Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.
Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.
Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.
Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren
Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.
Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:
Wenn
Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,
dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.
Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).
Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.
SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.
Was ist das Besondere? SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.
Dauerhafte Finanzierung Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.
Die Leistung an Mann* und Frau* bringen Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.
Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.
Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.
Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.
Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.
Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.
Große Träger sind im Vorteil
Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.
In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.
Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.
Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen
In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.
Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.
Kontakt:
Wolfgang Rosengarten
w.rosengarten@t-online.de
Angaben zum Autor:
Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.
Zum 31.07.2019 wurden die letzten Teilnehmenden* aus dem Projekt Su+Ber – Sucht und Beruf verabschiedet. Damit wurde dieses Projekt zur Teilhabeverbesserung langzeitarbeitsloser und suchtkranker Menschen nach gut dreieinhalb Jahren mangels weiterer Förderung vorläufig beendet. Wir haben über Su+Ber ausführlich bereits 2017 in einem zweiteiligen Artikel auf KONTUREN online (Teil 1 + Teil 2) berichtet. Eine abschließende differenzierte und mehrteilige wissenschaftliche Evaluation legte das IFT München planmäßig bis zum Jahresende 2019 vor (PDF zum Download).
Der hier vorliegende Artikel möchte einen anderen Aspekt, nämlich die innere Projektentwicklung reflektieren. Aus der Sicht eines verantwortlich Beteiligten möchte ich unsere Erfahrung von Hemmnissen und Schwierigkeiten darstellen und zeigen, wie sich unsere Arbeitshaltungen durch diese Erfahrungen im Projektprozess verändert haben. Mit einer solchen, eben nicht nur an Erfolgskennzahlen orientierten Evaluation wollen wir uns auf Entwicklungsschritte einlassen, wie wir sie ja auch von unseren Projekt-Teilnehmenden erhoffen und erwarten. Aufgrund meiner fachlichen Herkunft nehme ich dabei v. a. die Perspektive der Suchthilfe ein; viele meiner Aussagen gelten aber in vergleichbarer Weise auch für den Bereich der Arbeitshilfen.
Entwicklungsgeschichte und Zielsetzungen des Projekts Su+Ber
Das Projekt Su+Ber ist in Baden-Württemberg in einem mehrjährigen Diskussionsprozess entstanden, an dem neben zahlreichen Akteuren der Suchthilfe und der Suchtreha auch engagierte Fachkräfte aus Jobcentern und Politikvertreter beteiligt waren. Mit Su+Ber sollte an sechs Standorten für Langzeitarbeitslose mit einem teilhabebeeinträchtigenden Suchtverhalten (Alkohol/Drogen) auf einem ganz neuen Weg eine stabile Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz ermöglicht werden. Wesentliche Teile des Projekts Su+Ber wurden vom Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land finanziert; die in die Projektkonzeption integrierten und relativ personalintensiven Arbeitsfördermaßnahmen wurden dabei in vollem Umfang von den beteiligten Jobcentern finanziert.
Suchtprobleme gelten bei der Wiedereingliederung in Arbeit als wesentliches Vermittlungshemmnis. Gleichzeitig ist es ein Grundaxiom der Suchthilfe, dass eine regelmäßige Arbeit entscheidend zu einer gesundheitlichen Stabilisierung suchtkranker Menschen beitragen kann. Die fachliche Entwicklung der medizinischen Suchtreha orientierte sich deshalb stets an dem Ziel einer Reintegration in Arbeit, wofür eine Suchtmittelabstinenz bislang als unumgängliche Voraussetzung galt. Wer allerdings inzwischen die konkreten Arbeitsmarktperspektiven für langzeitarbeitslose Menschen mit Suchtstörungen ehrlich anschaut, für den wird spürbar, dass eine solche vorrangig auf eine formale Arbeitsreintegration orientierte Suchtreha den Teilhabebedürfnissen und -rechten dieser Menschen oft nicht gerecht wird. Die Grundkonzeption unseres Projekts Su+Ber baut zwar notwendigerweise auf diese arbeitsorientierte Tradition der Suchtreha auf, versucht aber, innerhalb der geltenden Rechtssystematik für bestehende versorgungspolitische Schwachstellen neue Lösungen zu finden.
Konsequente arbeitsorientierte Leistungsvernetzung als Antwort auf Schnittstellenprobleme
Das Projekt Su+Ber sieht als Antwort auf viele letztlich ungelöste Schnittstellenprobleme bei Maßnahmen zur Arbeitsreintegration im Anschluss an eine Suchtreha eine weitgehende örtliche, zeitliche und personelle Vernetzung aller Fördermaßnahmen: Leistungen der Suchtberatung, Arbeitsfördermaßnahmen der Jobcenter und der Arbeitshilfeträger sowie Leistungen einer arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha sollen im Projekt in einer konsequenten Gesamtmaßnahme integriert werden. Zentrale Bausteine des Projekts waren:
eine Zielorientierung der Gesamtmaßnahme auf die Gewinnung eines eigenen Arbeitsplatzes unter konsequenter Berücksichtigung der eben auch widersprüchlichen individuellen Entwicklungsinteressen und der nutzbaren Entwicklungsressourcen der Teilnehmenden. Die Orientierung auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz sollte alle Beteiligten vor defizit- und mangelorientierten Selbst- und Fremdeinschätzungen und vor zu kleinteiligen Maßnahmenzielen schützen.
eine fallbezogene personale Vernetzung aller am Projekt beteiligten Akteure in einem gemeinsamen Clearingprozess und in der Maßnahmenplanung. Die Erfolgsprognose, die sozialleistungsrechtlich erforderlich ist, damit Maßnahmen gewährt werden, orientierte sich nicht an Maximalzielen (Abstinenz, volle Arbeitsintegration), sondern an konkreten Verbesserungen beruflicher Teilhabe und damit verbundener subjektiver Lebensqualität.
eine Konzeption der ambulanten Suchtreha, die vorrangig auf die Entwicklung einer hinreichenden Arbeitsfähigkeit orientiert ist und dabei notfalls auch auf den bisherigen Vorrang des gesundheitlichen Maximalziels einer Abstinenz verzichtete.
die nahtlose Nutzung aller individuell erfolgversprechenden Fördermaßnahmen der beteiligten Leistungsträger einschließlich einer suchtkompetenten Unterstützung auch im ersten Jahr an einem eigenen Arbeitsplatz.
Innovation erfordert Mut zum Risiko, erhöht aber auch die institutionellen Erfolgserwartungen
Ein solcher Projektansatz ließ sich natürlich nur realisieren, indem alle Beteiligten über ihre gewohnten Konzepte und Leistungsformen hinausgingen: So ließen sich die beteiligten Jobcenter auf einen gegenüber sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen höheren Personaleinsatz ein. Die DRV Baden-Württemberg wagte den Versuch einer konsequent arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha auch unter Verzicht auf die traditionelle Abstinenzbindung. Die Suchtberatungsstellen waren zu sozialräumlichen Kooperationen mit anderen PSBs (Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstellen für Suchtgefährdete und Suchtkranke) und zu einem mehrheitlich externen Arbeitseinsatz beim Arbeitshilfeträger aufgefordert. Und für alle beteiligten Fachkräfte galt es, sich im geforderten Clearingprozess und in der fallbezogenen Maßnahmenplanung auf eine personale Kooperation einzulassen und dabei die eigenen fachlichen Sichtweisen und Denktraditionen immer wieder zu hinterfragen.
Bei den beteiligten Leistungsträgern (Jobcenter und DRV Baden-Württemberg), die für das Projekt substantiell/materiell in Vorleistung gehen mussten, entstand dabei verständlicherweise ein hoher Druck, ihre Aufwendungen/Wagnisse auch durch möglichst gute Ergebniszahlen zu legitimieren. Bei den Jobcentern war dennoch die Bereitschaft, auch die eigenen internen Verwaltungsabläufe auf diese neue Projektstruktur abzustimmen, angesichts der je Standort nur bescheidenen Maßnahmekapazitäten (max. zwölf Plätze) sehr unterschiedlich ausgeprägt. Und auch in der projektbezogenen Kooperation mit der DRV Baden-Württemberg gelang es trotz einer insgesamt vertrauensvollen Arbeitsbasis erst zum Ende des ersten Projektjahres und damit zur Hälfte der anfänglich bewilligten Projektlaufzeit, eine für beide Seiten vertretbare Reha-Konzeption für das Projekt Su+Ber zu verabschieden.
Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung für Su+Ber
Während solche Schwierigkeiten mit den Leistungsträgern für uns schon in der Projektvorbereitung absehbar waren, hatten wir geglaubt, dass durch die zahlreichen Diskussionen und Fachveranstaltungen der Landesstelle für Suchtfragen im Projektvorlauf und durch ein detailliertes Anforderungsprofil in der ESF-Projektausschreibung bei der Teilnehmergewinnung und in der Projektumsetzung keine größeren Probleme auftreten würden. Tatsächlich hatten wir vor allem im ersten Projektjahr aber an nahezu allen Standorten erhebliche Schwierigkeiten, die in den Arbeitsfördermaßnahmen bereitgestellten Plätze auch zu füllen – deren Auslastung lag in dieser Zeit insgesamt deutlich unter 50 Prozent!
Als wesentliche Ursachen dieser für uns unerwarteten Entwicklung konnten wir – trotz aller konzeptionellen Absprachen/Vereinbarungen im Vorfeld einer Projektbeteiligung – Folgendes feststellen:
Bei vielen Fachkräften der Suchtberatungsstellen herrschte große Skepsis gegenüber einem suchtrehabilitativen Ansatz ohne Abstinenzverpflichtung.
In vielen Suchthilfeeinrichtungen wird eine „Reha-Gesamtplanung“ praktiziert, bei der Fragen der Reintegration in Arbeit immer noch meist erst nach einer (stationären) Suchtreha in den Blick genommen wurden.
Bei einer Einbeziehung arbeitsorientierter Fördermaßnahmen in die Suchtreha-Planung wurde – unabhängig von der fachlichen Art des Angebots – bevorzugt in trägereigene Maßnahmen vermittelt.
Offenbar führt eine hohe Autonomie der Fachkräfte in den PSBs bei gleichzeitig subjektiv hoher Arbeitsbelastung in der Fallarbeit dazu, dass vertraute rehabilitative Handlungs- und Denkmuster weitergeführt und innovative Interventionsansätze kaum ernsthaft registriert werden. Im Ergebnis gab es während der drei Projektjahre trotz vielfacher Informationsangebote und Werbung fast ausschließlich von denjenigen Suchtberatungsstellen Vermittlungen in das Projekt Su+Ber, in denen durch Honorarverträge Mitarbeitende unmittelbar in die Projektarbeit eingebunden waren. Aber auch in den direkt am Projekt beteiligten Suchtberatungsstellen gelang es mehrheitlich erst durch eine regelmäßige Präsenz von Projektmitarbeitenden in den eigenen Reha-Teams, die Quote an Vermittlungen in das „eigene“ Projekt Su+Ber innerhalb der gesamten indikationsgerechten Vermittlungen in Suchtreha zu erhöhen.
Unterschätzt hatten wir in der Projektplanung aber auch zwei materielle/leistungsrechtliche Faktoren:
Aufgrund der knappen Fördermittel für Su+Ber hatten wir für die sechs- bis achtmonatige Projektphase B der Arbeitsförderung und der integrierten ambulanten Suchtreha keine Mehraufwandsentschädigung für die Teilnehmenden vorgesehen. Dadurch waren wir für manchen Kunden/Klienten im Vergleich zu anderen vom Jobcenter angebotenen Maßnahmen aber deutlich weniger attraktiv (ganz unabhängig von der im Projekt ja zusätzlich geforderten offenen Befassung mit dem eigenen Suchtverhalten).
Angesichts der in Baden-Württemberg derzeit sehr guten Arbeitsmarktlage erlebten wir es in der Projektphase A (Motivierung und vorläufige Integrationsplanung) immer wieder, dass Interessenten kurzfristig eine Arbeit fanden und deshalb eine Projektteilnahme im Sinne ihres bisherigen Problembewältigungsmusters fallen ließen. Wenn dann nach oft schon absehbaren Krisen dieser Arbeitsplatz wieder verloren ging, griff die Regelung der „schädlichen Unterbrechung“ der Langzeitarbeitslosigkeit: Eine Wiederaufnahme ins Projekt war dann (eigentlich) genauso wie nach längerer Krankschreibung oder auch kurzfristigen Inhaftierungen (v. a. bei Drogenabhängigen) erst wieder nach einer längeren (kontraproduktiven) Wartezeit möglich; ein möglicherweise günstiges „Motivationsfenster“ blieb wegen unsinniger Zuständigkeitsregelungen so ungenutzt.
Eine von der Projektkonzeption deutlich abweichende Teilnehmenden-Gruppe
Im Ergebnis bestand unsere Su+Ber-Teilnehmergruppe v. a. aus Menschen, die von den Jobcentern vermittelt wurden und dort nach zahlreichen, aber wirkungsarmen Maßnahmen als weitgehend hoffnungslose Fälle eingestuft worden waren („hartnäckiger Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit“). Gleichzeitig fehlten uns aus den Suchtberatungsstellen diejenigen Menschen, die sich dort zum wiederholten Mal aktiv um eine Suchtreha-Maßnahme bemühten.
Es wurde aber auch deutlich, dass mehr als 80 Prozent unserer Teilnehmenden bereits Vorerfahrungen mit der ambulanten Suchthilfe und etwas mehr als die Hälfte auch Erfahrungen mit Suchtreha-Maßnahmen hatten. Zumindest bei dieser Gruppe stark chronifizierter Langzeitarbeitsloser mit Suchtproblemen ist also davon auszugehen, dass aufgrund zweier im Lebensalltag der Menschen ja zusammenhängender Teilhabe-Beeinträchtigungen häufig auch beide leistungsrechtlich getrennten Hilfesysteme in Anspruch genommen werden, allerdings oft ohne irgendeine erkennbare Kooperation und Abstimmung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass wir mit unserem leistungsvernetzten Förder- und Behandlungsangebot von Su+Ber 44 Prozent der Teilnehmenden erstmals für die Nutzung einer Suchtreha-Maßnahme gewinnen konnten.
Da im Projekt Su+Ber bei den Bemühungen um eine Arbeitsintegration ausdrücklich auch das Suchtverhalten thematisiert werden sollte, war für uns ein freiwilliger und von Sanktionen unabhängiger Zugang zum Projekt grundlegende Bedingung. Daraus leiteten wir die Hypothese ab, dass unsere Projekt-Teilnehmenden trotz ihrer vielfachen Erfahrungen des Scheiterns und vieler aktueller Alltagsprobleme und Beeinträchtigungen sehr wohl weiter an einer Verbesserung ihrer Lebenslage interessiert waren. Auch die zu den formalen Qualifikationen erhobenen Daten lassen vermuten, dass für einen deutlichen Teil der Teilnehmenden die Perspektive einer beruflichen Reintegration keineswegs abwegig ist: Nur 13 Prozent hatten keinen regulären Schulabschluss, aber immerhin 51,5 Prozent hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Entwicklung der Teilnehmerzahl
In der (nach einer Verlängerung) schließlich dreijährigen Projektlaufzeit haben wir nach ESF-Kriterien 301 Teilnehmende ins Projekt Su+Ber aufgenommen, also in die Projektphase A mit ihrem interinstitutionellen Clearing, der vertieften Motivierung und einer vorläufigen Maßnahmenplanung sowie schließlich der formalen Beantragung der ambulanten Suchtreha-Maßnahme. Tatsächlich wurden dann aber von diesen 301 ernsthaften Projektinteressenten nur 199 Teilnehmende in die Projektphase B übernommen, also in die sechs- bis achtmonatige Arbeitsfördermaßnahme mit integrierter ambulanter Suchtreha.
Nach allen Erfahrungen aus der Motivierungsarbeit der Suchtberatung hatten wir zwar an diesem Übergang mit einem Schwund an Teilnehmenden gerechnet, der Ausstieg von einem Drittel hat uns aber doch beschäftigt. Ein Teil dieser Quote erklärt sich mit den bereits skizzierten leistungsrechtlichen Regelungen („schädliche Unterbrechung“). Andere Teilnehmende fühlten sich abgeschreckt durch die umfangreichen datenschutzrechtlichen Regelungen, die durch die wissenschaftliche Evaluation notwendig wurden und für die wir auch keine grundlegende Vereinfachung finden konnten.
In der Analyse wurde für uns aber auch deutlich, dass wir es versäumt hatten, Ansätze und Strukturen für eine projektspezifische Veränderungsmotivierung der Teilnehmenden zu entwickeln. Obwohl wir davon ausgegangen waren, dass die vorrangige Triebfeder für die Beteiligung an Su+Ber bei den meisten Teilnehmenden die Gewinnung eines „vollwertigen“ Arbeitsplatzes sei, fanden die meisten (bestenfalls wöchentlichen) Kontakte der Phase A im rein verbalen Setting der Suchtberatungsstelle statt und gingen von den klassischen Konzepten einer Problemanamnese und Motivationsklärung aus.
Diese Setting-Strukturen hatten Konsequenzen: Im Durchschnitt wurden diejenigen Teilnehmenden, die in oder nach der Phase A bereits wieder aus dem Projekt ausgeschieden sind, knapp vier Monate lang betreut – aus unserer Sicht viel zu viel Lebenszeit für Menschen, die mit einem Entwicklungswunsch ins Projekt eingetreten waren. Aufgrund der Erfahrungen aus den supervisorischen Praxiswerkstattrunden vermuten wir zudem, dass in diesen Gesprächen mehrheitlich die Suchtproblematik und aktuelle Alltagsprobleme und weniger individuelle Entwicklungssehnsüchte und Hoffnungen der Teilnehmenden im Mittelpunkt standen. Wir haben es deshalb im zweiten Projektjahr ermöglicht, dass Teilnehmende auch direkt in die Phase B beim Arbeitshilfeträger ins Projekt Su+Ber einsteigen konnten; die für die Projektphase A vorgesehenen Aufgaben konnten dann dort begleitend zu den ersten Arbeitserfahrungen in den ersten drei Wochen bearbeitet und dann nahtlos auch in der ambulanten Suchtreha weitergeführt werden.
Unterschätzt hatten wir auch einen weiteren Effekt der bereits genannten Skepsis in der ambulanten Suchthilfe gegenüber einem nicht abstinenzgebundenen Suchtreha-Ansatz: An der Mehrzahl der Projektstandorte fanden sich trotz wohlwollender Haltung der PSB-Leitungen nur Fachkräfte für die Mitarbeit im Projekt Su+Ber, die bislang kaum oder gar nicht in Leistungen der ambulanten Suchtreha eingebunden waren. Gleichzeitig fehlte an vielen Standorten aber auch die regelhafte kollegiale Einbindung in das „normale“ Reha-Team. In der Verbindung mit den für alle Beteiligten neuartigen konzeptionellen Anforderungen im Projekt Su+Ber führte dies dazu, dass einige unserer Projektfachkräfte lange Zeit stark verunsichert waren und so die konzeptionellen Entwicklungsräume unserer Reha-Konzeption zunächst kaum für ihre Teilnehmenden nutzen konnten.
Das Projekt startete aus fördertechnischen Gründen zum Jahresanfang 2016 und damit noch vor dem positiven Ethikvotum zur Evaluationsforschung im Juni 2016. Dies führte – zusammen mit den aufwendigen datenschutzrechtlichen Bestimmungen, die viele Teilnehmende abschreckten – dazu, dass letztlich nur die Daten von etwa 60 Prozent der tatsächlichen Projekt-Teilnehmenden in die wissenschaftliche Evaluation einbezogen werden konnten.
„Wir haben die falschen Projekt-Teilnehmenden“
Rückblickend waren die Austauschrunden der ersten anderthalb Projektjahre neben der Klärung vieler formaler und dokumentationsrelevanter Fragen beherrscht von der Feststellung, dass wir an den meisten Standorten zu wenige und dann auch noch die „falschen“ Teilnehmenden im Projekt hätten, d. h. Personen, die voraussichtlich nicht direkt in den Arbeitsmarkt reintegrierbar wären. Dies fand seine Entsprechung auch in den Ergebnissen unseres prognostischen interinstitutionellen Grobclearings in der Projektphase A: Nur für etwa zehn Prozent der Teilnehmenden wurde von den beteiligten Fachkräften eine gemeinsame positive Prognose abgegeben. Offenbar haben sich in der Wahrnehmung der professionellen Akteure viele statistisch belegte Korrelationen („Vermittlungshemmnisse“, störungsbedingte Leistungseinschränkungen, unzureichende Veränderungsmotivation) als quasi persönliche Eigenschaften zu direkten personalen Zuschreibungen verfestigt und damit verselbständigt („mit diesen Problemen kannst du das doch nicht“). Das gemeinsame Grobclearing wurde so v. a. zum Prüfstein, an dem solche verfestigten individuellen oder institutionellen Zuschreibungen deutlich werden konnten; nach unseren bisherigen Auswertungen haben die prognostischen Einschätzungen dieses Grobclearings nur eine geringe Aussagekraft hinsichtlich des tatsächlich erzielten positiven Projektergebnisses.
