Schlagwort: Suchtforschung

  • Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    David Schneider
    Ulrich Claussen
    Katharina Munz

    Die heute teils intensive Mediennutzung im Alltagsleben der Bevölkerung ist ein medial verbreitetes und mitunter kontrovers diskutiertes Thema. Auch in der Suchthilfe kommt der Thematik „intensiver Medienkonsum“ eine immer größere Bedeutung zu. Es ist damit zu rechnen, dass die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Relevanz der Folgen der allgemeinen Digitalisierung eher zu- als abnehmen wird.

    Das intensive Mediennutzungsverhalten von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung lässt sich als komorbides Verhalten im Sinne einer medienbasierten Abhängigkeit begreifen oder auch als Verlagerung anderer Suchtproblematiken interpretieren. Es ist davon auszugehen, dass Menschen mit Suchtproblematik ein spezifisches Risiko für problematischen Medienkonsum aufweisen. Studien, die in der stationären Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen und in anderen Hilfesettings durchgeführt wurden, deuten auf einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen und einer erhöhten Vulnerabilität für medienbasiertes Suchtverhalten hin (Müller et al., 2012 a + b; Müller, 2019).

    Seit der Studie von Müller et al. über „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012, auf die wir uns in der vorliegenden Untersuchung zu einem großen Teil beziehen, ist viel Zeit vergangen. Das Internet wird flächendeckend in allen sozialen Milieus genutzt und ist durch Smartphones auch mobil jederzeit verfügbar. Die durch technische Neuerungen bewirkten Veränderungen der Kommunikationsformen haben dazu geführt, dass der Stellenwert digitaler Medien heute ein ganz anderer ist. Deswegen erscheint es uns sinnvoll, an die mitunter über zehn Jahre zurückliegenden Fragen nach dem medienbasierten Verhalten von Klientinnen und Klienten im Suchthilfesystem anzuknüpfen.

    Unserer Einschätzung nach ist es wichtig, das Medienkonsumverhalten anamnestisch abzuklären, es im Blick zu haben und auf entsprechende Anzeichen und Hinweise seitens der unterstützten Personen zu reagieren. Aus der Perspektive der Suchthilfe besteht die Gefahr, dass behandlungsrelevante pathologische Mediennutzung in den verschiedenen Suchthilfesettings lange unentdeckt bleibt und sich − auch in Wechselwirkung mit stoffgebundenen Süchten – negativ auf den individuellen Verlauf auswirkt.

    Forschungsfrage

    In den Einrichtungen des Frankfurter Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) ist das Thema Medienkonsumverhalten – insbesondere im Kontext der Suchtprävention – immer wieder präsent, gleichzeitig liegen wenige aktuelle belastbare Daten vor. Mit der im Folgenden vorgestellten Untersuchung wollten wir feststellen, in welcher Intensität Medien von den von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit tatsächlich genutzt werden.

    Aufgrund der weiten Verbreitung des Internets und der Möglichkeit, dieses auch in Einrichtungen der Suchthilfe während der Beratung und Behandlung zu nutzen, liegt die Hypothese nahe, dass sich die bereits im Jahr 2012 festgestellte Komorbidität weiter erhöht hat. Auch könnte der Anteil der Personen mit einer latenten medienbasierten Abhängigkeit in den ambulanten Einrichtungen der Suchthilfe weit höher liegen als bisher angenommen, da das Medienkonsumverhalten bei anderweitiger Erstdiagnose oft nicht abgefragt wird. Klientinnen und Klienten werden deshalb nicht ausreichend unterstützt, ihr Medienkonsumverhalten zu hinterfragen und zu ändern. Ziel unserer praxisnahen Untersuchung ist folglich auch, das Thema abhängiger Medienkonsum zu beleuchten und ggf. noch stärker in die Alltagspraxis der Beratung und Behandlung zu integrieren.

