Fitness, Sexualität, Mobbing etc. beinhaltet. Durch den intelligenten Chatbot gelangen Nutzer:innen schnell zu den für sie jeweils relevanten Beiträgen! Zudem findet man schnell und einfach digitale und lokale Hilfsangebote. Einfach die Postleitzahl eingeben und das passende Angebot in der Nähe finden. Außerdem bietet die blu:app Zugang zu den beiden digitalen Tools blu:interact und fred_online.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Um über die App blu:interact und fred_online zu nutzen, benötigt man einen Kenncode, der die Verbindung zwischen den Anwendungen herstellt. Dieser wird während der durch eine Fachkraft geführten Präventionseinheit über die Moderatorenansicht von blu:interact / fred_online angezeigt. Die Nutzung der blu:base hingegen funktioniert ohne Anmeldung.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die blu:app wird gemeinsam mit den Angeboten blu:base und blu:interact / fred_online stets weiterentwickelt und optimiert. Die Entwicklung und Verwaltung der blu:app liegt bei blu:prevent. Die technische Umsetzung/Programmierung erfolgt durch externe Partner.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Zur Wirksamkeit der App liegen noch keine Daten vor. Eine Prüfung der Wirksamkeit ist jedoch für das nächste Frühjahr angedacht.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App ist im Moment ausschließlich in deutscher Sprache verfügbar. Für die Zukunft ist eine Übersetzung der Seite in mehrere Sprachen jedoch nicht ausgeschlossen.

    Die Fragen beantwortete Benjamin Becker, Leitung blu:prevent.

    ready4life

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Bezugsquelle des ready4life-App: App Store (Apple); Google Play Store (Android) – ebenso wird ready4life seit dem 01.08.2024 auch zielgruppengerecht auf Instagram (ready4life.ch) begleitet.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Förderung der Lebenskompetenzen und Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber Suchtmitteln. Adressierte Themen (Wording in der App „Module“) sind: Stress, Sozialkompetenz, Bewegung, Tabak & Nikotin, Cannabis, Alkohol, Social Media & Gaming

    3. An wen richtet sich die App?
    An alle Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    ready4life ist ein Smartphone-App-basiertes Programm zur Prävention des Suchtmittelkonsums und zur Förderung von Lebenskompetenzen für Jugendliche in der Schweiz, Österreich und Liechtenstein. Auf Basis einer am Smartphone durchgeführten Befragung erstellt die App ein individualisiertes Kompetenzprofil, aus dem für die Teilnehmenden hervorgeht, in welchen Bereichen sie über ausreichend Ressourcen verfügen und in welchen ein Coaching- oder Beratungsbedarf besteht.
    Aus den sieben Modulen Stress, Sozialkompetenz, Tabak & Nikotin, Alkohol, Social Media & Gaming, Bewegung sowie Cannabis können die Teilnehmenden basierend auf ihrem Profil zwei Module auswählen und erhalten zu diesen ein Coaching durch ein automatisiertes Dialogsystem, einen sogenannten Chatbot. Nach Beendigung der ersten beiden Module können alle weiteren adressierten Module bearbeitet werden.  Der virtuelle Coach motiviert die Teilnehmenden zum Aufbau von Lebenskompetenzen und zu einem sensiblen Umgang mit Suchtmitteln, gibt regelmäßig Feedback und informiert in Dialogen, innerhalb von Contests mit anderen Teilnehmenden (Bilderupload und Voting) und interaktiven Challenges (Umsetzen eines Verhaltensziels).
    In einem separaten Chat innerhalb der App beantworten Expert:innen persönliche Fragen zum jeweiligen Modul (Ask the Expert). Um das Präventionsangebot noch attraktiver zu machen, werden am Ende vom Schuljahr tolle Preise verlost (je mehr Credits gesammelt werden, desto höher die Gewinnchance).

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    s.o. Im Folgenden werden noch die einzelnen Features aufgelistet, welche die App neben dem eigentlichen Coaching via Chatbot bietet:

    • Alkoholtagebuch führen: Getränke in einer gamifizierten Trinkbar auswählen und protokollieren, jede Woche gibt es Feedback von der App zum Trinkverhalten. Ziel: Trinkverhalten sichtbar machen und dadurch reflektieren
    • Bewegungstagebuch führen: Schrittzähler kann verbunden werden, Einträge können manuell gesetzt werden, es können Ziele aufgestellt werden etc. Ziel: Bewegung bewusst eintragen und reflektieren/ Bewegung ggf. erhöhen
    • Social Media-Tagebuch: Dauer, Plattform und Gefühl nach Mediennutzung kann eingetragen werden. Ziel: bewusst Medienkonsum eintragen und feststellen/ beobachten, wie man sich danach gefühlt hat
    • Ask the Expert: User können ihre individuellen Fragen an eine Fachperson stellen.
    • User-Lifehacks: User können Strategien von anderen als top oder flop bewerten (top: sie werden bei ihnen als Inspiration im Profil gesammelt, flop: Strategie verschwindet). User kann selbst auch Strategien hochladen. Beispiel-Frage: „Was motiviert dich, weniger zu kiffen oder sogar mit dem Kiffen aufzuhören? Lade ein Bild hoch.“
    • Cannabis Control: Es werden zu gewünschten Zeiten Tipps geschickt, wie man sich am besten auf einen Cannabisstopp vorbereitet.
    • Alkoholfrei werden
    • „Mein Feedback“: Hier sehen die User ihre Ampelfarbe zu den ausgewählten Modulen und wie sich ihre Ressourcen im Laufe des Coachings verbessern.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Hinter der App steht ein qualitativ hochwertiges Netzwerk, das sowohl bei der Weiterentwicklung als auch bei Ask the Expert involviert ist. Ebenso bietet ready4life viele Themen zum Bearbeiten an und bietet somit ganzheitliche Prävention innerhalb einer App. Ziel: Erhöhung des Interesses und der Relevanz von Gesundheitsthemen bei Jugendlichen durch Identifikation und Wahlfreiheit. Indem eine Vielzahl von Gesundheitsthemen abgedeckt wird, wird deutlich, dass Gesundheit durch viele Faktoren beeinflusst wird. Dies erweitert ihr Verständnis von Gesundheit und macht sie für verschiedene Themen sensibler und Zusammenhänge werden erkannt.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Die Nutzer:innen benötigen einen Zugangscode und müssen mind. 15 Jahre alt sein.
    Ein Modul (und somit ein Coaching) dauert 14 Tage – im Idealfall dauert die Begleitung durch die gesamte App also 14 Wochen. Weitere wichtige Funktionen (wie Ask the Expert) können das ganze Jahr über genutzt werden. Zum 1. August eines jeden Jahres erscheint eine neue weiterentwickelte Version von ready4life.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Für die Nutzer:innen ist der Zugang kostenlos. Unter (Bundes-)Ländern/ Kantonen gibt es (Lizenz)-Vereinbarungen.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    ready4life ist ein Projekt der Lungenliga, das 2016 durch das Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF) initiiert wurde. Die Inhalte der App wurden mit Fachpersonen der Lungenligen (LL) und folgenden Partner:innen entwickelt: Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD), Universität Zürich (UZH), Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS), Suchtprävention Dietikon & Affoltern (SUPAD), Blaues Kreuz (BLK), Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF).

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert? Ergebnisse?
    Das ISGF hat ready4life 2021/2022 evaluiert und festgestellt, dass die App wirkt (signifikant bei den Modulen Stress, Alkohol und Social Media & Gaming).

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Deutsch, Französisch, Italienisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Seit dem 01.08.2024 erscheint ready4life in einem neuen Design. Ebenso wurden Erklärvideo, Website und Social-Media-Auftritt erneuert.

    Die Fragen beantwortete Pia Nobis, Nationale Projektleitung ready4life, Lungenliga beider Basel.

    Cyber-Mobbing Leichte Hilfe

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe“-App ist über den Apple App Store und den Google Play Store zu beziehen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Die App stellt primär ein Hilfsangebot bei Betroffenheit von Cybermobbing und digitaler sexualisierter Gewalt dar. Im Wesentlichen geht es um erste Schritte nach einem Angriff. Es werden Beratungsstellen aufgeführt, es gibt Videotipps zu ersten Schritten, Anleitungen zum Blockieren, Melden und Löschen von Angreifer:innen sowie Vorschläge zur Aufmunterung.
    Gleichzeitig soll die App potenziell Betroffene für diese speziellen Formen der Gewalt sensibilisieren und gibt einige Tipps, wie man sich im Internet schützen kann.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich primär an erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung, kann aber ebenso von älteren Personen oder Personen, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, genutzt werden.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App bietet in erster Linie Hinweise und Informationen zum Verhalten bei digitaler Gewalt in einfacher und zum Teil auch Gebärdensprache.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Nutzer:innen können sich Videotipps in einfacher Sprache und in Gebärdensprache zum Umgang mit digitaler Gewalt ansehen und erhalten Informationen zum Thema Cybermobbing und digitale sexualisierte Gewalt. Außerdem enthält die App Anleitungen zum Blockieren, Melden und Löschen von Angreifer:innen auf sechs unterschiedlichen Social-Media-Plattformen (WhatsApp, Instagram, Facebook, TikTok, YouTube und Discord). Nutzer:innen bekommen eine Übersicht von spezialisierten Beratungsangeboten zum Thema digitale Gewalt, die aus der App heraus angerufen werden können. Zudem gibt es eine Videoanleitung zur Erstellung einer Online-Anzeige in Berlin und eine Linksammlung zu sämtlichen Internetwachen aller Bundesländer.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Alle Videotipps liegen in einfacher Sprache und in Gebärdensprache vor. Die App wurde partizipativ erarbeitet. Das bedeutet, dass die Inhalte (Texte, Videos, Design) mit und von Menschen mit Beeinträchtigungen der Werkstätten in Berlin erarbeitet wurden.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine speziellen Zugangsvoraussetzungen. Die App begleitet Nutzer:innen so lange diese dies wünschen und benötigen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App ist kostenlos.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde im Rahmen einer Kooperation von klicksafe https://www.klicksafe.de/ und der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen Berlin e. V. erarbeitet.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Eine Evaluation der App steht noch aus.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App liegt bisher noch nicht in anderen Sprachen vor, ist aber angedacht.

    Die Fragen beantwortete Sascha Omidi, Fachberater für Gewaltprävention, Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung Berlin e. V.

    belinu

    belinu – Abkürzung für believe in yourself. Während meiner eigenen Trauerzeit war der Glaube an mich selbst, um diese herausfordernde Zeit zu überwinden, sehr prägend und wichtig. Da es so wichtig ist, an sich selbst zu glauben, besonders in herausfordernden Zeiten und persönlichen Krisen, liegt uns diese Botschaft sehr am Herzen. Deshalb haben wir auch die App danach benannt.

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    belinu ist im App Store und Google Play Store verfügbar.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Wir haben uns auf die Themenbereiche Trauer, Einsamkeit, Stress und Überforderung sowie Probleme in Beziehungen spezialisiert. Für diese Themen gibt es zahlreiche Videokurse und Übungen, die wir speziell für die App mit unseren Expert:innen entwickeln. Hier arbeiten wir mit verschiedensten Psycholog:innen, Trauerbegleiter:innen und anderen ausgebildeten Expert:innen zusammen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich an Betroffene, die mit einem oder mehreren unserer Themengebiete zu kämpfen haben. Alle unsere Themengebiete lassen sich nicht auf ein Alter beschränken, weshalb wir keine bestimmte Altersgruppe haben. Allerdings richtet sich die App an Erwachsene und ist somit erst ab 18.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    belinu ist in zwei Hauptbereiche aufgeteilt. Zum einen gibt es die Video-Mediathek mit zahlreichen praktischen Übungen und Anwendungsfällen zu den genannten Themengebieten. Zum anderen gibt es einen Community Bereich. Hier können sich Betroffene austauschen, Erfahrungen und Informationen teilen. Hierfür wählen die Nutzer:innen aus, über welches Thema, mit welcher Altersgruppe oder mit welchem Geschlecht sie sich gerne austauschen möchten. Anschließend wird eine Liste mit Menschen, die vor ähnlichen / gleichen Herausforderungen stehen, vorgeschlagen, und die Nutzer:innen können selbst entscheiden, mit wem sie sich vernetzen möchten. Hierbei können die Nutzer:innen so viel sie von sich preisgeben, wie sie möchten, und die App auch anonym nutzen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die Nutzer:innen können sich aktiv mit der Community austauschen und das Schwarmwissen der Community nutzen. Zusätzlich können sie Übungen aus den verschiedenen Kursen direkt in ihren Alltag integrieren, da die Kurse sehr praktisch sind und der Fokus auf der direkten Umsetzungsmöglichkeit im Alltag liegt. Zusätzlich gibt es ein Tagebuch mit Stimmungstracking. Täglich kann eine Emotion des Tages und der Grund für diese Emotion erfasst werden. Das ermöglicht einen guten Überblick über die eigenen Gefühle und die Gründe für diese Gefühle.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Unser Merkmal ist die Bandbreite an Expert:innen und unterschiedlichen Menschen. Was für den einen passt, ist für den anderen unpassend. Deshalb arbeiten wir mit verschiedensten Expert:innen und erweitern unsere Videokurse laufend. Auch unsere Community wächst stetig, was einen Austausch mit verschiedensten Personen ermöglicht.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    belinu ist für Nutzer:innen ab 18 Jahren geeignet. Weitere Voraussetzungen bestehen nicht. Wie lange die App die Nutzer:innen begleitet, ist von Nutzerin zu Nutzer unterschiedlich. Jede:r entscheidet selbst, mit welchem Tempo und in welcher Intensität er/sie die App nutzen möchte.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    belinu ist in zwei Abo-Varianten erhältlich. Nutzer:innen können zwischen einem Quartals-Abo (38,90 €) und einem Jahres-Abo (94,90 €) entscheiden. Bisher ist die App nicht auf Rezept erhältlich.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    belinu wurde vollständig von uns selbst in Kooperation mit verschiedenen Expert:innen und Psycholog:innen entwickelt.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Hier sind wir dran. Bisher noch kein Start einer Studie.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App ist im DACH Raum verfügbar, bisher nur in deutscher Sprache.

    Die Fragen beantwortete Lisa Mutvar, Gründerin von belinu.


    RAUCHEN

    NichtraucherHelden

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die NichtraucherHelden-App ist als Präventionsprogramm im jeweiligen Store von Apple und Google erhältlich und kann auch über einen Browser auf www.nichtraucherhelden.de genutzt werden. Zuerst war die App als Präventionsprogramm für Unternehmen im Rahmen ihres BGM-Angebots (Betriebliches Gesundheitsmanagement) sowie für Krankenkassenversicherte erhältlich. Inzwischen gibt es auch eine Variante als DiGA (Digitale Gesundheits- Anwendung), diese kann somit als „App auf Rezept“ von Ärzten und Ärztinnen verordnet werden. Im Folgenden wird nur auf die als DiGA auf Rezept erhältliche NichtraucherHelden-App eingegangen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Bei Personen, die sich das Zigarettenrauchen abgewöhnen wollen, kommt die NichtraucherHelden-App zum Einsatz. Sie kann entweder als eigenständiges Hilfsmittel genutzt werden, aber auch in Verbindung mit Medikamenten. Ansprechpartner dazu ist dann zwingend der Arzt. Die App informiert und motiviert die Anwender:innen, um den Entschluss des Rauchstopps besser und erfolgreicher umsetzen zu können und Entzugserscheinungen und mit dem Rauchen verbundenen Gewohnheiten bewusst zu begegnen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die NichtraucherHelden-App richtet sich an Zigarettenraucher:innen, die tabakabhängig sind und sich das Rauchen abgewöhnen wollen. Es gibt dabei keine Einschränkung bezüglich Personengruppen oder Alter. Die NichtraucherHelden-Anwendung ist nicht geeignet bei Personen mit psychiatrischen Erkrankungen mit Zeichen der akuten Depressivität oder Suizidalität sowie bei Erkrankungen mit akuten deliranten oder akuten psychotischen Störungen.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die NichtraucherHelden-App bietet mit informativen Videos und lehrreichen Aufgaben eine umfangreiche Vorbereitung auf den Rauchstopp. Anschließend folgen verschiedene Angebote nach dem Rauchstopp, z. B. was tun, wenn Entzugserscheinungen eintreten, Verlangen nach einer Zigarette auftritt, gegen mögliche Gewichtszunahme und Ähnliches. Sehr gerne wird die moderierte NichtraucherHelden-Community genutzt, die im Rahmen der App angeboten wird. Darin tauschen sich die Anwender und Anwenderinnen aus, beantworten sich gegenseitig Fragen und geben und finden Motivation.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Neben informativen und motivierenden Coaching-Videos haben die Benutzer und Benutzerinnen die Möglichkeit, sportliche Übungen mitzumachen und gesunde Rezepte auszuprobieren. In der NichtraucherHelden-Community können die Anwender und Anwenderinnen sich austauschen. Im Rahmen der täglichen Betreuung fordert die App die Benutzer:innen auf, Aufgaben abzuarbeiten und sich seiner Gewohnheiten bewusst zu werden und sie gegebenenfalls zu ändern. Zur Belohnung gibt es Informationen, was man erreicht hat und wie viel Geld man an nicht gerauchten Zigaretten gespart hat.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Die Vorgehensweise im Programm basiert auf einem eigens entwickelten Ansatz des „Medical Story Telling“. In Videos werden medizinische Informationen mit Filmszenen aus dem Leben und Tipps zum Nichtrauchen angeboten. Zusammen mit Aufgaben zur Selbstanalyse wird dem Benutzer und der Benutzerin bewusst, welche schädlichen Folgen das Rauchen hat, und es wird eine starke Motivation erzeugt, mit dem Rauchen aufzuhören. Durch tägliche Abfragen trägt der Anwender und die Anwenderin eigenes Feedback ein, womit die NichtraucherHelden-App auf jeden individuellen Fall angepasst wird.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nachdem der Arzt oder die Ärztin ein Rezept ausgestellt hat, wird dieses vom Patienten oder der Patientin bei der Krankenkasse eingereicht. Die Kasse gibt dem Patienten oder der Patientin einen Zugangs-Code, mit dem man sich bei den NichtraucherHelden anmelden kann. Zuvor muss man nur die App aus dem jeweiligen Store auf sein Smartphone laden und installieren, und es kann losgehen. Die Nutzungsdauer der App ist angelegt auf drei Monate, das heißt Vorbereitung zum Rauchstopp, die Phase des Rauchstopps sowie die Begleitung und Unterstützung hinterher. Es kann jederzeit ein Folgerezept ausgestellt werden, sodass die App jeweils weitere drei Monate genutzt werden kann.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Nach Feststellen der Nikotinabhängigkeit durch den Arzt oder die Ärztin wird ein Rezept für den Patienten oder die Patientin ausgestellt. Dies belastet das Budget des Arztes bzw. der Ärztin nicht. Durch das Rezept wird die Nutzung der App für drei Monate freigeschalten. Für den Patienten oder die Patientin entstehen keine Kosten.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die Firma Sanero Medical GmbH aus Stuttgart ist ein Startup, das sich auf medizinische Apps auf Rezept spezialisiert hat. Die NichtraucherHelden-App wurde gemeinsam mit Medizinern und Fachleuten entwickelt und wird von Sanero Medical vermarktet.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Damit die NichtraucherHelden-App als DiGA dauerhaft zugelassen werden konnte, wurde eine umfangreiche klinische Studie durchgeführt. Das Ziel der Studie war die Evaluierung der Wirksamkeit der Digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) NichtraucherHelden. Als Schlussfolgerung aus der Studie kann man zusammenfassen, dass der Rauchstopp mit Hilfe der NichtraucherHelden-App die Abstinenzquote verdoppelt.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Aktuell ist die NichtraucherHelden-App nur in Deutsch verfügbar. Inzwischen führen weitere Länder Programme für eine App auf Rezept ein, ähnlich der DiGA in Deutschland. Entsprechend ist geplant, die App in weiteren Sprachen für andere Länder anzubieten.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Anfang 2024 ist die NichtraucherHelden App bei der Stiftung Warentest Testsieger geworden und mit Top-Noten bewertet worden. Aktuell ist die NichtraucherHelden-App die einzige DiGA zur Rauchentwöhnung, die vom Bundesamt für Arzneimittel (BfArM) eine dauerhafte Zulassung erhalten hat. Auf der Internetseite von NichtraucherHelden (www.nichtraucherhelden.de) findet man interessante Erfahrungsberichte von Personen, die mit der Nichtraucherhelden-App aufgehört haben zu rauchen.

    Die Fragen beantwortete Rainer Ott, Sales und Partner Manager, Firma Sanero Medical GmbH.

    Smoke Free – Rauchen aufhören

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die App ist im Apple App Store und Google Play Store verfügbar. Es gibt keine Web-Version.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Smoke Free wird im Bereich der Rauchentwöhnung eingesetzt. Sie ist eine evidenzbasierte, digitale Therapie, die als Smartphone-App angeboten wird und darauf abzielt, Menschen beim Aufhören mit dem Rauchen zu unterstützen. Sie kann von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen beim Vorliegen einer Tabakabhängigkeit (ICD 17.2) als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) verordnet werden. Die App hilft, die nötige Motivation aufzubauen und aufrechtzuerhalten, um dem Rauchverlangen zu widerstehen und dauerhaft rauchfrei zu bleiben.