Paradoxerweise wird diese Zuschreibung von Schwächen in der individuellen Betreuungsarbeit oft scheinbar bestätigt durch brüchige und widersprüchliche Selbstkonzepte der Teilnehmenden. Deren eigentlich motivierende Einstellung „Ich will arbeiten, ich brauche das!“ wird regelhaft beeinträchtigt oder blockiert durch die chronifizierte Erfahrung „Ich kann es doch nicht recht machen, ich halte das eh nicht durch“. Vielfältige beschämende Erfahrungen des Scheiterns und unerfüllter Eigen- und Fremderwartungen sind offenbar stärker als einzelne Erfolgserfahrungen. Das Selbstwertgefühl der Menschen als „psychisches Immunsystem“ ist kollabiert. Statt auf Entwicklungskräfte und Alltagskompetenzen zu schauen, konzentrieren sich alle Beteiligten in vermeintlich bester Förder- und Entwicklungsabsicht dann faktisch nur noch auf Schwächen und Defizite, die es durch symptomorientierte Interventionen aufzulösen gelte.
Fallbezogene Leistungsvernetzung als Weg zu einer gemeinsamen Reha-Verantwortung
Schon als wir uns in der Projektentwicklung mit den Kriterien des Grobclearings befassten, war uns deutlich, welche fatalen Verstärkungseffekte solche problemorientierten individuellen Prognosen für die „gebrochenen Selbstwirksamkeitserfahrungen“ unserer Teilnehmenden haben (können). Im Projekt Su+Ber haben wir deshalb das Grobclearing als ein interdisziplinäres und interinstitutionelles Instrument im Rahmen einer konsequenten Leistungsvernetzung konzipiert. Grundsätzlich war demnach eine Projektteilnahme auch dann möglich, wenn nur eine der beteiligten Institutionen eine positive Prognose aussprach. Dieses Instrument der Leistungsvernetzung forderte somit alle Beteiligten zum intensiven Austausch und Abgleich ihrer Wahrnehmungen und Einschätzungen, ihrer Erfahrungen und Bewertungen heraus.
Dieser weit über eine gewohnte fachliche Kooperation hinausgehende Vernetzungsanspruch in Su+Ber fand im Projektalltag unterschiedliche Akzeptanz. Einzelne Jobcenter sahen sich organisatorisch grundlegend nicht in der Lage, für die Betreuung aller ihrer Teilnehmenden eine konkret verantwortliche Fachkraft zu benennen. Einzelne Fachkräfte zogen sich in diesem Austausch von Sichtweisen und Argumenten immer wieder auf eine übergeordnete Position als Vertreter eines Leistungsträgers zurück. Die breite Mehrheit der Projektbeteiligten erlebte diesen Vernetzungsprozess jedoch als den zentralen fachlichen Gewinn aus der Projektarbeit. Die fallbezogene Verknüpfung persönlicher Sichtweisen, fachlicher Kompetenzen und unterschiedlicher leistungsrechtlicher Perspektiven wurde als Bereicherung erlebt und als Chance, die komplexe Lebenswirklichkeit und die Entwicklungspotentiale der Teilnehmenden umfassender wahrzunehmen und dann auch für die gewünschten Entwicklungsprozesse zu nutzen.
Im Zuge dieser gemeinsamen Einlassung auf die Teilnehmenden und deren Lebensentscheidungen spürten die Profis oft auch Respekt und Demut: Es wurde für sie erlebbar, dass es bei allen Angeboten einer Teilhabeförderung für Menschen in stark chronifizierten Lebenslagen weniger um die Befähigung zu einer schnellstmöglichen Erreichung irgendwelcher von außen definierter oder verstärkter Ziele gehen sollte, als vielmehr um die Unterstützung einer eigenverantworteten Entwicklung und die Befähigung zu einer individuell spürbar verbesserten Teilhabe. Letztlich muss es um die Förderung einer individuellen Würde gehen, die sich speist aus entwicklungsorientierten Erfahrungen der Selbstwertschätzung und der Selbstwirksamkeit einerseits und der Erfahrung sozialer Wertschätzung und Achtung andererseits.
Die Feedbacks, die die Profis im Projektverlauf von ihren Teilnehmenden erhielten, machen deutlich, dass eine derart veränderte Betreuungshaltung sehr wohl wahrgenommen und wertgeschätzt wurde: „Ich musste mich mit meinen Schwierigkeiten nicht mehr verstellen, brauchte keine Angst mehr haben, etwas falsch zu machen.“ „Die Mitarbeit im Projekt hat mich interessiert, Beikonsum war da kein Thema mehr.“ „Wenn ich eine Aufgabe habe, geht es mir besser.“ „Ich kann etwas, auch so, wie ich derzeit bin.“ Und gleichzeitig machen für mich Rückmeldungen einzelner Projektfachkräfte deutlich, dass dieses gemeinsame Bemühen um einzelne, ganz konkrete Menschen auch zur Verbesserung der eigenen professionellen Identität beigetragen hat.
Verbesserungsmöglichkeiten für Folgeprojekte
Zusammenfassend halten wir aufgrund unserer Erfahrungen folgende Ansätze für Verbesserungen bei künftigen vergleichbaren Projekten für grundlegend notwendig:
Bei Menschen in chronifiziert teilhabebeeinträchtigten Lebenslagen kann jede suchtrehabilitative Verbesserung der individuellen Lebensqualität soziale und berufliche Krankheitsfolgen und Krankheitsschädigungen reduzieren. Suchtreha-Leistungen dürfen deshalb nicht nur mit dem Ziel einer bestmöglich gesicherten Arbeitsintegration gewährt werden; bei Suchtberatungsstellen sollte zugunsten einer individuell möglichen Teilhabeverbesserung auch für eine bedarfsorientierte Nutzung suchtrehabilitativer Ansätze ohne Abstinenzverpflichtung geworben werden, und es sollten entsprechende Interventionskonzepte entwickelt werden.
Damit Menschen unserer Zielgruppen sich angesichts einer Vielzahl von Förderansätzen für ein Konzept unter Einbeziehung spezifischer Suchtreha-Leistungen entscheiden können, müssen motivationale Faktoren (z. B. Mehraufwandsentschädigungen, Zeitperspektiven von Maßnahmen) geschaffen und strukturelle Hemmnisse (z. B. „schädliche Unterbrechung“) bestmöglich beseitigt werden. Gegebenenfalls sollten in enger Abstimmung mit den Jobcentern fallbezogen motivationsstützende Förderalternativen gesucht werden.
Für einige Interessenten ist statt einer nur verbalen Klärung und Entwicklungsmotivierung ein frühzeitiger Einstieg in eine Maßnahme der Beschäftigungsförderung motivations- und selbstwertstärkend und ermöglicht gleichzeitig allen Beteiligten konkret sichtbare und ansprechbare Informationen über Belastungsgrenzen und lebensweltliche Hemmfaktoren.
Für Langzeitarbeitslose mit Suchtproblemen gibt es nach unserer Erfahrung nur selten nachhaltige und subjektiv befriedigende Arbeitsplätze. Bemühungen um eine berufliche Reintegration sollten deshalb nicht nur an formalen Integrationsdaten orientiert sein, sondern – als Maßnahme einer grundlegenden Teilhabeförderung – gleichgewichtig auch an einer Verbesserung persönlicher Lebensqualität und am Erleben von Selbstwert. Eine solche Teilhabeperspektive sollte von allen Beteiligten akzeptiert sein und an gemeinsam vereinbarten Parametern auch dokumentiert werden. Verbindliche Kooperationspartner bei Jobcentern und Arbeitshilfeträgern erleichtern eine solche gemeinsame Teilhabeperspektive.
Teilhabeförderung muss sich auch in Ergebniszahlen bewähren
Jede Form psychosozialer Arbeit und jede Teilhabeförderung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen von der Gesellschaft getragenen Angeboten und individuellen Bedarfen. Somit ist neben allen subjektiv positiven Effekten auch wichtig, wie hoch die Kosteneffizienz und die Zielerreichung eines neuen Projektes ist. Die unzureichende Belegung der zur Verfügung gestellten Plätze im Projekt Su+Ber bedeutet natürlich schon mal eine relativ schlechte Kosteneffizienz. Wir gehen allerdings aufgrund der Verlaufsentwicklung in den drei Projektjahren davon aus, dass bei einer längeren Projektlaufzeit unsere veränderten Strategien der Teilnehmergewinnung und -haltung auch eine deutlich bessere Auslastung ermöglichen könnten.
Von den 199 Teilnehmenden, die in die Projektphase B gestartet waren, konnten 42 in eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit überführt werden. Diese Integrationsquote von insgesamt etwa 21 Prozent entspricht nicht unseren ursprünglichen Hoffnungen bei der Projektkonzeption und zumindest teilweise auch nicht den Erwartungen der beteiligten Jobcenter bzw. der DRV Baden-Württemberg. Zudem waren die Integrationsquoten an den einzelnen Projektstandorten – unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation – recht unterschiedlich. Nach unserer Beobachtung spiegeln diese Unterschiede wider, wie intensiv und engagiert sich die Fachleute der jeweiligen Standorte mit dem Handlungsansatz des Projekts Su+Ber identifiziert und die durch dieses Projekt ermöglichten Handlungsfreiräume auch genutzt haben.
Es bleibt aber immer noch die Frage, wie eigentlich die Quote von 21 Prozent für die Wiedereingliederung in Arbeit von Menschen unserer Zielgruppen zu bewerten ist bzw. ob nachhaltig wirksamere Maßnahmen für sie konkret zur Verfügung stehen. Es nützt ja wenig, wenn, wie an einem unserer Standorte, nach dem Ende von Su+Ber zur Sicherung des weiteren Leistungsbezugs der Klientel einfach eine neu benannte Maßnahme aufgelegt wird und die Kunden dann wieder durch eine scheinbar neue Maßnahme geschleust werden. Wir haben uns deshalb in der Analyse unserer Projektarbeit intensiv auseinandergesetzt mit dem Verhältnis von
den durch SGB IX und das BTHG definierten Anforderungen an eine umfassende Förderung gesellschaftlicher und beruflicher Teilhabe für teilhabebeeinträchtigte Menschen
sowie einer subjektiv wahrgenommenen Verbesserung der individuellen Lebenswirklichkeit für die betroffenen Menschen („Lebensqualität“).
Wir erleben um uns herum eine Praxis der Teilhabeförderung, in der Maßnahmen v. a. nach dem Kriterium kurzfristiger Kosteneinsparung und entlang leistungsrechtlicher Grenzziehungen auf der Basis von Kennzahlen als Verwaltungsakte umgesetzt werden. Dabei werden die betroffenen Menschen zum zu fördernden und zu bewertenden Objekt und letztlich auch zum Störfaktor, weil diese Förderpraxis individuelles Scheitern und kostenträchtige Maßnahmenwiederholungen bei unserer Zielgruppe kaum verringert. Auch wenn wir aufgrund der kurzen Projektlaufzeit noch keine handfesten Belege liefern können, sind wir nach unseren Erfahrungen aber weiter davon überzeugt, dass – unter Nutzung aller bereits vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen und fachlichen Konzepte – eine konsequent an der Lebenslage der betroffenen Menschen und an ihren Entwicklungssehnsüchten orientierte Förderung/Reha-Maßnahme nicht teurer wäre als die bisherige Praxis, aber für die Teilnehmenden und für die Profis mehr Lebensqualität ermöglichen könnte. Wir brauchen dafür sicherlich neue persönliche Haltungen der Profis, aber wir brauchen auch grundlegende Interventionsansätze, die Handlungsfreiräume schaffen und dazu ermutigen, sich mit den hochkomplexen, natürlich auch widersprüchlichen und biografisch beeinträchtigten „Wirklichkeitskonstruktionen“ von Menschen in chronifizierter sozialer Exklusion auseinanderzusetzen mit dem Ziel einer für sie adäquaten Förderung.
Was wäre für uns deshalb in einem weiterführenden Projekt wichtig?
Die Praxis von Teilhabeförderung/Behandlung orientiert sich vielfach an linearen Kausalitätsmodellen, denen zufolge einzelne Störungen/Defizite zu Teilhabehemmnissen werden, die behoben werden sollen. Insbesondere die medizinische Suchtreha, die in ihren Anfängen als stationäre Reha ja einen Gegenentwurf zum Lebensalltag der Menschen erlebbar machen wollte, hat die Idee einer rehabilitativen „Befähigung“, die in einem hochspezialisierten Setting effizient vermittelt wird, gefördert. Dieses Modell hat so lange eine gewisse Berechtigung, wie die betroffenen Menschen in der Lage sind, die vermittelten Qualifizierungen/Kompetenzen auch eigenständig und möglichst umfassend in ihren identitätsstiftenden Lebensalltag und ihr Beziehungsnetz zu integrieren. Wenn wir im Kontrast dazu die Alltagsstrukturen von langzeitarbeitslosen Menschen mit Suchtproblemen trotz all ihrer Beeinträchtigung auch als Überlebenshilfen sehen, dann wird klar, dass eigenverantwortete radikale Brüche und Veränderungen in diesem Alltag für diese Menschen kaum möglich und selten nachhaltig sind. Wir sind deshalb davon überzeugt davon, dass nachhaltige Teilhabeförderung für diese Zielgruppen nur in alltagsnahen und im Sozialraum verankerten Strukturen gelingen kann, auch um den Preis, dass individuelle Entwicklungen eben oft nur in kleineren Schritten und mit Brüchen möglich sind.
Obwohl die Arbeit der ambulanten Suchthilfe in vielfacher Weise auf eine berufliche Reintegration ausgerichtet ist, versteht sich die Suchtberatung meist nicht als unmittelbar dafür verantwortlicher Akteur. Wenn aber nicht mehr nur die Suchtstörung, sondern deren chronifizierte Einbindung in eine umfassende Lebenslage Grundlage der Hilfen und einer Teilhabeförderung werden soll, dann reicht es nicht, wenn einzelne Fachkräfte in kleinen Projekten sich einem solchen Perspektivenwechsel stellen. In Baden-Württemberg, wo die Kommunen die Hauptfinanziers der Suchtberatung sind, müssen wir vielmehr Land und Kommunen für eine solche gemeinsame Fallverantwortung in der beruflichen Reintegration gewinnen, z. B. indem projektunabhängig die Effekte der Suchtberatung für eine berufliche Reintegration differenziert beobachtet und Verbesserungsmöglichkeiten gesucht werden.
Michael Bohne hat in seiner Arbeit sehr anschaulich ausgeführt, wie beschämende Erfahrungen hirnphysiologisch als vorrangige „Gefahreninformation“ abgespeichert werden und in der Folge manches positive Erleben überlagern. In seinen „Big Five der Lösungsblockaden“ beschreibt er Blockaden, die in einem sehr großen Ausmaß auch bei unseren Projekt-Teilnehmenden vorzufinden waren. In der Teilhabeförderung für Menschen in chronifizierten Lebenslagen muss es für uns darum gehen, solche beschämenden Erfahrungen des Scheiterns genauso zu vermeiden wie kurzfristige Erfolgserfahrungen, die die Betroffenen (noch) nicht als Selbstwirksamkeitserfahrung integrieren können, sondern als Glück, Zufall oder als überwiegend externe Unterstützung empfinden (vgl. Sußebach & Willeke, 2019). Wie in jedem guten Management brauchen wir auch für die Teilhabeförderung eine transparente und ehrliche Kultur der Fehlerfreundlichkeit, die Scheitern und Irrtum nicht ausblendet, aber dies als Markierung auf einem eigenverantworteten Entwicklungsweg versteht.
Um solche veränderten Perspektiven plausibel und zu einer effizienten Arbeitsgrundlage werden zu lassen, ist nach unserer Erfahrung eine konsequente fallbezogene Leistungsvernetzung unter der Idee einer gemeinsamen Entwicklungsverantwortung unumgänglich. Bislang legitimiert sich jede Institution über eine abgegrenzte Handlungs- und Leistungsperspektive und wähnt sich in ihrer Abgegrenztheit als wirksamer Partner. Aber erst in einer fallbezogenen Leistungsvernetzung, in der die bestmögliche Förderung gemeinsam in den Blick genommen wird sowie die Möglichkeiten der beteiligten Institutionen und Personen eingefordert und die Grenzen berücksichtigt werden, kann sich eine Teilhabeförderung entwickeln, bei der die Chance auf eine realistische Unterstützung der bestehenden Entwicklungssehnsüchte und -ressourcen der betroffenen Menschen besteht.
Im Projekt Su+Ber haben wir erlebt, wie viel Handlungsenergie im Projekt abgezogen wurde für die Klärung und Einhaltung formalistischer Vorgaben. Wenn Qualität und Effizienz nur noch an formalen Kennwerten gemessen werden, gehen Kreativität und bedarfsorientierte Flexibilität verloren und Entwicklungsförderung verkommt zum Versuch einer Dressur. Entwicklung braucht Zeit, braucht klare, reale Orientierungen, aber auch die Chance zu Irrtümern und Umwegen. In diesem Sinne wünschen wir uns eine Weiterführung von Erfahrungen wie aus unserem Projekt Su+Ber.
„Gesund ist nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat.“ (Giovanni Maio, Medizinethiker)
Textverweise (die Unterlagen sind über den Verfasser erhältlich):
Werkstatt Parität gGmbh: Rahmenkonzeption für eine bei ihrer Arbeitsorientierung leistungsvernetzte ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber. Stuttgart, 12/2016
Sara Specht, Karl Lesehr: Das Landes-ESF-Projekt Su+Ber: Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht. Beitrag zu den 24. Suchttherapietagen in Hamburg. 11.06.2019
Michael Bohne, Sabine Ebersberger: Synergien nutzen mit PEP. Heidelberg 2019 (Carl Auer-Verlag)
Henning Sußebach, Stefan Willeke: „Die Fee von Fulda“, in: DIE ZEIT 15/2019, 4.4.2019
Angaben zum Autor:
Karl Lesehr (70) war 18 Jahre als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er seit 2001 als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und ab 2009 beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der „Fachberatung Sucht“ im von ihm wesentlich initiierten ESF-Projekt Su+Ber hat er in den letzten Jahren noch das Landesprojekt VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung) verantwortet.
In den letzten Jahren kamen viele geflüchtete Menschen nach Deutschland, unter ihnen auch viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF). Dies wirft die Frage auf, ob die Suchthilfe sich auf steigende Zahlen von Hilfesuchenden vorbereiten muss und neue Angebote braucht.
Die Arbeit mit Migrant*innen ist in der Suchthilfe schon seit Jahrzehnten ein wichtiges Thema und bei vielen Trägern fest verankert. Bereits in der Folge des Jugoslawienkrieges und durch den Zuzug vieler Spätaussiedler*innen in den 90er Jahren stellten die Einrichtungen der Suchthilfe viele spezialisierte Angebote für Migrant*innen zur Verfügung. Werden diese ausreichen oder brauchen wir noch mehr und auch andere Angebote aufgrund der aktuellen Zuwanderung?
Suchthilfe und Geflüchtetenhilfe bei Condrobs e.V.
Als einer der größten überkonfessionellen Träger in Bayern bietet Condrobs e.V. sowohl Hilfen für Suchtmittelkonsumierende als auch Hilfen für geflüchtete Menschen an.
Seit der Entstehung des Vereins 1971 wurde die Kernkompetenz, die anfangs in Präventions- und Hilfsmaßnahmen für suchtgefährdete Kinder und Jugendliche lag, ausgebaut und erweitert. Heute umfasst das Spektrum der Suchthilfe bei Condrobs: Beratung, ambulante Therapie und therapeutische Wohngruppen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit psychosozialen Problemen, spezielle Angebote für suchtmittelkonsumierende Frauen und Männer, Substituierte und ältere Konsument*innen sowie Beratung für Angehörige. In Arbeitsprojekten und Beschäftigungsmaßnahmen in den Kontaktläden sowie in zwei sozialen Betrieben erhalten die Klient*innen die Möglichkeit, durch Arbeit und Ausbildung einen Weg zurück in ein selbstbestimmtes und gesundes Leben zu finden.