    Methode und Design

    Es wurde eine explorative Querschnittsstudie mit n=136 Personen mit einer Suchtmittelabhängigkeit mit einem Befragungszeitpunkt durchgeführt. Die Befragung fand von November 2021 bis März 2022 statt. Die teilnehmenden Einrichtungen wurden zuvor ausführlich informiert, die Fragebögen wurden den beteiligten Mitarbeiter:innen erläutert. Die Befragung wurde anonym und ohne die Möglichkeit zur Verknüpfung mit anderen Daten aus Betreuung und Behandlung durchgeführt.

    Befragt wurden nur Klient:innen, die bereits mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit oder pathologischem Glücksspiel als Erstdiagnose ins Hilfesystem eingemündet waren. Klient:innen, die aufgrund eines medienbasierten abhängigen Verhaltens als Hauptproblematik die Einrichtungen aufsuchten, waren von der Studie ausgenommen. So sollte sichergestellt werden, dass tatsächlich das Phänomen der Komorbidität untersucht wurde.

    Um eine Stichprobe von Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankung zu gewinnen, wendeten wir uns an verschiedene Suchthilfeeinrichtungen des Trägervereins JJ. Die Gewinnung der Befragten erfolgte ohne weitere Ausschlusskriterien als anfallende Stichprobe. Wir erhielten 138 Fragebögen zurück, davon waren 136 auswertbar. Es konnte eine sehr gute Datenqualität erreicht werden. Die Antworten verteilen sich auf ein breites Spektrum von Einrichtungstypen, wie in Tabelle 1 ersichtlich. (Am Ende des Artikels werden die beteiligten Einrichtungen aufgezählt*.)

    Tabelle 1: Anzahl der Personen aus den verschiedenen Einrichtungstypen

    Instrumente

    Die Skala zum Onlinesuchtverhalten bei Erwachsenen OSVe-S (Wölfling, K., Müller, K.W. & Beutel, M.E., 2008) ist ein Fragebogen zur Erfassung medienbasierten Suchtverhaltens. Neben einer Beschreibung des Medienkonsums werden im OSVe-S Kriterien für eine Abhängigkeit erfragt. Einige Fragen beziehen sich beispielsweise auf das Verlangen nach Onlineaktivitäten („Wie häufig erscheint Ihnen Ihr Verlangen nach Onlineaktivitäten so übermächtig, dass Sie diesem nicht widerstehen können?“), andere auf vergebliche Kontrollversuche („Wie häufig haben Sie bisher versucht, Ihr Onlineverhalten aufzugeben bzw. einzuschränken?“). Weitere Items erfragen schädlichen Gebrauch von Medien („Wie häufig vermeiden Sie negative Gefühle [z. B. Langeweile, Ärger, Trauer] durch Onlineaktivitäten?“). Insgesamt können 45 Punkte erreicht werden, mehr als 13 Punkte sprechen für abhängigen, 7 bis 13 Punkte für einen problematischen oder grenzwertigen Medienkonsum.

    Ergänzt wurden die Angaben zum OSVe-S durch Angaben zu Alter, Geschlecht, Betreuungssetting, Einrichtung und Hauptsuchtmittel.

    Stichprobe

    Es werden n=136 Menschen befragt, die sich in einer stationären Suchthilfeeinrichtung befinden oder durch eine ambulante Suchthilfeeinrichtung beraten oder betreut werden: 112 Männer (82,3 %) und 24 Frauen (17,7 %). Es werden fast ausschließlich Erwachsene befragt, das Durchschnittsalter beträgt 36,2 Jahre, die jüngste befragte Person ist 17, die älteste befragte Person 63 Jahre alt.

    Nach der von ihnen hauptsächlich konsumierten Substanz befragt, nennen 60,5 % eine Substanz, 39,5 % nennen mehrere. Insgesamt zeigen sich folgende Ergebnisse: 30,7 % der Befragten nennen Cannabis, 25,4 % Kokain, 23,7 % Alkohol, 18,4 % Opiate, 13,2 % Stimulanzien und 13,2 % Sonstiges.

    Berufstätig sind 25 % der Befragten, 14,4 % in Vollzeit angestellt, 6,1 % in Teilzeit, 4,5 % der Befragten geben eine selbständige Tätigkeit an. Weitere 6,8 % befinden sich in Ausbildung oder Studium. 46,2 % der Befragten geben an, kein Anstellungsverhältnis zu haben, also ohne Erwerbstätigkeit zu sein.