    3. An wen richtet sich die App?
    Smoke Free richtet sich an Erwachsene zwischen 18 und 65 Jahren, die direkt von der Tabakabhängigkeit betroffen sind und mit dem Rauchen aufhören möchten.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App zielt darauf ab, die Motivation der Nutzer:innen zu steigern und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, indem sie Feedback zu Fortschritten gibt und den Rauchstopp als einen Prozess mit möglichen Rückschlägen betrachtet. Dazu bietet sie eine Vielzahl an Leistungen:

    • Tägliche Missionen und Belohnungssystem: Nutzer:innen erhalten bereits sieben Tage vor dem Rauchstoppversuch tägliche Missionen, um sich auf den Rauchstopp vorzubereiten und diesen erfolgreich zu absolvieren. Im Verlauf des Rauchstoppversuchs nimmt die Frequenz der Missionen ab. Darüber hinaus lassen sich Abzeichen verdienen, was zur Steigerung des Selbstbewusstseins beiträgt und die Motivation aufrechterhält.
    • Unterstützung durch Community und Chatbot: Die App bietet Unterstützung durch einen Chatbot, der rund um die Uhr verfügbar ist und den Rauchstopp begleitet. Der Chatbot vermittelt praktische Tipps und passende Strategien, zum Beispiel im Umgang mit Rauchverlangen. Er basiert auf einem etablierten Protokoll zur Rauchentwöhnung, das in Face-to-Face-Rauchentwöhnungsangeboten im Vereinigten Königreich genutzt wird. Außerdem gibt es eine Community, in der sich unsere Nutzer:innen gegenseitig motivieren und unterstützen können.
    • Fortschrittsverfolgung: Nutzer:innen können verfolgen, wie lange sie rauchfrei sind, wie viel Geld sie gespart haben und welche gesundheitlichen Verbesserungen sie bereits mit der rauchfreien Zeit erzielt haben.
    • Ablenkung: Nutzer:innen können in einem virtuellen Haustierspiel Ablenkung finden, bis ein aufgekommenes Rauchverlangen vorbeigeht. Mit der Nutzung verschiedener Aspekte der App schaltet man dazu noch Gegenstände frei, die zur individuellen Dekoration des eigenen Haustiers genutzt werden können.
    • Analyse von Auslösern für Rauchverlangen und Stress-Tracking: Nutzer:innen werden ermutigt, aufgekommene Rauchverlangen in die App einzutragen und sowohl die Stärke des Verlangens als auch Uhrzeit, Ort oder Tätigkeiten zu notieren. Die Rauchverlangen können dann im Anschluss räumlich, zeitlich und situativ ausgewertet werden, um kritische Situationen zu identifizieren und diese besser bewältigen zu können. Darüber hinaus bietet die App ein Stress-Tracking, um Veränderungen im Stresserleben, die zu einem möglichen Rückfall führen könnten, frühzeitig zu erkennen und dem entgegenzuwirken.
    • Verhaltenstherapeutische Techniken: Die App integriert Techniken zur Verhaltensänderung, die auf psychologischen Theorien zur Verhaltensänderung basieren. Dies schließt Erkenntnisse aus der kognitiven Verhaltenstherapie, aber auch der Motivationspsychologie ein.
    • Wissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeit: In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Nutzung der App die Erfolgsrate beim Rauchstopp signifikant erhöhen kann.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Tägliche Missionen: Nutzer:innen können tägliche Aufgaben absolvieren, die speziell darauf ausgelegt sind, die Rauchgewohnheiten zu durchbrechen und die Motivation zu steigern. Diese Missionen sind wissenschaftlich fundiert und konnten in einer Studie die Erfolgschancen beim Rauchstopp verdoppeln.
    • Generelle Unterstützung bei Rauchverlangen: Die App bietet Tools und Tipps, um mit Rauchverlangen umzugehen, einschließlich eines Chatbots, der rund um die Uhr Unterstützung bietet.
    • Soziale Unterstützung: In der App haben Nutzer:innen Zugang zu einer Community, in der Tipps und Strategien zum Rauchstopp ausgetauscht werden können sowie Erfolge gemeinsam gefeiert werden.
    • Spielerische Unterstützung (Haustierspiel): Nutzer:innen können ihren eigenen virtuellen Drachen großziehen und diesen pflegen. Dies kann vor allem dann hilfreich sein, wenn die Dauer eines Verlangens überbrückt werden soll. Generell bietet das Spiel aber auch einen Anreiz, andere Teile der App zu nutzen, da man damit Gegenstände für den Drachen freischalten kann.
    • Analytische Unterstützung: Die App ermöglicht es den Nutzer:innen, ihren Fortschritt zu überwachen, indem sie sehen, wie lange sie rauchfrei sind, wie viel Geld sie gespart haben und welche gesundheitlichen Verbesserungen sie erzielt haben. Darüber hinaus können die Nutzer:innen die eingetragenen Rauchverlangen nach Ort, Zeit und auslösenden Situationen analysieren.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Die App umfasst sowohl off- als auch online nutzbare Funktionen. Das ist besonders im Kontext der Rauchentwöhnung wichtig, da Rauchverlangen nicht immer nur dann auftreten, wenn eine gute Internetverbindung vorhanden ist. Allgemein versteht sich die App nicht als Onlinekurs, bei dem Lerninhalte (z. B. im Videoformat) vermittelt werden, sondern als Begleiter auf dem Weg ins rauchfreie Leben. Deshalb wird viel Wert auf eine therapeutische Allianz zwischen App und Nutzer:in gelegt.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine Zugangsvoraussetzungen. Die Zusatzfunktionen der App begleiten die Menschen beim Rauchstopp für den Verschreibungszeitraum (90 Tage, Folgeverschreibungen sind möglich). Die Basisfunktionen sind dauerhaft kostenfrei verfügbar und bieten im Anschluss an einen Verschreibungszeitraum weiterhin Unterstützung.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App Smoke Free enthält sowohl kostenlose Basisfunktionen als auch kostenpflichtige Zusatzfunktionen. Nutzer:innen können die App kostenlos im App-Store herunterladen und die Zusatzfunktionen für eine Woche unverbindlich testen. Nach der einwöchigen Testphase ist für die Zusatzfunktionen ein Rezept nötig. Dies kann von Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen ohne Kontraindikationen verordnet werden. In diesem Fall übernehmen sowohl gesetzliche Krankenkassen als auch viele private Krankenversicherungen die Kosten, sodass die App für die Nutzer:innen kostenlos ist. Selbstzahler:innen zahlen 389,00 € für den Nutzungszeitraum von 90 Tagen.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde von Dr. David Crane entwickelt, der auch als Gründer und CEO des Unternehmens fungiert. David hat einen Hintergrund in den Verhaltenswissenschaften und hat die App als Teil seiner Dissertation im Bereich der digitalen Gesundheitslösungen entwickelt.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Verschiedene Aspekte der App wurden bereits in größeren RCTs mit der englischsprachigen Version evaluiert. Hier zeigte sich, dass sowohl die Missionen als auch der Chatbot die Chance, erfolgreich aufzuhören, etwa verdoppeln konnte. Die App wird darüber hinaus im englischen Kontext stetig evaluiert, da dies von den Kooperationspartnern vorausgesetzt wird (siehe unten). In der letzten derartigen Evaluation wurden beispielsweise Aufhörraten von 40 % nach drei Monaten ermittelt. Für die deutschsprachige Version mit Zusatzfunktionen liegen erste Ergebnisse im Rahmen der vorläufigen Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis vor. Momentan sind wir in der Abschlussphase der bis dato größten DiGA-Evaluationsstudie mit über 1.450 Teilnehmenden, um die Voraussetzungen für eine dauerhafte Listung zu erfüllen. Die Ergebnisse der Studie werden in den kommenden Monaten veröffentlicht.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die Zusatzfunktionen in der App sind auch auf Englisch verfügbar. Die Basisfunktionen werden auch noch in weiteren Sprachen (momentan Spanisch, Französisch, Russisch und Portugiesisch) angeboten, wobei wir das Angebot stetig ausbauen wollen.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Die App wird sowohl im deutschen als auch im englischen Gesundheitssystem genutzt. Dort bestehen Kooperationen unter anderem mit dem britischen National Health Service (NHS) und dem National Centre for Smoking Cessation and Training (NCSCT).
    Die App ist bereits seit über zehn Jahren erhältlich und verzeichnet mehr als sieben Millionen Downloads, wovon mehr als eine Million Downloads auf Deutschland fallen. Sie gehört zu den bestbewerteten Rauchstopp-Apps mit mehr als 185.000 5-Sterne-Bewertungen.

    Die Fragen beantwortete Dr. Lucas Keller, Lead Researcher.

  • Vermittlung in der Suchtberatung – eine Aufgabe für sozialarbeiterische Fachkräfte

    Vermittlung in der Suchtberatung – eine Aufgabe für sozialarbeiterische Fachkräfte

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens

    Bei Menschen mit einer Substanzkonsumstörung oder einer verhaltensbezogenen Störung findet sich häufig eine „Multiproblemlage“ (z. B. Giersberg et al. 2015). Diese Konstellation erfordert es, Hilfe in verschiedenen Hilfekontexten anzubieten. Dafür stehen in einem konkreten regionalen Sozialraum in der Regel verschiedene Angebote bereit, die in der Lage sind bzw. extra dafür eingerichtet wurden, Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht zu unterstützen (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Suchthilfebezogene Angebote im kommunalen Raum (eigene Darstellung)

    Die in Abb. 1 genannten Unterstützungsangebote sind eine idealtypische Beschreibung. Sie agieren in Bezug auf die oben angesprochenen „Multiproblemlagen“ als (Sucht-)Hilfenetzwerk, zu dem auch die Angebote der Suchtselbsthilfe gehören. Die Fokussierung auf die Substanzkonsumstörung ist dabei mehr oder weniger explizit.

    Häufig stellen Angebote mit verschiedenen sozialrechtlichen Kontexten in einem regionalen Suchthilfesystem eine Sonderform für Menschen mit Suchterfahrungen – gemeint sind Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und Beeinträchtigungen sowie ihr soziales Umfeld – dar. Zu den unterschiedlichen sozialrechtlichen Kontexten gehören z. B. der versicherungsrechtliche Leistungsanspruch, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe oder Jobcenter. Diese Vielfalt führt dazu, dass je nach sozialrechtlichem Hintergrund die Logiken und Ressourcen, mit denen Menschen mit Substanzkonsumstörung erreicht werden sollen, recht unterschiedlich sind und dass häufig erstmal ein gemeinsames Fallverständnis konstruiert werden muss, um Unterstützungsleistungen tatsächlich, und nicht nur prinzipiell, zu ermöglichen (vgl. Blankenburg und Hansjürgens 2022) (dies gilt auch für andere Personengruppen mit interprofessionellem Unterstützungsbedarf, z. B. Krebspatient:innen). So besteht z. B. im sozialversicherungsrechtlichen Kontext der medizinisch orientierten Suchthilfe seit 1968 ein Rechtsanspruch auf Behandlung explizit für Personen mit einer Substanzkonsumstörung. Dies gilt jedoch nicht in allen Bereichen. So ist z. B. im Kontext der Eingliederungshilfe, insbesondere nach der Neuordnung durch das BTHG, der Status von suchterfahrenen Menschen noch nicht in allen Bereichen geklärt und bringt für die unterstützende Organisation, z. B. beim Stellen notwendiger Anträge für die Leistungsgewährung, Unsicherheiten. Der Leistungsanspruch muss hier über ein spezifisches Konstrukt, z. B. Behinderung, begründet werden (vgl. Tranel und Hansjürgens 2022).

    Darüber hinaus gibt es weitere professionelle Hilfeangebote, für die zwar kein Antrag nötig ist, deren Mitarbeitende aber Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht nicht immer ohne Misstrauen begegnen (z. B. Jugendhilfe, komplementäre Hilfen, Jobcenter etc.). Nicht zu vergessen sind die Angebote der Selbsthilfe, die einer weiteren Logik folgen, nämlich der der Peer-Unterstützung und Genesungsbegleitung. Hier sind häufig informelle Zugänge und Logiken des Zugangs zu beachten.

    Funktion Suchtberatung als zentrale Schnittstelle für Vermittlung

    Um in dieser Komplexität eine passgenaue Hilfe für Betroffene und ihr soziales Umfeld zu ermöglichen, fungiert die Suchtberatung als sektorenübergreifende Schnittstelle. Darin hat sie sich bis heute als unverzichtbar erwiesen (Hansjürgens und Schulte-Derne 2021). Eine ihrer in diesem Zusammenhang als zentral angesehenen Tätigkeiten ist die „Vermittlung“. Diese Vermittlung soll einerseits dazu dienen, passende Hilfeangebote für Personen zu finden bzw. Fehlallokationen (= falsche Zuordnungen) zu vermeiden (Gatekeeperfunktion), andererseits soll sie – bei einer grundsätzlich angenommenen Ambivalenz zur Annahme von Hilfen – die Motivation zur Annahme von Hilfen, insbesondere im medizinischen Kontext (Entzug und medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen), herstellen (Brückenfunktion und Motivierung) (Hansjürgens 2018).

    Dass dieses Unterfangen nicht trivial zu sein scheint, zeigt sich in bisher gescheiterten Versuchen, diese „Vermittlung“ aus administrativer Sicht weniger aufwendig zu gestalten, indem sogenannte bürokratische Hürden gesenkt wurden. Konzipiert wurde ein Verfahren mit der Bezeichnung „Direkt- oder Nahtlosvermittlungen“ aus dem medizinischen Sektor (z. B. Arztpraxen oder Krankenhäuser) in die medizinische Rehabilitation. Empirisch untersucht wurde der Versuch, Hausärzt:innen mit Hilfe evidenzbasierter Screening- und Kurzinterventionsverfahren und der Möglichkeit einer Direktvermittlung in stationäre Rehabilitation zu ermutigen, hier aktiver vorzugehen und einen neuen Behandlungspfad zu etablieren (Fankhänel et al. 2014). Dieser Versuch wurde im Rahmen der Studie als grundlegend gescheitert beurteilt (ebd.).

    Darüber hinaus zeigt die Deutsche Suchthilfestatistik, dass über alle Substanzen hinweg nur ein Prozent der Vermittlungen in stationäre Rehabilitation aus ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen erfolgt, und 16,8 Prozent erfolgen aus psychiatrischen Krankenhäusern (möglicherweise aus dem Entzug) (IFT Institut für Therapieforschung 2022b, Tab. 2.11). Demgegenüber wurden aus Einrichtungen der ambulanten Suchtberatung 54,3 Prozent der Personen, die eine Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen antraten, vermittelt (ebd.).

    Diese Datenlage gibt Anlass zu fragen, welche Plausibilitäten die gute Funktionalität der Leistung „Vermittlung“ der Suchtberatung gegenüber anderen Instanzen erklären können. Da Vermittlung in diesem Kontext zu einem weit überwiegenden Teil innerhalb der Leistung „Sucht- und Drogenberatung“ (IFT Institut für Therapieforschung 2022a, Tab. E 6) durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit angeboten wird, soll für den nachfolgenden Plausibilisierungsversuch die handlungstheoretische Perspektive Sozialer Arbeit eingenommen werden.

    Vermittlung als sozialarbeiterische Tätigkeit im Kontext von Suchtberatung

    Aus der Perspektive von Leistungsträgern wird Vermittlung häufig als formaler administrativer Akt verstanden, bei dem Klient:innen sowohl über prinzipiell zur Verfügung stehende Hilfeangebote informiert werden als auch handlungspraktische Unterstützung beim Erstellen der dafür notwendigen Anträge erhalten. Aus dieser Perspektive ist Vermittlung eine Art „Clearing- und Durchgangsstation“ mit vorbereitendem bzw. zuarbeitendem Charakter auf dem Weg zu einer „eigentlichen Leistung“. Die oben dargestellte empirische Datenlage zeigt jedoch, dass sich die Performanz von Vermittlung in der Suchtberatung allein über diese Sichtweise nicht plausibilisieren lässt. Um etwas handlungstheoretisches Licht in diese Blackbox zu bringen, soll hier eine Perspektivenerweiterung aus sozialarbeiterischer Sicht vorgenommen werden.

    Will man die oben beschriebene empirisch sichtbare Performanz von Suchtberatung in Bezug auf Vermittlung in stationäre Rehabilitation besser verstehen – was zu einer Erklärung des Erfolges durch die fachliche Leistung Sozialarbeitender führt –, kommen neben der administrativen Dimension mindestens noch drei weitere Dimensionen dazu (s. Abb. 2):

    Abb. 2: Multiperspektivischer Blick auf Vermittlung (eigene Darstellung)

    Suchtberatung zeichnet sich demnach durch folgende vier Dimensionen aus:

    • die administrative Perspektive: Information über bestehende Hilfeangebote, Unterstützung bei Antragstellung
    • die inhaltliche Perspektive: Themen, die zum Inhalt gemacht und verhandelt werden
    • die Beziehungsperspektive: das Geschehen zwischen den Akteur:innen (Klient:in und Sozialarbeiter:in)
    • die theoretische Perspektive: die Frage, wie sich das Geschehen im Rahmen der Vermittlung aus system- bzw. sozialarbeitstheoretischer Sicht erklären lässt

    Weiter ist zu fragen, in welchen Wechselwirkungen diese Perspektiven zueinanderstehen und was dies für die Handlungsebene (Inhalt und Interaktion) einer sozialarbeiterischen Fachkraft bedeuten kann.

    Vermittlung als inhaltliches Geschehen

    Betrachtet man Vermittlung aus einer inhaltlichen Perspektive, stellt sich die Frage, welche Themen mit welcher Priorisierung verhandelt werden. Zunächst einmal wäre hier – mit Blick auf empirische Rekonstruktionen in der Suchtberatung (Hansjürgens 2014, 2018) und eine darauf Bezug nehmende handlungstheoretische Konzeptionalisierung – die sozialarbeiterische Fallkonstruktion (Hansjürgens 2022) zu nennen. Kernelement dieser Konstruktion ist, dass Klient:innen Raum gegeben wird bzw. gegeben werden sollte, sich und ihre aktuelle Situation klarer wahrzunehmen, zu verstehen und darüber sprechen zu können. Dadurch soll Klient:innen die Erfahrung ermöglicht werden, dass sie sich verständlich machen können und gehört werden. Dies hat häufig den Effekt, dass Klient:innen in einer möglicherweise für sie unübersichtlich gewordenen Situation wieder selbstwirksam agieren und das Gefühl von Kontrolle über Geschehnisse zurückbekommen und sich für Reflexionen öffnen können.

    Gleichzeitig werden in diesem erstmal primär auf die Darstellungen der Klient:innen ausgerichteten und manchmal wenig formal geordneten Verständigungsprozess häufig wichtige Detailinformationen gegeben (z. B. in Bezug auf die berufliche Situation, die familiäre Situation, die Wohnsituation). Diese Details mögen zwar in einem als administrativ verstandenen Vermittlungsprozess eine untergeordnete Rolle spielen, sind aber für die Klient:innen persönlich von hoher Bedeutung. Nicht selten geben diese Details wichtige Hinweise darauf, wie ein Angebot gestaltet sein müsste, damit es für den oder die spezifische:n Klient:in annehmbar ist. Darüber hinaus können diese Informationen Erklärungen für eine möglicherweise bisher ambivalente Haltung gegenüber der Inanspruchnahme von Hilfen liefern. Eine ambivalente Haltung beruht nicht selten auf der oben erwähnten Multiproblemlage (existenzbedrohende materielle und soziale Umstände) und eher weniger darauf, dass der/die Klient:in die Hilfe nicht annehmen will.

    Diese prekäre Multiproblemlage drückt sich auch dadurch aus, dass die Klient:innen häufig nur (noch) wenig Wahlmöglichkeiten in Bezug auf ihre soziale Situation haben (z. B. Partner:in droht mit Verlassen; Jugendamt, Jobcenter oder Gericht haben eine Suchthilfemaßnahme zur Auflage gemacht; Vermieter:in droht mit Kündigung usw.). Diese sehr eingeschränkten Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die eigene soziale Situation deuten neuere Konzeptionen als Mangel an Teilhabe (Bartelheimer et al. 2022, S. 26). Der Konsum psychoaktiver Substanzen wirkt in dieser Situation (genau wie bei psychischen Komorbiditäten) als kurzfristige Entlastung. Mittel- bzw. langfristig jedoch verstärkt sich die mangelnde Teilhabe durch das Konsumverhalten und es entwickelt sich eine Sucht.

    Diese Deutung und die Anerkennung, dass die soziale Situation als Belastung und akute Bedrohung erlebt wird, ermöglichen es, eine ambivalente oder ablehnende Haltung als Ausdruck der mangelnden Teilhabe zu verstehen, und nicht als Teil der Krankheit Sucht. Dies verändert die Perspektive auf den Fall insofern, als nicht die Substanzkonsumstörung oder Verhaltenssucht zuerst behandelt werden muss, um Teilhabe zu ermöglichen. Vielmehr kann durch die Erarbeitung von Wahloptionen im Rahmen des Vermittlungsprozesses, die sich auf verschiedene Bereiche und nicht nur auf ein Mitspracherecht bei der Einrichtungswahl beziehen können, erst ein Zugang zu subjektiv bedeutsamen Zielebenen in Bezug auf soziale Teilhabe geschaffen werden. Dies geht über eine Entwicklung von smarten Therapiezielen weit hinaus.

    Der Fokus auf die Selbstwahrnehmungen und Priorisierungen der Klient:innen ermöglicht es, die Situation des/der Klient:in noch genauer zu verstehen und im Dialog zu verdeutlichen, welche professionelle Unterstützung (z. B. durch eine Rehabilitation oder eine andere Maßnahme) Teilhabe wieder ermöglichen kann (vgl. Abb. 3). Hier ist es besonders wichtig, keine falschen Versprechungen zu machen, sondern eine realistische subjektiv bedeutsame Zukunftsvision zu entwickeln, die mit Hilfe professioneller Unterstützung realisiert werden könnte. Empirische Untersuchen zeigen, dass diese Zukunftsvision im Rahmen eines professionellen Prozessbogens Sozialer Arbeit eine zentrale Grundlage für „Motivation“ darstellt (Sommerfeld et al. 2018, S. 79).

    Abb. 3: Perspektive auf den Fall aus Sicht Sozialer Arbeit in der Suchtberatung (eigene Darstellung)

    Ein weiteres wichtiges Thema auf der inhaltlichen Ebene, das entscheidend ist für eine Passung von Bedarfen, Wünschen und Angebot, ist die Synchronisation von bisheriger Lebensführung und Veränderung. Die Lebensführung von Klient:innen zeigt sich aufgrund der Multiproblemlage und der daraus entstandenen mangelnden Teilhabe oft ressourcenarm und damit wenig flexibel. Klient:innen haben sich an diese häufig lang andauernde Situation gewöhnt und deshalb nicht selten eine wenig flexible, eigensinnig wirkende Haltung entwickelt, die als Widerstand gegen Veränderung oder auch als Überforderung gedeutet werden könnte. Durch die Erzählung des/der Klient:in können sich wichtige Hinweise auf eine für ihn/sie als angemessen erlebte Synchronisation (Timing) ergeben.