Mit sechs schwer traumatisierten männlichen Jugendlichen ging die erste Einrichtung für Geflüchtete auf Anfrage der Landeshauptstadt München im Jahr 2010 an den Start. Mittlerweile werden an sieben Standorten in 26 Einrichtungen rund 330 unbegleitete minderjährige Geflüchtete sowie 450 erwachsene Geflüchtete und ihre 70 Kinder von Condrobs betreut. Untergebracht sind die Jugendlichen in therapeutischen Wohngruppen, im Begleiteten Wohnen, im Betreuten Wohnen sowie in einer Wohngruppe für Mädchen und ihre Kinder. Seit 2015 ist Condrobs (im Rahmen des Paritätischen Kooperationsprojekts zur Flüchtlingshilfe) in zwei Einrichtungen auch an der Betreuung erwachsener Geflüchteter beteiligt, darunter die erste Unterkunft in Bayern für allein angekommene Frauen mit und ohne Kinder. Schwerpunkte in der Betreuung sind spezialisierte Hilfen in kleineren Einheiten für traumatisierte Jugendliche, Frauen, Mädchen und Kinder, aber auch für junge Männer und Familien.
Die im Folgenden dargestellten Erfahrungen und Erkenntnisse beruhen auf sechs Betreuungsjahren (seit 2010). Die Fallzahlen waren anfangs aufgrund der geringen Zahl der Betreuten jedoch nicht repräsentativ. Aufgrund der langjährigen Erfahrung in der Suchhilfe insbesondere mit traumatisierten Jugendlichen wurde bei Condrobs der Bedarf in der Arbeit mit geflüchteten Menschen sehr früh erkannt.
Allgemeine Informationen zu Sucht und Flucht bzw. Migration
Die Flüchtenden
Ein Großteil der Geflüchteten ist männlich. Bei den unbegleiteten Minderjährigen werden oft die stärksten und am besten ausgebildeten männlichen Jugendlichen von der Familie auf die Flucht geschickt. Sie haben die besten Überlebensmöglichkeiten und sollen, wenn die Flucht gelingt, finanzielle Unterstützung ins Herkunftsland senden, Familienmitglieder nachholen oder zumindest das ‚Überleben des Blutes‘ sichern. Auch erwachsene Männer fliehen oft erst einmal alleine, da es für Männer wahrscheinlicher ist, die Flucht zu überleben.
Mädchen und Frauen fliehen in der Regel mit männlichem Begleitschutz. Wenn Mädchen und Frauen alleine fliehen, sind die Gründe neben Krieg und Vertreibung in der Regel massive Gewalterfahrungen in den Herkunftsländern: Verstümmelung der Genitalien, Zwangsverheiratung, Zwangsprostitution und Menschenhandel, sexueller Missbrauch und Demütigungen durch Angehörige, aber auch Staatsbedienstete, zum Beispiel im Rahmen von Verhören und Inhaftierungen oder – als Kriegswaffe – bei Massenvergewaltigungen. Wenn Frauen alleine fliehen, sind sie auf der Flucht wieder in Gefahr, massiver Gewalt ausgesetzt zu sein, z. B. von Schleppern, Piraten, Staatsbediensteten und Sicherheitskräften anderer Länder sowie männlichen Mitflüchtlingen.
Die Herkunftsländer
In den Jahren 2016 und 2017 kamen unter den nach Deutschland geflüchteten Menschen die meisten aus Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea und Iran (Tabelle 1). Die Anteile der Herkunftsländer haben sich 2016 gegenüber 2015 deutlich verändert. Die meisten Menschen kamen zwar nach wie vor aus Syrien, die Zahl derer, die aus Afghanistan kamen, hat sich jedoch mehr als vervierfacht, ähnliche Steigerungsraten wurden für Iran und Irak verzeichnet. Aus Eritrea, Pakistan, Nigeria und aus der Russischen Föderation kamen auch weitaus mehr Flüchtlinge als 2015, jedoch ist hier die Zahl der Erstanträge (= erstmalig gestellte Asylanträge) nicht so hoch. Aus den Zahlen wird deutlich, wie stark politische Entwicklungen und Maßnahmen (z. B. die Entwicklung in der Türkei oder diplomatische, wirtschaftliche und politische Interaktionen und Interventionen der EU-Staaten vor Ort wie beispielsweise in Libyen) den Flüchtlingsstrom nach Deutschland beeinflussen. Die Anzahl der geflüchteten Menschen ist 2017 aufgrund der diversen Interventionen deutlich zurückgegangen, die prozentualen Anteile sind aber – bis auf den Anteil von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei, bei denen eine deutliche Zunahme an Erstanträgen zu verzeichnen ist – in etwa gleich geblieben.
Tab. 1: Welche Menschen kommen zu uns? Jahresvergleich der zehn stärksten Herkunftsländer nach Anzahl der Erstanträge. Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF); Asylgeschäftsbericht 12/2017
Der Hilfebedarf
Nach Schätzungen von Dietmar Czycholl (2016) sind von einer Million Geflüchteten ca. 30 bis 60 Prozent traumatisiert, zwischen 40.000 und 80.000 Menschen haben Psychotherapiebedarf. Ungefähr 30.000 Menschen sind bereits substanzabhängig, wenn sie nach Deutschland kommen.
Laut dem Münchner Institut für Therapieforschung (IFT) handelt es sich bei den meisten Diagnosen um verstärkten Alkoholkonsum, gefolgt von Opioid- und Cannabinoidkonsum. Des Weiteren spielen Stimulanzien sowie pathologisches Glücksspiel eine Rolle (Künzel et al., 2017. S. 11 f.).
Erfahrungen aus den Condrobs-Einrichtungen zum Umgang mit Rauschmitteln
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Ungefähr ein Drittel der ankommenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge konsumiert anfangs stark (d. h. regelmäßiger, unter Umständen gesundheitsgefährdender Konsum). Der Schwerpunkt liegt auf dem Konsum von Alkohol, Cannabis, zunehmend auch künstlichen Cannabinoiden und Kokain, überwiegend in Verbindung mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Mit zunehmender Integration und Teilhabe nimmt der Konsum jedoch deutlich ab. Nach Beendigung therapeutischer und betreuender Maßnahmen bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 22 Monaten war bis 2016 bei über 90 Prozent der Klientel in Condrobs-Einrichtungen kein bzw. ein unauffälliger Konsum zu verzeichnen.
Aktuell zeigt sich leider in vielen Einrichtungen eine negative Entwicklung. Circa 40 Prozent der Jugendlichen konsumieren nach längerem Aufenthalt stark, d. h. die Anzahl der Konsument*innen steigt während des Aufenthalts. Gründe hierfür sind vor allem der ungewisse Aufenthaltsstatus sowie der Umstand, dass in diesen Fällen keine Ausbildungs- und/oder Arbeitsmöglichkeit besteht, so dass die jungen Menschen zum Nichtstun verdammt sind.
Es gibt viele weitere Gründe für Suchtmittelkonsum, und diese sind vielfältig: Trennungen, Traumatisierungen und die dadurch verursachten Schlafstörungen und Selbstmedikationen, eine unsichere Zukunftsperspektive, wiederkehrende oder chronische Existenzangst, strukturelle Überforderung im Lebensalltag, unsichere soziale Bindungen und Beziehungen, Unsicherheit und Angst. Auch die Integration in ein fremdes Normen- und Wertesystem und ein anderer Umgang mit Rauschmitteln in den Herkunftsländern begünstigen den Konsum. Zum Beispiel ist Cannabiskonsum in vielen westafrikanischen Ländern üblich und gehört zur Kultur.
Hinzu kommen häufig Langeweile, mangelnde Tagesstruktur, unerfüllte Erwartungen und Versprechen, Identitätssuche zwischen den Kulturen, unklare Erwartungshaltungen Dritter und Schuldgefühle Angehörigen gegenüber. Ein großes Problem bilden durchwegs Sprachbarrieren und der fehlende Zugang zu ausreichend kulturspezifischen Übersetzerinnen und Übersetzern. Bei Jugendlichen kommen diese Probleme erschwerend zu den normalen Entwicklungsaufgaben hinzu.
Eine besondere Rolle spielt bei geflüchteten Jugendlichen ein Schuldempfinden: Während die Familie weiter im Krieg leben muss, sind sie angekommen, in Sicherheit, finden Perspektiven. Gleichzeitig erwarten die Angehörigen, mit Geld unterstützt oder nachgeholt zu werden. Diese Erwartungen können oft nicht erfüllt werden. Unter Umständen wird die Versorgung der Angehörigen in der Heimat zum Problem. Die Folge können Kleinkriminalität, Dealen und Suchtmittelkonsum sein. Der Einfluss durch Landsleute und die gezielte Anwerbung für Kleinhandel lassen die Jugendlichen oft unsicher werden. Die Verlockung, mehr Geld für das Leben im Westen, für Frauen, zu haben, ist stark.
Hinzu kommen außerdem die von Czycholl (2016 u. 2017) beschriebenen generellen Belastungen der Migration. Der anfänglichen Euphorie über die gelungene Flucht folgt die „Dekompensationsphase“, wenn die Realität die geflüchteten Menschen einholt und ernüchtert
Erwachsene Geflüchtete
Die Erfahrungen in der Arbeit mit erwachsenen Geflüchteten werden bei Condrobs seit 2016/2017 erfasst. Hier waren die Fallzahlen von Anfang an repräsentativ.
Anfangs konsumiert auch in dieser Gruppe ungefähr ein Drittel der Betreuten stark, vor allem Alkohol und Cannabis, aber auch Opiate. Bei Frauen spielen Medikamente häufig eine Rolle. Auch bei der Gruppe der erwachsenen Geflüchteten ist eine Zunahme des Konsums während des Aufenthalts zu beobachten. Mindestens 50 Prozent aller Klient*innen werden gemäß ihrem Konsumverhalten als suchtgefährdet eingestuft.
Bei erwachsenen Geflüchteten sind die Hintergründe für Suchtmittelkonsum ähnlich wie bei den Jugendlichen, aber nicht gleich: Manche kommen bereits süchtig an, viele, aktuell mindestens 50 Prozent, sind suchtgefährdet. Circa 70 Prozent der Klient*innen haben eine diagnostizierte PTBS. Die Unterbringungssituation und die Tagesstrukturierung sind deutlich schwieriger als bei Jugendlichen, die im Moment noch nach dem deutschen Sozialgesetzbuch (SGB) VIII versorgt werden. Zum Beispiel gelten in München in den Unterkünften Betreuungsschlüssel von 1:100 für Erwachsene und 1:30 für Kinder. Diese Betreuungsschlüssel sind besser als die bayernweit gültigen – das bayerische Staatsministerium refinanziert nur Betreuungsschlüssel von 1:150 und in den geplanten Ankerzentren in Zukunft vermutlich noch schlechtere Schlüssel. Der Mehraufwand in München wird durch die Landeshauptstadt selbst bezahlt. Dennoch sind die Betreuungsschlüssel bei Weitem nicht ausreichend. Zudem sind Erwachsene und ihre Kinder in Gemeinschaftsunterkünften in der Regel in Mehrbettzimmern untergebracht. Mangelnde Privatsphäre und mangelnde Ruhe auch nachts führen häufig zu Belastungsreaktionen, vor allem zu Schlafstörungen, die wiederum mit Selbstmedikation beantwortet werden.
Wie bei den Jugendlichen verstärken eine mangelnde Integration in Arbeit und daraus resultierende Langeweile, mangelnde Möglichkeiten zur Teilhabe sowie mangelnde Sprachkenntnisse die Negativspirale. Bei erwachsenen Geflüchteten spielt auch eine Rolle, dass viele von ihnen nur geduldet sind oder sich in offenen Verfahren befinden oder dass Abschiebungen bevorstehen. Auch anerkannte Asylbewerber*innen sind häufig gezwungen, weiter in Unterkünften leben, weil Wohnraum nicht vorhanden oder nicht erschwinglich ist. Oft gestaltet sich der Familiennachzug schwierig, und Perspektivlosigkeit und Resignation nehmen zu.
Geflüchtete Frauen
Laut UNO-Flüchtlingskommissariat (UNHCR 2016) sind weltweit über die Hälfte aller Geflüchteten Frauen und Mädchen, die vor Krieg, Gewalt, Terror oder Verfolgung fliehen – aber auch vor Zwangsheirat, genitaler Verstümmelung oder Vergewaltigung (wie oben schon erwähnt). Frauenspezifische Gründe für Suchtmittelkonsum sind daher geschlechtstypische, multiple Traumatisierungen. Auch nach der Flucht sowie in den großen Gemeinschaftsunterkünften sind Frauen und Mädchen besonderen Gefährdungen ausgesetzt. Oft werden sie Opfer sexueller Gewalt durch Sicherheitspersonal oder andere männliche Geflüchtete. Hinzu kommen Konflikte durch unterschiedliche Anforderungen, beispielsweise die Erziehung von Kindern, oder enttäuschte Erwartungen, die nicht selten aufgrund falscher Versprechungen entstehen. Die seelischen Konflikte äußern sich häufig als körperliche Symptome in einem völlig anderen Krankheitsbild. Diese Somatisierung verhindert dann eine frühzeitige Behandlung der psychosozialen Belastung, da das eigentliche Krankheitsbild nicht erkannt bzw. fehlinterpretiert wird.
Wie geflüchtete Männer auch, können geflüchtete Frauen über ihre psychischen Probleme in der Regel nicht sprechen. In den Herkunftsländern sind psychische Erkrankungen tabuisiert, und es gibt keine Begrifflichkeiten und kein Verständnis hierfür. Oft sind somatische Beschwerden ein Ventil. Die somatischen Beschwerden können von den Frauen benannt werden, und mit diesen können sie auch medizinische Hilfe einfordern. Häufig bekommen sie dann Medikamente verschrieben, von Schlafmitteln bis zu Psychopharmaka, und diese konsumieren sie regelmäßig und in hohen Dosen. Durchaus werden verschreibungspflichtige Medikamente auch unter der Hand weitergegeben oder verkauft und mehrere Ärztinnen und Ärzte konsultiert, um hohe Dosen erlangen zu können.
Methoden und Lösungsansätze auf Basis der Erfahrungen
In den letzten Jahren ist die Zahl der Hilfesuchenden mit Fluchthintergrund in der Suchthilfe gestiegen. Die zentrale Beratungsstelle von Condrobs in München verzeichnete 2016 im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme um knapp 60 Prozent bei Migrant*innen, die aus den Ländern Afghanistan, Irak, Somalia und Tunesien kamen (Tabelle 2). Auch 2017 blieb der Anteil dieser Menschen hoch. Obwohl die Leistungen von Beratungsstellen offiziell erst nach einer Aufenthaltsdauer von 15 Monaten oder mit geklärtem Status in Anspruch genommen werden dürfen, werden Beratungen in Einzelfällen geduldet.
Tab. 2: Staatsangehörigkeit der Klient*innen in einer Suchtberatungsstelle. Quelle: Condrobs, 2017
Neben weiteren Beratungsgesprächen besteht bei geklärtem Aufenthaltsstatus und ausreichend guten Deutschkenntnissen die Möglichkeit zur Vermittlung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe sowie zur Beantragung von stationärer und ambulanter Rehabilitation. In Notfällen kann eine Entgiftung mittels Klinikeinweisung erfolgen.
Die Erfahrungen in der Suchthilfe zeigen, dass von den Klient*innen mit Migrationshintergrund (inklusive Angehörige) 2016 und 2017 jeweils ein größerer Anteil den Kontakt zur Beratungsstelle vorzeitig beendet als von den Klient*innen ohne Migrationshintergrund. Gleichzeitig beenden von den Klient*innen mit Migrationshintergrund deutlich mehr eine ambulante Rehabilitation regulär als von den Klient*innen ohne Migrationshintergrund (2016: 80,0 Prozent vs. 41,4 Prozent; siehe Abbildungen 1a und 1b). Die Zahlen belegen somit, dass Suchthilfe erfolgreich ist, wenn die Anbindung gelingt.
Abb. 1a) Beispiel Beratungsstelle: Beendigungen/Erfolge 2017, Klient*innen mit Migrationshintergrund. Quelle: Condrobs 2017Abb. 1b) Beispiel Beratungsstelle: Beendigungen/Erfolge 2017, Klient*innen ohne Migrationshintergrund. Quelle: Condrobs 2017
Verstehen und Verständnis
Die Sprachbarriere stellt das größte Hindernis für erfolgreiche Suchthilfe dar. In den ersten 15 Monaten und bei unsicherem Status findet die Beratung vorwiegend mit Dolmetscher*innen statt. Eine große Rolle spielt der Faktor Zeit. Bereits die Anbahnung von Beratungsgesprächen braucht mehr Zeit: Wie sind die Deutschkenntnisse der/des Hilfesuchenden? Muss eine Dolmetscherin/ein Dolmetscher hinzugezogen werden? Die Verständigung muss in jedem Fall sichergestellt werden.
Wichtig sind des Weiteren ein freundlicher Empfang und vor allem Offenheit, damit sich niemand abgewiesen vorkommt. Die Berater*innen lassen die Klient*innen ankommen, nehmen ihre Bedürfnisse wahr und schaffen eine Atmosphäre des Vertrauens. Viel Zeit gehört neben Verständnis zu den wichtigsten Faktoren. Smalltalk spielt in vielen der Kulturen, aus denen die Geflüchteten kommen, eine wichtige Rolle. Oft werden die eigentlichen Probleme erst angesprochen, wenn sehr lange über vieles andere gesprochen wurde und es dabei gelungen ist, ein erstes Vertrauensverhältnis zu schaffen.
Kultursensibles Arbeiten
Interkulturelle Suchthilfe muss viele Aspekte beachten: die Kultur und die politische Situation im Herkunftsland, der Umgang mit den Geschlechtern, mit Hierarchien und mit Religion, das Stadt-Land-Gefälle, das Kommunikationsverhalten und vieles mehr.
Geflüchtete haben oft keine Vorstellung von Institutionen in unserer Gesellschaft und können unsere Hilfeeinrichtungen somit nicht einordnen. Sind sie staatlich oder privat? Sind sie kirchlich und verfolgen einen bestimmten Zweck? Die Skepsis ist groß, und dementsprechend sind auch hier Zeit und Geduld gefragt, um Vertrauen aufzubauen.
In vielen Ländern zählt das Kollektiv mehr als das Individuum – es kommt eher auf die Harmonie des Ganzen an, und die/der Einzelne muss ihre/seine Bedürfnisse denen der Allgemeinheit unterordnen. Somit ist es schwierig für Einzelne, über ihre individuellen Probleme zu sprechen. Auch die Sprachformen sind oft sehr anders, es wird von „man“ und „wir“ gesprochen, auch wenn jemand sich selbst meint. Der Begriff der Ehre hat in manchen Kulturkreisen eine sehr differenzierte Bedeutung. Eine ‚Ehrverletzung‘ kann vor allem für Männer als sehr schlimm empfunden werden, teilweise schlimmer als der Tod. Auch kommt es oft vor, dass Familienmitglieder und Freunde sich für die Ehre eines Mitglieds/Freundes mitverantwortlich fühlen und diese im Zweifel auch verteidigen, selbst wenn sie sich dadurch persönlich in Gefahr bringen.
Kultursensible Arbeit knüpft an die Ressourcen der Migrant*innen an, nicht an ihre Defizite (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2005). In Krisen müssen die Menschen gehalten – nicht entlassen – werden. Eine professionelle Herangehensweise in der Begegnung mit Geflüchteten ist absolut notwendig. Persönliche Haltung, soziale Kompetenzen sowie Strategien, um Sprachbarrieren zu überwinden und Informationslücken zu schließen, sind grundlegende Voraussetzungen, um eine interkulturelle Verständigung zu schaffen. Fachkräfte sollten über Methodenvielfalt verfügen, um mit Migrant*innen nicht nur über Sprache, sondern zum Beispiel auch über gestalterische, körperbetonte oder kunsttherapeutische Methoden kommunizieren zu können.
Die Fachkräfte müssen gut begleitet werden durch Fallbesprechungen und regelmäßige Supervision. Um qualitativ hochwertige Grundlagen für die Arbeit mit Geflüchteten zu entwickeln, ist ein professionelles Programm zur Fort- und Weiterbildung der Asylsozial- und Migrationsberater*innen unabdingbar. Eine enge und verlässliche Kooperation mit Fachärzten, Kliniken und anderen Hilfeeinrichtungen schafft ein Netzwerk der Unterstützung über die Grenzen und Möglichkeiten der einzelnen Beratungsstelle oder Einrichtung hinaus.
Eingliederungsmaßnahmen von Anfang an
Die Erfahrungen der Condrobs-Einrichtungen zeigen, dass der Konsum von Suchtmitteln mit fortschreitender, gelingender Integration und Teilhabe abnimmt. Je besser die Integration gelingt und je schneller Integration und Teilhabe ermöglicht werden, desto weniger Sucht- und auch andere Komplikationen sind bei den Migrant*innen zu erwarten. Daher sind umfassende Eingliederungsmaßnahmen und frühe Hilfen bereits bei der Ankunft im neuen Land wichtig, um eine Suchtentwicklung zu verhindern.