    Aus vorangegangenen Untersuchungen und aus der klinischen Beobachtung vermuten wir, dass es in der hier untersuchten Stichprobe von Menschen mit einer Drogen-, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit einen relativ hohen Anteil von Personen mit einem missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhalten geben könnte.

    Aufgrund des explorativen Designs unserer Studie haben wir darauf verzichtet, eine Kontrollgruppe zu rekrutieren, und vergleichen die Anteile missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhaltens in unserer Stichprobe mit den Ergebnissen der vorausgegangenen Untersuchung „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz“ (2012).

    Ergebnisse

    Häufigkeit einer problematischen oder abhängigen Mediennutzung

    Insgesamt zeigen 21,3 % der Befragten ein missbräuchliches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten. 78,7 % zeigen ein unauffälliges Mediennutzungsverhalten (s. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Onlinenutzung: Ergebnisse der beiden Studien im Vergleich

    In der Auswertung von JJ kamen 23 Personen auf einen Wert zwischen 7 und 13 Punkten. Dieser Punktebereich zeigt missbräuchliche Mediennutzung an und liegt bei 16,9 % der Befragten vor.

    Sechs Personen oder 4,4 % weisen einen Punktewert höher als 13 Punkte auf und fallen damit in den Bereich der Abhängigkeit. Im Vergleich mit der Studie aus dem Jahr 2012 lässt sich ein hoher Anteil an Menschen feststellen, die die Kriterien für medienbasiertes Suchtverhalten erkennen lassen.

    Genutzte Onlineangebote

     Die bloße Erfassung der Onlineaktivitäten sagt zunächst wenig über ein potenziell riskantes, missbräuchliches oder gar abhängiges Mediennutzungsverhalten aus. Gerade für Klient:innen in stationären Settings der Suchthilfe stellt z. B. das Chatten über Messenger-Dienste oder Online-Communities eine wesentliche Möglichkeit dar, mit ihren Angehörigen während der Zeit der Reha in Kontakt zu bleiben. Gleichwohl liefern die Daten einen Überblick, welche digitalen Möglichkeiten wie intensiv genutzt werden. Am meisten Zeit wird laut der Befragten für Internetrecherche aufgebracht, gefolgt von Chatten und Online-Communities. Aber auch Angebote wie Glücksspiel werden von 6,8 % oft bzw. sehr oft genutzt. 16,1 % benutzen oft oder sehr oft Onlinesex-Angebote (s. Tabelle 3).

    Tabelle 3: Genutzte Onlineangebote (JJ 2022)

    Begrenzung der online verbrachten Zeit

    Insgesamt ist ein Drittel (33,2 %) der Befragten zumindest gelegentlich länger online, als sie es sich vorgenommen hatten. 11,1 % sind dies oft oder sehr oft. Ihnen gelingt es kaum, sich online zu begrenzen. Es ist dann auch diese Gruppe, die sich schlecht fühlt, wenn sie nicht online sein kann (11,8 %). Gelegentlich schlecht fühlen sich  9,6 %, wenn sie keine Onlineaktivitäten ausüben können.

    Verlangen nach Onlineaktivitäten

    Fragt man nach der Stärke des durchschnittlichen Verlangens nach Onlineaktivitäten, geben insgesamt 41,9 % an, einen mittelstarken bis sehr starken Drang nach Onlineaktivitäten zu verspüren. Bei 13,2 % ist der Drang stark bis sehr stark.

    8 % der Befragten geben an, dass ihnen der Drang nach Onlineaktivitäten sehr oft so übermächtig erscheint, dass sie ihm nicht widerstehen können. 13,2 % der Befragten geben an, dass es ihnen gelegentlich so geht.

    Vermeidung negativer Gefühle

    Um negative Gefühle wie Langeweile oder Ärger zu überspielen, gehen zumindest gelegentlich 41,9 % online. 16,9 % tun dies oft bzw. sehr oft. Dies verweist auf die Kompensations- und Ablenkungskraft des Onlineangebotes.