    Synchronisation bedeutet hier, das richtige Zeitfenster für mögliche Veränderungen zu finden bzw. nicht zu verpassen – nicht nur in Bezug auf das Antrittsdatum einer weiterführenden Maßnahme, sondern auch in Bezug auf Veränderungen in der Lebensführung (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, Auszug des/der Partner:in, andere bedeutsame Ereignisse im Leben des/der Klient:in). Synchronisation bedeutet, achtsam zu sein und jedes Mal im Vermittlungsprozess gemeinsam zu überlegen, was die mögliche Veränderung für die Annahme einer weiterführenden Hilfe bedeuten könnte. Grundsätzliche Optionen könnten sein, eine Beschleunigung oder eine Verlangsamung anzuregen oder ein passives Zuwarten auszuhalten, aber den /die Klient:in im Prozess zu halten. Dies erfordert eine achtsame, verstehensorientierte und geduldige Haltung der beratenden Person und bietet gleichzeitig für Klient:innen die erforderliche Sicherheit, in einer unsicheren Situation nicht aus dem Kontakt zu gehen.

    Aus der inhaltlichen Perspektive betrachtet entsteht die Motivierung bzw. die Ermutigung zum Wahrnehmen einer professionellen Unterstützung, z. B. einer Behandlung, dann, wenn für Klient:innen deutlich wird, dass sie in ihrer ganz persönlichen Situation gesehen werden, sich verständlich machen können, eine konkrete, für sie wahrnehmbare Unterstützung in der Bewältigung der aus ihrer Perspektive bedeutsamen Probleme erfahren und tatsächliche Wahlmöglichkeiten erhalten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Diskussion einer gemeinsam getroffenen Auswahl von Handlungsoptionen, die aus der Perspektive der Klient:innen machbar erscheinen, wozu auch Bemühungen um ein gutes Timing (Synchronisation) gehören, eine (manchmal sehr langsam) wachsende Zuversicht stärken kann. Dieses Vorgehen sorgt zugleich dafür, dass Teilhabe ermöglicht und erfahren werden kann.

    Ein solches partizipatives, dialogisches Vorgehen verlangsamt den Vorgang einer Vermittlung mit zwei Zielen. Das erste Ziel besteht in der Stabilisierung und Selbstvergewisserung des/der Klient:in bezüglich einer häufig unter äußerem Druck getroffenen Entscheidung. Das zweite Ziel besteht darin, dass der/die Klient:in genug Zeit bekommt, um eine selbstverantwortete gute Wahl in Bezug auf Zeit und Ort einer weiterführenden Hilfe zu treffen. Letzteres erhöht die intrinsische Motivation, weil die eigene bewusst getroffene Entscheidung im Vordergrund steht, und nicht die Erfahrung des Getriebenseins. Zudem schränkt es die Gefahr einer Fehlallokation ein.

    Vermittlung als beziehungsorientiertes Geschehen

    Wie im vorausgehenden Abschnitt schon angedeutet, geht es im Rahmen von Vermittlung neben inhaltlichen Aspekten auch um Beziehungsaspekte, denn diese lassen sich nur analytisch, aber nicht in der Realität voneinander trennen. Eine Beziehung entwickelt sich immer, unabhängig davon, ob wir bewusst darauf Einfluss nehmen (wollen) oder nicht. Eine Erfahrung des Scheiterns oder des „Nicht-Funktionierens“ einer Beziehung ist verbunden mit der Entwicklung von Misstrauen. Dies gilt ebenso für Erfahrungen des Überprüft-Werdens (z. B. in der Frage, ob eine Person für eine bestimmte Maßnahme geeignet scheint), denn Menschen mit einer Substanzkonsumstörung waren solchen Erfahrungen in der Vergangenheit häufig ausgesetzt. Ob dies seine Berechtigung hatte oder nicht, spielt keine Rolle, denn die Erfahrung und Bewertung einer Situation ist davon unabhängig.

    Hinzu kommt, wie die Stigma-Forschung aus dem medizinischen und alltagsweltlichen Kontext zeigt, dass Menschen mit einer Substanzkonsumstörung mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wird (Schmidt et al. 2022; Schomerus 2011; Schomerus et al. 2010). Auch im Kontext von Familien- und Jugendberatung konnte gezeigt werden, dass die Kommunikation im Zusammenhang mit einem als süchtig konnotierten Verhalten von Jugendlichen durch eine „Hermeneutik des Misstrauens“ (Cleppien 2012) geprägt ist. Das bedeutet, dass Schilderungen von Personen mit substanzbezogenen Störungen nicht selten als nicht wahrheitsgemäß oder verlässlich gedeutet werden.

    Für den Kontext von Vermittlung als beziehungsorientiertem Geschehen bedeutet dies, dass davon auszugehen ist, dass Klient:innen eher nicht mit einem generalisierten Vertrauen oder mit einer neutralen Einstellung in die vermittelnde Institution, z. B. die Suchtberatung, kommen, sondern eher mit der Erfahrung des Misstrauens – es sei denn, sie hätten z. B. im Rahmen der Organisation oder Institution von Suchthilfe schon einmal vertrauensfördernde Erfahrungen gemacht. Eine misstrauisch bewertete Beziehung hat jedoch die Tendenz, dass sich das Misstrauen der Beteiligten gegenseitig verstärkt, wenn nicht aktiv dagegen gearbeitet wird. Misstrauen in der Beziehung hat Auswirkungen auf die Qualität der inhaltlichen Aussagen. Dabei geht es nicht darum, dass Klient:innen bewusst falsche oder unzureichende Angaben machen, sondern darum, dass eine mit Vertrauen bewertete Beziehung sich darin zeigt, dass Klient:innen proaktiv mitarbeiten und benötigte Informationen auch geben (sich öffnen) und nicht zurückhalten oder sich gehemmt fühlen, sie zu geben, wie Arnold (2009, S. 182 f.) in einer Studie im Rahmen von stationärer Jugendhilfe herausgearbeitet hat. Vertrauen oder Misstrauen stellt sich nicht explizit, sondern eher subtil, als „interpersonelle Atmosphäre“ oder „wechselseitige leibliche Resonanz und Affektabstimmung“ her (Fuchs 2015, S. 104). Vertrauen kann also nicht erzwungen oder rationalisiert werden, sondern muss in der Interaktion erfahren werden, sozusagen als Gegenerfahrung zu bisher Erlebtem. Erschwerend kommt hinzu, dass Klient:innen mit einer Substanzkonsumstörung nicht selten unter zusätzlichen Störungen wie z. B. einer komplexen Traumatisierung, einer Borderlinestörung, einer Depression oder Angststörung leiden. Auch dieser Umstand wirkt sich aus, und es kann sich eine eher misstrauische als eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entwickeln.

    So wird plausibel, dass der Akt der Vermittlung nicht nur ein rationaler Prozess, ausgehend von objektivierbaren Bedarfen und Hemmnissen, ist, sondern auch zentraler Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung (Hansjürgens 2019). Die Unterstützung der Entwicklung in Richtung Vertrauen vor dem Hintergrund einer eher misstrauischen Alltags- und medizinischen/sozialen Fachwelt sowie einer psychischen Beeinträchtigung, die sich ebenfalls auswirkt, kann daher als explizit fachliche Leistung von Sozialarbeitenden beschrieben werden.

    Gelingt es den Fachkräften in den Beratungsstellen nicht, das bei den suchterfahrenen Personen in ihrer Vorgeschichte entstandene Misstrauen durch die sog. Beziehungsarbeit im Rahmen von Vermittlung zu wandeln, und entwickelt sich eine eher misstrauische Arbeitsbeziehung, führt dies zur gegenseitigen Ausübung von Macht. Klient:innen üben z. B. Macht aus, indem sie nicht die benötigten Informationen geben, sich nicht motiviert verhalten und letztlich nicht kooperieren, indem sie z. B. nicht zu Terminen erscheinen oder den Kontakt abbrechen. Dieses Verhalten wiederum bestärkt Fachkräfte in ihrer ebenfalls misstrauischen Einstellung gegenüber Klient:innen, sodass letztlich ein gegenseitiges Misstrauen entsteht.

    Folglich ist die oben angesprochene Teilhabe (siehe „Vermittlung als inhaltliches Geschehen“) kein ausschließlich normativer Aspekt, der sich administrativ auf ein „Wunsch- und Wahlrecht“ reduzieren ließe, sondern ein funktionaler: Teilhabe (in Form von ermöglichten und reflektierten Wahloptionen) stärkt Vertrauen, Vertrauen fördert Vermittlung. Vertrauensfördernd wirkt, wenn sich Klient:innen und Berater:innen verständigen zu können, wenn sie realistische Möglichkeiten miteinander erarbeiten, wenn ein transparenter Umgang mit administrativen Herausforderungen herrscht, wenn Klient:innen konkrete Unterstützung, Zeit, emotionalen Rückhalt und Sicherheit in Krisenphasen erfahren, wenn ein „Ankommen“ zunächst in der vermittelnden Organisation und dann in der Organisation, in die vermittelt wurde, möglich wird. Misstrauen wird erzeugt durch für Klient:innen intransparente administrative Überprüfungen, personellen Wechsel, unklare Verständigungsprozesse, die Erwartung einer einseitigen Anpassung und durch Versprechungen, die (gefühlt) nicht eingehalten werden. Organisationsinterne Abläufe im Kontext von Vermittlung sollten diesbezüglich reflektiert werden.

    Die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens vor dem Hintergrund der häufig durch Misstrauen geprägten Erfahrungen der Klient:innen ist eine wichtige Prämisse dafür, dass sich Klient:innen auf unbekanntes Terrain begeben, dass sie sich für professionelle Unterstützung entscheiden und der Übergang in eine andere oder erweiterte Hilfeform gelingen kann.

    Vermittlung aus system- und sozialarbeitstheoretischer Perspektive

    In einer empirischen Untersuchung beschreiben Sommerfeld et al. (2011) die Integration von Klient:innen in eine stationäre (psychiatrische) Einrichtung und auch das Heraustreten aus dieser zurück in das „normale“ Leben aus einer systemtheoretischen Perspektive als „Phasenübergang“ zwischen zwei sozialen Ordnungen. Weiter konzipieren sie aus einer sozialarbeitstheoretischen Perspektive die Rolle Sozialer Arbeit in diesem Kontext als Begleitung und Unterstützung eines solchen Phasenübergangs. Sie konnten empirisch zeigen, dass in Fällen, in denen es gelingt, diese Übergänge gut durch eine Fachkraft zu begleiten, Veränderungsprozesse von Klient:innen stabilisiert werden und daher besser gelingen können. Dieser Effekt erklärt sich dadurch, dass Phasenübergänge viel Energie benötigen und die Menschen im Vorfeld und auch noch einige Zeit nach dem erfolgten Übergang besonders krisenanfällig sind. Die Krisenanfälligkeit nach dem Übergang kann dazu führen, dass Menschen in alte Verhaltensweisen „zurückfallen“, was gerade im Kontext einer Suchterkrankung ein bekanntes Phänomen nicht nur in Bezug auf den Konsum darstellt.

    Weiter konnten die Forschenden beobachten, dass sich Krisen im Zusammenhang mit Phasenübergängen ankündigen und auch noch nach dem erfolgten Übergang, den sie als „Sprung“ bezeichnen, eine Weile beobachtbar sind, z. B. durch stärkere Unruhe und Erregungszustand der Patient:innen. Gerade in der Phase des Übergangs entscheidet sich, ob die anvisierten Veränderungen auch unter anderen Kontextbedingungen aufrechterhalten werden können. Dieses Phänomen des Phasenübergangs ist aus posttherapeutischen Kontexten bekannt und wird in Suchtberatungsstellen strukturell durch z. B. Nachsorge aufgefangen. Neu wäre, diese theoretischen Erkenntnisse auch für eine prätherapeutische oder sonst wie geartete Veränderung im Rahmen von Vermittlung zu nutzen und konzeptionell einzubinden.

    Aus sozialarbeitstheoretischer Perspektive kann Vermittlung als Ermöglichung von Teilhabe an professionellen Hilfen betrachtet werden (Sommerfeld et al. 2016), die spezifische Voraussetzungen benötigen, um ihre Wirkung entfalten zu können. Erst dadurch, dass Klient:innen in einer für sie schwierigen Lage zunächst stabilisiert werden, um weitere Eskalationen zu verhindern, und dann auf eine Neujustierung ihrer psychosozialen und manchmal auch biologischen Situation (falls schon irreparable Schäden eingetreten sind) vorbereitet werden, können suchttherapeutische Hilfen wirken. Hierfür muss es gelingen, dass Klient:innen wieder Vertrauen in die Hilfe, aber auch in sich selbst, gewinnen und eine Idee davon entwickelt haben, was die Zukunft für sie bereithalten könnte, wenn sie sich auf das Angebot einlassen. Bei Menschen mit noch starken Ressourcen gelingt dies einfacher. Menschen, deren Teilhabe am sozialen Leben schon sehr eingeschränkt ist, brauchen dafür mehr und intensivere Unterstützung durch Sozialarbeitende in der Suchtberatung.

    Konzeptionelle und praktische Implikationen

    Phasenübergänge sind eine krisenanfällig Zeit und erfordern bei den Klient:innen viel Energie, um den „Sprung“ in eine neue soziale Ordnung zu vollziehen und diese auch aufrechtzuerhalten. Daher sollten diese Übergänge schon im Vorfeld engmaschig beobachtet und so lange begleitet werden, bis sich ein neues Ordnungsmuster (z. B. in einer suchtbezogenen Hilfe ankommen und diese nutzen) stabil etabliert hat. Vermittelt werden kann in verschiedenste professionelle Unterstützungsangebote und in Selbsthilfe. Damit Vermittlung erfolgreich ist, kann es notwendig werden, Klient:innen im Vorfeld der Nutzung weitergehender Unterstützungsmaßnahmen zu stabilisieren und auch ggf. Verhaltensänderungen zu erarbeiten, die notwendig sind, um dort „ankommen“ zu können (z. B. Termine verlässlich wahrnehmen, Konsum kontrollieren / Abstinenz einhalten). Die beidseitige Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung spielt dabei eine wichtige Rolle. Darüber hinaus werden im Rahmen von Vermittlung zentrale inhaltliche Daten generiert, die es erst ermöglichen, dass eine weitergehende Maßnahme personenzentriert dialogisch mit dem / der Klient:in ausgewählt werden kann und somit Fehlallokationen mindestens eingeschränkt werden können.

    Auf der inhaltlichen Verfahrensebene bieten Instrumente sozialer Diagnostik erste Möglichkeiten eines angeleiteten (selbst-)reflexiven Umgangs mit der Situation (Hansjürgens 2020). Die in diesem Zusammenhang gemeinsam erhobenen Daten liefern wichtige Informationen für Therapieplanung und können auch in die administrativ vorgegebenen Formulare eingespeist werden. Mit diesen Informationen kann eine Übergangssituation so gestaltet werden, dass Klient:innen in weiterführenden Hilfen „ankommen“ können: Sie erfahren, dass dort inhaltlich an bereits Berichtetes angeknüpft wird und nicht „alles von vorn“ beginnt. Zentral ist auch hier, Klient:innen echte Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Form und Ort der Behandlung zu lassen, ohne dass ihre Entscheidung von Leistungsträgern aufgrund ökonomischer Aspekte in Frage gestellt werden kann.

    Sollten sich die äußeren Umstände so gestalten, dass tatsächlich Eile bei der Vermittlung in Rehabilitation geboten ist, z. B. aufgrund drohender Wohnungslosigkeit oder drohender Entlassung aus dem geschützten Setting eines Entzugs in eine unklare Situation, kann der Sozialbericht und die gezielte Nutzung seiner Kategorien eine Strukturhilfe für die Umsetzung der inhaltlichen Perspektive darstellen und den oben beschriebenen Prozess beschleunigen. Gleichzeitig werden so die formal-administrativen Anforderungen erfüllt, da der Bericht eine Voraussetzung für die Hilfegewährung ist.

    Bedeutsam ist aber auch hier, dass der Sozialbericht nicht ausschließlich als Formular zu begreifen ist, sondern auch unter Druck versucht werden sollte, die Beziehungs- und Reflexionspotenziale der dort angegebenen Kategorien im Gespräch zu nutzen. In der Praxis hat es sich darüber hinaus als hilfreich erwiesen, im Rahmen fallübergreifender Netzwerkarbeit im sozialen Raum „kurze Wege“ zu schaffen, um im Krisenmodus agieren zu können und Klient:innen die (erneute) Erfahrung eines Scheiterns an strukturellen Barrieren zu ersparen.

    Vermittlung sollte als fachliche, qualitativ aufwendige, beziehungsorientierte Tätigkeit Sozialarbeitender innerhalb der Funktion Suchtberatung betrachtet werden und nicht als vorrangig administratives Geschehen. Dies sollte in den Ressourcenplanungen und im Erfolgscontrolling mitberücksichtigt werden. Darüber hinaus sollte implizites Wissen der Fachkräfte zu der erfolgreichen Vermittlungsarbeit wissenschaftlich gebündelt und systematisiert werden. Dabei können für komplexe Vermittlungsprozesse auch bereits erprobte Mittel wie z. B. ein instrumentengesteuertes, digital unterstütztes Realtime Monitoring, wie es im benannten Forschungsprojekt (Sommerfeld et al. 2011), aber auch im Kontext sozialer Diagnostik, zum Einsatz gekommen ist (Calzaferri 2020), eingesetzt werden. Entsprechende Infrastruktur und ein entsprechendes fachliches Können im Kontext Sozialer Arbeit in der Suchtberatung wären aufzubauen.

    Anmerkung der Autorin: Für wichtige inhaltliche Hinweise danke ich Katrin Blankenburg sehr herzlich.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens
    Alice Salomon-Hochschule Berlin
    hansjuergens(at)ash-berlin.eu

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens ist Inhaberin der Professur für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik an der Alice Salomon-Hochschule in Berlin.

    Literatur:
    • Arnold, Susan (2009): Vertrauen als Konstrukt. Sozialarbeiter und Klient in Beziehung. 1. Aufl. Marburg: Tectum-Verl.
    • Bartelheimer, Peter; Behrisch, Birgit; Daßler, Henning; Dobslaw, Gudrun; Henke, Jutta; Schäfers, Markus (2022): Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Gudrun Wansing, Markus Schäfers und Swantje Köbsell (Hg.): Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bd. 55. 1st ed. 2022. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden; Imprint Springer VS (Springer eBook Collection), S. 13–34.
    • Blankenburg, Katrin; Hansjürgens, Rita (2022): Multiprofessionelle Teamleistung im sozialen Raum – Überlegungen zu Chancen und Herausforderungen für Soziale Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen. In: Nina Weimann-Sandig (Hg.): Multiprofessionelle Teamarbeit in Sozialen Dienstleistungsberufen, Bd. 4. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 103–114.
    • Calzaferri, Raphael (2020): Realtime-Monitoring als Verfahren der systemisch biografischen Fallarbeit. Ein Gewinn für die Soziale Arbeit in der Suchthilfe. In: Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne (Hg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit, S. 107–124.
    • Cleppien, Georg (2012): Über die Schwierigkeiten Klient/innen zu vertrauen. In: Sandra Tiefel und Maren Zeller (Hg.): Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren (Soziale Arbeit aktuell, 20), S. 49–66.
    • Fankhänel, Thomas; Klement, Andreas; Forschner, Lukas (2014): Hausärztliche Intervention für eine Entwöhnungs- Langzeitbehandlung bei Patienten mit einer Suchterkrankung (HELPS). In: Sucht Aktuell (2), S. 55–59.
    • Fuchs, Thomas (2015): Vertrautheit und Vertrauen als Grundlage der Lebenswelt. In: Phänomenologische Forschungen, S. 100–118.
    • Giersberg, Steffi; Touil, Elina; Kästner, Denise; Büchtmann, Dorothea; Moock, Jörn; Kawohl, Wolfram; Rössler, Wulf (2015): Alkoholabhängigkeit. 1. Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Hansjürgens, Rita (2014): Auf dem Weg zu mehr Klarheit. Optionen zur Professionalisierung Sozialer Arbeit in der ambulanten Suchthilfe. Masterthesis. Hochschule, Koblenz.
    • Hansjürgens, Rita (2018): „In Kontakt kommen“. Analyse der Entstehung von Arbeitsbeziehungen in Suchtberatungsstellen. Baden-Baden: Tectum-Verl.
    • Hansjürgens, Rita (2019): Zur Entstehung und Bedeutung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung in der Suchtberatung. In: Suchtmagazin (3), S. 34–37.
    • Hansjürgens, Rita (2020): Der Sozialbericht als Instrument Sozialer Diagnostik in der Suchtberatung? In: Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne (Hg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit, S. 93–106.
    • Hansjürgens, Rita (2022): Ein Fall für Soziale Arbeit. Handlungstheoretische Überlegungen zu einer sozialarbeiterischen Fallkonstruktion. In: Soziale Arbeit 71 (5), S. 162–170.
    • Hansjürgens, Rita; Schulte-Derne, Frank (2021): Suchtberatungsstellen heute. Gemischtwarenladen oder funktional differenzierte Hilfe aus einer Hand? Lengerich: Pabst Science Publishers (Jahrbuch Sucht, 2021).
    • IFT Institut für Therapieforschung (2022a): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für ambulante Beratungs- oder Behandlungsstellen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
    • IFT Institut für Therapieforschung (2022b): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
    • Schmidt, Hannah; Koschinowski, Julie; Bischof, Gallus; Schomerus, Georg; Borgwardt, Stefan; Rumpf, Hans-Jürgen (2022): Einstellungen von Medizinstudierenden gegenüber alkoholbezogenen Störungen: Abhängig von der angestrebten medizinischen Fachrichtung? In: Psychiatrische Praxis 49(08): S. 428-435. DOI: 10.1055/a-1690-5902.
    • Schomerus, Georg (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? In: Psychiatrische Praxis 38 (03), S. 109-110. DOI: 10.1055/s-0030-1266094.
    • Schomerus, Georg; Holzinger, Anita; Matschinger, Herbert; Lucht, Michael; Angermeyer, Matthias C. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. In: Psychiatrische Praxis 37 (3), S. 111–118. DOI: 10.1055/s-0029-1223438.
    • Sommerfeld, Peter; Dällenbach, Regula; Rüegger, Cornelia (2016): Klinische Soziale Arbeit und Psychiatrie. Entwicklungslinien einer handlungstheoretischen Wissensbasis. Wiesbaden: Springer.
    • Sommerfeld, Peter; Hollenstein, Lea; Calzaferri, Raphael (2011): Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
    • Sommerfeld, Peter; Solèr, Maria; Süsstrunk, Simon (2018): Lebensverlauf, Kontext, Zeit und Wirkung sozialarbeiterischer Intervention. DOI: 10.5169/seals-855350.
    • Tranel, Martina; Hansjürgens, Rita (2022): Ermöglichungsraum für soziale Teilhabe und Gesundheit für Menschen mit chronischer Suchterkrankung. In: Sozialmagazin Heft 01-02, S. 33–40.
  • Gedanken zur Zukunft der Suchtberatung – Kommentar zum Artikel von Daniel Zeis

    Gedanken zur Zukunft der Suchtberatung – Kommentar zum Artikel von Daniel Zeis

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Beitrag von Daniel Zeis über die Zukunft der Suchtberatung, der auf KONTUREN online am 7. Februar 2023 publiziert wurde, greift ein sehr wichtiges Thema auf. Grundsätzlich kann man den Kernaussagen des Textes nicht widersprechen: Suchtberatung ist eine sehr wichtige Aufgabe im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge und als solche muss diese Leistung angemessen finanziert werden. Dass die Wirklichkeit in vielen Städten und Landkreisen anders aussieht und dass die Lage nicht besser wird, braucht nicht diskutiert zu werden. Aus meiner Sicht hat das Vergabebrecht für die Suchtberatung aber nicht nur negative Auswirkungen bzw. eine Verschärfung der Probleme zur Folge.  Es bedarf einer differenzierteren Analyse, um sinnvolle Handlungsoptionen für die Absicherung der Suchtberatung in den kommenden Jahren entwickeln zu können.