Die Realität sieht anders aus: Erst für Leistungsberechtigte, die sich mindestens 15 Monate im Bundesgebiet aufhalten, gelten die Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) in Bezug auf Eingliederungsleistungen. Flüchtlinge, die noch nicht so lange in Deutschland sind, erhalten dagegen nur bei akuten Erkrankungen oder Schmerzzuständen Hilfe. Dies führt zu vielen Problemen, denn Psychotherapien für traumatisierte Flüchtlinge und Suchthilfeleistungen werden verweigert, da sie nicht als akute Erkrankung gelten.
Fazit
Geflüchtete kommen bereits an in den Einrichtungen der Suchthilfe. Die Zahl der Traumatisierungen in den Condrobs-Einrichtungen ist höher als erwartet, der Suchtmittelkonsum war ursprünglich so hoch wie erwartet, mittlerweile ist er jedoch höher wegen teilweise schwieriger Perspektiven, Behandlungsbarrieren, Sprachbarrieren, mangelnder Integration sowie mangelnder Traumabehandlungs- und Psychotherapiemöglichkeiten.
Aus den Erfahrungen in den Condrobs-Einrichtungen lassen sich folgende Forderungen ableiten, um den Unterstützungsbedarf geflüchteter Menschen in Bezug auf ihre psychische Gesundheit abzudecken:
Geflüchteten Menschen bzw. Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sollen vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an Eingliederungsleistungen gemäß §§ 53 ff. SGB XII in Verbindung mit SGB IX offenstehen.
Der Bedarf an Suchthilfeleistungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe gemäß SGB VIII für Geflüchtete ist hoch. Diese Leistungen müssen von Beginn an gewährt werden.
Es müssen genügend spezialisierte Hilfen für Menschen mit Fluchthintergrund zur Verfügung gestellt werden, insbesondere Traumatherapie-Angebote. Traumata müssen als akute Gesundheitsprobleme anerkannt werden.
Beschäftigte in Unterstützungssystemen müssen Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund umfassend beraten und unterstützen können, damit diese die geeigneten Hilfen in Anspruch nehmen können.
Gesundheitsbezogene Hilfeangebote inklusive der Suchthilfe brauchen Zugang zu ausreichend kulturspezifischen Dolmetscherinnen und Dolmetschern.
Beschäftigte in Unterstützungssystemen müssen vor allem im Hinblick auf die Ausnahmen, die das Asylbewerberleistungsgesetz oder kommunale Bestimmungen zulassen, umfassend geschult werden. Nur so können sie geflüchtete Menschen optimal unterstützen. Zudem brauchen die Beschäftigten und die Ehrenamtlichen Hintergrundwissen zum Umgang mit Krankheiten, Traumata und Suchtmitteln in den jeweiligen Herkunftsländern, um einschätzen zu können, wie hoch der Hilfebedarf ist und welche Art von Hilfe die richtige ist.
In Bezug auf Geflüchtete und Suchtmittelkonsum sind spezielle Präventionsangebote wichtig. Frühe Hilfen sind wichtig, um eine Chronifizierung zu vermeiden.
Die Mitarbeitenden in der Suchthilfe müssen sich darauf einstellen, dass der Anteil der Menschen mit Fluchthintergrund steigen wird. Daher werden Therapeut*innen mit entsprechenden Sprachkenntnissen oder Behandlungsmöglichkeiten unter Einbezug von Dolmetscher*innen sowie traumatherapeutisch ausgebildetes Personal und weiteres interkulturelles Know-how dringend benötigt. Zudem ist Suchthilfe mit Geflüchteten zeitintensiver. Sie ist nicht einfach zusätzlich zu bewältigen.
Wichtig sind eine schnelle Integration und Teilhabe – je besser die Integration gelingt, umso weniger Sucht- und auch andere Probleme sind zu erwarten.
Eva Egartner ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin DGSv. Sie ist Geschäftsführende Vorsitzende des Condrobs e.V., München.
Beate Zornig-Jelen ist Kommunikationswissenschaftlerin M.A.
Literatur:
Ameskamp, D., Kuhlmann, T., Leicht, A., Meyer-Thompson, H.-G., Quellhorst, S., Tretter, F., Wessel, T.: Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit. Die Hürden zur Behandlung, Text anlässlich des Treffens zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland – eine Herausforderung auch für die Sucht- und Drogenpolitik?“, Berlin, München, Bergisch-Gladbach, Hamburg, 22. Juni 2016
Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Berlin 2005
Czycholl, D.: Flucht und Migration – Zahlen, Fakten und Gedanken, Vortrag, 25. Paritätisches Fachgespräch Suchthilfe des fdr, Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V., Berlin 2016, S. 23-40
Czycholl, D.: Integration heißt Erneuerung: Beiträge zu Migration und Sucht, Pabst Science Publishers, Lengerich 2017
Ethno-Medizinisches Zentrum e.V. (Hrsg.): Gewaltschutz für Frauen in Deutschland – Ratgeber für geflüchtete Frauen, Migrantinnen und Jugendliche, Hannover 2016
Europäisches Parlament: Bericht über die Lage weiblicher Flüchtlinge und Asylsuchender in der EU (2015/2325(INI)), Berichterstatterin: Mary Honeyball, 10.02.2016
European Parliament, Policy Department C: Reception of female refugees and asylum seekers in the EU, Case study Germany, Study for the Femm Committee, 2016
Kimil, A., Salman, R.: Migration und Sucht, in: Hegemann, T., Salman, R., Handbuch Transkulturelle Psychiatrie, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010, S. 368-382
Künzel, J., Steppan, M., Pfeiffer-Gerschel, T.: Klienten mit Migrationshintergrund in ambulanter und stationärer Suchtbehandlung, Kurzbericht Nr.1/2013, Deutsche Suchthilfestatistik 2011, IFT Institut für Therapieforschung, München 2013
Künzel, J., Specht, S., Dauber, H., Braun, B.: Die Klientel mit Migrationshintergrund in ambulanter und stationärer Suchtbehandlung. Kurzbericht Nr.1/2018 – Ergänzung zum Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik 2016 (Thaller et al., 2017), München 2017
Salman, R.: Gesunde Integration: Interkulturelle Suchthilfe als Beitrag zur Integration, Tagungstext (Institut Suchtprävention, Linz), 2008
Salman R., Tuna. S., Lessing, A. (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Suchthilfe. Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie, Psychosozial Verlag, Gießen 1999
Sánchez Dionis, M., Timar, M., Domscheit-Berg, A.: Geflüchtete Frauen und Mädchen vor Gewalt schützen, World Future Council, 2016
Thaller, R., Specht, S., Künzel, J., Braun, B.: Suchthilfe in Deutschland, Jahresbericht der deutschen Suchthilfestatistik (DSHS), IFT Institut für Therapieforschung, München 2017
Tretter, F., Arnold, M.: Dokumentation BAS e.V. Workshop Suchtprobleme bei Flüchtlingen, München, 03.03.2016, Bayerische Akademie für Suchtfragen e.V., München 2016
Das Factsheet gibt Empfehlungen für die Suchtprävention und hält spezielle Informationen für Fachkräfte und Multiplikatoren aus der Suchthilfe bereit. Dargestellt werden z. B. Konsumenten-Typen und Konsummotive, Bezugs- und Informationsquellen von Konsumenten, Indikatoren für einen NpS-Konsum, Tipps für den Umgang mit NpS-Konsumenten in der Beratungsstelle sowie Schnittstellen zu Kooperationspartnern. Der Anhang widmet sich dem Verhalten im Drogennotfall und Minimalregeln zur Risikominimierung.
Das 44-seitige Factsheet kann über die Online-Infobörse „Neue Drogen“ heruntergeladen werden. Die Website http://infoboerse-neue-drogen.de/ ist im Dezember 2017 an den Start gegangen und richtet sich an alle, die mit dem Thema NpS zu tun haben: Konsumenten, Angehörige, Fachstellen der Suchtversorgung sowie der Jungendhilfe etc. Sie hält ein breit angelegtes Informations- und Beratungsangebot vor. Projektträger ist der Landes-Caritasverband Bayern e.V.
Seit 15. Dezember ist der jährlich erscheinende „Bericht zur Drogensituation in Deutschland“, früher unter dem Namen „REITOX-Bericht“ bekannt, online verfügbar. Das Standardwerk zur Situation illegaler Drogen in Deutschland liefert in acht thematisch in sich geschlossenen Kapiteln („Workbooks“) umfangreiche Informationen zu den verschiedenen Aspekten des Phänomens illegale Drogen in Deutschland.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Der heute vorgelegte Bericht zeigt, dass wir mit unseren Maßnahmen gegen den Konsum von illegalen Drogen zwar vieles, aber längst noch nicht alles erreicht haben. In weiten Teilen ist der Konsum illegaler Drogen in Deutschland stabil. Was wir in den kommenden Jahren aber ganz dringend brauchen, ist eine wirklich flächendeckende Präventionsarbeit in Sachen Cannabis. Keine andere illegale Droge ist so weit verbreitet, und keine andere führt so viele Menschen in ambulante und stationäre Therapieangebote. Ganz klar ist auch, dass die Versorgung suchtkranker Menschen in und nach der Haft besser werden muss und wir mehr gegen die Stigmatisierung suchtkranker Menschen tun müssen. Sucht ist eine Krankheit und als solche müssen wir sie behandeln.“
Nach den Ergebnissen des Epidemiologischen Suchtsurveys 2015 hat mehr als jeder vierte erwachsene Deutsche (zwischen 18 und 64 Jahren) bereits mindestens einmal im Leben illegale Drogen konsumiert. Cannabis ist dabei unverändert die mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Droge: Unter den 12- bis 17-Jährigen gaben 7,3 Prozent an, in den letzten zwölf Monaten wenigstens einmal Cannabis konsumiert zu haben, bei den 18- bis 64-Jährigen waren es 6,1 Prozent. Über die letzten 25 Jahre hinweg zeigt die Cannabisprävalenz mit Schwankungen einen insgesamt zunehmenden Trend. Der Wirkstoffgehalt des in Deutschland sichergestellten Cannabis steigt seit Jahren an und hat in diesem Jahr erneut einen Höchststand erreicht. Der markanteste Anstieg von Wirkstoffgehalten ist in diesem Jahr aber bei den Amphetaminen zu verzeichnen: von 2015 auf 2016 hat er sich vervierfacht. Für MDMA lässt sich eine Verdopplung des Wirkstoffgehaltes verzeichnen.
Unter den Stimulanzien dominieren in Deutschland bei den 18- bis 64-Jährigen die Amphetamine mit einer 12-Monats-Prävaenz von einem Prozent. Während Indikatoren aus Strafverfolgung und Behandlung in den letzten Jahren auf eine steigende Bedeutung von Amphetamin und Methamphetamin hinweisen, zeichnet sich dieser Anstieg in den bundesweiten Erhebungen in der Allgemeinbevölkerung nicht ab.
Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Leiter der DBDD: „Das Drogenangebot und die Konsumgewohnheiten verändern sich zunehmend. Dies erfordert im Sinne einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Drogensituation ein Bündel aus verschiedenen Maßnahmen, die dieser wachsenden Komplexität gerecht werden. Dazu gehören z. B. sowohl die Entwicklung weiterer Präventionsangebote insbesondere im Bereich der neuen psychoaktiven Stoffe (NPS) als auch der Einsatz des Medikamentes Naloxon, um tödliche Überdosierungen unter Konsumentinnen und Konsumenten von Opiaten – vor allem Heroin – zu verhindern. Auch die Erweiterung der Angebote zur Cannabisprävention liegt angesichts der Verbreitung dieser Droge nahe, um negative gesundheitliche und soziale Folgen des Konsums zu minimieren.“
Maßnahmen zur Prävention des Konsums illegaler Drogen werden in Deutschland regelmäßig und zielgruppenspezifisch auf kommunaler, regionaler und Bundesebene durchgeführt. Im Jahr 2016 haben die kommunalen Fachkräfte mehr als 34.000 suchtpräventive Maßnahmen dokumentiert. Die am häufigsten thematisierte illegale Substanz war Cannabis, gefolgt von amphetaminartigen Stimulanzien. Mit seiner hohen Reichweite trägt das Informationsportal www.drugcom.de der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wesentlich zur Prävention des Konsums illegaler Drogen bei. Das BZgA-Portal bietet neben Wissens- und Selbsttests auch ein individualisiertes Verhaltensänderungsprogramm zur Reduzierung des Cannabiskonsums.
Der vorliegende „Bericht zur Drogensituation in Deutschland“ wird jährlich durch die Deutsche Drogenbeobachtungsstelle (DBDD) als Beitrag zum Europäischen Drogenbericht erstellt. Die acht Workbooks, ein zehnseitiger deutschsprachiger Kurzbericht sowie die aktuellen Veröffentlichungen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) finden Sie unter www.dbdd.de.
Gemeinsame Pressemitteilung der Bundesdrogenbeauftragten und der DBDD, 15.12.2017
Hinter Langzeitarbeitslosigkeit verbirgt sich oft auch eine Suchtproblematik. Diese Erkenntnis brachte das Jobcenter und den Caritasverband in Osnabrück zusammen an einen Tisch. Heraus kam das erfolgreiche Kooperationsprojekt „Chancen und Wege“, das mittlerweile seit fünf Jahren läuft. Die Teilnehmer/ innen des Programmes sind Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. „Chancen und Wege“ unterstützt sie mittels Arbeitsmöglichkeiten und sozialpädagogischer Betreuung dabei, sich Schritt für Schritt auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten und Vermittlungshemmnisse abzubauen.
Der problematische Konsum von Suchtmitteln, verhaltensbezogene Störungen, Komorbiditäten und psychische Erkrankungen sind Hemmnisse, die die (Wieder-)Eingliederung in den Erwerbsbezug verhindern können. Für Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen findet zu wenig adäquate Förderung statt, um Vermittlungsergebnisse und eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation zu erzielen. Zu dieser Erkenntnis gelangte auch das Jobcenter Osnabrück im Zuge der Umsetzung des SGB II. Die persönlichen Ansprechpartner/innen des Jobcenters sowie die Fallmanager/innen vermitteln zwar erfolgreich in Arbeit, jedoch ist es ihnen aufgrund ihrer hohen Fallzahlen nicht möglich, ihre Kunden so intensiv wie in einer Maßnahme zu begleiten. Außerdem wurde eine Suchtproblematik als wichtiges Thema vieler Arbeitsuchender erkannt.
Gemeinsames Ziel: Stabilität schaffen durch Struktur
Aus diesen Gründen schrieb das Jobcenter über das Regionale Einkaufszentrum Nord eine Maßnahme aus, welche folgende Inhalte aufweisen sollte: Die Maßnahme sollte tagesstrukturierend sein, auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, zielgruppenspezifische Angebote umfassen und eine intensive Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse ermöglichen. Mitarbeiter der Suchtberatung des Caritasverbandes in Osnabrück erarbeiteten daraufhin ein Konzept, das explizit diese Zielgruppe mit den entsprechenden Vermittlungshemmnissen erreichen sollte. Durch die suchtspezifische Fachlichkeit, die Nähe zur Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation, aber auch zu anderen Fachbereichen und Kooperationspartnern, sollte der Zugang erleichtert werden, und Schwellenängste der Teilnehmenden sollten verringert werden. Nicht allein die Preiskalkulation, sondern die Qualität der Maßnahme stand dabei im Vordergrund. Der Caritasverband Osnabrück bekam den Zuschlag zunächst für ein Jahr. Inzwischen läuft die Maßnahme im fünften Jahr nach der dritten Ausschreibung, diesmal voraussichtlich bis 2019.
Das so zustande gekommene Projekt „Chancen und Wege“ (CuW) ist eine Maßnahme zur Aktivierung und Stabilisierung von erwerbsfähigen Erwachsenen nach § 16 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Die Teilnehmenden im Alter von über 25 Jahren weisen zahlreiche Vermittlungshemmnisse auf. Ziele der Maßnahme sind die Feststellung, Verringerung oder Beseitigung der Vermittlungshemmnisse und die Heranführung der Teilnehmenden an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Im besten Fall gelingt nach der Aktivierung und Stabilisierung die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die weiterbegleitet und nachbetreut werden kann.
An der Maßnahme „Chancen und Wege“ haben seit 2012 247 Personen teilgenommen. Davon konnten 227 Teilnehmende aktiviert werden. Das heißt, je nach Vermittlungshemmnis wurden gemeinsam individuelle Zielvereinbarungen erstellt, und die Teilnehmenden wurden zu weiterführenden Fachstellen begleitet. Hierbei kann es sich um Schuldnerberatung, Wohnungscoaching, Ambulant betreutes Wohnen, Integrationsfachdienst, Rechtliche Betreuung, Ambulante Assistenz oder fachärztliche Behandlungen handeln.
Seit Juli 2014 wird die Maßnahme gemeinsam in Bietergemeinschaft mit der Dekra Akademie GmbH an einem gemeinsamen Standort durchgeführt. Sowohl die Möglichkeiten der praktischen Erprobung als auch die Netzwerke innerhalb der Dekra Akademie bieten den Teilnehmenden mehr Optionen für ihre beruflichen Perspektiven.
Voraussetzungen für die Bewerbung und Durchführung sind die Trägerzertifizierung und die Maßnahmezulassung nach AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung). Das AZAV-Zulassungsverfahren für Träger und Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung soll die Qualität der Dienstleistungen nachhaltig verbessern sowie Vergleichbarkeit und Transparenz unter den Dienstleistern herstellen. Die Maßnahme wird jährlich extern auditiert.
Aufbau des Programms
„Chancen und Wege“ verfügt über 44 Teilnehmerplätze. Das Jobcenter schließt mit den Teilnehmenden eine Eingliederungsvereinbarung über die Teilnahme bei CuW und vereinbart eine gegenseitige Schweigepflichtsentbindung. Am Ende der Zuweisungsdauer erstellt die zuständige Sozialpädagogin einen Abschlussbericht über den Maßnameverlauf. Dies ist für den Fallmanager im Jobcenter hilfreich, damit weitere Handlungsschritte geplant werden können.
Die Teilnehmenden werden in drei Gruppen aufgeteilt und erhalten zu Beginn der Maßnahme einen Wochenplan (s. Abb. 2). Jede Gruppe erscheint an drei Tagen pro Woche für insgesamt mindestens 15 Stunden. Davon finden an zwei Tagen Lernmodule zum Training sozialer Kompetenzen, Gesundheitsförderung und Bewerbungscoaching statt. Zudem begeben sich die Teilnehmenden selbstständig auf Stellensuche und aktualisieren ihre Bewerbungsunterlagen. Einmal pro Woche bereiten sie gemeinsam ein gesundes Frühstück zu. Am Praxistag werden vier Gewerke (Holz, Metall, Lagerlogistik und Handel) angeboten. Die Teilnehmenden werden dazu angeregt, gemeinsam als Gruppe Projekte zu planen und umzusetzen. So stellen sie kleine Möbel und Gegenstände für den Gemeinschaftsbereich sowie nützliche Utensilien für den Eigengebrauch her. Weitere Arbeitserprobungen erfolgen bei begleiteten Praktika in externen Betrieben. Die Qualifizierungsmodule im EDV-Bereich festigen bestehendes Wissen und vertiefen es, ein Zertifikat wird nach erfolgreicher Teilnahme ausgestellt.
Abb. 2: Beispiel für einen Wochenplan
Kooperation zwischen „Chancen und Wege“ und Fachambulanz
Die Teilnehmenden werden individuell über Angebote der Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation des Caritasverbandes Osnabrück informiert. Die Vermittlung und Begleitung erfolgt über die zuständige Sozialpädagogin. So werden Berührungsängste verringert und Erstkontakte hergestellt. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen CuW und Fachambulanz gelingt oftmals ein erfolgversprechender Prozess für die Teilnehmenden. Viele werden im Verlauf der Maßnahme der Beratungsstelle zugeführt. Langfristig konnten Beratungs- und therapeutische Settings in der Fachambulanz bei gut einem Viertel der Teilnehmenden etabliert werden.
Auch nach einer erfolgreich beendeten Rehabilitation hat sich die Kooperation zwischen Fachambulanz und CuW als effektiv erwiesen. Das bedeutet, auch Personen in der Adaption, der ambulanten Behandlung oder Nachsorge können an CuW teilnehmen, um die in der Rehabilitation erlernten Schritte im Alltag umzusetzen. Gerade hier sind Strukturen und berufliche Perspektiven wichtig, um langfristig konsumfrei zu leben. Die Grundlagen für eine dauerhafte Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft können über diesen Weg geschaffen werden. Abbildung 3 stellt die Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“ dar.
Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“
Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung
Neben den persönlichen Einzelgesprächen und dem Jobcoaching ist die Teilnahme am SKOLL-Training möglich. Dies wird in regelmäßigen Abständen angeboten. Die Ergebnisse der Maßnahme lassen die Überzeugung zu, dass die Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung bei der Wiedereingliederung in den Erwerbsbezug zu erheblichen Verbesserungen führen kann. Mit SKOLL im Settingansatz kann hier ein effektiver Beitrag geleistet werden.