    Länge und Intensität der Onlineaktivitäten

    Ein schlechtes Gewissen bezüglich der Länge und Intensität ihrer Onlineaktivitäten haben zumindest gelegentlich 35,5 %. 14,0 % geben an, oft oder sehr oft zu viel oder zu lange online zu sein.

    Negative Folgen aufgrund des Onlineverhaltens

    Die Befragten nennen manifeste negative Folgen des Mediennutzungsverhaltens (s. Tabelle 4). Die Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten kennt ein Drittel der Befragten. Knapp 20 % nennen Geldprobleme, was darauf verweist, dass auch kostenintensive Aktivitäten zu verzeichnen sind. 22,1 % nennen Probleme mit der Gesundheit, was ein hoher Wert ist. Leider kann nicht expliziert werden, um welche gesundheitlichen Probleme es sich hierbei handelt. Aus der Beratungspraxis lässt sich schließen, dass es sich hierbei um Probleme der körperlichen Gesundheit wie Schmerzen im Rücken, Belastung der Augen oder auch Probleme mit dem Tag-Nacht-Rhythmus bzw. dem Einschlafen handeln könnte. Auch psychische Probleme sind denkbar, ein erhöhter Medienkonsum geht häufig mit einer zunehmenden Antriebslosigkeit einher und kann die Entstehung von depressiven Symptomen begünstigen.

    Tabelle 4: Von Befragten genannte Problembereiche aufgrund ihrer Mediennutzung (JJ 2022)

    Insbesondere Menschen aus der jüngeren Altersgruppe bis 34 Jahre leiden aufgrund ihrer Mediennutzung häufiger an sogenanntem digitalen Stress, einem Zustand der psychischen und physiologischen Stressbelastung, die auf die Nutzung von z. B. Social Media zurückzuführen ist. So heißt es in einer Studie aus dem Jahr 2020: „Für die jüngste Altersgruppe (14. bis 34. Lebensjahr) bestätigte sich, dass ein intensiver bis exzessiver Gebrauch von Social Media mit erhöhter Ängstlichkeit und Symptomen aus dem depressiven Formenkreis, insbesondere Antriebsminderung, innerer Unruhe und Erschöpfungszuständen korrespondierte.“ (Müller, 2020)

    In dieser Altersgruppe ist auch in der aktuellen Befragung der Anteil der Personen mit problematischer Mediennutzung erheblich höher als in der älteren Gruppe (s. Tabelle 7).

    Vergleiche zwischen Gruppen

    Im Folgenden werden Personen, die die Kriterien für eine suchtartige Mediennutzung erfüllen, mit Personen verglichen, die keine Mediennutzungsstörung aufweisen.

    Tabelle 5: Geschlecht der Klient:innen mit unauffälligem und mit suchtartigem Mediennutzungsverhalten
    Tabelle 6: Genannte hauptsächlich konsumierte Substanz

    Auffällig ist der hohe Anteil der Menschen, die Stimulanzien konsumieren und gleichzeitig suchtartig Medien nutzen (60,0 %). An zweiter und dritter Stelle für die Häufigkeit einer komorbiden Mediennutzungsstörung stehen Klient:innen, die hauptsächlich Cannabis (35,0 %) und Alkohol (30,8 %) konsumieren (s. Tabelle 6).

    Tabelle 7: Alter der Befragten

    Nicht sehr überraschend wird deutlich, dass der Anteil derjenigen, die Medien suchtartig nutzen, unter den Jüngeren (bis 34 Jahre) höher, ja fast doppelt so hoch, ist als bei den Befragten, die älter als 34 Jahre sind (27,3 % vs. 13,4 %) (s. Tabelle 7).