    Leistungsanbieter haben meistens die schlechtere Verhandlungsposition

    Im Netzwerk des Therapiehilfeverbundes arbeiten in vier norddeutschen Bundesländern rund 30 Suchtberatungsstellen, und wir haben im Hinblick auf die Finanzierung dieser Leistungsangebote in den letzten Jahren viele und teilweise sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Vertragsverhandlungen und Ausschreibungsverfahren gemacht. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass die „Gesetzte des Quasi-Marktes“ im Bereich sozialer Dienstleistungen für uns als Leistungsanbieter meistens nicht einfach sind und wir einem Monopolisten oder einem „Nachfrage-Oligopol“ gegenüberstehen. Das ist aber nicht nur bei der Suchtberatung so, auch in der medizinischen Reha, in der Akutbehandlung, in der Eingliederungshilfe oder in der Kinder- und Jugendhilfe sind wir in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis. Dabei spielt es i. d. R. keine Rolle, ob der Leistungsanbieter frei-gemeinnützig oder privatwirtschaftlich organisiert ist, die Zuwendungsgeber bzw. Kosten- und Leistungsträger haben eigentlich immer die stärkere Verhandlungsposition. Es gibt zwar vereinzelt normative Rahmenbedingungen, die so etwas wie „Augenhöhe“ bei Verhandlungen schaffen sollen (bspw. die Möglichkeit der Einschaltung von Schiedsstellen), aber mit Blick auf die Machtverteilung und Abhängigkeiten muss es wohlüberlegt sein, ob man solche Möglichkeiten nutzen will.

    Diesen Zustand kann man beklagen, und es ist auf jeden Fall sinnvoll, an Verbesserungen der Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die laufenden Verhandlungen der Reha-Verbände mit der Deutschen Rentenversicherung im Zusammenhang mit der notwendigen Neuregelung des „Reha-Marktes“ zeigen, dass das sehr mühsam ist und viel Geduld erfordert. Aber wenn man in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft unternehmerisch verantwortlich ist, dann muss man sich über die Spielregeln im Klaren sein. Auch wenn unser Verhandlungsspielraum nicht sehr groß ist, so gibt es doch viele Möglichkeiten, ihn intelligent nutzen.

    Rahmenbedingungen haben sich deutlich verändert

    Im Bereich der Suchtberatung und niedrigschwelligen Suchtarbeit ist es in der Tat so, dass sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren deutlich verändert haben. Langfristige oder gar unbefristete Verträge sind selten geworden und die Finanzmittel für die kommunale Förderung bzw. Zuwendung sind knapper geworden. Das führt zu Veränderungsdruck bei den Leistungserbringern, den spüren wir auch in den Suchtberatungsstellen des Therapiehilfeverbundes. Der Hintergrund für diese Entwicklungen ist auch allgemein bekannt:

    1. Zum einen wird die Finanzlage der Kommunen insgesamt schwieriger, wenn auch mit teilweise deutlichen regionalen Unterschieden. Dass Suchthilfe eher nach Kassenlage und nicht nach den Bedarfen organisiert und finanziert wird, ist ungeheuerlich, und wir bemühen uns über die Suchtverbände um Einflussnahme auf die entsprechenden sozial- und finanzpolitischen Entscheidungen.
    2. Zum anderen werden in nahezu allen öffentlichen Bereichen die staatlichen Auftraggeber dazu aufgefordert, wirtschaftlich mit Steuergeldern und Sozialversicherungsbeiträgen umzugehen. Das kann aus meiner Sicht nur begrüßt werden, denn Deutschland steht leider nicht ganz so gut da im Ranking von „Transparency International“ (2021 auf Platz 10). Öffentliche Vergabeverfahren sollen so transparent wie möglich sein, und dabei sind Ausschreibungen eine von mehreren Optionen.

    Diskussion der Umfrageergebnisse

    Ein Ergebnis der Umfrage von Daniel Zeis ist, dass 17,5 Prozent der Beratungsstellen, die geantwortet haben, sich bereits an Ausschreibungen beteiligt haben. Das ist eine interessante Zahl, ich hätte einen deutlich höheren Anteil erwartet, denn der o. g. Handlungsdruck im Hinblick auf Transparenz und Wirtschaftlichkeit ist nach meiner Erfahrung hoch. Ich finde nicht, dass man hier von einem quantitativ großen Problem sprechen kann. Im Übrigen würde mich interessieren, wie viele der über 1.000 Suchtberatungsstellen in Deutschland an der Umfrage teilgenommen haben.

    Außerdem finde ich es schwierig, eine qualitative Bewertung zu diesem Thema vorzunehmen, indem man nur eine beteiligte Seite befragt. Ich fühle mich ein wenig an den Spruch erinnert „Wenn man den Sumpf austrocknen will, sollte man nicht die Frösche fragen“. Aber bleiben wir sachlich: Dass Ausschreibungsverfahren für alle Beteiligten aufwendig sind und nicht automatisch zu den besten Ergebnissen führen, kann als gesichert angesehen werden. Aber die von Daniel Zeis aufgeführten Gründe, warum Ausschreibungen grundsätzlich ungeeignet für den Bereich der Suchtberatung sein sollen, sind aus meiner Sicht nicht zwingend. Wie so oft ist die Welt nicht schwarz oder weiß, sondern es gibt Graubereich, die man sich genauer anschauen sollte, wenn man gute Lösungen finden will.

    Dazu möchte ich nur einige Aspekte exemplarisch aufführen:

    • In den mir bekannten Ausschreibungen waren Merkmale wie „bestehende regionale Vernetzung“ oder „nachgewiesene Erfahrungen mit den Zielgruppen“ wesentliche Bewertungskriterien, d. h., neue Bewerber ohne diese qualitativen Merkmale haben weniger Erfolgschancen als etablierte Leistungsanbieter.
    • Für diese etablierten Leistungsanbieter entsteht aber die Notwendigkeit, das eigene Leistungsspektrum und die Finanzstruktur im Rahmen des Bewerbungsverfahrens zu hinterfragen. Das kann durchaus zu positiven konzeptionellen Entwicklungen, der Nutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven und der Veränderung von ineffizienten Organisationsstrukturen führen.
    • Eingespielte Kooperationsstrukturen bei der Erbringung von Leistungen der Suchthilfe in einer Region könnten sicherlich Vorteile haben. Institutionen und Personen sind einander bekannt, Vertrauen und Verlässlichkeit können über Jahre wachsen, und das erleichtert i. d. R. die Zusammenarbeit. Doch gleichzeitig kann dabei auch eine gewisse Bequemlichkeit entstehen, die die Innovationsfähigkeit im Hinblick auf fachliche Entwicklungen oder Strukturen und Prozesse behindert.
    • Man wird im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens versuchen, Kontakt zu potenziellen Mitbewerbern aufzunehmen. Ich finde es eher förderlich, sich mal anzuschauen, „wie es andere machen würden“, das kann man auch als sportliche Herausforderung sehen. Ich glaube fest daran, dass Wettbewerb jedes Geschäft belebt, auch das soziale!
    • Auch wenn es eigentlich nicht sein soll: Man wird auch versuchen, beim Auftraggeber mehr über Hintergründe zu erfahren, die nicht in den Ausschreibungsunterlagen zu finden sind. Dadurch kann eine sinnvolle Neuausrichtung und Klärung von Kooperationsbeziehungen erfolgen.
    • Die Ausschreibungen, an denen wir uns bisher beteiligt haben, führten nicht zu „Preisdumping“. Im Gegenteil wurde von uns i. d. R. gefordert, dass wir Tarifgehälter zahlen oder angelehnte Vergütungssysteme nachweisen können, und es waren seriöse Sachkostenkalkulationen vorzulegen. Den Zuschlag soll ja das wirtschaftlichste und nicht das billigste Angebot bekommen.

    Entscheidender Faktor ist die Laufzeit der Leistungsvereinbarung

    Letztlich ist es bei diesem Thema wie bei vielen anderen auch: Es geht nicht nur um das „ob“, sondern vor allem um das „wie“! Wenn Ausschreibungen sachgerecht durchgeführt werden, dann können sie ein sinnvolles Instrument sein, die Leistungserbringung in der Suchtberatung innovativ und leistungsorientiert zu gestalten. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Laufzeit der ausgeschriebenen Leistung, denn die Arbeitsverträge mit dem erforderlichen Fachpersonal hängen natürlich eng mit den Zuwendungsverträgen zusammen. Es ist kaum noch möglich, Stellen für zwei oder drei Jahre befristet zu besetzen, und es ist den Trägern der Suchtberatung nicht zuzumuten, unbefristete Arbeitsverträge auf eigenes Risiko abzuschließen. Aus meiner Sicht sollte die Laufzeit von Zuwendungsverträgen mindestens fünf Jahre umfassen, um die Personalstruktur und den Leistungsumfang einigermaßen seriös planen zu können. Sinnvoll wären auch transparente Kriterien und Regelungen für die Verlängerung der Vereinbarungen. Um die möglichen positiven Effekte von Ausschreibungen wirksam werden zu lassen, ist es aus meiner Sicht ausreichend, erst nach acht bis zehn Jahren ein neues Verfahren einzuleiten.

    Nachweis für Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Leistungen

    Wir werden uns in der Suchtberatung wie in nahezu allen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesen immer mehr mit der Forderung auseinandersetzen müssen, einen Nachweis für die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit unserer Leistungen erbringen zu müssen. Ich halte es für nicht zielführend, solche Anforderungen abzulehnen und auf die Besonderheiten unserer Arbeit und unserer Zielgruppen zu verweisen. Das ist der üblicherweise nicht fachkundigen Öffentlichkeit bzw. Politik kaum vermittelbar. Ich bin ganz im Gegenteil der Meinung, dass wir offensiv darstellen sollten, welchen ethischen und ökonomischen Nutzen unsere Arbeit bringt. Die aktuell diskutierten Überlegungen und Berechnungen zum „Social Return on Investment“ (SROI) sind eine ausgezeichnete Basis dafür.

    Abschließend und um der Transparenz willen noch einige Angaben zu meinen möglichen Interessenkonflikten: Dieser Beitrag wurde weder in Abstimmung noch im Auftrag oder gar mit finanzieller Förderung der öffentlichen Vertragspartner verfasst, mit denen der Therapiehilfeverbund im Bereich der Suchtberatung zusammenarbeitet. Natürlich verhandeln wir mit Zuwendungsgebern so hart wie möglich, letztlich muss auch bei uns als gemeinnützigem Unternehmen eine schwarze Null im Jahresabschluss stehen. Wir bemühen uns dabei einerseits um Fairness und Offenheit und versuchen andererseits, unsere Spielräume bei Verhandlungen und bei der Ausgestaltung der Leistungserbringung konsequent zu nutzen.

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist seit rund 20 Jahren in der Suchthilfe tätig. Er ist Geschäftsführer des Therapiehilfeverbundes Hamburg/Bremen und Vorsitzender der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Hennef, hat er eine Honorarprofessur im Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung.

    Kontakt:

    Andreas-Koch(at)therapiehilfe.de

  • Die Zukunft der Suchtberatung liegt nicht im Vergaberecht

    Die Zukunft der Suchtberatung liegt nicht im Vergaberecht

    Daniel Zeis

    Neben der aktuell größten Herausforderung der Menschheit, der Klimakrise mit all ihren Folgen, ist die Situation der Suchtberatungsstellen in Deutschland sicher ein marginales Problem. Dennoch müssen wir auch die Themen im Blick behalten, die mit einem kleineren Wirkungskreis für ein gutes Zusammenleben wichtig sind. Dazu gehört eine ausreichende Ausstattung der kommunalen Daseinsvorsorge.

    Die Ausgangslage

    Suchtberatungsstellen sind unzureichend ausgestattet. Es mangelt an langfristigen Verträgen, dynamisierter Finanzierung und einer grundsätzlich verlässlichen, durch Gesetze abgesicherten Grundstruktur (DHS, 2019). Der seit 2020 jährlich stattfindende „Aktionstag Suchtberatung“, organisiert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), dient dazu, auf den Stellenwert der Suchtberatungsstellen und Defizite in der Ausstattung aufmerksam zu machen. Ein Aspekt, der stark zur unsicheren Situation der Suchtberatungsstellen beiträgt, ist die mögliche Anwendung von Vergaberecht. Suchtberatungsstellen in Deutschland können aktuell von öffentlichen – teilweise europaweiten – Ausschreibungen betroffen sein, was die Erbringung der Leistung für alle Beteiligten erschwert.

    Als Leiter einer Suchtberatungsstelle der AWO und Sprecher der AG Suchtberatungsstellen beim AWO Bundesverband hat der Autor mit diesen Verfahren umfassende Erfahrungen gemacht und diese in seiner Masterarbeit „Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme“ (Zeis, 2022) beschrieben und ausgewertet. Die folgenden Ausführungen basieren auf dieser Masterarbeit.

    Öffentliche Ausschreibungen gehen an Wesen und Aufgabe der Suchtberatung vorbei

    Im Zuge der EU-Vergaberechtsreform von 2016 kam es zu zahlreichen Veränderungen (vgl. Rock et al., 2019). Rechtsunsicherheiten entstanden, diese mussten und müssen neu ausgefochten werden. So gilt beispielsweise für die Rettungsdienste in der Notfallrettung mittlerweile eine sogenannte Bereichsausnahme. Leistungen können also unter bestimmten Bedingungen auch ohne europaweite Ausschreibungen an gemeinnützige Träger vergeben werden. Diese vom Europäischen Gerichtshof am 21.03.2019 geschaffene Rechtssicherheit gibt es für den Bereich der Suchtberatung oder anderer Beratungsdienste nicht. Es liegen zwar mittlerweile zahlreiche Zivilgerichtsurteile vor, die Ausnahmen im Vergaberecht zulassen, z. B. entschied das OLG Düsseldorf 2018, dass öffentlich geförderte Dienstleistungen nicht ausschreibungspflichtig sind (11.07.2018, VII-Verg 1/18). Von Sozial- und Verwaltungsgerichten stehen solche Urteile leider noch aus.

    Schnell wurde allen Sozialverbänden klar, dass öffentliche Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen der benötigten und gewünschten Leistung nicht gerecht werden (vgl. Positionspapiere der DHS, der BAGFW, der LIGA der freien Wohlfahrtspflege und viele weitere), und zwar aus mindestens drei triftigen Gründen, die als Grundprämissen angenommen werden können:

    1. Soziale Dienstleistungen haben besondere Merkmale, die sie von anderen Produkten am Markt unterscheiden. Hier sind u. a. die grundsätzliche Immaterialität, das Uno-actu-Prinzip (Produktion und Konsum der Leistung fallen zeitlich zusammen), die Ko-Produktion durch und mit der jeweiligen Nutzer:innengruppe, eine hohe Individualität und eine eingeschränkte Möglichkeit der Rationalisierung zu nennen (vgl. Dahme & Wohlfahrt, 2013; Arnold, 2014).
    2. Soziale Dienstleistungen werden auf einem „Quasi-Markt“ angeboten. Auf diesem Quasi-Markt tritt der jeweilige Leistungsträger – im Falle von Suchtberatungsstellen meist die Kommune – als Monopolist auf. Er allein vergibt die Leistung, er allein nimmt die Leistung letztlich ab. Die Leistungserbringer befinden sich daher in voller Abhängigkeit zum Leistungsträger (vgl. Seithe, 2010; Wohlfahrt, 2012; Hagn, 2012).
    3. Suchtberatungsstellen gehören mit ihren Funktionen zur kommunalen Daseinsvorsorge. Dies wird oft bestritten, lässt sich aber belegen. Der vom Staatsrechtler Ernst Forsthoff beschriebene Begriff der Daseinsvorsorge wird bis heute immer dann genutzt, wenn es um öffentliche Leistungen und Güter geht, ohne die ein vernünftiges Zusammenleben einer Gemeinschaft nur schwer möglich ist (vgl. Neu, 2009). Leistungen der Daseinsvorsorge sind elementare, sinnvolle, sogenannte meritorische und neuerdings sicherlich auch „systemrelevante“ Güter, die der einzelnen Person und der Allgemeinheit zugutekommen (vgl. Bachert, 2018). Dass Suchtberatungsstellen zur kommunalen Daseinsvorsorge gehören, davon zeugen die Ergebnisse der jährlichen Suchthilfestatistik oder aktuelle Studien zum Social Return on Investment (SROI). Menschen, die ihre Konsum- und Verhaltensweisen verändern, reduzieren gesellschaftliche Kosten, verringern die Risiken für Folgeerkrankungen aller Art und stabilisieren sich und ihr soziales Umfeld (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022).

    Als weiteres Merkmal kommt hinzu: Suchtberatungsstellen sind nicht, wie viele andere öffentliche Dienstleistungen, durch ein sogenanntes sozialstaatliches Dreiecksverhältnis abgesichert (Anspruch des Hilfeberechtigten auf Leistung gegenüber dem Leistungsträger, Erbringung der Leistung durch den Leistungserbringer unter vertraglicher Vereinbarung mit dem Leistungsträger). Sie sind allein vom politischen Willen bzw. vom Handeln der kommunalen Verwaltung (= Leistungsträger) abhängig. Die Gesundheitsdienstgesetze als gesetzliche Grundlage schaffen hier keine verlässliche Struktur, da sie lediglich den Kommunen auftragen, sich um die jeweiligen Bereiche, also beispielsweise auch um suchtgefährdete oder suchtkranke Menschen, im Rahmen von Fürsorge zu kümmern. Wie sie das tun, ist regional höchst unterschiedlich (vgl. Deutscher Bundestag, 2015).

    Zahlreiche Stellungnahmen und Positionspapiere sind seit der EU-Vergaberechtsreform geschrieben worden. Alle sprechen sich ausnahmslos gegen öffentliche, also wettbewerbsorientierte, Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen aus. Hauptargument ist u. a. der enge regionale Bezug dieser Leistungen. Dies trifft auch auf Suchtberatungsstellen zu. Diese werden zum größten Teil von gemeinnützigen Sozialverbänden betrieben, sind zumeist in einer Stadt oder in einem Landkreis aktiv und dort über Jahrzehnte gewachsen, sie sind gut vernetzt und an der Gestaltung des regionalen Sozialraums beteiligt. Sie leisten essenzielle (Überlebens-)Hilfen und entfalten neben einem enormen Output auch eine messbare Wirkung (Outcome, Impact), beispielsweise in der Reduzierung von Folgekosten (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022). Im Bundestagswahlkampf 2021 hatten sich auch die politischen Parteien in ihren Wahlprogrammen des Vergaberechts angenommen. Bündnis 90/Die Grünen waren hier am deutlichsten und wollten eine Ausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Leider hat es diese Forderung nicht in den Koalitionsvertrag der Ampel geschafft.

    Trotz dieser Voraussetzungen werden wettbewerbsorientierte Vergabeverfahren für soziale Dienstleistungen bis heute immer wieder vereinzelt angewendet, nicht nur im Bereich der Suchtberatung, sondern auch in anderen Feldern der Beratung, so beispielsweise bei der Schuldnerberatung, bei Kontaktstellen für psychisch erkrankte Menschen, in der Migrationsberatung oder bei Integrationsfachdiensten.

    Das Vergaberecht missachtet dabei

    • die wesentlichen und historisch gewachsenen Prinzipien der Subsidiarität,
    • wichtige Inhalte des Sozialstaatsprinzips sowie
    • die positiven Aspekte von Gemeinnützigkeit (vgl. Themenoffensive des PARITÄT).

    Es verkennt die Bedeutung der zu Beginn des Artikels genannten Grundprämissen wie

    • die besonderen Merkmale von sozialen Dienstleistungen auf einem Quasi-Markt,
    • die Grundsätze der kommunalen Daseinsvorsorge und der Regionalität sowie
    • die jeweiligen Pfadabhängigkeiten.

    Umfrage zur aktuellen Relevanz von Ausschreibungen

    Die Ergebnisse einer im Rahmen der vorne genannten Masterarbeit durchgeführten Online-Umfrage unter Suchtberatungsstellen in Deutschland zeigen, dass bei einem Anteil von 17,5 Prozent die Leistung bereits einmal oder mehrfach öffentlich ausgeschrieben wurde (Zeis, 2022).