Das SKOLL Training beinhaltet zehn Trainingseinheiten, in denen es um den verantwortungsbewussten Umgang mit dem Suchtmittel bei riskantem Konsumverhalten geht. Im Mittelpunkt der Arbeit steht weniger die Abstinenz als die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Ziel des Trainings ist es, den Konsum zu stabilisieren, zu reduzieren oder ganz einzustellen. Der Umgang mit Suchtdruck und sozialem Druck wird geübt, Stressbewältigung gelernt und ein Krisenplan erarbeitet. So werden Veränderungsprozesse bei riskant konsumierenden Menschen eingeleitet, und die Arbeitsfähigkeit wird wiederhergestellt.
Diese vielfältigen Ansätze und Angebote werden gerne genutzt, die Teilnehmenden fühlen sich in der Regel durch die Maßnahme gut begleitet. Dies wird in regelmäßigen Abfragen zur Kundenzufriedenheit und durch den monatlichen Austausch mit den „Maßnahmepatinnen“ des Jobcenters deutlich.
Die sozialpädagogische Begleitung
Die sozialpädagogische Begleitung ist das Herzstück der Maßnahme. Es finden regelmäßig Einzelgespräche statt, um die individuellen Vermittlungshemmnisse zu thematisieren und sie mithilfe von Zielvereinbarungen und durch Unterstützung zu verändern. In einem Aktivierungs- und Fortschrittsplan werden der Gesprächsverlauf und die Zielsetzungen für den Teilnehmer dokumentiert.
Die Förderung der sozialintegrativen Aktivitäten nimmt einen hohen Stellenwert ein. Persönliche Kompetenzen wie Selbsteinschätzung und die Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit wie auch lebenspraktische Fertigkeiten wie Verlässlichkeit, Selbstorganisation und äußeres Erscheinungsbild sind wichtige Faktoren bei der Arbeitsplatzsuche. Die Teilnehmenden lernen, dem Tag wieder eine Struktur zu geben, sich für eine Sache oder ein Projekt zu begeistern. Soziale Kompetenzen, wie z. B. im Team zielorientiert zusammenzuarbeiten, Konflikte konstruktiv zu lösen und die Meinung des anderen zu respektieren, können entwickelt und vertieft werden. Teilnehmende bringen ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen und beruflichen Kenntnisse für ihr Team ein. Eine besondere Aktivierung und Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung wird über die „Kompetenzbilanz“, ein ressourcenaktivierendes Coachingverfahren, erzielt.
Häufig werden bei Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblematik neben den substanz- und verhaltensbezogenen Auffälligkeiten weitere Vermittlungshemmnisse festgestellt wie geringe Sozialkompetenz, mangelhafte oder fehlende fachliche Qualifizierungen, fehlende Schulabschlüsse und Ausbildungen, wenig ausgebildete Grundfertigkeiten sowie eine fehlende Tagesstruktur. Weitere gesundheitliche Probleme wie Hepatitis oder Herz- und Kreislauferkrankungen, verbunden mit fehlender Krankheits- und Problemeinsicht, gehen häufig mit stark beeinträchtigtem Selbstwertgefühl und mangelnder Motivation einher. Aber auch eingeschränkte Mobilität durch den Verlust oder das Fehlen eines Führerscheins oder finanzielle Schwierigkeiten stellen für viele Personen der Zielgruppe große Hemmnisse dar.
Weitere Eingliederungshemmnisse dieser Zielgruppe können auch eine unkontrollierte Substitutionsbehandlung und die Nichteinhaltung von Auflagen sein, Probleme in und mit der Familie wie frühe Elternschaft, Trennung und/oder Scheidung, Tod eines Familienangehörigen oder Partners, Gewalt in der Familie und Erziehungsschwierigkeiten. Kaum erlebte (positive) Erfahrungswerte auf dem ersten Arbeitsmarkt, verbunden mit mangelnder Kenntnis von Arbeitstugenden und Perspektivlosigkeit, kennzeichnen die Zielgruppe.
Abbau von Hemmnissen erhöht Jobchancen
Im Durchschnitt wurden im letzten Maßnahmejahr zehn Vermittlungshemmnisse bei den Teilnehmenden festgestellt. Die zügig in den ersten Arbeitsmarkt vermittelten Personen wiesen demgegenüber durchschnittlich nur 7,5 Hemmnisse auf. Aufgrund der Fallzahlen kann nicht von einer statistischen Signifikanz ausgegangen werden. Aber die Ergebnisse können als Hinweis interpretiert werden, dass der Abbau von Hemmnissen die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich erhöht.
Eine erfolgreiche Vermittlung wurde durch die regelmäßige Ansprache von Arbeitgebern durch die Jobcoaches der DEKRA Akademie GmbH initiiert. Dabei werden die Vermittlungsprozesse selbst häufig durch vorausgehende Arbeitserprobungen eingeleitet. Mit den Teilnehmern, die in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, kann eine Nachbetreuungsvereinbarung geschlossen werden. Sie umfasst regelmäßige Gespräche über die Entwicklung am Arbeitsplatz sowie die persönliche Situation.
Die enge Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Osnabrück, insbesondere den „Maßnahmepatinnen“ im Fallmanagement, mit den persönlichen Ansprechpartnern und den Mitarbeitenden im Arbeitgeberservice hat sich sehr bewährt. Die vielfältigen Kooperationen tragen zu einem guten Ergebnis zugunsten der Förderung der Teilnehmenden in der Maßnahme „Chancen und Wege“ stark bei.
Fallbeispiel Herr Z
Herr Z ist Teilnehmer der Maßnahme „Chancen und Wege“. In seiner Biographie spielte das Thema Alkohol schon seit der Kindheit eine Rolle. Er hat den Hauptschulabschluss gerade eben noch geschafft. Die Arbeitsbiographie ist geprägt von diversen Helfertätigkeiten und Gelegenheitsjobs. Zwischendurch kam es immer wieder zu Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgrund fehlender Motivation und einer Alkoholabhängigkeit. Neben den geringen beruflichen Kenntnissen bestehen aufgrund des langjährigen Alkoholkonsums gesundheitliche Beschwerden (kognitive Einschränkungen, Sensibilitätsstörungen im rechten Arm) und hohe Schulden. Weiterhin besteht die Gefahr einer sozialen Exklusion. Nach eigenen Angaben fällt es ihm schwer, außerhalb der Szene Kontakte zu knüpfen. Er ist mittleren Alters und möchte seine Rentenansprüche aufbessern. Es geht hier exemplarisch also um folgende Vermittlungshemmnisse:
Gesundheitliche Einschränkungen aufgrund einer Suchterkrankung
Hohe Schulden
Geringe berufliche Kenntnisse
Herr Z ist motiviert und nimmt pünktlich und zuverlässig an der Maßnahme teil. Seine kognitiven Fähigkeiten sind ausbaufähig. Seine Konzentrations- und Merkfähigkeiten sind schwach ausgeprägt, und er wirkt schnell überfordert. Es ist schon längere Zeit her, dass er konzentriert Aufgaben bearbeiten sollte. Durch Gedächtnistraining, Lesen in der Gruppe und selbstständige Bearbeitung von Arbeitsblättern wird er angeregt, diese Fähigkeiten zu trainieren.
Im Verlauf der nächsten Wochen wird mit Herrn Z der Aktivierungs- und Integrationsfortschrittsplan erstellt. Hier werden die verschiedenen Lebensbereiche wie Gesundheit, soziales Netzwerk, Arbeit und Ausbildung, Finanzen und Wohnung besprochen. Auch ist es wichtig zu erfassen, ob bereits Unterstützung und Netzwerke an anderer Stelle bestehen (Kontakt zur Suchtberatung, Selbsthilfegruppe, ambulante Assistenz etc.). Gemeinsam verschaffen sich die Sozialpädagogin und Herr Z einen Überblick zu Unterstützungsbedarf und vorhandenen Kompetenzen.
Mit Herrn Z werden Förderschritte und Ziele vereinbart und schriftlich in seinem Aktivierungs- und Integrationsfortschrittplan festgehalten. Diese müssen für ihn erreichbar, konkret und transparent sein. Außerdem wird verabredet, welche Handlungsschritte vorrangig sind. Es geht also um:
Abklärung somatischer Beschwerden
Gesundheitliche Stabilisierung
Förderung kognitiver Fähigkeiten
Sortieren und Vorbereiten seiner Unterlagen für einen Termin bei der Schuldnerberatung
Emotionale Entlastung
Klärung beruflicher Perspektiven
Durchführung einer Arbeitserprobung
Steigerung der Leistungsfähigkeit
Sinnvolle Freizeitgestaltung
Aufbau eines stabilen Netzwerkes
In den kommenden Wochen geht es um die Erweiterung seiner Kompetenzen und die Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse.
Herr Z berichtet, dass für ihn die hohen Schulden eine große Belastung darstellen. Ständig erhält er Post von Inkassounternehmen und Rechtsanwälten. Dies führt zu Stress, den er mit Alkohol kompensiert, um seine Probleme zu verdrängen. Da es unter Alkoholeinfluss bereits zu peinlichen Situationen in der Öffentlichkeit kam, hat er sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen. Mittlerweile hat er nur noch zwei Bekannte, die ebenfalls suchterkrankt sind. Außerdem berichtet er, dass sein letzter Arztbesuch einige Jahre her ist, da er befürchtet, dass sich seine Leberwerte verschlechtert haben. Hinzu kommen häufige Magenbeschwerden.
Im Rahmen der Einzelgespräche werden nun folgende Handlungsschritte erarbeitet:
1) Herr Z wird umfassend über die Angebote der Fachambulanz des Caritasverbandes aufgeklärt. Nach mehreren Gesprächen mit der Sozialpädagogin lässt er sich darauf ein, in der Suchtberatung einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren, um über sein Konsummuster zu sprechen und weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu klären. Herrn Z ist dieser Schritt sehr unangenehm, da er bereits im Suchthilfesystem bekannt ist. Er schämt sich für die Rückfälligkeit und dafür, dass er in der Beratung erneut Hilfe suchen muss.
2) Gelegentlich kommt es innerhalb der Maßnahme zu Fehlzeiten. Herr Z meldet sich öfter wegen Magenbeschwerden ab. Auch dies wird in den Einzelgesprächen thematisiert. Herr Z war schon seit Jahren nicht beim Hausarzt. Er hat die Befürchtung, dass etwas mit seinem Magen nicht in Ordnung ist und sich seine Leberwerte weiter verschlechtert haben. Diese Ängste werden ausführlich mit der Sozialpädagogin besprochen. Nach mehreren Gesprächen sieht Herr Z ein, dass mit den jetzigen Magenbeschwerden und den daraus resultierenden Fehlzeiten keine beruflichen Perspektiven entwickelt werden können.
Es wird vereinbart, dass Herr Z in Begleitung der Sozialpädagogin seinen Hausarzt aufsucht. Es stellt sich heraus, dass Herr Z ein Magengeschwür hat, das gut behandelt werden kann. Seine Leberwerte sind erhöht, jedoch noch nicht besorgniserregend. Der Hausarzt empfiehlt ebenfalls eine Kontaktaufnahme zur Suchtberatung und eine abstinente Lebensweise. Außerdem sollte Herr Z alle sechs Monate einen Gesundheitscheck machen, um Veränderungen frühzeitig festzustellen.
Nach einer mehrwöchigen Medikamenteneinnahme gegen das Magengeschwür fühlt sich Herr Z viel besser. Auch ist er viel gelöster und freudiger, da sich seine Befürchtungen nicht bestätigten. Er fühlte sich entgegen seinen Erwartungen bei dem Arzt gut aufgehoben und ernstgenommen, sodass er sich nun regelmäßige Arztbesuche vorstellen kann.
Die Suchterkrankung bzw. Leberwerte bleiben weiterhin ein Thema, Herr Z kann sich mittlerweile auf das Angebot der Suchtberatung einlassen.
3) Die Schuldenproblematik besteht schon seit Jahren. Herr Z hat den Überblick verloren. Es wird eine Schufaauskunft beantragt. Außerdem bringt Herr Z alle Unterlagen mit, die er finden konnte. An zwei Nachmittagen werden seine Papiere nach Gläubigern und Datum sortiert. Bereits jetzt wirkt Herr Z erleichtert, da er mit den Unterlagen nicht mehr alleine dasteht. Herr Z wird über verschiedene Möglichkeiten wie Vergleichszahlungen und das Verbraucherinsolvenzverfahren informiert. Um fachliche Unterstützung zu erhalten, wird ein Termin in der Schuldnerberatung vereinbart. Herr Z fühlt sich durch die Vorsortierung seiner Unterlagen gut vorbereitet und nimmt den Gesprächstermin alleine wahr.
4) Herr Z hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. In den Einzelgesprächen mit dem Jobcoach werden Fähigkeiten, Stärken und berufliche Kenntnisse erfragt. Herr Z gibt an, dass er Erfahrungen als Helfer in den Bereichen Garten und Landschaftsbau, in der Produktion und im Lagerbereich hat.
Parallel tauscht sich der Jobcoach mit dem praktischen Anleiter aus, um auch über die Entwicklungen aus den hausinternen Praxisprojekten informiert zu sein. Aufgrund kognitiver Einschränkungen ist es wichtig, dass nach beruflichen Perspektiven geschaut wird, in denen es um einfache und sich wiederholende Abläufe geht. Weiterhin ist die Sensibilitätsstörung im rechten Arm zu berücksichtigen. Er kann diesen nicht schwer belasten und hat gelegentlich Taubheitsgefühle.
Am Praxistag der Maßnahme ist Herr Z im Holzbereich tätig. Hier wird darauf geachtet, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen keine schweren Maschinen bedient. Er hat sich für ein Gemeinschaftsprojekt mit einem anderen Teilnehmer entschieden. Sie bauen eine Garderobe für den Gruppenraum. Herr Z übernimmt die Planung (Form, Farbe) und welches Material benötigt wird. Außerdem übernimmt er leichte Schleifarbeiten, die er mit großer Sorgfalt ausführt. Der andere Teilnehmer ist für die Umsetzung (Sägen, Leimen, Schrauben, etc.) zuständig. Hier zeigt sich, dass Herr Z besonders gut im Team arbeiten kann. Er hält sich an Absprachen und ist kompromissbereit.
Im Verlauf der Maßnahme macht Herr Z eine positive Entwicklung durch. Nachdem er sich gesundheitlich stabilisieren konnte (regelmäßige Arztbesuche) nimmt er weiterhin Gespräche in der Suchtberatung wahr. Parallel geht er wöchentlich zur Orientierungsgruppe Alkohol. Diese wird ebenfalls von der Suchtberatung angeboten. Außerdem hat er sich über das Angebot verschiedener Selbsthilfegruppen informiert. Diese thematisieren nicht nur die Suchtproblematik sondern auch das Freizeitverhalten. Nach der Kontaktaufnahme zur Schuldnerberatung werden weitere Schritte für das Verbraucherinsolvenzverfahren eingeleitet. Die Selbstorganisation seiner Unterlagen behält Herr Z bei. Der Jobcoach arbeitet mit Herrn Z an seiner beruflichen Perspektive. Zunächst wird er ein weiteres Praktikum absolvieren, um positive Referenzen für seine Bewerbungsunterlagen zu sammeln. Auch gab es Gespräche mit dem zuständigen Fallmanager vom Jobcenter Osnabrück, um Fördermöglichkeiten abzuklären.
Kontakt und Angaben zu den Autorinnen:
Monika Schnellhammer
Geschäftsführerin des Caritasverbandes für die Stadt und den Landkreis Osnabrück MoSchnellhammer@caritas-os.de
Clarissa Abromeit
Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., Koordinatorin der Maßnahme „Chancen und Wege“ CAbromeit@caritas-os.de
Wer etwas für seinen Rücken tun will, trainiert im Fitnessstudio, wer seine Kondition steigern möchte, geht in eine Laufgruppe. Aber welches Angebot bietet sinnvolle Unterstützung, um besser mit dem eigenen Suchtmittelkonsum oder suchtbezogenen Verhalten umzugehen? Hier hilft das Selbstkontrolltraining SKOLL.
Seit 2006 wird das vom Caritasverband Osnabrück entwickelte SKOLL-Training von Präventions- und Suchtfachkräften in unterschiedlichen Settings (z. B. Schule und Ausbildung, Jobcenter, Betriebe, JVAen, Bewährungshilfe) bundesweit angewendet. SKOLL schließt eine Angebotslücke für die Menschen, die sich zwischen Absichtslosigkeit und Absichtsbildung befinden (Gastpar, Mann, Rommelsbacher 1999) und sich in einer Gruppe darüber klar werden wollen, ob ihr suchtmittelbezogenes Konsum- und Verhaltensmuster schon problematisch ist. Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen (Bruns 2007; Bösing et al. 2012; Görgen, Hartmann 2013) haben die Wirkung dieses Trainings nachgewiesen. Zum Beispiel konnte das Risikoverhalten der Teilnehmenden bei Alkohol im Mittel um bis zu 50 Prozent stabil über mehrere Monate verringert werden. In den letzten zehn Jahren wurden die zahlreichen Erfahrungen der SKOLL-Trainerinnen und -Trainer und die Ergebnisse der Evaluation zur Weiterentwicklung genutzt.
Dieser Artikel verfolgt das Ziel, die Stärken des Trainingsformats für Fachkräfte in der Suchthilfe und die Teilnehmenden herauszuarbeiten. Eingegangen wird deshalb vor allem auf die Besonderheit des Trainings und die Rolle der Trainerin/des Trainers.
Ziele des SKOLL-Trainings
Das SKOLL-Selbstkontrolltraining ist ein Programm für den verantwortungsvollen Umgang mit Suchtmitteln und anderen Suchtphänomenen. Es richtet sich an Jugendliche und Erwachsene mit riskantem Konsumverhalten. Die Grundlagen bilden die Prinzipien der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 1999), das Selbstmanagement aus dem Bereich der Kognitiven Verhaltenstherapie (Kanfer, Reinecker, Schmelzer 1996), die Grundidee des Empowerments, bewährte psychoedukative Verfahren im Rahmen von Suchtprävention und die interaktionelle Methode zur Steuerung der Gruppendynamik.
SKOLL umfasst zehn Trainingseinheiten à 90 Minuten im wöchentlichen Rhythmus. Dabei werden die jeweiligen Ziele der Teilnehmenden erfasst, es wird ein individueller Trainingsplan erstellt und das Wahrnehmen von Risikosituationen geübt. Die Teilnehmenden erlernen hilfreiche Gedanken sowie einen gesundheitsförderlichen Umgang mit Stress, Konflikten und Rückschritten. Gemeinsam werden Möglichkeiten der Gestaltung von Beziehungen und Freizeit sowie stabilisierende Rituale erarbeitet.
Aufbau und Inhalte des Trainings
„Menschen lassen sich viel eher durch Argumente überzeugen, die sie selbst entdecken, als durch solche, auf die andere kommen.“ (Blaise Pascal) Das Zitat von Blaise Pascal drückt einen wesentlichen Leitgedanken des SKOLL-Programms aus. SKOLL zeichnet sich durch folgende Inhalte und Merkmale aus:
1. Es ist ein Training – keine Behandlung oder Therapiegruppe. Krisen, biografische Themen oder gar traumatische Lebenssituationen können hier nicht bearbeitet werden. Das Training ermöglicht den Teilnehmenden, neugierig auf sich selbst zu werden, Angebote zur Bearbeitung ihrer Themen in der Gruppe als hilfreich anzunehmen und sich von anderen inspirieren zu lassen.
2. Das Training steht allen offen, die in einer Gruppe ihre Konsum- und Verhaltensformen reflektieren wollen. Dabei spielen Alter, Geschlecht, Konsummittel und/oder Verhaltensform keine Rolle. Im Gegenteil, je heterogener die Gruppenzusammensetzung, desto lebendiger die Gruppe und desto stärker die Wirkung für die Einzelne und den Einzelnen. Das verbindende Element ist der Wunsch, einen Umgang mit der problematischen Situation zu finden, die durch den Konsum von Suchtmitteln oder eine Verhaltensform ausgelöst wurde. Die unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenserfahrungen der Teilnehmenden offenbaren einen Pool an Ressourcen und Kompetenzen, der das Training bereichert.
3. Die Durchführung des Trainings basiert auf einem strukturierten Manual. Es gibt so genannte Kernelemente, die sich in allen Trainingsmodulen wiederholen. Diese Kernelemente sind:
Trainingsplan: Er wird in der zweiten Trainingseinheit erstellt und ist sehr individuell gestaltet. Zur Festlegung der Ziele werden die SMART-Kriterien (Spezifisch, Messbar, Akzeptabel/Angemessen, Realistisch, Termingebunden) verwendet.