    Tabelle 8: Betreuungssetting, in dem sich die Befragten zum Zeitpunkt der Befragung befanden

    Auffällig ist in Tabelle 8 die hohe Zahl der von suchtartiger Mediennutzung Betroffenen im ambulanten Setting. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Strukturen in stationären Einrichtungen mehr Kontrolle über den Medienkonsum bieten, während eine Person, die Beratung in einem ambulanten Setting wahrnimmt, außerhalb dieser Termine weitestgehend selbst über ihren Medienkonsum und ihre Tagesstruktur bestimmen kann.

    Vergleich mit vorangegangener Studie

    Im Folgenden werden die JJ-Zahlen mit den Zahlen der Studie „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012 (vgl. Müller et al., 2012) verglichen.

    Nutzung von Onlineangeboten

    Tabelle 9: Nutzung von Onlineangeboten im Vergleich

    Es lässt sich gut erkennen, dass in den letzten Jahren vor allem die Bereiche Online-Einkaufen, Online-Communities und Streamingdienste deutlich stärker genutzt werden (s. Tabelle 9). Der Bereich der Streamingdienste wurde 2012 noch nicht abgefragt, da ein solches Angebot zu diesem Zeitpunkt noch nicht flächendeckend der Allgemeinbevölkerung zur Verfügung stand. An der aktuellen Prozentzahl lässt sich jedoch erkennen, dass dieser Bereich einen großen Teil der Mediennutzung ausmacht.

    Negative Folgen bzw. Probleme aufgrund des Onlineverhaltens

    Tabelle 10: Entstandene Probleme bei Menschen mit suchtartiger Internetnutzung im Vergleich

    Auffällig ist, dass sich die entstandenen Probleme der Menschen, die eine suchtartige Internetnutzung aufweisen, verbessert haben und in fast allen Bereichen weniger Probleme aufzutreten scheinen, als das in der Studie von 2012 der Fall war (s. Tabelle 10). Dies mag zum einen an der Veränderung der Stichprobe liegen. Prozentual gesehen ist der Anteil der Menschen mit suchtartiger Nutzung stark angestiegen, aber die Konzentration der verschiedenen Probleme pro Person ist nicht mehr so hoch wie bei der Stichprobe aus 2012. Zum anderen lassen sich Medien heutzutage aufgrund von Smartphones etc. möglicherweise besser in den Alltag integrieren und verursachen dadurch gefühlt oder tatsächlich weniger Probleme als vor zehn Jahren. Werte bis zu 69 % sind aber trotz der Verbesserung immer noch sehr hoch, und es verwundert nicht, dass sich diese Probleme bei Menschen mit suchtartiger Nutzung immer noch zeigen.

    Tabelle 11: Entstandene Probleme bei Menschen ohne suchtartige Internetnutzung im Vergleich

    Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass es sich bei Tabelle 11 um die Werte der Personen handelt, die anhand des Fragebogens keine problematische Nutzung des Internets aufweisen. Trotzdem zeigen sich in unserer Untersuchung deutlich höhere Werte für entstandene Probleme als in der Vergleichsstudie.

    Obwohl laut Fragebogen hier keine suchtartige Mediennutzung besteht, berichtet fast ein Viertel der Befragten von Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten und fast ein Fünftel von finanziellen Schwierigkeiten aufgrund des eigenen Mediennutzungsverhaltens. Es scheint also angeraten, auch bei Personen, die in der Befragung keine suchtartige Internetnutzung gezeigt haben und ein scheinbar unproblematisches Nutzungsverhalten haben, genauer nachzufragen, ob ihr Verhalten trotz der niedrigen Punktzahl in der Auswertung Probleme in ihrem Leben verursacht.

    Zusammenfassung und Fazit

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die aktuelle Zahl der Klient:innen in der ambulanten und stationären Suchthilfe, die Kriterien für ein medienbasiertes Suchtverhalten zeigen, hoch ist. Sie ist deutlich höher (21,3 %) als in der zum Vergleich herangezogenen Studie von Müller et al. aus dem Jahr 2012 (4,2 %).

    Unterscheidet man bei JJ die Suchthilfesettings ambulant und stationär, ergibt sich, dass Klient:innen im ambulanten Setting mit 30,6  % stärker betroffen sind als Personen im stationären Setting mit 16,7 %.