    Öffentliche Ausschreibungen sind Vergabeverfahren, die einen klaren Wettbewerbscharakter haben. Das heißt, jede Institution, jeder Verein, jede Gesellschaft, ob gewinnorientiert oder nicht, kann sich bewerben. Liegt der zu vergebende Auftrag über dem EU-Schwellenwert von 750.000 Euro für soziale Dienstleistungen, muss sogar europaweit ausgeschrieben werden. Dies sieht das EU-Vergaberecht so vor. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) forciert den Wettbewerbsgedanken auf Bundesebene, und nach zahlreichen Gesprächen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist die Forderung nach Wettbewerb in den Haushaltsressorts der Länder die eindeutige, verabredete Maßgabe, egal in welchem Bereich. Die Rechnungshöfe oder Innenrevisionen machen hier zusätzlich Druck auf die beteiligten Leistungsträger, indem sie Vergabeverfahren anmahnen und auch einfordern.

    Die Umfrage ergab auch, dass sich zum Zeitpunkt der Befragung rund ein Fünftel der Suchtberatungsstellen in Neuverhandlungen befand (Zeis, 2022). Zum größten Teil lag das darin begründet, dass der alte Vertrag auslief. In vielen Fällen wurden die Neuverhandlungen aber auch direkt durch Politik oder Verwaltung ausgelöst und die Leistung öffentlich ausgeschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass auch in Zukunft Aufträge im Bereich der ambulanten Suchtberatung öffentlich ausgeschrieben werden.

    Die Umfrage zeigt deutlich die Nachteile von öffentlichen Vergaben (Zeis, 2022). Neben der Feststellung des hohen Aufwands an Zeit und Kosten werden vor allem Preisdumping und die Auflösung von gewachsenen Netzwerken befürchtet. Weitere in der Umfrage genannte negative Aspekte zu den Auswirkungen von Ausschreibungen sind:

    • hoher Ökonomisierungsdruck
    • Unsicherheit darüber, ob man die Vergabe „gewinnt“
    • Externalisierung von Risiken an die Träger
    • hohe Komplexität der Vergabeverfahren und damit hoher Zeitaufwand für alle Beteiligten (und damit weniger Zeit für Innovation)
    • Missachtung des Subsidiaritätsprinzips
    • Mehrarbeit durch die Unerfahrenheit der Vergabestellen
    • kaum und schwierig zu erfassende Berücksichtigung regionaler gewachsener Strukturen und die Beschädigung dieser Netzwerke (samt Betriebskultur)
    • Misstrauen
    • (Wett-)Streit und Vertrauensverlust durch die Konkurrenzsituation
    • Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsaspekten
    • befristete und am Lohnminimum angesetzte Arbeitsverträge und damit in der Folge auch Fachkräftemangel
    • Verunsicherung von Nutzer:innen und Abbrüche von Beratungsprozessen

    Weitere negative Auswirkungen liegen auf der Hand: Vergabeverfahren sind kostspielig, es gibt, wenn überhaupt, nur wenige weitere Wettbewerber (es findet also kein Wettbewerb statt), seitens der Kommune sind Überforderung und fehlende Kundennähe derzeit die Regel, die Verfahren unterliegen einer Rechtsunsicherheit und sind unflexibel und praxisfern, es entsteht keine Korrelation von Liberalisierungsgrad und der erwarteten Qualität, langfristige Planung wird reduziert, es kommt zu Sozialdumping, ein Aufbau von Kooperation und Beziehung ist kaum möglich, da regelmäßig erneut (europaweit) ausgeschrieben wird, sämtliche Risiken liegen beim Leistungserbringer, und etablierte Beziehungen werden aufgelöst (vgl. Zeis, 2022).

    In Summe kann man also sagen: Öffentliche Ausschreibungen sind in höchstem Maße ineffizient und letztlich überflüssig! Ein Zitat von Moldaschl & Högelsberger (2016) bringt dies deutlich auf den Punkt:

    „Es mag kurios klingen, aber: Je besser, fairer und sozialer eine Ausschreibung gestaltet ist, desto unnötiger wird sie. Dadurch werden nämlich immer mehr Parameter fixiert, die dann bei Ausschreibungen nicht mehr variabel sein können. Es bleiben dadurch kaum Aspekte übrig, bei denen es zu einem Wettbewerb kommen kann.“

    Was muss geschehen?

    Glücklicherweise mehren sich mittlerweile die Stimmen, die sich gegen öffentliche Ausschreibungen richten. Die Kommunen haben ebenfalls Erfahrungen gesammelt und entscheiden sich teilweise bewusst gegen diese Art der Vergabe. Dennoch sind die Rahmenbedingungen (EU-Vergaberecht, GWB, Druck zum Wettbewerb) unverändert, und es ist nur eine Frage des Zufalls, in welcher Kommune, in welchem Landkreis demnächst ein Vergabeverfahren mit Wettbewerbscharakter ausgelöst wird. Wurde einmal ein Vergabeverfahren durchgeführt, ist die Kommune im Übrigen mehr oder weniger gezwungen, das Vergabeverfahren immer wieder durchzuführen. Dieser Automatismus ist nur schwer zu durchbrechen und erfordert Mut und Überzeugungskraft bei den kommunal Handelnden gegenüber Innenrevisionen, Haushaltsressorts oder Rechnungshöfen.

    Es braucht daher zum einen eine bundesweite Aufklärungskampagne über die Nachteile solcher Vergabeverfahren, zum anderen sollte sich der Bundesgesetzgeber mit diesem Thema befassen und eine Bereichsausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Das EU-Vergaberecht lässt, gut begründet, Ausnahmen zu. Soziale Dienstleistungen haben eben besondere Merkmale, die sie auf einem Quasi-Markt anbieten. Es geht hier nicht um Produkte, die produziert werden und skalierbar sind. Es geht um die Beratung und Begleitung von Menschen im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge, es geht um Menschen, die aus vielfältigen Gründen Hilfe und Unterstützung benötigen, sei es aufgrund von problematischen Konsum- und Verhaltensweisen, Überschuldung, psychischen Erkrankungen, Flucht oder anderen Belastungen.

    Weitere Maßnahmen, die eine Alternative zu Vergabeverfahren darstellen und insgesamt zu einer Verbesserung der Situation von Suchtberatungsstellen führen können, sind:

    • eine gesicherte Finanzierung und solide Vertragsgrundlagen für Suchtberatungsstellen schaffen, z. B. im Rahmen der Gesundheitsdienstgesetze der Länder
    • Interessenbekundungsverfahren oder ähnliche Alternativen nutzen, die Träger in die Gestaltung des regionalen Sozialraums mit einbeziehen
    • sachliche Begründungen für den Ausstieg aus Vergabespiralen liefern
    • Subsidiaritätsprinzip stärken
    • regionalen Bezug der Dienstleistung stärker beachten
    • Landesstellen für Suchtfragen stärken
    • Wirkungsforschung (Outcome, Impact, Public Value, SROI etc.) stärker nutzen und die Ergebnisse in Bewertungen mit aufnehmen
    • Expertise zu all den hier genannten Themen in den Kommunen und bei den Trägern erhöhen
    • Anerkennung gestiegener Anforderungen durch Reduktion bzw. Streichung von Eigenanteilen
    • eine gemeinsame Sprache finden, um damit Vertrauen zwischen Beratungsstellen und Kommunen wiederherzustellen und zu verfestigen

    Unabhängig von diesen Maßnahmen gilt es, die hier beschriebenen Vergabeverfahren zu vermeiden. Sonst gehen eingespielte Strukturen vor Ort, Kontinuität in der Betreuungsqualität und somit das Vertrauen der Nutzer:innen unnötig verloren (vgl. Wintermann, 2021).

    In der Klimapolitik werden wissenschaftliche Erkenntnisse nur mühsam in politische Kompromisse gegossen, obwohl wir genau wissen, dass wir besser früher als später aus den fossilen Energieträgern aussteigen müssen, um eine weitere Erderwärmung mit all ihren Folgen zu stoppen.

    Im Bereich der öffentlichen Ausschreibungen für soziale Dienstleistungen ist ebenfalls klar, was zu tun wäre, und dieses Wissen ließe sich sicherlich um ein Vielfaches einfacher, schneller und reibungsloser umsetzen. Wieso noch einen Tag länger diese ineffizienten und überflüssigen Verfahren im Bereich der Suchtberatung (und ähnlicher Beratungs- und Fachdienste) anwenden? Haben wir den Mut, sagen wir Nein, steigen wir aus, bleiben wir kreativ, suchen wir nach neuen Lösungen und bleiben wir vor allem im Gespräch miteinander! Hierzu braucht es alle Beteiligte in den Kommunen und der Sozialwirtschaft mit Unterstützung des Bundes und der Länder und eine Rechtsprechung, die die genannten Aspekte berücksichtigt.

    Kontakt:

    Daniel Zeis
    Ambulante Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete
    Großbeerenstr. 187
    14482 Potsdam
    daniel.zeis(at)awo-potsdam.de
    Tel. 0331 73040740
    www.awo-potsdam.de

    Angaben zum Autor:

    Daniel Zeis ist Einrichtungsleiter der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchgefährdete des AWO Bezirksverbandes Potsdam. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit (Diplom) absolvierte er die Weiterbildung zum Sozialtherapeut Sucht (DRV/GKV-anerkannt) und schloss 2022 sein Masterstudium (Sozialmanagement) erfolgreich ab. Er ist seit 16 Jahren in der Suchthilfe tätig.

    Literatur:
    • Arnold, Ulli; Grunwald, Klaus; Maelicke, Bernd (Hg.) (2014): Lehrbuch der Sozialwirtschaft. Unter Mitarbeit von Holger Backhaus-Maul, Benjamin Benz und Karl-Heinz Boeßenecker. 4. erweiterte Auflage. Baden-Baden: Nomos.
    • Bachert, Robert; Dreizler, Andrea (Hg.) (2018): Finanzierung von Sozialunternehmen. Theorie, Praxis, Anwendung. 2., aktualisierte Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus (Sozialmanagement).
    • Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (2022): Kurzbericht zur Studie. Analyse zur Wertschöpfung der ambulanten Suchtberatung in Bayern. Messung von Lebensqualität (SROI 5) und Ermittlung der Alternativkosten (SROI 3).Online verfügbar unter https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2022/09/kurzbericht_wertschoepfung_ambulante_suchtberatung.pdf; letzter Zugriff 31.01.2023.
    • Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert (2013): Lehrbuch Kommunale Sozialverwaltung und Soziale Dienste. Grundlagen, aktuelle Praxis und Entwicklungsperspektiven. 2. Auflage. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
    • Deutscher Bundestag (2015): Ausarbeitung – Die Gesundheitsdienstgesetze der Länder. Wissenschaftliche Dienste. Aktenzeichen: WD 9 – 3000 – 027/14. Fachbereich: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
    • DHS (2019): Notruf Suchtberatung. Stabile Finanzierung jetzt! Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/dhs-stellungnahmen/2019-04-23_Notruf_Suchtberatung.pdf; letzter Zugriff 30.01.2023.
    • Hagn, Julia (2012): Ergebnisse und (Neben-) Wirkungen des Neuen Steuerungsmodells für die Soziale Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
    • Moldaschl, Thomas; Högelsberger, Heinz (2016): Die vielen Nachteile von Ausschreibungen. A&W Blog, Blog zum Magazin Arbeit & Wirtschaft, 07.03.2016. https://awblog.at/die-vielen-nachteile-von-ausschreibungen/, letzter Zugriff 30.01.2023.
    • Neu, Claudia (2009): Daseinsvorsorge: Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    • Rock, Joachim; Steinke, Roß (2019): Die Zukunft des Sozialen – in Europa? Soziale Dienste und die europäische Herausforderung. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos.
    • Seithe, Mechthild (2010): Schwarzbuch Soziale Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft.
    • Wintermann, Thore (2021): Positionspapier „Kommunale Vergabepraxis bei sozialen Diensten“. AWO Bezirksverband Weser-Ems.
    • Wohlfahrt, Norbert (2012): Auswirkungen der Neuen Steuerungsmodelle auf die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse der Sozialen Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
    • Zeis, Daniel (2022): Von der Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme. Alice-Salomon-Hochschule. Online verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:b1533-opus-4994; letzter Zugriff 30.01.2023.
  • Bundesweite Plattformlösungen für die Digitalisierung der Suchtberatung

    Bundesweite Plattformlösungen für die Digitalisierung der Suchtberatung

    Die Digitalisierung der Suchtberatung wird derzeit durch den parallelen Aufbau von zwei Beratungsplattformen vorangetrieben, die bundesweit und trägerübergreifend genutzt werden können. Dabei handelt es sich um die Umsetzung des Konzeptes DigiSucht, das die delphi GmbH entwickelt hat, und den Aufbau der Sozialplattform durch das Land Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), in der die allermeisten Verbände der Suchthilfe zusammengeschlossen sind, hat den Entwicklungsprozess der beiden Projekte verfolgt und in Teilbereichen aktiv mitgestaltet. Dr. Peter Raiser, Geschäftsführer der DHS, stellt den aktuellen Umsetzungsstand der beiden Plattformen dar und erläutert Ziele und Hintergründe.

    Weiterentwicklung, Sicherung der Qualität und flächendeckendes Angebot

    Dr. Peter Raiser

    Die zentrale Frage bei der Digitalisierung der Suchtberatung ist, wie die inhaltliche Arbeit durch Anwendung digitaler Instrumente und computergestützter Prozesse begleitet, unterstützt, vereinfacht und verbessert werden kann und dabei die fachlichen Standards und die Qualität der Leistung gesichert bleiben. Neben dieser fachlichen Weiterentwicklung muss geklärt werden, wie Angebote digitalisierter Suchtberatung flächendeckend zur Verfügung gestellt werden können.

    Nun ist die Inanspruchnahme digitaler Angebote erst einmal nicht örtlich beschränkt. Der Sitz des Angebotes und der Standort des Servers sind für Hilfesuchende quer durch Deutschland unerheblich – sofern man von einem rein digitalen Angebot ausgeht. Dann wäre ein zentralisiertes Angebot flächendeckend ausreichend, wenn es alle Qualitätskriterien erfüllen und alle Hilfebedarfe abdecken kann und die entsprechende Kapazität hat. Gegen ein zentralisiertes Angebot rein digitaler Suchtberatung sprechen aber inhaltliche und strukturelle Gründe, die in der Angebotslandschaft der nicht digitalen Suchtberatung liegen.

    Verknüpfung von digitalem und Face-to-Face-Kontakt

    Das so genannte blended counselling zeigt sich gegenüber rein digitalen Angeboten in Beratungsprozessen überlegen (vgl. z. B. Hörrmann et al. 2019). Blended counselling bedeutet, dass Anteile der zu erbringenden Beratungsleistung und Kontakte zwischen Hilfesuchenden und Beratenden auch in nicht digitaler Umgebung stattfinden. Der Face-to-Face-Kontakt wird meist sowohl von Hilfesuchenden wie auch Beratenden gewünscht. Idealerweise werden die Vorteile der Begegnung in realen Beratungssituationen mit den Möglichkeiten digitaler Instrumente ergänzend miteinander verbunden. Das bedingt nun aber auch, dass neben der Inanspruchnahme einer digitalen Beratung die Möglichkeit gegeben sein muss, eine physische Einrichtung aufzusuchen. Neben der digitalen Infrastruktur benötigt blended councelling also auch eine physische Einrichtungsstruktur, die ebenfalls flächendeckend vorhanden ist.

    Blended councelling nicht als Einzellösungen umsetzbar

    Die Angebotsstruktur der Suchtberatung erfüllt dieses Kriterium mit ihren über 1.200 Einrichtungen bundesweit. Doch angesichts der prekären bis höchst gefährdeten finanziellen Ausstattung von Einrichtungen, Vereinen und sogar Verbänden ist es unrealistisch, dass Angebote des blended councelling jeweils als Einzellösungen unabhängig voneinander entwickelt werden. Aufgrund dieser Ausgangslage bietet sich eine Plattformlösung an. Dabei wird die digitale Infrastruktur von zentraler Stelle entwickelt und bereitgestellt. Einrichtungen können sich als Anbieter registrieren und ihr Angebot vor Ort und im digitalen Raum zur Verfügung stellen.

    Entwicklung bundesweiter Plattformen

    Es besteht also ein großer Wunsch, in der Digitalisierung auch jene mitzunehmen, die nicht in der Lage sind, eigene Angebote zu entwickeln, die nicht über die personellen und finanziellen Ressourcen verfügen, eigene Innovationen umzusetzen, auch wenn es nicht an Ideen mangelt. Naheliegend ist daher, Strukturen und Zugänge übergeordnet bereitzustellen und über Plattformen auch diesen Einrichtungen ein digitales Beratungsangebot zu ermöglichen.

    Qualitative und fachliche Standards sowie wirtschaftliche Vorteile

    Plattformlösungen haben Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen zählt neben der genannten Bereitstellung der technischen Infrastruktur eine Einheitlichkeit der Angebote, was z. B. die Qualitätssicherung und Anwendung fachlicher Standards betrifft. Diese Zentralisierung ist auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten relevant, weil Entwicklungsprozesse nicht in jedem einzelnen Angebot durchgeführt werden müssen. Dasselbe gilt für die Errichtung der technischen Infrastruktur. Einheitlichkeit und gesicherte Qualität sind auch für Hilfesuchende allerorts ein Vorteil bei Plattformlösungen. Menschen, die eine digitale Beratung aufsuchen, müssen sich nicht mit einem möglicherweise frustrierenden Vergleich unterschiedlicher Angebote befassen, sondern können schnell und verlässlich Hilfe finden, die nachweislich wirksam ist.

    „One size fits all“-Lösung wird nicht allen gerecht

    Sicherlich gehört es zu den Nachteilen, dass Plattformen all jene Projekte und Innovationen etwas zurückhalten, die besser sind als eine „one size fits all“-Lösung. Und gerade all jene Verbände, Vereine, Träger und Einrichtungen, die mit viel Aufwand und Einsatz bereits eigene Angebote und Strukturen entwickelt haben, dürften nicht begeistert von der Idee sein, diese zugunsten eines Plattform-Angebotes zurückzustellen. Es ist also eine Herausforderung bei der Entwicklung von Plattformen, zu berücksichtigen, dass bestehende Angebote parallel genutzt oder noch besser integriert werden können.

    Ende des Jahres 2020 begannen zwei größere und bundesweite Vorhaben, Plattformen für die digitale Suchtberatung zu entwickeln und aufzubauen, auf denen Beratungsstellen mit vergleichsweise wenig eigenem Aufwand ein digitales Angebot der Suchtberatung bereitstellen können. Im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes (OZG) wird der Aufbau einer Sozialplattform vorgenommen, die auch das Angebot der Suchtberatung umfassen soll. Parallel wurde das Konzept DigiSucht von der delphi GmbH im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) entwickelt und veröffentlicht, welches als Projekt zunächst die konzeptionelle Vorlage für eine Plattform, nicht aber die Errichtung derselben, beinhaltete.

    Die folgenden Abschnitte sollen nun die parallele Entwicklung beider Vorhaben nachzeichnen und über den aktuellen Stand im August 2022 informieren.

    Hintergrund des OZG – Auftrag und Beginn der Umsetzung der Sozialplattform

    Das Onlinezugangsgesetz trat im Jahr 2017 in Kraft und sieht in gemeinschaftlicher Arbeit von Bund und Ländern die Digitalisierung von bzw. den digitalen Zugang zu über 500 Verwaltungsleistungen vor. Diese Verwaltungsleistungen wurden in Themenfelder gegliedert, und einzelne Länder bzw. Landesministerien wurden beauftragt, für bestimmte Themenfelder nach dem „Einer für Alle“-Prinzip eine Umsetzung zu erarbeiten und allen Ländern zur Verfügung zu stellen. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW) übernahm die Federführung für den Bereich Arbeit und Ruhestand. In den dort verorteten Sozialleistungen finden sich neben zahlreichen Antragsleistungen der Verwaltung auch Beratungsleistungen wie die Schuldner- und die Suchtberatung. Mit der Errichtung einer Sozialplattform (https://sozialplattform.de/) sollen diese Leistungen gebündelt zur Verfügung gestellt werden.

    Spezifik der Beratungsangebote

    Die Leistungen im Bereich der Beratungsangebote unterscheiden sich von den Antragsleistungen nicht nur in ihrer Art der Durchführung, sondern auch wesentlich durch die Leistungserbringer, die in der Regel keine kommunalen Verwaltungsstellen sind. Im Bereich der Suchtberatung sind es zumeist Beratungsstellen aus dem Spektrum der Suchthilfe in Deutschland, z. B. in Trägerschaft von Vereinen und Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, kirchlicher und unabhängiger Träger. Insofern entstanden Ende 2020 Kontakte zwischen dem MAGS NRW und u. a. der DHS, in der die allermeisten Verbände der Suchthilfe zusammengeschlossen sind. Zudem wurde zwischen dem MAGS NRW und dem BMG ein Kontakt aufgebaut, um zu erörtern, ob und wie das im Projekt DigiSucht erarbeitete Konzept der digitalen Suchtberatung in die Sozialplattform des OZG eingefügt werden kann.

    Keine Integration von DigiSucht

    Da sich im Jahr 2021 herausstellte, dass die Umsetzung des Konzeptes DigiSucht nicht über die Sozialplattform realisiert werden kann, begann die parallele Entwicklung dieser beiden bundesweiten Plattformen. Die Sozialplattform hat grundsätzlich einen sehr viel breiter angelegten Auftrag zu erfüllen und, wie beschrieben, den digitalen Zugang zu etlichen Verwaltungsleistungen umzusetzen. In den Beratungsleistungen der Sozialplattform konnte den Forderungen der einbezogenen Vertreter:innen aus Einrichtungen, Forschung, Verbänden, Landessstellen und, unter weiteren Institutionen, auch der DHS nicht entsprochen werden, und die Funktionalität der digitalisierten Beratung wird auf wenige Anwendungen beschränkt bleiben. Registrierten Einrichtungen werden über die Plattform eine Terminmanagementfunktion sowie Möglichkeiten der text- und videobasierten Kommunikation zur Verfügung stehen. Ein Beratungsstellenfinder hilft bei der Suche nach einem passenden Angebot – sowohl digital als auch vor Ort. Die Beratungsstellensuche soll dabei die tatsächliche Angebotslandschaft abbilden und nicht nur auf registrierte Einrichtungen beschränkt sein. Hilfesuchende sollen die Möglichkeit erhalten, auch solche Einrichtungen zu kontaktieren, die die Kommunikationstools der Sozialplattform nicht nutzen.