Treppe zum Ziel: Sie dient zur Sicherung der Erkenntnisse in den jeweiligen Einheiten. Die Teilnehmenden können auf Arbeitsblättern mit symbolisierten einzelnen Treppenstufen – entsprechend der Module – ihren ganz persönlichen Prozess während des Trainings festhalten.
Dokumentation: Sie ist ein wichtiges Hilfeinstrument zur Selbstkontrolle, weil damit die Erreichung des eigenen Vorhabens kontrolliert wird.
Situationsanalyse: Mit der Analyse erlebter Situationen können die eigenen Veränderungsmöglichkeiten besser erkannt und Risikosituationen besser gemeistert werden.
Die Teilnehmenden können mit ihrem Risikoverhalten experimentieren, alternative Verhaltensweisen einüben, neue Erfahrungen sammeln, sich selbst beobachten lernen, alltägliche Situationen analysieren, Gefühle benennen und Gedanken identifizieren – kurz: ihr eigenes Verhalten kritisch wahrnehmen. Durch den Einsatz der Kernelemente in jeder Trainingseinheit kommt es zu einer Verinnerlichung wirksamer Verhaltensänderungen. Damit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Veränderungen auch im Alltag umgesetzt werden.
4. Die Teilnehmenden legen ihre Ziele selbst fest. Die Trainerin/der Trainer und die Gruppe begleiten und bestärken die Einzelne/den Einzelnen dabei. Die Arbeit in der Gruppe orientiert sich an den persönlichen Zielen der Teilnehmenden. So kann es z. B. ein legitimes Ziel sein, keinen Ärger mit dem Jobcenter zu haben oder mit der Freundin. Andere kommen mit der Absicht zu überprüfen, ob sich der Alkoholkonsum noch in einem ‚normalen Rahmen‘ befindet. SKOLL hilft bei der Zielerreichung durch ein gesundheitsbezogenes Selbstmanagement und allgemeine Problemlösungsfertigkeiten. Dadurch erhöht sich die Kontrolle über das Risikoverhalten, und die Gesundheit der Teilnehmenden verbessert sich. SKOLL ist deshalb für unterschiedlich motivierte Teilnehmende geeignet und wirksam.
5. Die Trainerinnen und Trainer werden in einem mehrtägigen Seminar geschult und bei Bedarf begleitet. Zur kontinuierlichen Durchführung des Trainings werden Tandems gebildet. Im Fokus der Trainerschulung stehen die handlungsorientierte Vermittlung der einzelnen SKOLL-Module sowie die Einübung einer akzeptierenden Grundhaltung. Bei der Gestaltung der Trainingseinheiten gibt es ausreichend Raum, um die jeweils eigenen fachlichen Ressourcen und Kompetenzen miteinzubringen.
Die Rolle der SKOLL-Trainerin/des SKOLL-Trainers
Hier einige Aussagen von Trainerinnen und Trainern:
„Für mich war das Schwierigste, mich zurückzunehmen, meine Trainerrolle zu finden, doch dann stellte ich fest, dass der Austausch innerhalb der Gruppe sehr spannend ist und eine große Gruppendynamik entsteht.“
„Es hat auch was Erfrischendes.“
„Das Training birgt viel Abwechslung, davon profitieren eigentlich alle.“
Aufgaben der Trainingsleitung:
1. Die Trainerinnen bzw. Trainer schreiben die Inhalte und die Struktur des Trainings vor. Sie sind die ‚Impulsgeber‘ für die Teilnehmenden und fördern die Interaktion in der Gruppe. Das Training bezieht seine Stärke aus dieser lebendigen Interaktion. Umso mehr sich die Trainingsleitung auf ihre beobachtende und impulsgebende Rolle zurückzieht, umso mehr kann zwischen den Teilnehmenden geschehen. Dabei sind es oft kleine Erkenntnisgewinne, die große Wirkung entfalten.
2. Bei Verstößen gegen die Gruppenregeln, die von den Teilnehmenden im Rahmen der Gruppendynamik nicht eigenständig korrigiert werden können, obliegt der Trainerin/dem Trainer die Aufgabe der Intervention.
3. Um Über- und Unterforderungen zu vermeiden, ist ein offener Blick für die individuellen Ressourcen und Bedürfnisse wichtig, um ggf. durch Aufgabenverteilung eine Ausgewogenheit herzustellen.
4. Die Trainingsleitung stärkt die positiven Veränderungen und trägt wertfrei die als Teil des Prozesses zu akzeptierende Stagnation bzw. auch Rückschritte mit.
Die wichtigsten Faktoren für die Gestaltung der Beziehung der Trainerin/des Trainers zu den Teilnehmenden sind Empathie, Wertschätzung und gegenseitiges Vertrauen. Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit der Teilnehmenden werden stets betont. Selbstheilungskräfte, vorhandene Ressourcen, gesunde Verhaltensmuster und Bewältigungsstrategien werden gefördert und genutzt.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die SKOLL-Trainerin/der SKOLL-Trainer ein förderndes Klima für die Teilnehmenden schafft, damit diese selbstbestimmt handeln, eigene Ziele festlegen und eine eigene Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen können. Jede/jeder trainiert die eigenen Stärken und Fähigkeiten, um wieder die Macht zu spüren, die eigene Geschichte beeinflussen zu können.
Die SKOLL-Fachkräfte verstehen sich als ‚Verbündete‘ der Teilnehmenden, ohne vorzugeben, die richtige Methode, die zum Ziel führt, zu kennen. Für die erfolgreiche Implementierung von Trainings in den unterschiedlichen Institutionen ist es notwendig, dass diese Haltung nicht nur von den Trainerinnen und Trainern getragen wird, sondern auch von der dortigen Leitung und dem Team.
Die Verbreitung von SKOLL
Der Transfer des Trainings erfolgte bisher durch die Etablierung in seinem ursprünglichen Kontext der Suchthilfe und erfuhr dann eine Ausweitung in weitere Bereiche wie z. B. Schulen, Job-Center und die Wohnungslosenhilfe. Unter dem Gesichtspunkt der nachhaltigen Qualitätssicherung wurden erfahrene SKOLL-Trainerinnen und -Trainer zu SKOLL-Lehrtrainerinnen und -Lehrtrainern geschult. So können bundesweite Schulungen angeboten werden. Die Lehrtrainerinnen und -trainer erfüllen das notwendige Qualifikationsprofil, um das evidenzbasierte Manual, die in der Fläche nachgewiesenen Wirkfaktoren und die daraus erstellten Qualitätsstandards weiterzuvermitteln.
Eine Weiterentwicklung des bewährten SKOLL-Konzepts stellt SKOLL-SPEZIAL dar. SKOLL-SPEZIAL ist ein Angebot für Menschen, die sich gezielt mit Alkohol und Nikotin auseinandersetzen möchten. Das Training wurde von der Zentralen Prüfstelle Prävention der GKV als Maßnahme nach § 20 SGB V anerkannt. Die Kosten für die Teilnahme können bei den Krankenkassen abgerechnet werden.
Die letzte wissenschaftliche Untersuchung (Görgen, Hartmann 2013) zeigte, dass SKOLL nicht nur als Intervention bei Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Problemlagen Nutzen bringt. Auch die Fachkräfte selbst – aus der Sucht- und Drogenhilfe, aber auch aus angrenzenden Arbeitsfeldern – profitieren von der Ausbildung zu SKOLL-Trainerinnen und -trainern. Die Ausbildung enthält hohe Anteile selbstreflexiver Elemente, die geeignet sind, das eigene Selbstverständnis, die verfolgten Ziele und angewendeten Methoden zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
So gilt es, SKOLL-Trainings in den unterschiedlichen Settings weiter zu implementieren, mehr motivierte Trainerinnen und Trainer zu finden und das SKOLL-Programm damit zu einem flächendeckenden, entstigmatisierenden Angebot in der Suchtprävention und Frühintervention zu machen.
SKOLL und SKOLL-SPEZIAL wurden entwickelt vom Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V. Weitere Informationen zum Training und zu Schulungen sind unter www.skoll.de zu finden.
Sabine Bösing ist Diplom-Sozialpädagogin, Suchttherapeutin (DRV-anerkannt), systemische Coachin und Beraterin für Organisationsentwicklung/Changemanagementprozesse. Sie hat langjährige Erfahrung in der Entwicklung und Umsetzung von Landes- und Bundesprogrammen zur Prävention und Gesundheitsförderung und war Bundesmodellkoordinatorin von SKOLL. Heute ist sie als Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband tätig und als freie Trainerin und Ausbilderin für SKOLL, SKOLL-SPEZIAL und zum Thema Empowerment.
Literatur:
Bösing, S., Kliche, T., Tönsing, C. (2012): Transfer und Evaluation des SKOLL-Selbstkontrolltrainings in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Wirksamkeit, Umsetzung und Versorgungsaspekten, insbesondere im ländlichen Raum (Abschlussbericht 2012, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.).
Bruns, B. (2007): SKOLL – SelbstKOntroLL-Training. Eine Studie zur Effektivität des Frühinterventionsmodells bei substanz- und verhaltensbezogenen Störungen im Auftrag des Deutsch-Niederländischen Suchthilfeverbundes. Fachhochschule Norddeutschland, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Osnabrück.
Gastpar, M. H., Mann, K. H., Rommelspacher, H. H. (1999): Lehrbuch der Suchterkrankungen. Stuttgart, New York.
Görgen, W., Hartmann, R. (2013): Befragungen im Rahmen einer nachhaltigen Qualitätssicherung des SKOLL-Selbstkontrolltrainings im Zusammenhang seiner flächendeckenden Umsetzung. FOGS, Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich, Köln.
Kanfer, F. H., Reinecker, H., Schmelzer, D. (1996): Selbstmangement-Therapie. Ein Lehrbuch für die klinische Praxis. Berlin.
Kliche, T., Boye, J., Griebenow, B., Richter, S. (2009): Bundesmodellprojekt SKOLL: Evaluation eines übergreifenden Trainingsprogramms bei riskantem Konsum von Suchtmitteln. Erste Befunde zur Umsetzung aus der Nutzerbefragung 2008-09. Unveröffentlichtes Manuskript.
Miller, W., Rollnick, S. (1999): Motivierende Gesprächsführung. Ein Konzept zur Beratung von Menschen mit Suchtproblemen. Freiburg.
Petermann, M. (2010): Möglichkeiten und Grenzen von Selbstmanagement im Rahmen ambulanter Suchtberatung und -behandlung unter besonderer Berücksichtigung des Selbstkontrolltrainings (SKOLL). Diplomarbeit an der Berufsakademie Sachsen, Staatliche Studienakademie Breitenbrunn.
Berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe stellen zwei jeweils eigenständige wichtige Hilfeansätze im Versorgungssystem dar. Beide haben dasselbe Ziel: Sie wollen die Ressourcen und Kompetenzen von Betroffenen und Angehörigen stärken, Suchtkranke motivieren, Wege in ein suchtmittelfreies Leben zu finden, ihre Gesundheit fördern und ihnen Teilhabe am Familienleben sowie an Beruf und Gesellschaft ermöglichen. Berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sind beim Erreichen dieses Ziels keine Konkurrenz, denn sie können sich gegenseitig nicht ersetzen, sie machen unterschiedliche, sich ergänzende Angebote. Die berufliche Suchthilfe bietet in Form von professioneller Beratung, Behandlung, Rehabilitation und Nachsorge ein differenziertes Hilfesystem für Betroffene und Angehörige sowie zahlreiche Unterstützungsangebote für die Selbsthilfe. Die Selbsthilfe bietet Gemeinschaft, Austausch unter Gleichen und Unterstützung im Alltag – und zwar vor, während, nach oder unabhängig von einer professionellen Behandlung. Berufliche Suchthilfe ist zudem immer ein zeitlich begrenztes Angebot, während Selbsthilfe unbegrenzte Begleitung über das Ende der beruflichen Hilfe hinaus bietet, bei Bedarf sogar lebenslang. Selbsthilfe ermöglicht niedrigschwellig Hilfe, wann immer sie gerade benötigt wird.
Im Bereich der Nachsorge besteht die größte Überschneidung zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe, aber auch hier stehen die Angebote nicht in Konkurrenz, sondern haben jeweils eine unterschiedliche Ausrichtung. Sie ergänzen sich in Bezug auf die Dauer (Eisenbach-Stangl, 2003), aber auch in Bezug auf den Inhalt. Verkürzte Behandlungszeiten und schwierige Problemlagen machen eine professionelle Nachsorge oft unverzichtbar, langfristige Stabilisierung und Bewältigung des Alltags erfordern die Fortführung der Nachsorge in der Selbsthilfe (Küfner, 1990).
Wieso die Zusammenarbeit so wichtig ist
Vorteile der Zusammenarbeit
Allein die Tatsache, dass es zwei Hilfeansätze gibt, ist bereits ein Vorteil, da Menschen unterschiedliche Bedarfe haben und so die Möglichkeit erhalten, ihren jeweils eigenen Weg aus der Sucht zu finden. Manche Menschen mögen allein in der beruflichen Suchthilfe ein für sie wirksames Hilfeangebot finden, andere allein in der Selbsthilfe, für viele jedoch bietet die Verbindung beider Hilfeangebote die beste Unterstützung, v. a. im Hinblick auf eine langfristige Stabilisierung. Aber erst eine gute Zusammenarbeit in Form von durchlässig gestalteten Übergängen ermöglicht die optimale Nutzung der Kompetenzen beider Hilfeansätze. Darüber hinaus bietet eine gute Zusammenarbeit für berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe die Möglichkeit, Ressourcen zu bündeln, die Qualität des Hilfeangebots zu erhöhen und neue Herausforderungen – beispielsweise durch veränderte Rahmenbedingungen, vielfältigere Bedarfe oder neue Zielgruppen – gemeinsam besser zu bewältigen.
Wirksamkeit
Beide Hilfeansätze weisen eine hohe Wirksamkeit auf. In der beruflichen Suchthilfe erreichten im Jahr 2013 80 Prozent der ambulanten und 92 Prozent der stationären Patienten/-innen, die die Betreuung/Behandlung planmäßig beendeten, ein positives Behandlungsergebnis (Braun, Künzel & Brand, 2015). Gut ein Viertel der Besucher/-innen von Selbsthilfegruppen erreichten 2010 Abstinenz, ohne berufliche Suchthilfeangebote in Anspruch genommen zu haben, und etwa drei Viertel der rückfällig geworden Gruppenbesucher/-innen konnten durch die Gruppe stabilisiert werden (Selbsthilfe- und Abstinenzverbände, 2011).
Insbesondere zur Rückfallprävention und (Re)Integration in ein intaktes soziales Umfeld leisten Selbsthilfegruppen einen wichtigen Beitrag in der Versorgung (Schwoon, 1996). Selbsthilfe wirkt sowohl rückfallvorbeugend als auch stabilisierend nach einem Rückfall (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, 2001). Der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe nach einer stationären Therapie zeigte sich in Studien mit deutlich höheren Abstinenzraten verbunden (Schwoon, 1996; Küfner, 1988). Und auch bei Patienten/-innen, die nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung rückfällig gewordenen waren, zeigte sich, dass sie in der Folge häufiger abstinent waren, wenn sie regelmäßig eine Selbsthilfegruppe besuchten (Küfner, 1990).
Verankerung
Der nachgewiesenen Wirksamkeit der beiden Hilfeansätze sowie ihres Zusammenwirkens wird an verschiedenen Stellen Rechnung getragen. Im gemeinsamen Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung zur ambulanten medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist die Kooperation als eine der Voraussetzungen benannt. Und auch in der neuen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ werden Empfehlungen zum regelmäßigen Besuch von Selbsthilfegruppen getroffen sowie auf die Bedeutung der Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe explizit hingewiesen (v. a. Kapitel 4 Versorgungssituation).
Der Mehrwert einer guten Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe ist also belegt und in verschiedenen Kontexten bereits verankert. Sie kann daher nicht optional sein oder nur von der Motivation einzelner Mitarbeiter/-innen abhängen, sondern muss verbindlich und nachhaltig geregelt und umgesetzt werden.
Herausforderungen für die Zusammenarbeit
Die Ausdifferenzierung des Angebotsspektrums in der Suchthilfe hat die Bedeutung von Kooperation innerhalb des Hilfesystems erhöht (Oliva & Walter-Hamann, 2013). In der Suchthilfe der Caritas gibt es eine lange Tradition der guten Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe als einer der zentralen Schnittstellen im Hilfesystem. Dennoch ist diese Kooperation vor Ort sehr unterschiedlich ausgeprägt und nicht immer zufriedenstellend. Sie ist kein Selbstläufer – sie muss immer wieder neu gestärkt, geklärt und mit Impulsen belebt werden, gerade in Zeiten rascher Veränderungen. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die zentralen Faktoren, welche die Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe beeinflussen.
Abb. 1: Zentrale Faktoren, welche die Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe beeinflussen
Die verschiedenen Faktoren sind jeweils mit Herausforderungen verbunden, die im Folgenden erläutert werden.
Rahmenbedingungen
Eine vielfältiger gewordene Behandlung, welche sich aus verschiedenen Abschnitten zusammensetzt, macht die Gestaltung der Übergänge von der Behandlung in die Selbsthilfe und die Verzahnung zwischen den jeweiligen Angeboten anspruchsvoller.
Neue Zielgruppen und Konsummuster, Zugänge zu diesen Zielgruppen und vielfältigere Vorstellungen von Selbsthilfe stellen die Zusammenarbeit vor neue Aufgaben.
Veränderte Finanzierungsstrukturen und Vorgaben von Leistungsträgern erfordern eine Anpassung der Arbeit an die dadurch gegebenen Rahmenbedingungen.
System der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe
Unterschiedliche Kompetenzbereiche, Regeln und Handlungszwänge sowie Alltagskulturen müssen aufeinander abgestimmt werden. Das Aufeinandertreffen des reglementierten beruflichen Settings und des selbstbestimmten ehrenamtlichen Settings erfordert gute Abstimmungs- und Organisationsprozesse.
Die jeweiligen Arbeitsweisen und Angebote unterscheiden sich und verändern sich über die Zeit. Sie müssen wechselseitig transparent und gut bekannt gemacht werden.
Vor dem Hintergrund des Aufeinandertreffens von Alltags- und Fachsprache muss eine Basis zur Verständigung geschaffen und eine gute gegenseitige Rückmeldekultur entwickelt werden.
Persönliche Beziehungen
Es muss ein Rollenwechsel von der ursprünglichen Begegnung als Therapeut/-in und Klient/-in hin zu Partnern/-innen gelingen. Ebenso muss sich das Hierarchiegefälle zwischen Experten/-innen und Laien auflösen. Die evtl. bestehende Wahrnehmung von Konkurrenz sollte der selbstbewussten Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen und Angebote weichen. Ein möglicherweise erlebter Widerspruch zwischen Unterstützungswunsch/-bedarf und Autonomie/Selbstbestimmung der Selbsthilfe muss geklärt werden.
Die gegenseitige Begegnung muss von Respekt, Wertschätzung, Offenheit und Vertrauen geprägt sein.
Eigene Haltungen und Einstellungen müssen überprüft und ggf. korrigiert werden. Interessen und gegenseitige Erwartungen müssen transparent und Vorurteile bewusst gemacht werden.
Art der Ausgestaltung der Zusammenarbeit
Die Zusammenarbeit muss institutionalisiert und in Konzepten und Vereinbarungen vor Ort verankert und verbindlich geregelt werden, sie darf nicht nur vom Engagement einzelner Personen abhängen, um bei einem Wechsel nicht gefährdet zu sein.
Für die Zusammenarbeit muss es fest eingeplante Zeit- und Personalressourcen auf beiden Seiten geben, sie darf nicht einfach nur „nebenher“ laufen.
Die Umsetzung von bekannten Handlungserfordernissen muss gefördert und unterstützt werden, oft fehlen Handlungsanleitungen und konkrete Strategien.
Sich die beschriebenen Einflussfaktoren und Herausforderungen bewusst zu machen, kann helfen zu verstehen, wieso sich die Zusammenarbeit nicht immer einfach gestaltet. Gleichzeitig bieten die genannten Herausforderungen aber auch Chancen und konkrete Ansatzpunkte zur Verbesserung der Zusammenarbeit.
Gelingende Zusammenarbeit: Gemeinsamer Prozess des Deutschen Caritasverbands und des Kreuzbund-Bundesverbands
Die Bedeutung der Schnittstelle zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe ernstnehmend, haben sich der Deutsche Caritasverband (DCV) und der Kreuzbund-Bundesverband vor einigen Jahren dazu entschieden, einen gemeinsamen, langfristig angelegten Prozess zur Zusammenarbeit durchzuführen. Dadurch wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die oben genannten Herausforderungen die Verbesserung der Zusammenarbeit zu einer anspruchsvollen Aufgabe machen, die durch punktuelles Engagement, einzelne Veranstaltungen oder die alleinige Entwicklung einer Positionierung oder Handreichung nicht hinreichend erfüllt werden kann. Um die Basis für eine tragfähige, zukunftsorientierte Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe zu schaffen, braucht es Begegnung, kontinuierliche Auseinandersetzung sowie Zeit, um Haltungen zu überprüfen und Veränderungen einzuleiten und wirksam werden zu lassen.