    Jüngere Klient:innen unter 34 Jahren scheinen mehr von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein (27,3 %) als ältere Klient:innen (13,4 %).

    Auch Personen, die unterhalb des Cut-Offs für suchtartige Internetnutzung liegen und somit als „unproblematische“ Nutzer:innen gelten, beschreiben, dass ihr Mediennutzungsverhalten in vielen Bereichen ihres Lebens Probleme verursacht (Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten 23,4 %, Konflikte mit der Familie 15,9 % und Probleme mit der Gesundheit 13,1 %). In diesem Themenfeld ist ebenfalls ein starker Anstieg im Vergleich zur Studie aus 2012 zu erkennen.

    Hervorzuheben ist zudem noch die Differenz zur Allgemeinbevölkerung. Die Studie „Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark“ aus dem Jahr 2023 legt hierzu valide Zahlen vor. Demnach liegt die Prävalenz in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung der Steiermark geräteunabhängig bei 9,7 %. Ausgehend davon, dass sich die Internetnutzung in Deutschland und Österreich nur bedingt unterscheiden dürfte, lässt sich hier ein signifikanter Unterschied der Prävalenzen zwischen Allgemeinbevölkerung (9,7 %) und Personen aus dem Suchthilfesetting (21,3 %) feststellen.

    Diskussion

    Die vorliegende Untersuchung ist als explorative Querschnittsstudie angelegt, eine Intervention wurde nicht vorgenommen, ein randomisiertes und kontrolliertes Design haben wir für unsere Fragestellung „Wie stellt sich das Mediennutzungsverhalten der von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit dar?“ nicht vorgesehen. Dementsprechend können wir hier deskriptive Ergebnisse vorlegen und mit Ergebnissen von vorausgehenden Untersuchungen vergleichen. Aus den Ergebnissen leiten wir weiteres Vorgehen und Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgung ab, die wir im Folgenden darstellen.

    Aus unserer Sicht sollten einige Ansatzpunkte weiterverfolgt werden. Diese betreffen vor allem eine Anpassung der Versorgung an die hier ermittelten Bedarfe an Beratung und Behandlung, aber auch zusätzliche Forschungsfragen, da die Datenlage zum Mediennutzungsverhalten bei Personen mit einer substanzgebundenen Abhängigkeit bislang sehr überschaubar ist. Folgende Ansatzpunkte sehen wir:

    • Anpassen von Dokumentation und Anamnese
    • Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten
    • Weitere Forschung

    Anpassen von Dokumentation und Anamnese

    Die hier vorgelegten Daten spiegeln sich bislang in unseren Jahresstatistiken nicht wider. Dies liegt zum einen an Voreinstellungen der Basisdokumentation, die somit zu einer Unterbetonung des Problems beitragen. Studien zeigen, dass insbesondere die suchtartige Nutzung von Pornographie in den letzten Jahren vermehrt vorkommt und auch in den kommenden Jahren stärker in der Suchthilfe vertreten sein könnte (vgl. Mestre-Bach et al., 2020). Dieses Themenfeld lässt sich in der aktuellen Basisdokumentation noch nicht dokumentieren. Hier sind also bessere Möglichkeiten der digitalen Dokumentation nötig.

    Des Weiteren ist medienbasiertes Suchtverhalten ein Thema, das oft nicht direkt angesprochen wird. Oftmals stehen stoffgebundene Probleme im Fokus von Beratung und Behandlung. Aus den vorgelegten Daten lässt sich die Notwendigkeit ableiten, Mediennutzung in der Anamneseerhebung stets zu erfragen und Beratung und Behandlung auf die Bedarfe hin abzustimmen. Nicht erfasstes Medienverhalten kann nicht behandelt werden – ein Phänomen, das auch in der „IBSfemme“-Studie thematisiert wird (vgl. Müller et al, 2019).

    Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten

    Wenn gleichzeitig eine stoffgebundene Abhängigkeit und ein problematisches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten vorliegen, sollten beide Anliegen in einer Beratung ihren Platz finden, die Aufteilung auf zwei beratende Personen erscheint wenig zielführend und wenig ökonomisch. Eine Aufteilung in allgemeine, oft auch dezentrale Suchtberatungen und Fachstellen für Verhaltenssucht, die vorrangig in Großstädten angeboten wird, bietet keine integrierte Versorgung aus einer Hand und erfordert zusätzliche Wege und weitere Ressourcen.

    Eine Integration der Beratung zu problematischer Mediennutzung erfordert Schulungen für die Beratenden. Sowohl Beratung im Einzelkontakt als auch Beratung in Gruppen für substanzgebundene Störungen erfordert neben allgemeiner beraterischer Kompetenz noch Fachwissen zu Substanzen und zu abhängiger und problematischer Mediennutzung. Eine Spezialisierung weniger Beratender wird der Breite des Problems nicht gerecht. Um mit der Vielzahl der komorbid betroffenen Klient:innen sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich kompetent umgehen und passgenaue Angebote entwickeln/umsetzen zu können, müssen Mitarbeiter:innen zum Thema geschult sein und sich kompetent fühlen. Ist dies nicht der Fall, können Gefühle von Überforderung entstehen und Widerstände, sich des Themas anzunehmen.

    Weitere Forschung

    Kinder und Jugendliche gelten als gefährdete Gruppe für die Entwicklung eines problematischen Mediennutzungsverhaltens. Zur Entwicklung von Medienkompetenz sind präventive Angebote erforderlich. Bei bereits bestehenden Problemen mit Mediennutzung sind sekundärpräventive Ansätze zu entwickeln. Die Beratung und Behandlung von Menschen mit abhängiger oder problematischer Mediennutzung zusätzlich zu einer bereits bestehenden Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen ist wenig erforscht und sollte in die bestehenden Angebote integriert werden. Mögliche Forschungsfragen hierzu wären:

    • Wie kann die Funktionalität dieser beiden Störungen geklärt werden? Bedingt das eine Problem das andere, gehen beide auf eine gemeinsame Ursache zurück oder existieren sie unabhängig voneinander? (vgl. Moggi, 2014)
    • Verändern sich Auftretenswahrscheinlichkeiten von problematischer Mediennutzung im lebensgeschichtlichen Verlauf einer substanzbezogenen Abhängigkeit?
    • Wie ist die Geschlechterverteilung dieser Problematik einzuschätzen und was sind mögliche Ursachen hierzu? Gibt es systematische Unterschiede zu den einzelnen Bereichen problematischer Mediennutzung?
    • Handelt es sich um eine jugendtypische Problematik oder tritt diese auch im höheren Erwachsenenalter auf?
    • Gibt es Zusammenhänge zwischen konsumierten Substanzen und Art der problematischen Mediennutzung?

    Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein Großteil der von Substanzen abhängigen Menschen scheint zusätzlich von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein. Zudem lassen Studien in der Allgemeinbevölkerung besonders unter den Minderjährigen und in Bezug auf spezielle Themenfelder wie Online-Sexsucht darauf schließen, dass exzessive Mediennutzung ein Thema ist, das die Suchthilfe und andere Hilfeangebote in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen wird.

    *An der Untersuchung beteiligte Einrichtungen: Therapiedorf Villa Lilly (Bad Schwalbach), Haus der Beratung (Frankfurt), Therapeutische Einrichtung Auf der Lenzwiese (Höchst im Odenwald), Übergangseinrichtung Wolfgang-Winckler-Haus (Kelkheim), Suchthilfezentrum Wiesbaden, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Hochtaunuskreis (Bad Homburg), Betreute Wohngemeinschaft Eddersheim, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Main-Taunus-Kreis (Hofheim), Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Rheingau-Taunus-Kreis (Taunusstein)

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Katharina Munz
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 0611 9004870
    E-Mail: Katharina.munz(at)jj-ev.de

    Ulrich Claussen
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-11
    E-Mail: kontakt(at)claussen-psychotherapie.de

    David Schneider
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-13
    E-Mail: david.schneider(at)jj-ev.de