    Im Sommer des Jahres 2022 befindet sich die Sozialplattform noch im Aufbau, eine Beta-Version ist bereits online nutzbar. Die Funktionalitäten der Suchtberatung sollen bis zum Jahresende umgesetzt werden.

     DigiSucht – vom Konzept zum Aufbau einer digitalen Suchtberatungsplattform

    In der zweiten Jahreshälfte 2020 erarbeitete die delphi GmbH im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums das Konzept für eine trägerübergreifende Plattform der digitalen Suchtberatung. Die Projektnehmerin entwickelte das Konzept DigiSucht in Kooperation mit Landesstellen und Einrichtungen der Suchtberatung. Neben einer Bestandsaufnahme wurden Bedarfe ermittelt und Instrumente für die Durchführung eines blended counselling beschrieben (z. B. zur individuellen Bedarfserfassung und Zieldefinition, zu Risikominderung und Motivierung und zur Kommunikation zwischen Einrichtung und Klient:in). Zudem erfolgten Überlegungen zur Integration der Plattform in die komplexe Versorgungsstruktur.

    Kooperation der delphi GmbH mit der Versorgungslandschaft

    Im Zuge der Verhandlungen über eine Integration des Konzeptes in die Sozialplattform des OZG wurde die Kooperation der delphi GmbH mit der Versorgungslandschaft ausgeweitet, und weitere Verbände wurden über die DHS in Beratungen einbezogen. Die so erweiterte Arbeitsgruppe DigiSucht formulierte Mindestanforderungen, die bei der Implementierung zu berücksichtigen seien. Neben fachlichen Standards wurden auch Forderungen nach einer Klärung der Finanzierungsfragen aufgestellt. Einrichtungen, die sich an einer digitalen Beratungsplattform beteiligen, müssten sowohl über technische Sachmittel als auch über qualifiziertes Beratungspersonal verfügen, um die Leistungen auch anbieten zu können.

    Finanzierungsfragen

    Die Finanzierung der Suchtberatung erfolgt überwiegend über kommunale Mittel sowie Zuwendungen der Bundesländer. Dadurch ergibt sich ein enorm heterogenes Feld bezüglich der Ausstattung und Ressourcen der Einrichtungen mit großen Unterschieden in den Bundesländern und Kommunen. Nur wenige Einrichtungen können über eine komfortable Ausstattung verfügen. Die Bewältigung zusätzlicher Aufgaben, der Personaleinsatz und Investitionen sind für die allermeisten Beratungsstellen schlicht nicht leistbar. Auf die finanzielle Notlage von Beratungsstellen machten die DHS und ihre Mitgliedsverbände im Jahr 2019 in zwei Veröffentlichungen aufmerksam: „Notruf Suchtberatung“ und „DHS Forderungen zur Suchtberatung“.

    Trotzdem mangelt es in den Einrichtungen und Verbänden der Suchthilfe nicht am Willen und der Bereitschaft, sich den Herausforderungen der Digitalisierung und Weiterentwicklung der Suchtberatung zu stellen, sodass es dringend erforderlich war und ist, neben Landesstellen auch Vertreter:innen der Landesbehörden in die Planungen bundesweiter Lösungen einzubinden. Die Einrichtung von Landeskoordinierungsstellen ermöglicht die Begleitung der Umsetzung unter Gesichtspunkten der Finanzierung, aber auch der Organisation und der Koordinierung sich beteiligender Einrichtungen in den Ländern.

    Umsetzung des DigiSucht-Konzeptes

    Da im Rahmen der Umsetzung der Sozialplattform eine Integration des DigiSucht-Konzeptes nicht möglich war (siehe Abschnitt zum OZG weiter oben), entschied sich das BMG, den Aufbau einer trägerübergreifenden Plattform der Suchtberatung zu fördern. Das ebenfalls von delphi koordinierte Projekt mit dem Ziel der Umsetzung des DigiSucht-Konzeptes konnte daher an die Vorarbeiten anknüpfen und auch bestehende Strukturen der Arbeitsgruppen (Beteiligung von vielfältigen Akteur:innen der Länder, Landesstellen, Verbände und Einrichtungen) fortsetzen. Die Implementierung begann in der zweiten Jahreshälfte 2021 mit der Ausschreibung des technischen Aufbaus einer Plattform unter Berücksichtigung der Vorgaben des Konzeptes. Ein Beispiel für eine zentrale Vorgabe ist, dass bestehende open-source-Lösungen, die in Verbänden bereits großflächig angewandt werden, in die technische Struktur der Plattform integriert werden.

    Die im Sommer 2022 laufende technische Umsetzung der Funktionalitäten wird von einer frühzeitig begonnenen Testphase mit Pilot-Beratungsstellen begleitet. Die Einbindung von Beratungsstellen soll die Anwendbarkeit und Praktikabilität der Funktionen sichern und noch im Aufbauprozess mögliche Schwachstellen identifizieren und eine Ausbesserung ermöglichen.

    Ausblick: Nachhaltiger Betrieb der Plattform statt Modellprojekt mit befristeter Laufzeit

    Aus Sicht der Hilfesuchenden besteht sicherlich ein großer Mehrwert darin, neben den vorhandenen Strukturen der Hilfen auch digitale Angebote nutzen zu können. Insbesondere bei einem ersten Schritt der Kontaktaufnahme kann dieser zusätzliche Weg beim Abbau von Hürden und Hemmnissen helfen.

    Im weiteren Verlauf ist ein hybrides Angebot und blended councelling vorgesehen. Dies erfordert die Anbindung an eine ortsnahe Einrichtung und ist nicht unerheblich für die Strukturen der Versorgung. Denn im System müssen neben einem nur in der Theorie zentralen Angebot digitaler Beratung flächendeckende physische Strukturen vorgehalten werden, und die digitalen Erstkontakte müssen einen Prozess der Zuordnung zu den ortsnahen Einrichtungen durchlaufen, sodass spätere physische Kontakte mit einer Kontinuität im Beratungsprozess möglich sind.

    Das ist nicht nur eine koordinatorische Herausforderung in der Phase der Plattformerrichtung. Der Personal- und Finanzbedarf für den kontinuierlichen Betrieb der Plattform sowie der Bedarf an technischer und inhaltlicher Weiterentwicklung machen deutlich, dass die Umsetzung nicht als Projekt mit Modellcharakter nach befristeter Laufzeit beendet sein kann. Neben den fortlaufenden Kosten eines digitalen Beratungsangebotes in Einrichtungen verursacht auch der Betrieb einer bundesweiten und trägerübergreifenden Plattform der Suchtberatung nach dem Aufbau fortwährend Kosten. Um die Funktionalität der Beratungsplattform nachhaltig abzusichern, ist ein entsprechendes Commitment der Länder und des Bundes erforderlich.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Dr. Peter Raiser
    Geschäftsführung und Referat Grundsatzfragen
    Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
    Westenwall 4, 59065 Hamm
    Tel. 02381 / 9015-0
    Raiser(at)dhs.de
    www.dhs.de

    Literatur:
  • Digitalisierung in der Suchtberatung

    Digitalisierung in der Suchtberatung

    Andrea Hardeling

    Die Notwendigkeit, digitale Angebote für suchtkranke Menschen zu entwickeln, wurde bereits vor einigen Jahren erkannt. Beratungsangebote per Mail und per Chat wurden von einzelnen Verbänden und Trägern der Suchthilfe konzipiert und umgesetzt. Im Januar 2020  verabschiedeten Fachkräfte aus unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe (Verwaltung, Träger, Verbände, Fachverbände) gemeinsam die Essener Leitgedanken zur digitalen Transformation in der Suchthilfe.

    Nur wenige Wochen später hat die Corona-Pandemie die Herstellung eines Bewusstseins für einen Bedarf an digitalen Angeboten ungeahnt beschleunigt. Der Lockdown sorgte dafür, dass in Suchtberatungsstellen großer Träger zunehmend digitale Beratungsangebote per Mail oder Chat eingerichtet und erprobt wurden, während kleine Träger weder auf Ressourcen noch auf Know-how zur Einführung von Onlineangeboten zurückgreifen konnten.

    Ambulante Suchtberatung – das Verhältnis von regional und digital

    Ist Suchtberatung entweder regional oder digital? Bisher ist beides zusammen nur in wenigen Regionen Deutschlands möglich. Ratsuchende finden gerade im ländlichen Raum keine Suchtberatungsstellen in der Nähe, die sowohl Online- als auch persönliche Gespräche anbieten. Stattdessen sind – neben einigen bundesweiten digitalen Suchtberatungsangeboten großer Verbände – immer noch kostenpflichtige Beratungsangebote im Ergebnis der Suchmaschinenrecherche sehr prominent sichtbar. Engagierte selbständige Berater:innen, entweder ausgebildete Fachkräfte mit einem einschlägigen Studium oder Betroffene mit eigenen Erfahrungen, bieten auf ansprechend programmierten Webseiten kostenpflichtige Beratung an. Die Terminvereinbarung für telefonische oder Videoberatung kann z. T. gleich digital erfolgen, ebenso die Online-Bezahlung der Beratungsleistung.

    Damit bieten die privaten Dienstleister in der Regel sehr viel einfacher eine Onlineberatung (als Dienstleistung) an, als das bei den gemeinnützigen Trägern zu finden ist. Private Dienstleister werben damit, ohne Wartezeit, sicher und anonym Beratung durchführen zu können. Attraktiv gestaltete Webseiten präsentieren, zum Teil mit schönen Bildern, wer berät und welche Leistungen buchbar sind.

    Die Webseiten gemeinnütziger Träger der Suchthilfe bieten in der Regel keine sofortige Terminvereinbarung an, eine Onlineberatung, die wohnortnah mit der regionalen Suchtberatungsstelle verknüpft ist, wird in der Regel nicht in der einfachen Suchtmaschinenrecherche angezeigt.

    DigiSucht – bundesweit, digital und regional

    Mit Start des Bundesmodellprojektes DigiSucht wurde von der delphi GmbH ab August 2020 mit Finanzierung durch das Bundesgesundheitsministerium die Konzeption einer trägerübergreifenden digitalen Beratungsplattform für die kommunale Suchtberatung entwickelt. Die Konzeptentwicklung wurde von Verbänden, Landesstellen und regionalen Suchtberatungsstellen unterstützt und begleitet.

    Ab September 2022 werden erste Beratungsstellen die neu entwickelte Plattform im Modellbetrieb testen, bevor sie im ersten Quartal 2023 für alle Bürger:innen zugänglich gemacht wird. Ziel ist es, Ratsuchenden damit bundesweit Online-Suchtberatung anbieten zu können – verbunden mit der Möglichkeit des blended counceling, d. h., die Onlineberatung wird mit persönlichen Gesprächen in der Suchtberatungsstelle vor Ort und weiteren Onlinetools (wie z. B. Konsumtagebuch) kombiniert.

    Gleichzeitig soll die Plattform bundesweit alle gemeinnützigen Suchtberatungsstellen in die Lage versetzen, datenschutzkonform, qualitätsgestützt und vernetzt mit den vorhandenen Klienten-Dokumentationssystemen Onlineberatung anbieten zu können. Gerade kleine Träger im ländlichen Raum waren bisher nicht in der Lage, eigene Onlineangebote zu entwickeln.

    Mit der Inbetriebnahme der Plattform wäre dann ein großer Schritt in Richtung einer sozialraumorientierten digitalen Beratung getan. Gerade im ländlichen Raum kann dieses Onlineangebot die Möglichkeit bieten, wesentlich einfacher eine Suchtberatung zu erhalten. Weite Wege zur nächsten Beratungsstelle, fehlender ÖPNV und steigende Spritkosten sind dann keine Hürden mehr, die eine frühzeitige Beratung verhindern würden.

    Digitalisierung = Organisations- & Personalentwicklung

    Doch digitale Transformation bedeutet mehr als das Zur-Verfügung-Stellen von Plattformen. Digitalisierung gerade in kleinen sozialen, gemeinnützigen Organisationen geht einher mit einem kulturellen Wandel. Wo Ratsuchende mittels digitaler Angebote niedrigschwelliger als bisher erreicht werden sollen, sind besondere Herausforderungen für die Einrichtungen und die Mitarbeitenden der Suchthilfeträger zu bewältigen.

    Kaum ein Träger der Suchthilfe hat in den letzten Jahren eine Digitalisierungsstrategie entwickelt. Themen wie Datenschutz und IT-Sicherheit sind in der Regel unbeliebt und die Möglichkeiten, die jeweils aktuelle technische Ausstattung (finanziell) zu gewährleisten, gering. Der digitale Wandel geht im besten Fall einher mit Organisationsentwicklungsprozessen und Personalentwicklung. Die Digitalisierung wesentlicher Prozesse in Organisationen bedeutet zunächst eine Veränderung bekannter Prozesse und Abläufe – das bedeutet sowohl Unsicherheiten bei Mitarbeitenden als auch ein Infragestellen der bisherigen Gewissheiten. Serverbasiertes Arbeiten, digitale Terminvereinbarung und digitale Klientendokumentation wurden in den letzten Jahren in vielen Eirichtungen eingeführt.

    Während der coronabedingten Lockdowns mussten neue Regelungen zu Themen wie Homeoffice und der Abrechenbarkeit digitaler Leistungen getroffen werden. Gleichzeitig wurden, zum Teil sehr innovativ und trotzdem im Sinne der Klient:innen, bekannte Wege verlassen und neue Erfahrungen in der digitalen Kommunikation mit Ratsuchenden gemacht. Was in der Krise sehr kreativ (und manchmal noch provisorisch) entwickelt wurde, gilt es nun zu professionalisieren und weiterzuentwickeln. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, einen Changemanagement-Prozess zu gestalten, der die Organisationen und die Mitarbeitenden in die Lage versetzt, die Anforderungen der Digitalisierung und den damit einhergehenden kulturellen Wandel zu bewältigen.

    Gleichzeitig ist es dringend notwendig, die Finanzierungsstruktur der digitalen Angebote abzusichern. Anders als in vielen anderen Arbeitsfeldern bedeutet die Digitalisierung in der Suchthilfe nicht, dass Fachkräfte eingespart werden können und die Leistungen dadurch preiswerter werden. Um mittels digitaler Angebote mehr Menschen möglichst früh und niedrigschwellig zu erreichen, wie es der originäre Auftrag der Suchtberatungsstellen ist, werden sowohl die finanzielle als auch die fachliche und politische Unterstützung der Kostenträger sowie der kommunalen Auftraggeber benötigt. Der in der Pandemie begonnene erfolgreiche Weg, Menschen digital zu erreichen, sollte auch nach der Krisensituation fortgesetzt werden. Damit würden die in der Suchthilfe altbekannten Prinzipien der Niedrigschwelligkeit bzw. der aufsuchenden Arbeit im digitalen Raum durch nutzerfreundliche digitale Angebote weiterentwickelt.

    New Work in der Suchthilfe – Neue Methoden erfordern neue Kompetenzen und bieten neue Chancen

    Der Wunsch nach direkter Arbeit mit Menschen ist in der Regel eine wesentliche Motivation, um in der Suchthilfe zu arbeiten. Digitale Kompetenzen waren bisher kein Bestandteil der Ausbildung von Fachkräften im Sozial- und Gesundheitswesen. Mit der Einführung von digitalen Tools werden von den Fachkräften in der Suchthilfe zusätzliche Qualifikationen gefordert, die bisher keine Rolle spielten. Der für einige Fachkräfte ungewohnte digitale Raum stellt bisher bekannte und eingeübte Methoden in Frage. Beratung im Chat und per Video erfordert andere Kommunikationsstrategien als die gewohnte (und erlernte) Gesprächsführung „in Präsenz“. Auch die Fähigkeit, digitale Anwendungen sicher zu bedienen, war bisher nicht grundlegender Bestandteil des Anforderungsprofils von Fachkräften in der Suchthilfe. Dieses methodische „Neuland“ muss erarbeitet werden. Dafür benötigen sowohl die Fachkräfte als auch die Träger qualitätsgesicherte Fortbildungsangebote. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, diesen grundlegenden kulturellen Wandel zu gestalten.

    Die Hochschulen befinden sich aktuell in einem Prozess der Weiterentwicklung in diese Richtung. Erste Studiengänge im Themenfeld Digitalisierung sozialer Arbeit sind gestartet und beabsichtigen, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen als Grundlage in die Fachkräfteausbildung aufgenommen wird.

    Der Fachkräftemangel führt schon jetzt dazu, dass ausgeschriebene Stellen in der Suchthilfe über längere Zeit nicht besetzt werden können. Während die erste Generation der Suchtberater:innen sich in den Ruhestand verbschiedet, kann die jetzt nachfolgende Generation der Fachkräfte sich ihren Arbeitsplatz danach auswählen, welcher Arbeitgeber die besten Rahmenbedingungen bietet. Hier stehen die Träger vor der Herausforderung, das Arbeitsfeld Suchthilfe so attraktiv wie möglich zu gestalten. Durch Online-Beratung könnte das Arbeitsfeld der Suchtberatung für Fachkräfte attraktiver gestaltet werden. Mobiles Arbeiten/Homeoffice und flexiblere Arbeitszeiten werden möglich – gute Angebote, um damit Fachkräfte zu gewinnen. Außerdem könnte das verstärkte Agieren mit digitalen Mitteln den Bereich der Suchthilfe zusätzlich für eine neue Gruppe an Fachkräften interessant machen.

    Was nützt die Digitalisierung in der Suchthilfe den Ratsuchenden / Klient:innen?

    Digitale Teilhabe heißt, dass jede Bürgerin/ jeder Bürger Zugang zu digitalen Entwicklungen hat, um an der Gesellschaft teilzunehmen. Suchtberatung als Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge sollte diesen Auftrag annehmen und suchterkrankten Menschen einen digitalen Zugang zu Beratung schwellenarm und qualitätsgestützt zu bieten.

    Die Attraktivität des Angebotes hängt auch davon ab, wie einfach der Zugang ist. Wenn das Ziel der ambulanten Suchthilfe heißt, Ratsuchende so früh wie möglich zu erreichen, sollten die Onlineangebote gesellschaftlich sehr breit und über entsprechende (Online-)Kanäle beworben werden. Gleichzeitig sollten die Onlineangebote attraktiv gestaltet und einfach zu bedienen sein.

    Ausblick: Herausforderung und Chance

    Digitalisierung in der Suchthilfe stellt ein großes Potenzial an Verbesserungsmöglichkeiten dar. Onlineangebote sollten dazu führen, dass Ratsuchende früher erreicht werden. Ideal ist die Verknüpfung von digitaler und regionaler Verfügbarkeit: Suchtberatung als Teil der Daseinsvorsorge muss wohnortnah und digital zugänglich sein. Onlineberatung könnte das Arbeitsfeld der Suchtberatung für Fachkräfte attraktiver machen und ein Vorteil bei der Gewinnung von Mitarbeitenden sein. Durch digitale Angebote werden keine Fachkräfte eingespart, sondern im besten Fall werden Menschen früher erreicht und es können größere gesundheitliche und soziale Schäden vermieden werden. Für eine erfolgreiche digitale Transformation benötigen die Träger der Suchthilfe fachliche, politische und finanzielle Unterstützung, um notwendige Organisationsentwicklungsprozesse zu implementieren.

    Kontakt:

    Andrea Hardeling
    Geschäftsführerin
    Brandenburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V.
    Behlertstr. 3A, Haus H1
    14467 Potsdam
    andrea.hardeling(at)blsev.de
    www.blsev.de

    Angaben zur Autorin:

    Andrea Hardeling ist seit 2010 Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landestelle für Suchtfragen e.V. Sie ist Diplom-Sozialarbeiterin mit Weiterbildungen in Systemischer Beratung, Sozialmanagement und Organisationsentwicklung.

  • Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Benjamin Becker

    Digitale Kommunikation ist für die heranwachsende Generation normal. Die Suchtprävention hat hier noch Barrieren zu überwinden. Wie Digitalisierung und Corona-Krise einen Paradigmenwechsel in der Suchtprävention voranbringen könnten, beschreibt dieser Beitrag aus der Fachsicht von blu:prevent, dem Suchtpräventionsangebot des Blauen Kreuzes für Jugendliche.

    Wenn wir uns aktuell auf eine Sache verlassen können, dann ist es der Wandel. Und zwar ein Wandel, der mittlerweile exponentielle Züge annimmt. Befeuert wird dieser Prozess durch die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung. Kommunikation und Mediennutzung der Menschen haben sich so stark verändert, dass bereits von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Wirtschaft, Politik, Kirchen, Schulen, Jugendarbeit und natürlich auch die Suchthilfe sind herausgefordert, neue Methoden der Wissensvermittlung zu entwickeln, um Jugendliche in ihrer Kommunikations- und Lebenswelt weiterhin erreichen zu können.

    Wir erhalten regelmäßig Anfragen von Fachkräften, Trägern und Landesstellen, die suchtpräventiv mit jungen Menschen arbeiten und nach zeitgemäßen und innovativen Tools suchen. Daher haben wir mit blu:prevent – bereits vor Corona – damit begonnen, neue und unkonventionelle Wege in der Suchtprävention zu gehen, um geeignete digitale Tools für Jugendliche und Multiplikatoren entwickeln zu können.

    Welche Chancen und Herausforderungen beinhalten digitale Angebote in der Suchtprävention?

    Die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Suchtprävention sind größer, als viele denken. Über digitale Wege wie Social Media, Apps, Podcasts, Plattformen/Websites, YouTube-Clips, Webinare/Online-Schulungen usw. kann plötzlich eine millionenfache Reichweite generiert werden. So kann es kleinen und bisher unbekannten Projekten oder Personen (selbst mit einem kleinen Budget) gelingen, sich aus dem „Nichts“ mit einer cleveren Idee und einem digitalen Konzept erfolgreich zu positionieren und eine wesentliche Rolle auf dem Markt zu spielen.