Im Folgenden werden die zentralen Grundsätze und Erfolge des bisherigen Prozesses zur Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in der Caritas dargestellt sowie ein Ausblick auf seine Weiterführung gegeben (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Maßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in der Caritas
Gemeinsam angelegter Prozess
Um möglichst vielfältige Sichtweisen und Erfahrungen zusammenzuführen und fundierte, von allen Akteuren getragene Ergebnisse zu erreichen, waren jeweils Vertreter/-innen der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe von Orts-, Diözesan- und Bundesebene an dem Prozess beteiligt. Es gab sowohl gemeinsame Arbeitsphasen in Form von Workshops als auch getrennte, allerdings immer in Verbindung mit kontinuierlichem Austausch. Damit wurden bereits im Verlauf des Prozesses wesentliche Grundzüge einer guten Zusammenarbeit konsequent umgesetzt.
Zur Darstellung der Ergebnisse des Prozesses wurde 2011 eine Dokumentation veröffentlicht. Auf der Basis dieser Ergebnisse wurde in den letzten Jahren in gemeinsamen Veranstaltungen und Konferenzen weiter an der Thematik gearbeitet. Es bestand Einigkeit darüber, dass ähnliche Prozesse nun auch auf Diözesan- und Ortsebene angestoßen werden müssen und dass es dafür weiterer Impulse und konkreter Arbeitshilfen zur Unterstützung bedürfe.
Arbeitshilfe des DCV für die berufliche Suchthilfe und die Sucht-Selbsthilfe
Die Entwicklung einer Arbeitshilfe war kein zu Beginn des Prozesses formuliertes Ziel, sondern die Antwort des DCV auf den aus der Praxis geäußerten Unterstützungsbedarf. Sie ist damit Ergebnis des bisherigen Prozesses und Grundlage für die Fortsetzung des Prozesses zugleich. Die Arbeitshilfe besteht aus zwei Modulen: Modul I „Grundlagen und Empfehlungen für eine gute Zusammenarbeit“ und Modul II „Good practice Beispiele für eine gute Zusammenarbeit“. Um die Einführung in die Arbeitshilfe und die Arbeit mit den beiden Modulen zu unterstützen, wurde ein weiteres Modul entwickelt, Modul III „Foliensatz zu Modul I und II“. Im Folgenden werden die zentralen Ziele, welche die Module verfolgen, dargestellt.
1. Grundlagen für eine gute Zusammenarbeit vermitteln: Selbstverständnis – Wechselseitiges Verständnis – Kooperationsverständnis Das Erkennen der eigenen wichtigen Bedeutung im Hilfesystem, des sich ergänzenden Charakters der jeweiligen Angebote sowie der Unverzichtbarkeit einer guten Zusammenarbeit zur optimalen Gestaltung der Hilfen für Betroffene und Angehörige sind wichtige Grundlagen für eine gute Zusammenarbeit. Darüber hinaus ist eine gute Wissensbasis über die wechselseitigen Arbeitsweisen und Angebote zentral. Kapitel I bis III von Modul I der Arbeitshilfe bieten eine ausführliche und praxisnahe Aufbereitung dieser Inhalte. Kapitel IV und V nehmen Bezug auf die Herausforderungen in der Zusammenarbeit und zeigen Wege zur gemeinsamen Bewältigung auf. In Kapitel IV werden dazu konkrete Handlungsempfehlungen in Form von fünf Grundsätzen vorgestellt. Diese lauten: Bereitschaft und Begeisterung, Gemeinsame Ziele und Anliegen, Begegnung und gemeinsames Tun, Gute Kommunikation und Rollenklarheit, Verankerung und Verbindlichkeit. In Kapitel V werden Hinweise gegeben, wie mit der Arbeitshilfe konkret gearbeitet werden kann. Dieses Kapitel schlägt eine Brücke zwischen dem reinen Wissen, welche Maßnahmen erforderlich wären, und der tatsächlichen Umsetzung, denn häufig fehlt es vor Ort an Strategien, um vom Wissen zum Tun zu gelangen.
2. Vielfalt der Zusammenarbeit und Möglichkeiten, wie man voneinander lernen kann, aufzeigen Modul II stellt in Form von good practice Beispielen zur Zusammenarbeit Anregungen und konkrete Umsetzungshilfen zur Verfügung. Die Kooperationsbeispiele stehen jeweils für sich und können je nach Interesse anhand des Inhaltsverzeichnisses gefunden und genutzt werden. Modul II soll aufzeigen, wie vielfältig die Formen der Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sein können, es soll Mut machen, Vorhaben gemeinsam anzugehen und auszuprobieren.
3. Gemeinsame Basis für die gemeinsame Arbeit anbieten
In der Arbeitsgruppe, die die Entwicklung der Module begleitete, waren Vertreter/-innen aus der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe von Bundes-, Diözesan- und Ortsebene vertreten, um die Perspektiven und Bedarfe aller Akteure bestmöglich zu berücksichtigen. Die Arbeitshilfe richtet sich gleichermaßen an die berufliche Suchthilfe und die Sucht-Selbsthilfe. Zusammenarbeit kann nur durch Ansprache und Einbezug beider Partner gelingen – mit denselben Materialien und Grundlagen.
4. Praktikable und praxisnahe Materialien zur Verfügung stellen
Einfach erfassbare und ansprechend gestaltete Inhalte statt langer Fließtexte sollen zur Arbeit an einer guten Zusammenarbeit motivieren. Da die Voraussetzungen vor Ort unterschiedlich sind und die gemeinsame Konkretisierung der Inhalte der Arbeitshilfe einen wichtigen Schritt in der Zusammenarbeit vor Ort darstellt, sind die Inhalte nur so weit wie nötig festlegend. Die Rückmeldungen in Bezug auf die Nutzbarkeit in der Praxis sind sowohl im Bereich der Sucht-Selbsthilfe als auch im Bereich der beruflichen Suchthilfe sehr positiv.
5. Lösungen für „Knackpunkte“ verfügbar machen
In Modul I wird unter der Überschrift „Vielfalt der Selbsthilfe“ u. a. auch das nicht immer spannungsfreie Thema des Nebeneinanders von verbandlich organisierter und nicht-verbandlich organisierter Selbsthilfe aufgegriffen, das sich auch in Modul II in einzelnen good practice Beispielen wiederfindet. Modul II soll darüber hinaus mit seinen Beispielen bewusst Themen fokussieren, die nicht ganz einfach sind, und konkrete Ansätze aufzeigen, wie durch Kooperationen bisher eher schwer zugängliche Zielgruppen erreicht werden können.
Die Inhalte der Module sind nicht auf die Nutzung innerhalb der Caritas beschränkt. Die Module können auch von anderen Verbänden und in anderen Kontexten genutzt werden und hilfreich sein.
Nachhaltigkeit in der guten Zusammenarbeit
Auf Bundesebene wurde zwischen DCV und Kreuzbund-Bundesverband durch den bisherigen Prozess bereits Nachhaltigkeit in der Zusammenarbeit erreicht. Gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung sind selbstverständlich geworden, und es konnte auch in Bezug auf schwierige Themen ein offener und konstruktiver Austausch erreicht werden. Der gegenseitige Einbezug und der Informationsfluss konnten intensiviert werden – es wurde beispielsweise die gegenseitige Teilnahme an zentralen Konferenzen und Projekten verbindlich implementiert.
Auch auf Diözesanebene hat sich an vielen Orten eine verbindliche gegenseitige Teilnahme an wichtigen Gremien etabliert, in zwei Diözesen gibt es sogar schriftliche Rahmenvereinbarungen zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe.
Um auch auf Ortsebene eine nachhaltige Verbesserung der Zusammenarbeit zu fördern, werden folgende Maßnahmen durchgeführt:
breite Streuung der Arbeitshilfe im Bereich der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe – auf allen Ebenen und über verschiedene Verbände der beruflichen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe
Unterstützung von Multiplikatoren/-innen durch Modul III, einem zur Einführung in die Arbeitshilfe entwickelten Foliensatz
Unterstützung von gemeinsamen Fachveranstaltungen zum Thema Kooperation auf Diözesan-/Ortsebene
Entwicklung eines QM-Moduls zur Zusammenarbeit, welches anschlussfähig ist an QM-Rahmenhandbücher
Um nachhaltig eine gute und zukunftsorientierte Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sicherzustellen, braucht es ein langfristiges und kontinuierliches Engagement auf allen Ebenen: Zur Verbesserung der Zusammenarbeit vor Ort sind Multiplikatoren/-innen in der beruflichen Suchthilfe sowie in der Sucht-Selbsthilfe unverzichtbar, die Bundesebenen der beruflichen Suchthilfe sowie der Sucht-Selbsthilfe bleiben weiterhin in der Verantwortung mit folgenden Aufgaben:
Unterstützung von Multiplikatoren/-innen und gemeinsamen Veranstaltungen vor Ort
Einbindung der Zusammenarbeit in Schulungskonzepte und QM-Systeme
gleichberechtigte Berücksichtigung der Schnittstelle zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe neben anderen Themen in Fachdebatten und bei Fachveranstaltungen
gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur Vermittlung der Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit der Zusammenarbeit
Eine gute Zusammenarbeit kann nur vor Ort gestaltet und gelebt werden. Der Perspektivprozess auf Bundesebene sowie die vom DCV entwickelte Arbeitshilfe und die durchgeführten Maßnahmen können und sollen die Begegnung, die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Thematik und die tatsächliche Umsetzung vor Ort nicht ersetzen, aber sie können gute Anregungen und konkrete Umsetzungshilfen bieten.
Dr. Daniela Ruf (*1978 in Karlsruhe) schloss 2004 ihr Psychologiestudium an der Universität Freiburg ab. Von 2005 bis 2010 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, Sektion Klinische Epidemiologie und Versorgungsforschung, beschäftigt – mit den Arbeitsschwerpunkten Sucht, Migration, Demenz, Online-Systeme. Seit 2011 ist sie als Suchtreferentin beim Deutschen Caritasverband, Referat Gesundheit, Rehabilitation, Sucht, tätig – aktuell mit den Schwerpunkten Selbsthilfe, Migration, Online-Beratung/Neue Medien, Internetabhängigkeit.
Literatur:
Braun, B., Künzel, J. & Brand H. (2015). Jahresstatistik 2013 der professionellen Suchtkrankenhilfe. In Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 2015. Lengerich: Pabst, S. 214-240
Eisenbach-Stangl, I. (2003). Suchtkrankenhilfe – Selbsthilfe – Psychotherapie: Komplizierte Verhältnisse. Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 26 (2), S. 5-11
Küfner, H., Feuerlein, W. & Huber, M. (1988). Die stationäre Behandlung von Alkoholabhängigen: Ergebnisse der 4-Jahreskatamnesen, mögliche Konsequenzen für Indikationsstellung und Behandlung. Suchtgefahren, 34 (3), S. 157-272
Küfner, H. (1990). Die Zeit danach – Alkoholkranke in der Nachsorgephase. In D. Schwoon & M. Krausz (Hrsg.), Suchtkranke. Die ungeliebten Kinder der Psychiatrie. Stuttgart: Ferdinand Enke, S. 189-202
Oliva, H. & Walter-Hamann, R. (2013). Suchthilfe in Netzwerken. Praxishandbuch zu Strategie und Kooperation. Freiburg: Lambertus
Schwoon, D. (1996). Nutzung professioneller Nachsorge und Selbsthilfegruppen durch Alkoholiker nach stationärer Kurzzeittherapie. In K. Mann & G. Buchkremer (Hrsg.), Sucht. Grundlagen, Diagnostik, Therapie. Stuttgart: Fischer, S. 281-287
Eine gesellschaftspolitisch bewegte Zeit, wie wir sie derzeit erleben, ist stark geprägt von Fragen zur gesellschaftlichen Solidarität und von Erschütterungen des gesellschaftlichen Konsenses – wer hat wie viel an wen zu leisten, wer hat Anspruch auf welche Leistungen und zu welchen Bedingungen? Dabei geht es manchen politischen Kräften und gesellschaftlichen Akteuren seit der so genannten Agenda 2010 um nicht weniger als den Umbau des Sozialstaates. Es geht um Fragen, wie viel Sozialstaat erforderlich und nötig ist und wer welche Steuerungsfunktion darin übernimmt, beispielsweise beim Arbeitslosengeld II im SGB II oder im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Rolle und Stellung der ambulanten regionalen Suchthilfe, die in unterschiedliche Abhängigkeiten und Beziehungsnetzwerke auf kommunaler wie überregionaler, auf nationaler wie internationaler Ebene eingebunden ist, deren Handeln sich auf regionaler Ebene aber zunehmend an unterschiedlichen Lösungen orientiert.
Der folgende Blick auf die ambulante Suchthilfe versteht sich als Diskussionsbeitrag zu ihrem besonderen Stellenwert, den sie für die soziale Gemeinschaft oder vielleicht treffender für die Zivilgesellschaft einnimmt bzw. einnehmen kann. Einige Thesen zu Beginn sollen die weiteren Ausführungen thematisch umreißen und strukturieren:
Die ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit im umfassenden und besten Sinne.
Ihr Leistungsspektrum für Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und auch für die soziale Gemeinschaft ist umfassender und dessen Wirksamkeit höher, als üblich nach außen ersichtlich wird.
Die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung haben sich auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies zukünftig noch mehr tun.
Die ambulante Suchthilfe erbringt Leistungen, die andere in dieser Form nicht erbringen können – weder niedergelassene Therapeuten noch private Anbieter.
Wenn die ambulante Suchthilfe ihr Leistungsspektrum für suchtkranke und suchtgefährdete Menschen und die soziale Gemeinschaft auch weiterhin erhalten will, muss sie sich in der Form ihrer Leistungserbringung „bewegen“ und ihr Profil schärfen.
Sozialrechtlicher Rahmen und Auftragsgestaltung
Um die Rolle und Aufgaben der ambulanten regionalen Suchthilfe im Gesamtzusammenhang zu verstehen, ist es wichtig, zunächst ihren sozialrechtlichen Rahmen und die Auftragsgestaltung zu skizzieren. Dieser Rahmen ist für die ambulante regionale Suchthilfe wesentlich durch fünf Bereiche geprägt:
1. Sozialstaatsprinzip und kommunale Daseinsvorsorge
Die Grundlage der Finanzierung in der ambulanten Suchthilfe, von einzelnen Teilleistungen wie der ambulanten Rehabilitation Sucht abgesehen, fußt auf der kommunalen Daseinsvorsorge, die verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG verankert und in den Gemeindeordnungen der Bundesländer konkretisiert ist. Im heutigen Verständnis ist sie zu einem Synonym für die Schaffung einer kommunalen Infrastruktur geworden, die für ihre Einwohner die erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereitstellt. Die kommunale Daseinsvorsorge ist eine weitgehend freiwillige, nicht einklagbare Leistung. Aktuell steht sie unter Liberalisierungsdruck, bedingt durch das Europäische Wettbewerbsrecht und daraus folgender Überlegungen zur Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben.
2. Subsidiaritätsprinzip
Eng verknüpft mit dem Sozialstaatsprinzip und der Daseinsvorsorge sowie den damit verbundenen staatlichen Fürsorgeleistungen ist das Prinzip der Subsidiarität. Damit ist vereinfacht die Idee gemeint, dass gesellschaftliche Eigenverantwortung und Autonomie Vorrang vor staatlichem Handeln haben. In Bezug auf die Erbringung von Fürsorgeleistungen bedeutet dies, dass (staatliche) Aufgaben soweit als möglich von unteren Ebenen (z. B. Länder, Städte, Kommunen) bzw. kleineren Einheiten ausgeführt werden. Diesem Prinzip unterliegt auch das Verhältnis zwischen den öffentlichen Trägern (Bund, Länder, Gemeinden) und den freien Trägern (freie Wohlfahrtspflege) von Fürsorgeleistungen. Dies bedeutet zwar einen Vorrang für die freie Wohlfahrtspflege bzw. einen Nachrang öffentlicher Träger und Einrichtungen, aber es gab und gibt immer wieder Richtungsstreitigkeiten um die damit verbundene Einschränkung kommunaler Selbstverwaltung und den Erhalt der sozialpolitischen Position der freien, vor allem der konfessionellen Wohlfahrtspflege. Wir erleben heute eine Diskussion um die so genannte „neue Subsidiarität“, die weit über die einfache Formel von Vor- und Nachrang hinausgeht. Sie bewegt sich mehr im Spannungsfeld von Steuerungsmechanismen, einer relativen Autonomie der handelnden Akteure und den jeweiligen Eigengesetzlichkeiten in den entsprechenden Hilfefeldern. Das leitet automatisch zur Frage der kommunalen Steuerung über.
3. Kommunale Steuerung
Die kommunale Steuerung erhält durch Einsparmaßnahmen bei sozialen Leistungen der öffentlichen Hand, durch die damit verbundenen neuen Verteilungsszenarien und durch den Prozess der Kommunalisierung eine neue Qualität. Diese „neue“ Zuweisung von Gestaltungsverantwortung stellt viele Kommunen vor ungewohnte fachspezifische Herausforderungen. Darin steckt gleichermaßen Chance und Verpflichtung für die ambulante Suchthilfe. Dadurch nämlich, dass sie sich als unverzichtbarer Partner in der Gestaltung der sozialen Gegebenheiten vor Ort und somit der sozialen Gemeinschaft vor Ort versteht.
4. Soziale Leistungsgesetze
Die Rahmenbedingungen ambulanter Leistungen der Suchthilfe werden komplettiert durch die sozialen Leistungsgesetze. Die Krankheit Sucht als ein sehr komplexes Geschehen berührt vor dem Hintergrund ihres biopsychosozialen Erklärungsmodells eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsgesetze des Sozialgesetzbuches. Im Einzelfall ist es erforderlich, die unterschiedlichen Leistungen bedarfsgerecht zu kombinieren, was nicht immer möglich bzw. häufig problematisch ist. Als Beispiel seien hier Maßnahmen für Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Suchthilfe oder die Betreuung substituierter schwangerer Frauen genannt.
5. Soziale und gesellschaftliche Teilhabe
Eine wesentliche Grundlage bzw. auch ein Auftrag für die Gestaltung der ambulanten Suchthilfe im Gemeinwesen ergibt sich über das Konzept der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff der „Teilhabe“ zu einem „Leitkonzept der wissenschaftlichen und politischen Verständigung über die Zukunft des deutschen Sozialmodells“ (Bartelheimer, 2007) entwickelt. Teilhabemodelle gehen davon aus, dass materielle Ressourcen und Rechtsansprüche unverzichtbare Voraussetzungen für die Menschen sind, um sich angemessen innerhalb ihrer Gesellschaft zu bewegen. Dies zu realisieren, also Verwirklichungschancen wahrzunehmen, verlangt zum einen persönliche Fähigkeiten, zum anderen bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen wie Normen oder Infrastruktur. Das Ziel sozialstaatlicher Handlungen besteht demnach darin, die Ungleichheiten bei den Verwirklichungschancen zu reduzieren und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. In der ambulanten Suchthilfe wäre dann zu prüfen, was sie dazu beitragen kann, dass mehr betroffene Menschen oder bestimmte Gruppierungen die Chance zur Teilhabe am „Gut“ der ambulanten Suchthilfe erhalten.
Ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit
Derzeit gibt es in Deutschland ca. 1.300 ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, die jährlich ca. 500.000 suchtkranke oder von Sucht betroffene Menschen erreichen (Jahrbuch Sucht 2013). Die Zahl der Hilfesuchenden hat in der ambulanten Suchthilfe in den letzten Jahren um ca. acht Prozent zugenommen (Deutsche Suchthilfestatistik 2008 bis 2012). Nach Einschätzungen der Beratungsstellen haben die Personalressourcen jedoch in Relation zu den gestiegenen Leistungsanforderungen eher abgenommen.
Rolle und Selbstverständnis der ambulanten Suchthilfe
Für Personen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen sowie deren Angehörige sind die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die zentralen Fachstellen in einem regionalen Hilfesystem und innerhalb eines regionalen Suchthilfeverbundes. Sie stellen für die Hilfesuchenden wie für die Kommune die Umsetzung der Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge im Sinne von Kernleistungen einer regionalen Grundversorgung sicher. Damit ist auch der weitere Zugang zu sozialrechtlich normierten Leistungen wie Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation verbunden.
Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe
Vergegenwärtigen wir uns das Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe – von spezifischer Präventionsarbeit, Risikominimierung und aufsuchenden Hilfen über Beratung, Begleitung und Betreuung, Behandlung und Rehabilitation bis zu Integrationshilfen, Selbsthilfeunterstützung und Netzwerkarbeit in versorgungsübergreifenden Kooperationsstrukturen – so wird deutlich: Die komplexe Leistungserbringung der ambulanten Suchthilfe ist psychosoziale Suchthilfe und in weiten Bereichen Soziale Arbeit. Im Zusammenspiel sozialer Fragestellungen und sozialer Hilfeleistungen mit Kenntnissen in Beratungsmethoden und psychotherapeutischer Einzel- und Gruppenarbeit, die zusätzlich Ansätze des Empowerments, suchtspezifisches Case Management sowie Ansätze der Lebens- bzw. Sozialraumorientierung und Quartiersarbeit integriert, findet Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe gelebte Wirklichkeit.
Wie und wo sollten Menschen, die in die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe kommen, sonst eine umfassende und bedarfsgerechte Hilfe erhalten? Menschen, die Suchtprobleme haben, aber gleichzeitig arbeitslos und verschuldet sind, deren Partnerbeziehung auf der Kippe steht, deren Gesundheit angeschlagen ist, die sich in einer Sinnkrise befinden und sich insgesamt ohne Perspektive fühlen. Der psychosoziale Hilfeansatz der ambulanten Suchthilfe will Menschen „dort abholen“, wo sie stehen. Dazu hält die ambulante Suchthilfe Einiges bereit:
ein Verständnis von Empowerment, das die Selbsthilfekräfte und Selbstbestimmung der Betroffenen fördert,
einzelfallbezogene Hilfen zur Beratung, zur psychosozialen Begleitung bei Substitution wie auch zur existentiellen materiellen Absicherung,
fallbezogenes Case Management zur optimalen Kombination unterschiedlicher Hilfen und Hilfebereiche, z. B. der Suchthilfe mit der Schuldnerberatung, mit der Kinder- und Jugendhilfe oder mit der regionalen Hilfeplanung,
das Einbeziehen gemeinwesenorientierter Ansätze, die sich heute unter Begriffen wie Lebens- bzw. Sozialraumorientierung oder auch Quartiersarbeit finden und zum Ziel haben, Menschen in ihrem persönlichen Lebensumfeld zu erreichen und ggf. auch Einfluss auf dieses Lebensumfeld zu nehmen,
die Integration neuer Konzepte wie Motivierende Gesprächsführung oder Community Reinforcement Approach (CRA).
Dies sind Interventionen und Hilfestrategien, die letztlich alle darauf abzielen, immer mehr Menschen mit riskantem oder abhängigem Suchtmittelkonsum frühzeitig und bedarfsgerecht zu helfen.
Ambulante Suchthilfe und soziale Gemeinschaft (Zivilgesellschaft)
Über die bloße Tatsache hinaus, dass die ambulante Suchthilfe Anlaufstelle für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit spezifischen Problemen ist, besitzt sie einen (Mehr-)Wert für die soziale Gemeinschaft. Ambulante Suchthilfe versteht sich als Teil der regionalen Gesundheitsvorsorge. In diesem Rahmen bemisst sich ihr Wert aus der Summe ihres unmittelbaren Nutzens für betroffene Menschen und deren Angehörige und ihres mittelbaren Nutzens für die soziale Gemeinschaft. Diesen mittelbaren Nutzen erreicht sie auf vielfältige Weise:
Öffentlichkeitsfunktion: Als Anwältin der Betroffenen weist sie auf die Lebensbedingungen suchtkranker Menschen öffentlich hin. Diese öffentliche Thematisierung verhindert, dass die besonderen Problem- und Lebenslagen der betroffenen Menschen einseitig individuell begründet und damit stigmatisiert und tabuisiert werden. Dagegen werden sie als zwar persönlich, aber auch gesellschaftlich und sozial bedingte Prozesse dargestellt. Die ambulante Suchthilfe schafft damit eine wesentliche Grundlage für die Integration suchtkranker Menschen. Denn Integration oder Inklusion erfolgt nicht über die professionellen Helfer, sondern über die Mitmenschen, die Mitbürger, die lernen, Suchterkrankungen zu verstehen und die Betroffenen nicht (mehr) auszugrenzen.
Signalfunktion: Die ambulante Suchthilfe ist ein Seismograph für soziale Entwicklungen. Aufgrund ihrer täglichen Arbeit mit suchtkranken Menschen in deren spezifischen Lebensbezügen nimmt sie soziale Entwicklungen frühzeitig wahr. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur auf die Lebensbedingungen der ihr anvertrauten Menschen hinzuweisen, sondern z. B. auch auf Auswirkungen und Konsequenzen, die bestimmte Gesetzesvorhaben und Gesetzeslagen hätten oder haben. Indem sie auf bestimmte Verhältnisse und Entwicklungen aufmerksam macht und sich so in die politische und gesellschaftliche Debatte einmischt, besitzt sie wichtige Signalfunktion bezogen auf die gesellschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen.
Gesellschaftliche und soziale Teilhabe: Ambulante Suchthilfe leistet einen Beitrag zur gesellschaftlichen und sozialen Teilhabe. Suchtprobleme, die nicht frühzeitig erkannt werden oder die nicht oder nicht ausreichend behandelt werden können, führen zur Exklusion, zur gesellschaftlichen wie sozialen Ausgrenzung. Gerade der umfassende Ansatz der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist Garant dafür, dass neben der unmittelbaren Behandlung der Erkrankung auf medizinischer und psychotherapeutischer Basis auch die Lösung anderer damit verbundener Problemlagen in den Blick kommt, egal ob es sich dabei um materielle Hilfen, die Förderung tragfähiger sozialer Netzwerke, den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt oder die Verwirklichung von Rechtsansprüchen handelt.
Gesellschaftliche Solidarität: Soziale Arbeit trägt maßgeblich zur gesellschaftlichen Solidarität, also zum Zusammenhalt einer Gesellschaft und deren positiver Weiterentwicklung bei. Der Umgang mit Suchtmitteln, der nicht reglementiert ist, Wirkungen und Konsequenzen von Suchtmitteln, über die nicht oder nicht ausreichend aufgeklärt wird, ein fehlendes oder unzulängliches Hilfe- und Versorgungssystem sind eine Gefahr für die soziale Gemeinschaft. Ambulante regionale Suchthilfe wirkt dem entgegen, indem sie sich vorbeugend mit dem adäquaten Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln und mit der Behandlung akuter Suchtprobleme befasst. Dadurch besitzt sie einen hohen kollektiven Nutzen.
Soziale Sicherung und soziale Befriedung: Letztlich leistet die ambulante Suchthilfe einen Beitrag zur sozialen Sicherung und zur sozialen Befriedung in der Kommune, indem sie für regionale und spezifische Probleme Lösungsansätze mit entwickelt. Dies kann auf ordnungspolitischer Ebene in Zusammenarbeit mit der Politik und den Sicherungsorganen vor Ort erfolgen, beispielweise zur Entschärfung negativer Konsequenzen lokaler Drogenszenen. Die Suchthilfe kann aber auch zum sozialverträglichen Umgang mit Alkohol in der Öffentlichkeit beitragen, beispielsweise über Angebote zu einer Fest- und Feierkultur, die den Genuss legaler Suchtmittel nicht ausschließen, aber Formen finden, die Konsum- und Gewaltexzesse vermeiden.
Aktuelle Herausforderungen
Die oben beschriebene Rolle der ambulanten Suchthilfe und ihr Selbstverständnis werfen aber auch Fragen auf: Hat die ambulante Suchtberatung weiterhin den Willen und die Ressourcen, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen? Sieht sie sich zunehmend in „Konkurrenz“ zu den psychiatrischen Versorgungsstrukturen und zu niedergelassenen Therapeuten/-innen, oder gelingt es ihr, darin Kooperations-Chancen zu entdecken und diese im Sinne einer Optimierung der Versorgungslandschaft für die Hilfesuchenden zu nutzen?
Wie zuvor beschrieben, haben sich die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung für ambulante Hilfen auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies auch weiterhin tun. Die ambulante Suchthilfe stellt Leistungen für Menschen in einem Gemeinwesen zur Verfügung und steht deswegen unter der permanenten Prämisse, sich in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess den gesellschaftlichen Entwicklungen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie veränderten Erwartungen von Seiten der Politik, der Leistungsträger und der Hilfesuchenden anzupassen. Daraus ergeben sich zentrale aktuelle Herausforderungen:
Unter der Prämisse der Ökonomisierung ambulanter Hilfen, aber auch aufgrund veränderter Bedarfe der Hilfesuchenden und neuer fachlicher Kenntnisse, haben sich das Leistungsangebot wie auch die Leistungserbringung stark gewandelt. Die Modularisierung der Hilfen und Angebote hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, d. h. es werden zunehmend bedarfsorientierte und passgenaue Hilfen, Interventionen und Maßnahmen für spezifizierte Klientengruppen angeboten. Hierdurch können die Hilfen effektiver und effizienter angeboten werden. Aufsuchende Hilfen, z. B. in Haftanstalten, Betrieben oder Krankenhäusern, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Über Maßnahmen der Früherkennung und Frühintervention werden Klienten/-innen früher erreicht, und es werden auch andere Klientengruppen erreicht. Ansätze der Lebenslagen- bzw. Sozialraumorientierung kommen vermehrt in den Blick.
Das alles wirkt sich auch auf das erforderliche Handlungswissen der Berater/innen aus. Sie werden immer stärker von Spezialisten zu Generalisten. Die Mitarbeiter/-innen ambulanter Beratungsstellen verstehen sich heute als multidisziplinäre Teams in Netzwerkarbeit und mit Case-Management-Orientierung. Gleichzeitig bestehen hohe Ansprüche an Effektivität und Effizienz vor dem Hintergrund einer hohen Qualitätsorientierung.
Die skizzierte (positive) Entwicklung darf aber nicht von der Kehrseite der Medaille ablenken. Eine bedarfsorientierte Leistungserbringung, die ökonomisch sinnvoll und qualitativ hochwertig ist, erhöht den administrativen Aufwand und bringt zwangläufig fachlich und personell anspruchsvolle Leitungs- und Steuerungsaufgaben mit sich. Durch die stärkere Differenzierung und Ökonomisierung der ambulanten Hilfen nimmt in den Beratungsstellen die unmittelbare Beratungs- und Betreuungszeit für den einzelnen Klienten ab, und die Verdichtungen in den Arbeitsbezügen nehmen deutlich zu. Das für die ambulanten Hilfen zentrale Moment der Beziehungsgestaltung und der Bindungsarbeit verändert sich. Berater/-innen weisen deutlich darauf hin, dass die Gesprächs- und Betreuungszeiten für ihre Klientel spürbar abgenommen haben. Bei gleichbleibenden personellen Ressourcen stellt sich durchaus die berechtigte Frage, ob und wie der hohe Anspruch an das Qualitätsniveau ambulanter Leistungen aufrechterhalten werden kann. Schon jetzt signalisieren Beratungsstellen, dass das Qualitätsniveau in den einzelnen Angeboten variiert. Durch passgenaue und zielführende Angebote kann das Leistungsniveau für bestimmte Klientengruppen erhöht werden, während es an anderer Stelle, bedingt durch die nicht gleichzeitig angepassten Ressourcen, wiederum abnimmt. Auf einen Nenner gebracht, befürchten Berater/-innen einen Rückgang der Nachhaltigkeit der Leistungen, was sich beispielweise in den Halte- und Rückfallquoten niederschlägt.
Die ambulante Suchthilfe ist überwiegend pauschal finanziert auf den Säulen von Eigenmitteln, staatlichen Zuschüssen, Refinanzierungen/Erwirtschaftungen und Projektfinanzierungen. Die kostendeckende Finanzierung der Leistungen und Angebote der ambulanten Suchthilfe ist in den letzten Jahren deutlich schwieriger geworden. Öffentliche Mittel sind rückläufig und stehen unter Einsparvorbehalt. Die Leistungsvergütung hat sich für die Leistungserbringer tendenziell verschlechtert. Gleichzeitig nimmt der Druck in den Einrichtungen zur Eigenwirtschaftlichkeit zu. Tendenziell nimmt der pauschal finanzierte Anteil im Budget der Beratungsstellen ab. Ziel einer auskömmlichen Finanzierung ist eine grundsätzliche Kostendeckung, es ist aber auch zu vermeiden, dass die pauschale Finanzierung der Grundversorgung in den Kommunen mit spezifischen Leistungsangeboten konkurriert bzw. verrechnet wird.
Perspektiven der ambulanten Suchthilfe
Hat die ambulante Suchthilfe auch weiterhin das Ziel, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit in einer Region oder Kommune zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen, dann sind – verbunden mit den eben skizzierten Herausforderungen – folgende Aspekte für eine Perspektive wesentlich:
Suchtberatung ist allen zugänglich und hilft frühzeitig, sie ist teilhabe- und sozialraumorientiert
Wie im Sinne einer Präambel muss im Grundverständnis der Daseinsvorsorge der Kommunen verankert sein, dass Suchtberatung allen Bürgern/-innen voraussetzungslos zugänglich sein muss. Niemand wird wegen seiner Herkunft, seiner Lebensumstände oder mangelnder Kaufkraft ausgeschlossen. Professor Matthias Möhring-Hesse von der Hochschule Vechta geht so weit, bei der Sozialen Arbeit von einem „öffentlichen Gut“ zu sprechen, von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen sein darf. Ein Angebot nach diesem Verständnis muss per se niedrigschwellig sein. Mit dem Ziel erhöhter Erfolgschancen wie auch im Sinne von Ressourcenschutz hat die Suchtberatung den Anspruch, möglichst frühzeitige Hilfe zu leisten. Das gilt auch für eher „schwer erreichbare“ Zielgruppen, bei denen die ambulante Suchthilfe mit einem rein nachfrageorientierten Verständnis im Sinne der „Komm-Struktur“ an ihre Grenzen stößt. Das erfordert ein Umdenken im methodischen Zugang der ambulanten Suchthilfe. Ansätze aufsuchender Hilfen werden ausgeweitet. Angebote und Maßnahmen werden zunehmend im Verständnis von Sozialraumorientierung entwickelt und erbracht.
Die Schärfung des eigenen Profils beginnt bei der Diagnostik
Die Bedarfe der Hilfesuchenden werden immer vielschichtiger. Das hat Auswirkungen auf die Anforderungen an die Diagnostik und Psychodiagnostik in der ambulanten Suchthilfe, die diese Vielschichtigkeit der Lebenslagen erkennen und erfassen muss. Daraufhin ergeben sich Anforderungen an ein modulbezogenes und bedarfsgerechtes Hilfeangebot und insbesondere an ein gestuftes Hilfeangebot, das im Sinne von stepped care und Ressourcenorientierung angemessene und aufeinander aufbauende Maßnahmen der Beratung, Begleitung und Behandlung bereithält. Das handlungsleitende Prinzip dabei ist: „So viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich“ – statt „Viel für wenige“ eher „Etwas für viele“. Eine solche Differenzierung des Leistungsprofils unterscheidet Kernleistungen (Grundversorgung), spezifische Leistungen für die jeweilige Kommune (Pflicht) und von der ambulanten Suchthilfe zusätzlich angebotene Leistungen (Kür). Die ambulante Suchthilfe benötigt zukünftig mehr fachliche und personelle Ressourcen für managementorientierte Aufgaben. Nicht zu Lasten der Beratung und Betreuung, aber ergänzend, damit die Verschiebung in der Arbeit zu Koordinierung, Vernetzung, Wirkungsorientierung und Ökonomie besser gelingt.
Verbünde haben Konjunktur – gemeinsam sind wir besser
Aufgrund der steigenden fachlichen und versorgungsorientierten Anforderungen werden strategische Überlegungen zur Verbundorientierung an Bedeutung gewinnen – je nach den jeweiligen regionalen und kommunalen Erfordernissen. In eine kommunale oder regionale Suchthilfeplanung, die sich eine bedarfsorientierte Grundversorgung im Sinne einer öffentlichen Gesundheitsversorgung zum Ziel gesetzt hat, müssen die vielfältigen Netzwerke eingebunden sein. An dieser Stelle kann und muss die ambulante Suchthilfe eine zentrale koordinierende und flankierende Rolle spielen.
Auf den Schnittstellen liegt das Augenmerk der Zukunft
Komplexe Problemlagen benötigen in der Regel komplexe Lösungen. Das ist eine Binsenweisheit. Viele Problemlagen, mit denen die Suchthilfe konfrontiert ist, lassen sich alleine aus der Suchthilfe heraus nicht lösen, sondern nur in sinnvoller Kooperation mit anderen Akteuren innerhalb einer integrierenden Versorgungslandschaft. Die eigentliche Weiterentwicklung im Sinne verbesserter Hilfen und Angebote für betroffene Menschen liegt in einer optimierten und intensivierten Schnittstellenarbeit. Das bindet fachliche wie personelle Ressourcen und kann nicht mal schnell nebenher erledigt werden. Erforderlich ist: Voraussetzungen zu schaffen, um diese eigenständige Fachlichkeit des Schnittstellenmanagements erbringen zu können.
Wirkungsorientierung ist der Boden, auf dem wir stehen
Die konsequente Darstellung von Wirkzusammenhängen wird an Bedeutung gewinnen. Dies ist erforderlich für die fachliche Weiterentwicklung, für die Transparenz der Arbeit, für den gezielten Einsatz von Ressourcen und damit für die Rechtfertigung des Handelns in der ambulanten Suchthilfe – letztlich auch in einem fast moralisch zu verstehenden Sinn: Hilfesuchende Menschen in der ambulanten Suchthilfe haben ein Recht auf wirkungsvolle Hilfen. Das deutlich zu machen, konsequenter und intensiver darzustellen – gegenüber den Geldgebern aus der öffentlichen Hand und der Sozialversicherung, der Politik wie auch in die Öffentlichkeit hinein – ist eine vordringliche Aufgabe der ambulanten Suchthilfe.
Der Blick auf die Ökonomie macht ehrlicher
Ähnliches gilt für den unmittelbaren Zusammenhang von Kosten und Nutzen. Dabei darf der Blick auf die Ökonomie nicht alles sein, darf nicht zum vorherrschenden Maßstab des Handelns werden. Aber der Blick auf Ökonomie macht ehrlicher. Eine langfristige ökonomische Sicht ist abzugrenzen von kurzfristigen Kosteneinsparansätzen, bei denen es nur darum geht, monetär festzustellen, wer welche Leistung am billigsten anbieten kann. Ökonomie langfristig verstanden bedeutet, öffentlich darzustellen, dass wirtschaftliche Erfordernisse nicht zu trennen sind von Wirkungszusammenhängen, von der Nachhaltigkeit in der Leistungserbringung, vom unmittelbaren Nutzen der Leistungen für die Betroffenen und vom mittelbaren Nutzen für die soziale Gemeinschaft. Ökonomie so verstanden ist ein deutliches Argument gegen die allein subjektbezogene Finanzierung auf der Grundlage von Einzelverträgen und Leistungsvereinbarungen und für eine langfristige ökonomische Gestaltung der Hilfen. Und sie ist ein gewichtiges Argument für den Aufbau einer langfristigen Sozialpartnerschaft zwischen Kommune und Leistungsanbietern vor Ort.
Qualitätsmanagement sichert den Erfolg
Der gleichermaßen konsequente wie umsichtige Umgang mit Qualitätsmanagement schafft die Grundlagen dafür, in den Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die vielschichtigen fachlichen und leistungsrechtlichen Anforderungen und damit verbundene Maßnahmen so zu ordnen und aufeinander zu beziehen, dass deren Wirkungen auch dort ankommen, wo sie hinzielen, also bei den Menschen mit Suchtproblemen.
Fazit
Das Paradigma aus Wirksamkeit (Effektivität), Effizienz (Wirtschaftlichkeit) und Nachhaltigkeit (Qualität) darf nicht der alleinige Maßstab zur Rechtfertigung von Maßnahmen der ambulanten Suchthilfe sein. Nicht alles lässt sich in dieses Schema einordnen, nicht alle Problemlagen und Lösungsansätze lassen sich in messbare Schablonen pressen. Das geht auf Kosten der Vielfältigkeit und vor allem der Kreativität der Lösungen. Die Lebenswirklichkeit der hilfesuchenden Menschen ist vielschichtiger, lebendiger. Und die Antwort der ambulanten Suchthilfe in ihrer Orientierung an der psychosozialen Arbeit ist vielschichtiger, kreativer.
Aber die ambulante Suchthilfe muss sich dem beschriebenen Optimierungsprozess stellen, managementorientierte Handlungsprogramme mit Augenmaß einsetzen und mit den lebendigen und kreativen Möglichkeiten psychosozialer Arbeit verknüpfen.
Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas-Suchthilfe e. V. (CaSu), Freiburg.
Literatur:
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Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe (AKS), Sucht(-hilfe) kostet Geld – Suchthilfe spart Geld! – eine Argumentationshilfe für die Praxis, Freiburg 2003
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