    Durch die Verbreitung und Bewerbung (Social Media-Advertising, Google Ads, TV-Wartezimmer, YouTube-Werbung) unserer Tools konnte blu:prevent in wenigen Jahren über acht Millionen Menschen erreichen. Hinzu kommen die Personen, die über unsere Kooperationspartner:innen und Influencer erreicht wurden, die in TV-Sendungen, großen YouTube-Channels und bekannten Podcasts eingeladen waren (1). Dies sind alles Chancen, die erst durch die Digitalisierung möglich geworden sind und unbedingt genutzt werden sollten. Dies erfordert Agilität und einen gewissen Pioniergeist bei den Behörden, Institutionen und Verbänden/Vereinen. Weitere großartige Chancen bestehen darin, dass digitale Tools viele der bisherigen Barrieren nicht kennen: Entfernungen, mangelnde Mobilität, Hemmschwellen, Berührungsängste, schwer zugängliche Milieus usw. Dies bemerken wir bei unserem anonymen Chat-Angebot in der blu:app, mit dem wir milieu- und ortsübergreifend jungen Menschen in Notlagen professionell zur Seite stehen können. Auch bei einem kürzlich durchgeführten Online-Präventions-Event mit über 300 Jugendlichen konnten wir erleben, wie positiv neue Formate angenommen werden (2).

    Neben einer hohen Effizienz, ökonomischen Vorteilen und den hohen Reichweiten gibt es auch Nachteile, die ich aber bewusst „Herausforderungen“ nennen möchte. Hierzu zählt, dass wichtige Elemente des Dialogs und Miteinanders in persönlichen Begegnungen (Gestik, Augenkontakt, Intuition, Übertragungen, Körperkontakt, Emotionalität usw.) durch digitalen Kontakt teilweise nicht zu kompensieren sind. Und: Anonymität kann ein Vor- und Nachteil sein.

    Eine weitere Challenge sind die Barrieren, die wir bei vielen Multiplikator:innen, aber auch eigenen Mitarbeitenden, erleben. Dazu gehören technische Barrieren, Barrieren innerhalb der Organisation (Strukturen, Abläufe, Budgets), Barrieren am Markt (Angebot und Nachfrage, keine Akzeptanz am Markt, Konkurrenzangebote, Markt benötigt etwas anderes) und Akzeptanz-Barrieren. Hier bemerken wir vor allem in den Bereichen „Schule“ und „Suchthilfe“, aber auch in Deutschland insgesamt, viele unterschiedliche Hürden.

    Daher möchten wir mit blu:prevent mutig vorangehen, Pilot- und Best-Practice- (auch Fail-Practice-) Modelle liefern und Menschen und Institutionen für diesen vielversprechenden Weg gewinnen. Denn: Für die heranwachsende und kommende Generation (Digital Natives) wird es „normal“ sein, auf digitale Hilfsangebote zuzugreifen, und es wird „unnormal“ werden, auf analoge Angebote angewiesen zu sein. Wir erleben immer mehr das Phänomen, dass für viele Jugendliche die klassischen Wege zu den Hilfsangeboten mit Barrieren und Vorbehalten verbunden sind. Daher werden hybride Angebote (digital & analog) oder rein digitale Angebote & Tools zukünftig eine bedeutendere Rolle spielen.

    Welche Rolle spielen Influencer:innen in Social Media? 

    Influencer:innen (Beeinflusser:innen) sind meistens Einzelpersonen, die sich im Social Media-Bereich (YouTube, Instagram, TikTok) eine starke Eigenmarke und einen starken eigenen Channel aufgebaut haben und somit zu einer hohen Reichweite gekommen sind. Viele Influencer:innen leben bereits sehr gut von den Einnahmen, die sie von Sponsoren bzw. Firmen, deren Produkte sie bewerben, erhalten.

    Folgende Merkmale werden ihnen von den Usern zugeschrieben: hohes Ansehen, Glaubwürdigkeit, wirken greifbar, geben Orientierung, sind immer da, vertreten Zielgruppe, sind Projektionsfläche für eigene Träume und Vorstellungen. Dadurch üben sie eine hohe Faszination und Überzeugungskraft auf viele Follower aus. Viele Jugendliche suchen die Antworten zu ihren persönlichen Alltagsfragen (Schule, Familie, Pubertät, Stress, Gewalt, Alkohol, Mobbing, Mediennutzung usw.) auf den digitalen Plattformen oder bei „ihren“ Influencer:innen. Das heißt, auch im Bereich Informationsvermittlung, Meinungsbildung, Austausch (Foren) und Hilfestellungen findet ein entsprechender Paradigmenwechsel statt.

    Die „Reiseroute“ von der Fragestellung oder dem Problem der jungen Menschen zum Hilfsangebot hat sich radikal verändert. Nicht mehr die Eltern, Lehrkräfte, Jugendleiter:innen oder Pastor:innen sind die ersten Ansprechpartner:innen, sondern die Influencer:innen ihrer Wahl. Nicht mehr die Lebenserfahrung steht im Vordergrund, sondern das Verhalten der Peergroup, das Maß an Attraktivität und der Reichweite der Influencer:innen und das Entertainment. Daher stellt sich hier die große Frage, wie es den Institutionen gelingen kann, eigene Influencer:innen auf den Weg zu bringen oder neue (unkonventionelle) Kooperationsformen mit etablierten Influencer:innenn einzugehen.

    Was hat die Corona-Krise aufgedeckt und was können wir aus ihr lernen? 

    Aus meiner Sicht hat uns die Corona-Krise einerseits aufgezeigt, wie wichtig die etablierten Anlaufstellen für Jugendliche an den Schulen, in der Jugendarbeit, den Sportvereinen, Kirchen und der Suchthilfe sind und wie Jugendliche – besonders in der Krise – vertraute Bezugspersonen brauchen und suchen. Andererseits hat uns die Corona-Krise aber auch schonungslos aufgezeigt, wie labil das eigentlich gut ausgebaute Hilfesystem in Deutschland sein kann, wenn es zu analog, zu wenig hybrid und somit zu einseitig aufgestellt ist.

    Wir sehen nun sehr klar, wo Entwicklungsmöglichkeiten im Bildungs- und Suchthilfesystem liegen, aber auch, wie wenig sie bisher genutzt wurden. Corona macht zudem deutlich, wie stark dieses System in sich gefangen ist, dass es oft an Agilität und Risikofreudigkeit fehlt und dass zu viel Bürokratie und zu lange Entscheidungswege Entwicklungen lähmen. Viele notwendige Veränderungsprozesse werden seit Jahrzehnten linear-kausal behandelt, und der notwendige Schritt in die Transformation, in den Zustand des „Sich selbst neu Erfindens“, ist offensichtlich noch nicht bewusst genug geworden. Hier scheinen der Leidensdruck oder die erforderliche Expertise (noch) nicht hoch genug zu sein.

    Da hier die Influencer:innen, aber auch die Wirtschaft, um ein Wesentliches agiler agieren, besteht real die Gefahr, dass kommerzielle Plattformen, branchenferne Start-ups oder andere Interessent:innen (und Influencer:innen) wichtige Marktanteile mit ihren Ideen oder Technologien übernehmen (Disruption), und es könnte das Szenario eintreten, dass Google, Facebook, Chatbots (Künstliche Intelligenz) oder Influencer:innen die Aufklärungs- und Beratungstätigkeiten sukzessiv übernehmen. Ob diese Plattformen/Personen die erforderlichen Professionen mitbringen und vernetzt mit dem Suchthilfesystem zusammenarbeiten werden, bleibt fraglich und könnte zu einer enormen Herausforderung bis hin zur Zerreißprobe führen. Noch bietet sich die Chance, gegenzusteuern und auf dem Marktplatz der Player mitzuspielen. Das bedeutet aber, bisherige Denkkategorien, die eigene Komfortzone und festgefahrenen Strukturen zu verlassen und Neuland zu betreten.

    In der Corona-Krise hat es aber auch viele Lichtblicke gegeben: Organisationen haben plötzlich gemerkt, wie schnell Veränderungen und Umstellungen – auch unbürokratisch – an manchen Stellen umgesetzt werden können. Und jede:r einzelne von uns wurde persönlich mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob wir die Krise akzeptieren und als Teil der Wirklichkeit annehmen und an ihr wachsen wollen, oder ob wir stetig gegen sie ankämpfen, Kraft verlieren und gleichzeitig viele Chancen der Neuorientierung und des Wachstums auslassen. 

    Krisen fordern uns oft auf, Dinge/Haltungen/Einstellungen neu zu definieren. Für mich bedeutet das, Traditionen und Werte zu berücksichtigen, bestehende Schätze zu heben und gleichzeitig die Entschlossenheit zur Entwicklung zu zeigen.

    Welche Haltung wird in der Zukunft entscheidend sein? 

    Grundsätzlich wird das Thema „Haltung“ in den nächsten Jahren sehr entscheidend sein! Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Genauso, wie es nicht ausreicht, einfach alle bisher analogen Verfahren zu digitalisieren. Fakt ist, dass die Jugendlichen konsequent ihren eigenen Weg gehen werden und wir entweder mit adäquaten Angeboten am Start sind oder nicht. Die – während der Coronazeit – stark besuchten Chat-Angebote, Foren und E-Mail-Beratungen verschiedener Organisationen bestätigen diesen Trend. Es braucht neue Denkweisen (Mindsets) und eine Transformation in vielen Bereichen, damit wir junge Menschen weiterhin gut und nachhaltig erreichen können. Die Haltung „Wer wagt gewinnt“ sollte unsere zukünftige Projektarbeit prägen. Es bedarf einer neuen Form der Risikobereitschaft, Flexibilität und Kreativität.

    Auf Fortbildungen präsentiere ich Thesen, die polarisieren und zum Nachdenken anregen, wie: „Kreativität schlägt Potential!“ oder „Der Rahmen ist wichtiger als der Inhalt!“. Es gilt, „Out of the Box“ zu denken und Neues zu entdecken. Es ist zu beobachten, dass die klassischen Hierarchien, Strukturen und Prozesse oftmals mit den aktuellen Fragestellungen und unterschiedlichen Anspruchsgruppen überfordert sind. Daher sind auch neue Arbeitsformate notwendig. Bekannte Methoden/Formate sind: Think Tanks, Design Thinking, Scrum, Bar Camps, Co-Creation. Eine Anpassung an die Branche bzw. das Projekt ist allerdings immer erforderlich. Der Weg zum Ziel und zu nachhaltigen Lösungen wird immer mehr unter Einbindung des interdisziplinären Teams (multiprofessionelle Kompetenzen) und der Dialoggruppe (Co-Creation) verwirklicht. Vieles wird zukünftig im Prozessverlauf (Work in Progress) gelernt, getestet und neu ausprobiert. Offenheit, Kreativität und die Erlaubnis zum Scheitern sind wichtige Merkmale des zukünftigen Arbeitens.

    Das klingt vielleicht nach großen Hürden, kann aber auch unglaublich viel Spaß machen, da es eine Abenteuerreise ist! Und viele Jugendliche nehmen es mit Begeisterung zur Kenntnis, wenn Hilfsangebote digital sind, ihre Sprache sprechen und in ihre Lebenswelt passen. Das erleben wir in der Praxis bei unserem Chat-Angebot (über 1.300 Anfragen/Jahr), der App (blu:app), den E-Learning-Modulen (blu:interact) und unseren Social-Media-Angeboten (@vollfrei). Für Multiplikatoren bieten wir (Online-)Fortbildungen zu diesem Thema an. Weitere Infos, unsere Tools und unseren Shop (kostenlose Materialen) finden Sie unter www.bluprevent.de

    Anmerkungen:
    (1) Zurzeit kooperieren wir mit Dominik Forster. https://www.youtube.com/channel/UCoMZAJLqlC6WEPV5stind5w

    Mit Samuel Koch haben wir ein gemeinsames Video erstellt.
    https://www.youtube.com/watch?v=TzzENc46PNg

    (2) Suchtpräventionsevent mit Audi und FC Ingolstadt mit dem Namen „Schanzer Pluspunkt“
    https://www.schanzer-pluspunkt.de/

    Der Artikel ist erstmals erschienen in:
    proJugend. Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz Bayern
    Heft 1/2022
    https://projugend.jugendschutz.de/projugend-1-2022/

    Kontakt:

    Benjamin Becker
    blu:prevent
    Blaues Kreuz in Deutschland
    benjamin.becker(at)blaues-kreuz.de

    Angaben zum Autor:

    Benjamin Becker ist Leiter von blu:prevent, Jugend- und Präventionsangebote des Blauen Kreuzes in Deutschland.

  • Veränderungen in der Hamburger Suchthilfe in Zeiten der Corona-Pandemie

    Veränderungen in der Hamburger Suchthilfe in Zeiten der Corona-Pandemie

    Linda Heitmann

    Wie in vielen Bereichen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens hat die Corona-Pandemie auch in der Suchtkranken- und Drogenhilfe zu stark veränderten Arbeitsweisen geführt. Die Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) als Dachverband, in dem 40 verschiedene Träger, Verbände und Akteur*innen der Hamburger Suchtkranken- und Drogenhilfe organisiert sind, hat im März 2021 unter ihren Mitgliedern eine Umfrage durchgeführt. Ziel war es, die veränderten Arbeitsprozesse und Klient*innen-Strukturen sowie Probleme im Alltag, aber auch Chancen und Wünsche für die Zukunft, zu erfassen bzw. davon einen Eindruck zu bekommen. Der für die Umfrage eingesetzte Fragebogen ist auf der Website der HLS als Muster abruf- und einsehbar.

    Insgesamt 23 ausgefüllte Bögen wurden an die Landesstelle zurückgesendet. Pro Fragebogen konnten Angaben zu verschiedenen Bereichen der Suchthilfe gemacht werden. Die Ergebnisse der Umfrage werden in dem hier vorliegenden Bericht unterteilt in die einzelnen Bereiche dargestellt. Am Ende folgen bereichsübergreifende wichtige Aspekte. Die Umfrage und Auswertung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und erfüllt keine wissenschaftlichen Standards. Ziel war und ist es, Kenntnisse über die Situation der Hamburger Suchthilfelandschaft während der Pandemie zu gewinnen und daraus mögliche Bedarfe und Wünsche für die Zukunft abzuleiten.

    Beratung

    Arbeitsprozesse

    Zehn Beratungsstellen gaben per Fragebogen Rückmeldungen an die HLS. In den Suchtberatungsstellen war der Anteil am mobilen Arbeiten besonders hoch. Bei nahezu allen Beratungsstellen, die Rückmeldung gaben, lag der Anteil der Mitarbeitenden im mobilen Arbeiten bei über 50 Prozent, vielfach sogar bei über 75 Prozent. Es wurde auf Telefon- oder Videoberatung umgestellt. Teilweise wurden mit den Klient*innen auch Beratungs-Spaziergänge an der frischen Luft gemacht.

    Die Folgen, die sich aus dem mobilen Arbeiten ergaben und ergeben, sind vielfältig: Mitarbeiter*innen mussten teilweise ihre privaten Telefone und Laptops nutzen, sie wurden zu Hause durch andere Familienmitglieder beim Arbeiten gestört, oder es war ihnen unangenehm, dass Klient*innen per Video oder Telefon etwas über ihr privates Umfeld mitbekamen. Einige wenige Mitarbeiter*innen aus Beratungsstellen gaben an, dass sie Probleme mit dem Zugriff auf notwendige Dateien hatten. In den meisten Fällen aber war das nicht virulent.

    Folgende Chancen und Wünsche an die Zukunft wurden von den Beratungsstellen formuliert: Einige Mitarbeitende beschrieben, zu Hause sei ein konzentrierteres Arbeiten möglich. Mehrere Mitarbeitende freuten sich über den Wegfall von Fahrzeiten und auch über ein vermindertes Stresslevel durch die Möglichkeit einer freieren Zeiteinteilung. Gerade für Erstberatungen und Einmal-Beratungen wurden Video- und Telefonberatungen als gute Möglichkeiten wahrgenommen. Sie können für machen Klient*innen eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Setting in der Beratungsstelle darstellen.

    Insgesamt herrscht eine große Vielfalt bei den für Videoberatung oder auch Austausch per Messenger eingesetzten Programmen. Zoom, Jitsi, Skype, GoToMeeting, aber auch unbekanntere Programme wie Senfcall oder BigBlueButton, kamen und kommen zum Einsatz. Dass diese auch Kosten verursachen können, wurde in kaum einem Fall als Problem angegeben, dafür aber erfolgte häufig die Rückmeldung, dass man datenschutzrechtliche Bedenken oder Verbindungsprobleme habe oder dass Klient*innen mit den Tools nicht zurechtkamen. In einigen Fällen wurde auch RedMedical zur Beratung genutzt. Hier gab es keine datenschutzrechtlichen Bedenken, dafür aber erhöhte Kosten und teilweise ebenfalls Probleme bei der Bedienung durch Klient*innen.

    Klient*innen

    Einige wenige Beratungsstellen gaben an, dass sie gar keine Veränderungen in der Klient*innen-Struktur wahrgenommen haben. Die meisten Beratungsstellen konnten jedoch Veränderungen verzeichnen. Sie erklärten, mehr junge und internetaffine Personen sowie mehr Angehörige und mehr mobilitätseingeschränkte Menschen erreicht zu haben als vor der Pandemie. Die Klient*innen konnten Termine flexibler in ihren Alltag einbauen und dafür z. B. auch einmal die Mittagspause nutzen, weil Fahrwege entfielen. Dem steht leider gegenüber, dass Ältere und schon länger Betreute häufig ihren „digitalen Weg“ in die Beratung nicht mehr fanden und Kontakte abbrachen, wenn man sich nicht persönlich sehen konnte.

    Bezüglich des Konsumverhaltens konnten gerade bei jenen, die schon länger in Beratung waren, häufig Rückfälle beobachtet werden. Aus der Beratung von Menschen mit Essstörungen wurde berichtet, dass Ängste und Stress stark zugenommen haben, die Betroffenen eine Beratung per Video häufig aber nur ungern annahmen, um sich nicht selbst sehen zu müssen.

    Positive Aspekte von Video- und Telefonberatung wurden besonders im Zusammenhang mit Menschen genannt, die neu ihren Weg in die Beratung fanden: Mehrere Beratungsstellen berichteten, dass ihrem Eindruck nach die Termine per Video oder Telefon deutlich verbindlicher realisiert wurden als reale Beratungstermine. Absagen bzw. Nichterscheinen kamen seltener vor. Außerdem wurde die Pandemie von einigen Klient*innen offenbar im positiven Sinne als Umbruchsituation wahrgenommen. Da sich dadurch im Leben ohnehin Veränderungen ergaben, wurde die Pandemie als guter Zeitpunkt angesehen, um das Suchtproblem anzugehen und eine Abstinenz vom Suchtmittel dauerhaft ernsthaft umzusetzen. In der Motivation zur Abstinenz half einigen Klient*innen beispielsweise auch, dass Spielhallen und Kneipen geschlossen waren.

    Wünsche für die Zukunft

    Betrachtet man die Wünsche für die Zukunft, die von den Beratungsstellen formuliert wurden, so besteht durchgehend der Wunsch, Telefon- und Videoberatung ergänzend zur persönlichen Beratung beizubehalten, ebenso die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens. Viele gaben an, sich künftig ein bis zwei Tage mobiles Arbeiten pro Woche sehr gut vorstellen zu können. Bei den Klient*innen müsse man genau analysieren, für wen sich diese Beratungsform gut eigne und für wen nicht, um am Ende alle Ratsuchenden auf die beste Weise zu erreichen.

    Dienst-Handy und Dienst-Laptop stehen weit oben auf der Wunsch-Skala, um nicht mehr die privaten Geräte nutzen zu müssen. Gerade was Teamsitzungen und Fortbildungen angeht, können sich viele Mitarbeiter*innen vorstellen, diese regelhaft online durchzuführen. Bei Teamsitzungen wurde die Stimmung teilweise als konzentrierter und effizienter wahrgenommen. Voraussetzung dafür ist allerdings, wie häufig betont wurde, dass es in Bezug auf den Datenschutz eine größere Sicherheit geben solle. Außerdem wünschen die Mitarbeiter*innen der Beratungsstellen sich insgesamt stabileres Internet und Programme, die für Mitarbeiter*innen wie Klient*innen einfach in der Bedienung sind und nicht auf dem Rechner fest installiert werden müssen.

    Niedrigschwellige Hilfe

    Arbeitsprozesse

    Niedrigschwellige Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe bieten den Klient*innen häufig auch Möglichkeiten zum Aufenthalt sowie Konsumräume. Die Klient*innen sind nicht immer motiviert, den Ausstieg aus ihrer Sucht direkt anzugehen, aber für niedrigschwellige Ansprache und Unterstützung im Alltag sind sie offen. Vier niedrigschwellige Einrichtungen aus Hamburg füllten den Fragebogen der Landesstelle aus, so dass die hier beschriebenen Schlaglichter nur aus relativ wenigen Eindrücken gewonnen werden konnten.

    Insgesamt war der Anteil von Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten in den Einrichtungen der niedrigschwelligen Suchthilfe recht gering und lag in den meisten Fällen bei unter 20 Prozent, in einem Fall bei 20 bis 50 Prozent. Dieses Ergebnis überrascht nicht, da niedrigschwellige Arbeit sehr stark mit persönlichem Kontakt verbunden ist.

    Die Möglichkeit zur Kommunikation per Video oder Telefon mit den Klient*innen war hier recht gering. Dafür aber wurden Videokommunikations-Programme und auch Messenger-Dienste zur Kommunikation innerhalb des Teams verstärkt genutzt und auch positiv aufgenommen. Datenschutzrechtliche Bedenken oder die Tatsache, dass das private Umfeld im Video zu sehen sein könnte, wurden nicht unbedingt als Probleme angesehen und benannt.

    Beratungsgespräche wurden gerade in der niedrigschwelligen Suchthilfe häufiger bei Spaziergängen durchgeführt, statt in der Einrichtung, um dem Setting geschlossener Räume zu entgehen und Menschen trotzdem persönlich zu begegnen.

    Klient*innen

    Dass die Einrichtungen vor Ort Klient*innen zeitweise gar nicht oder nur mit großen Abständen einlassen konnten, führte vielerorts zu Problemen. Insgesamt nahmen die Einrichtungen in der Klient*innen-Struktur keine großen Veränderungen wahr, merkten aber sehr wohl, dass Kontakte zu langjährigen Klient*innen leider abbrachen. Auch verstärkte sich offenbar bei zahlreichen Klient*innen der Konsum in der Pandemie. Der persönliche Kontakt in niedrigschwelligen Einrichtungen ist durch Online-Angebote nicht ersetzbar.

    Insgesamt berichteten die niedrigschwelligen Einrichtungen, dass die konkreten Hilfestellungen – z. B. bei Behördengängen, bei dem Bemühen um Arbeits- oder Praktikumsplätze oder bei der Wohnungssuche – in der Pandemie noch schwieriger geworden waren.

    Wünsche für die Zukunft

    Konkrete Wünsche an die Zukunft bzw. an eine Übernahme von Arbeitsweisen aus Pandemiezeiten, wurden von Seiten niedrigschwelliger Einrichtungen in den ausgewerteten Rückmeldebögen nicht geäußert.

    Eingliederungshilfe

    Arbeitsprozesse

    Auch in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe ergaben sich mit der Pandemie deutliche Veränderungen. Von sechs Eirichtungen konnten Rückmeldungen ausgewertet werden. Der Anteil von Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten lag in der Eingliederungshilfe bei unter 50 Prozent, in den meisten Einrichtungen sogar bei unter 20 Prozent. Immer wieder wurde betont, dass die persönliche Betreuung und Versorgung der Klient*innen nicht aus der Ferne möglich sei, dafür aber wurden einzelne Gespräche oder auch Teamsitzungen vermehrt in den virtuellen Raum verlegt.

    Fast alle Einrichtungen hatten hingegen damit zu kämpfen, dass Klient*innen nur noch in Einzelzimmern untergebracht werden konnten und zudem Zimmer für Quarantäne-Zwecke freigehalten werden mussten. Dadurch konnten fast überall nur weniger Klient*innen aufgenommen und betreut werden als vor der Pandemie. Zudem entstand ein durchgängig stark erhöhter Bürokratieaufwand durch regelhafte Testungen und die konsequente Einhaltung und Überwachung sich immer wieder verändernder Hygienevorschriften.

    Für die Klient*innen bestanden in fast allen Einrichtungen der Eingliederungshilfe wiederholt Heimreise- wie auch Besuchsverbote. Gruppenangebote mussten in kleineren Gruppen durchgeführt werden, somit wurden mehr Gruppensitzungen insgesamt abgehalten, was den Personalaufwand erhöhte. Auch Raumplanungen wurden dadurch in den Einrichtungen deutlich komplizierter.

    Klient*innen

    Veränderungen in der Klient*innen-Struktur wurden in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe insgesamt nicht wahrgenommen.

    Die Einrichtungen berichteten davon, dass der Stress unter den Klient*innen spürbar zugenommen habe, insbesondere durch die Besuchs- und Heimreiseverbote, aber auch durch allgemeine mit der Pandemie verbundene Zukunftsängste. Die Aufenthaltsdauern haben sich dadurch teilweise verlängert, und die Sicherstellung nahtloser Behandlungsübergänge war noch wichtiger geworden.

    Wünsche für die Zukunft

    Besondere Wünsche, was aus der Pandemie an positiven Entwicklungen mit in die Zukunft genommen werden sollte und was es dafür an Voraussetzungen bräuchte, wurden von den Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht formuliert. Nur vereinzelt wurde angemerkt, dass die Möglichkeit von Teamsitzungen per Video auch in der Zukunft ein gutes Modell sein könnte.

    Ambulante Rehabilitation

    Arbeitsprozesse

    Fünf Einrichtungen, die Ambulante Reha Sucht (ARS) durchführen, haben den Fragebogen ausgefüllt. Bei den Angeboten der ARS war und ist die Möglichkeit der Mitarbeiter*innen, im mobilen Arbeiten tätig zu sein, deutlich begrenzt. Der Anteil der Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten lag nach Angaben der sich beteiligenden Einrichtungen zwischen 20 und 50 Prozent im Mittel.

    Vor allem in Bezug auf die Gruppenangebote gab es in der ARS einen deutlichen Mehraufwand, da zahlreiche Gruppen geteilt oder gedrittelt werden mussten, um Abstände vernünftig einhalten zu können. Für viele Angebote mussten größere Räume gesucht oder generell bei den Räumen umorganisiert werden. Sowohl die Umstrukturierung der Gruppensitzungen als auch der erhöhte Organisationsaufwand führten dazu, dass nur weniger Klient*innen bei allerdings erhöhtem Personaleinsatz betreut werden konnten. Auch einige Angebote zur gemeinsamen Freizeitgestaltung im Rahmen der ARS mussten stark umstrukturiert werden oder zeitweise ganz entfallen.

    Vereinzelt kamen für Klient*innen-Gespräche, insbesondere aber auch für die Kommunikation untereinander, auch in der ARS Videokonferenzsysteme zum Einsatz. Teilweise wurde das als sehr positiv wahrgenommen, teilweise aber auch als Nachteil. „Wir vermissten im Team insgesamt den Austausch jenseits von Fakten“, hieß es dazu in einer Rückmeldung.

    Klient*innen

    Insgesamt nahmen die Einrichtungen keine Veränderungen in der Klient*innen-Struktur in Bezug auf Alter, Suchtmittel, Geschlecht oder Familienstand wahr.

    Die Motivation zur Behandlung bei den Klient*innen wurde sehr unterschiedlich wahrgenommen. Wie auch schon im Beratungssetting war es in einigen Fällen schwieriger, die Klient*innen zu motivieren und sie dauerhaft „bei der Stange zu halten“. Teilweise wurde aber auch berichtet, Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit in den Gesprächen und Motivation zur Änderung der Lebenssituation seien höher als vorher.

    Wünsche für die Zukunft

    Die Einrichtungen der ARS äußerten keine Wünsche, was sie aus der Pandemie gerne positiv mit in Zukunft nehmen würden. Vereinzelt wurde auch hier positiv bewertet, Teamsitzungen künftig eher digital durchzuführen, aber einige Mitarbeitende sind dieser Option gegenüber durchaus skeptisch eingestellt.

    Stationäre Rehabilitation

    Arbeitsprozesse

    Im Bundesland Hamburg gibt es nur sehr wenig Angebote der stationären Rehabilitation für Abhängigkeitskranke, entsprechend erreichten die HLS auch nur von zwei Mitgliedern, die das Angebot der stationären Rehabilitation Abhängigkeitskranker vorhalten, eine Rückmeldung auf ihre Fragen.

    Die Einrichtungen gaben wenig überraschend an, dass im stationären Setting so gut wie keine Mitarbeiter*innen während der Pandemie im mobilen Arbeiten tätig waren, alle Mitarbeitenden mussten für die Behandlung und Betreuung der Klient*innen vor Ort sein. Es wurden aber vereinzelt Online-Einzeltherapiesitzungen durchgeführt, wenn z. B. Therapeuten*innen in Quarantäne waren. Dies lief dann in der Regel problemlos, und die Verantwortlichen waren selbst überrascht, wie gut derartige Therapiegespräche auch mit Videokonferenzsystemen geführt werden können.

    Insgesamt habe man die Krise daher auch als Chance wahrgenommen, aus eingefahrenen Strukturen herauszukommen und Neues auszuprobieren, gleichzeitig sei dies aber gerade für die Leitung auch mit einem enormen Stress und erhöhter Mehrarbeit einhergegangen aufgrund der Notwendigkeit, permanent flexible organisatorische Lösungen zu finden. Zudem war unter Mitarbeiter*innen wie Klient*innen eine anhaltende Anspannung zu spüren. Hauptgründe dafür waren die Angst, sich selbst oder Angehörige zu infizieren, oder die Sorge, dass die Klient*innen sich nicht an die Regularien halten und Ansteckungsrisiken verheimlichen.

    Es mussten Gruppen geteilt und verkleinert werden, dadurch hatte das Personal vielfach mehr zu tun, obwohl nur weniger Klient*innen als vor der Pandemie aufgenommen werden konnten, denn sämtliche Klient*innen waren in Einzelzimmern untergebracht, und es wurden Zimmer für Quarantäne frei gehalten.

    Klient*innen

    Aus den Einrichtungen wurde berichtet, dass in der Krise keine veränderten Klient*innen-Strukturen wahrgenommen wurden, aber ehemalige Rehabilitand*innen nahmen verstärkt Kontakt zur Reha-Klinik auf, um schlichtweg Anbindung oder Beratung zu erhalten, weil andere Angebote der Beratung oder auch der Selbsthilfe wegfielen. Das Therapiemodul „Heimfahrten als Belastungserprobung“ fiel für Rehabilitand*innen in der Krise komplett aus.

    Wünsche für die Zukunft

    Für die Zukunft können sich die Mitarbeiter*innen in der stationären Suchtreha Online-Angebote für einzelne Gespräche oder für Arbeitsgruppentreffen untereinander sowie zur Vernetzung mit Beratungsstellen oder Fachverbänden gut vorstellen. Dafür müsse die technische Infrastruktur und Ausstattung an vielen Stellen aber noch besser werden.

    Suchtselbsthilfe

    Von drei Verbänden der Suchtselbsthilfe sowie zwei Einrichtungen, in deren Räumen auch Selbsthilfegruppen tagen, sind Rückmeldungen zu diesem Bereich eingegangen. Zudem hat der Kreuzbund schon Ende des Jahres 2020 unter seinen Gruppen deutschlandweit eine Umfrage zur Selbsthilfe in Corona-Zeiten durchgeführt und die Ergebnisse in seiner Zeitschrift „Weggefährte“ im April 2021 veröffentlicht.

    Suchtselbsthilfe ist ein Bereich, der von den Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln, die während der Pandemie erlassen und immer wieder geändert wurden, sehr stark betroffen war.

    Teilnehmer*innen

    Wie alle Verbände einhellig in der HLS-Befragung rückgemeldet haben, betrafen die während der Pandemie wahrgenommenen Probleme von Einsamkeit, Job-Unsicherheiten, Kurzarbeit und eingeschränkten realen Sozialkontakten gerade die schon langjährig in der Suchtselbsthilfe aktiven und vielfach seit mehreren Jahren abstinent lebenden Gruppenmitglieder stark. Es wurde von allen Verbänden eine höhere Zahl von Rückfällen wahrgenommen.

    Gleichzeitig zeigte sich die Suchtselbsthilfe aber auch sehr flexibel und gewillt, ihre Angebote bestmöglich aufrechtzuerhalten. Viele Gruppen schwenkten auf Online-Treffen um oder tagten teilweise real und teilweise online. Gerade in den Sommermonaten 2020 waren reale Treffen auf Grund der niedrigen Inzidenzen gut möglich. Ein Verband meldete zurück, dass es für viele Aktive in der Suchtselbsthilfe ein sehr wichtiges Signal gewesen sei, als die Hamburger Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard in einer Pressekonferenz mit Verkündigung der ersten neuen Einschränkungen im Oktober 2020 explizit betont habe, dass die Selbsthilfe wichtig sei und sich weiterhin treffen dürfe. Das wurde als hohe Wertschätzung wahrgenommen.

    Trotz allem war und ist die Erreichbarkeit von Suchtselbsthilfe-Aktiven in der Pandemie nicht einfach. Die Verbände berichteten, dass sie durch die Online-Angebote teilweise jüngere und internetaffine Menschen sowie Menschen mit Mobilitätseinschränkung besser erreicht hätten als vorher. Gleichzeitig gingen aber auch zahlreiche Gruppenmitglieder, die schon langjährig aktiv waren, verloren, und neue Interessierte konnten nicht so gut und zuverlässig abgeholt und betreut werden.

    Ein Verband beschrieb sehr eindrücklich, dass gerade die Werte und Erfahrungen, die für Suchtselbsthilfe-Aktive wichtig sind, um stabil abstinent zu leben, durch die Pandemie nicht mehr erlebt werden konnten. Denn die Zeit der Pandemie war für die Selbsthilfe gekennzeichnet durch:

    • fehlende Verbindlichkeit und häufige Umplanung von Treffen (real wie virtuell)
    • Vermissen des körpersprachlichen Erlebens
    • Vermissen des direkten Blickkontaktes
    • Angst davor, durch digitale Treffen mit Bildübertragung das private Umfeld zu präsentieren

    Der Wunsch nach realen Treffen und höheren Verbindlichkeiten ist demnach bei vielen Aktiven noch mal größer geworden.

    Arbeitsprozesse

    Bei der Technik für Online-Angebote herrschte gerade in der Suchtselbsthilfe eine große Experimentierfreude. Vielfach wurde Zoom genutzt, dies ging aber mit Datenschutzbedenken und immer wieder auch technischen Problemen einher. Außerdem hatten einige Gruppenmitglieder offenbar große Vorbehalte gegen eine Nutzung von Videokonferenz-Tools, und es gab auch immer wieder Bedienungsprobleme, was die Dynamik und die Gespräche in den Gruppen störte.

    Bei real während der Pandemie stattfindenden Treffen bemühten sich die Teilnehmer*innen, so berichteten die Suchtselbsthilfe-Verbände, mit großer Gewissenhaftigkeit, die Auflagen in Bezug auf Hygiene und Abstände zu erfüllen. Was die Angabe von Kontaktdaten zur möglichen Kontaktnachverfolgung im Infektionsfall angeht, so haben die Gruppen verschiedene Wege gefunden, damit umzugehen. In der Suchtselbsthilfe ist es für viele Aktive essentiell, dass sie ein gewisses Maß an Anonymität wahren können. Um dem angemessen zu begegnen, haben die Gruppenleitungen z. B. Kontaktangaben in verschlossenen Urnen eingesammelt und zugesagt, diese nur im Infektionsfall zu öffnen. Oder es wurde den Anwesenden erlaubt, Alias-Namen auf den Kontaktzetteln anzugeben, solange entweder E-Mail-Adresse oder Telefonnummer korrekt war. Trotz all dieser Lösungen ist nicht auszuschließen, dass Aktive abgeschreckt waren und den Sitzungen fernblieben auf Grund der Notwendigkeit, Kontaktangaben zu machen.

    Sieht man sich die Ergebnisse der Kreuzbund-Befragung unter den Gruppenleitungen des Verbandes bundesweit an, so decken sich zahlreiche Angaben und Erfahrungen mit den in den HLS-Fragebögen gemachten Aussagen.

    Wünsche für die Zukunft

    Auch wenn die Aktivitäten in der Suchtselbsthilfe mit Unstetigkeiten und auch Problemen einhergingen, so formulierten einige Verbände in ihren Rückmeldungen an die HLS trotzdem den ausdrücklichen Wunsch, digitale Angebote auch in Zukunft beibehalten zu wollen. Ergänzend zur „klassischen“ Suchtselbsthilfe mit realen regelmäßigen Treffen könnten virtuelle Gruppen eine Bereicherung sein, um vor allem jüngere, technikaffine sowie in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen gut zu erreichen. Gegenüber der klassischen Selbsthilfe haben virtuelle Gruppen den Vorteil, dass man ortsunabhängig teilnehmen kann und Fahrwege wegfallen.

    Eine verbesserte technische Ausstattung, mehr Sicherheit in Datenschutzfragen, Support durch Fortbildungsangebote, den Abbau von Ängsten gegenüber digitalen Settings sowie bessere Aufklärung über die Chancen digitaler Angebote wünscht sich die Suchtselbsthilfe.

    Qualifizierter Entzug

    Arbeitsprozesse

    Zum Qualifizierten Entzug ging bei der HLS nur ein Fragebogen ein, dieser kam aus einer größeren Hamburger Klinik. Auf Grund von Kapazitätsverlagerungen im Krankenhausbetrieb sowie verschärfter Hygienevorschriften und anderer veränderter Rahmenbedingungen wurde in jenem Krankenhaus die normalerweise durchgeführte Qualifizierte Entzugsbehandlung seit März 2020 ausgesetzt und nur noch der (körperliche) Entzug angeboten.

    Wie zu erwarten, war der Anteil von Mitarbeiter*innen, die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens nutzen konnten, extrem gering. Im Krankenhausbetrieb wurden und werden bei der körperlichen Entgiftung und der Betreuung von Klient*innen auf der Station die Mitarbeiter*innen vor Ort benötigt.

    Klient*innen

    Die Klinik beschrieb, dass sie in der Nachfrage und der Klient*innen-Struktur Veränderungen wahrgenommen hat. Es haben sich vermehrt Menschen an sie gewandt, die darum baten, aufgenommen zu werden, weil sie sich nach geregeltem Tagesablauf, Struktur und persönlichen Kontakten sehnten und dieses Bedürfnis in der ambulanten Betreuung und Beratung während der Pandemie aufgrund der Auflagen und Einschränkungen nicht mehr ausreichend abgedeckt werden konnte.

    Auch wandten sich mehr Angehörige mit der Bitte um Hilfe direkt an die Klinik. Dagegen wurden Menschen mit Mehrfachabhängigkeiten oder auch sehr stark sozial isolierte Personen weniger erreicht.

    Stützende und beratende Gespräche wurden von den Klient*innen gesucht und gewannen – im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten – an Bedeutung. Gleichzeitig aber wurde es viel schwerer, Menschen in andere Angebote wie z. B. Selbsthilfegruppen zu vermitteln, da diese wie vorne beschrieben nur unregelmäßig tagen konnten. Entgiftung und akutpsychiatrische Behandlungen standen bei der Arbeit in der Klinik im Vordergrund. Über längere Zeiträume bestanden Besuchs- oder Heimreiseverbote.

    Wünsche für die Zukunft

    Fragt man die Mitarbeiter*innen, was sie von diesen Entwicklungen mit in die Zukunft nehmen möchten, so ist das klare Signal, man wünsche sich gar nichts davon. Die meisten würden gern zum Zustand vor der Pandemie zurückkehren und die Wiederherstellung der fachlichen Standards und die Weiterentwicklung des suchttherapeutischen Angebotes in den Fokus nehmen.

    Gleichzeitig besteht der Wunsch, die technische und digitale Ausstattung in der Klinik langfristig zu verbessern, um z. B. Klient*innen die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Mitarbeiter*innen die Vernetzung mit außerklinischen Beratungs- und Behandlungsangeboten zu erleichtern.

    Bereichsübergreifende wichtige Aspekte

    Einige Eindrücke und Rückmeldungen zu Arbeitsweisen während der Corona-Pandemie gelten für alle Einrichtungsformen. So beschrieben es mehrere Einrichtungen als sehr positiv, dass das Bewusstsein für Hygienevorschriften insgesamt gewachsen sei und die Einhaltung allgemeingültiger Regeln wie regelmäßiges Händewaschen deutlich besser klappe. Es wird mehrfach der Wunsch geäußert, dass dies auch nach der Pandemie anhält. Einige Akteur*innen vermerkten in diesem Zusammenhang, dass der Krankenstand in der Mitarbeiterschaft während der Pandemie zurückgegangen sei. Dies wird darauf zurückgeführt, dass sich die Mitarbeiter*innen durch das erhöhte Hygienebewusstsein, das ständige Tragen von Masken und das konsequente Abstandhalten in Alltagssituationen auch mit anderen Krankheitserregern als dem Covid-19-Virus weniger ansteckten.

    Akteur*innen der Suchtkrankenhilfe, die auch im Bereich Prävention tätig sind, berichteten, dass Zielgruppen, die klassischerweise über Institutionen oder Kooperationspartner*innen aus dem sozialen Bereich erreicht werden, während der Pandemie deutlich schwieriger zugänglich waren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass auch diese Einrichtungen vielfach unter veränderten Bedingungen und im stetigen Wandel arbeiten mussten. Besonders schwer erreichbar für Präventionsangebote waren Schülerinnen und Schüler wegen des unregelmäßigen Schulbetriebes, wie eine Mitgliedseinrichtung der HLS rückmeldete. Zwei Träger gaben allerdings explizit an, dass sich während der Pandemie auch neue Kooperationen mit bisher unbekannten Projektpartner*innen ergeben hätten. Dies wird als sehr positiv erachtet.

    Vielen Rückmeldungen ist zu entnehmen, dass dauerhaft ein recht hoher Druck empfunden wurde, sich stets flexibel und schnell auf neue Situationen und Vorschriften einzustellen und kreative neue Angebote und Formate zu entwickeln. Dabei kam und kommt es auch oft zu Fehlplanungen und einem insgesamt erhöhten Verwaltungsaufwand, der in das Zeitbudget der Mitarbeiter*innen eingeplant werden müsse. Eine Einrichtung merkte dazu explizit an: „Für Fortbildungen blieb das ganze Jahr über so gut wie gar keine Zeit, obwohl diese eigentlich dringend notwendig gewesen wären.“

    In Bezug auf Verwaltungsvorgänge wünschen sich mehrere HLS-Mitglieder Erleichterungen. Original-Unterschriften auf Formularen, wie sie von einigen öffentlichen Stellen und Kostenträgern verlangt werden, sind in der Zeit des mobilen und digitalen Arbeitens häufig ein Problem. Außerdem berichteten mehrere Einrichtungen übereinstimmend, dass es auf Grund der Gesamtlage in der Pandemie noch einmal deutlich schwieriger war, Klient*innen bei der sozialen und beruflichen Re-Integration zu unterstützen.

    Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass alle Akteur*innen in der Arbeit mit suchtkranken Menschen sich durchgängig danach sehnen, dass wieder mehr Normalität einkehrt und auch wieder mehr reale Begegnungen stattfinden können. Online-Angebote können allenfalls eine Ergänzung zu den bestehenden Präsenz-Angeboten sein. Trotzdem muss festgehalten werden, dass durch Telefon- und Videoangebote gerade in der Beratung und teilweise in der Suchtselbsthilfe auch neue Zielgruppen erreicht wurden, so dass diese Angebote zumindest ergänzend beibehalten werden sollen. Speziell für Teamsitzungen können sich viele Mitarbeiter*innen digitale Lösungen auch in der Zukunft gut vorstellen.

    Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung der Suchthilfe massiv vorangetrieben – einige dieser Erfahrungen müssen nun validiert und bestenfalls in die Beratungs- und Behandlungskonzepte zur Verbesserung der Versorgung der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen und ihrer Angehörigen integriert werden. Die Pandemie hat noch einmal gezeigt: Entscheidend für erfolgreiches Arbeiten mit den Klient*innen sowie mit den Kolleg*innen ist der persönliche, unmittelbare Austausch. Dies ist eine der wesentlichsten Ableitungen. Denn die immensen gesamtgesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie werden wir in Zukunft auch und vor allem in der Suchthilfe zu bewältigen haben. Dazu brauchen wir ein verlässliches Netzwerk und verlässliche Kooperationspartner*innen.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Linda Heitmann
    Geschäftsführerin
    Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V.
    Burchardstraße 19
    20095 Hamburg
    Tel. 040/30 38 65 55
    linda.heitmann(at)landesstelle-hamburg.de