    Literatur
    • Programmheft Deutscher Suchtkongress 7. – 9. September 2022 in München. Lübeck, 2022
    • Herz, A., Tran, K. (2022). Jugendfreundschaften während der Coronakrise. https://www.dji.de/themen/corona/jugendfreundschaften-in-der-pandemie.html
    • JIM-Studie 2020 + 2021
    • DAK Mediensucht 2020-Studie: Gaming und Social Media und Corona 2020, vor allem S. 82 ff.
    • DKHW Kinderreport 2021
    • Mestre-Bach, G., Blycker, G.R., Potenza, M.N. (2020): Pornography use in the setting of the COVID-19 Pandemic, J Behav Addict. 2020 Jun; 9(2):181-183
    • Moggi, F. (2014) Theoretische Modelle bei Doppeldiagnosen. In: Walter, M., Gouzoulis-Mayfrank, E. (Hrsg.) (2014) Psychische Störungen und Suchterkrankungen: Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Stuttgart: Kohlhammer
    • Müller, K.W., Koch, A., Beutel, M.E., Dickenhorst, U., Medenwaldt, J., Wölfling, K., (2012 a). Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz. Psychiatrische Praxis, 2012, 39: 286 – 292
    • Müller, K.W., Ammerschläger, M., Freisleder, F. J., Beutel, M., E., Wölfling, K., (2012 b). Suchtartige Internetnutzung als komorbide Störung im jugendpsychiatrischen Setting – Prävalenz und psychopathologische Symptombelastung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 40 (5), 2012, S. 331 – 339
    • Müller, K. W., (2019). Internetbezogene Störungen bei weiblichen Betroffenen: Nosologische Besonderheiten und deren Effekte auf die Inanspruchnahme von Hilfen (IBSfemme)
    • Türcke, C., (2019): Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft, C.H. Beck, München 2019
    • Müller, K. W. (2020): Die Nutzung von sozialen Medien durch Kinder und Jugendliche – Ein Überblick über gesundheitsrelevante Aspekte, Kinder- und Jugendmedizin 2020; 20(04): 229-236
    • Gesundheitsfond Steiermark (2023). Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark, Graz 2023
  • Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    1. Einleitung

    Bereits Anfang 2020 war erkennbar, dass die SARS-CoV-2-Pandemie erhebliche Implikationen auch auf die medizinische Rehabilitation haben wird. Daher initiierte die Deutsche Rentenversicherung Bund den Förderaufruf „Forschungsvorhaben zu Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf das System der Rehabilitation“. In diesem Rahmen wurde das hier vorgestellte Forschungsprojekt „Auswirkungen der SARS‐CoV‐2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation und Nachsorge (CoV-AZuR)“ im Sommer 2020 am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin konzipiert.

    Die Sucht-Rehabilitation unterscheidet sich von der medizinischen Rehabilitation bei anderen Indikationen in mehreren Aspekten, welche während der SARS-CoV-2-Pandemie Bedeutung gehabt haben könnten. Hierzu gehören besondere Zugangswege. Neben Entgiftungsstationen in Akutkrankenhäusern und weiteren Institutionen erfolgt der Zugang insbesondere über Suchtberatungsstellen. Das Spektrum der Einrichtungen, in denen Sucht-Rehabilitation durchgeführt wird, variiert erheblich, von Suchtberatungsstellen mit wenigen Reha-Behandlungsplätzen bis hin zu großen Fachkliniken mit hunderten Betten. Die durchschnittliche Dauer der Sucht-Rehabilitation beträgt 86 Tage, im Gegensatz zu 23 Tagen in der somatischen Rehabilitation (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Entsprechend höher liegen die Kosten für Sucht-Rehabilitationsleistungen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2020). Die Rehabilitandenstruktur unterscheidet sich deutlich von derjenigen in der übrigen medizinischen Rehabilitation: Sie weist einen hohen Männeranteil, ein vergleichsweise niedriges mittleres Alter und einen niedrigen sozioökonomischen Status mit einer Überrepräsentation von z. B. Arbeitslosen, Wohnungslosen, Menschen in betreutem Wohnen und Gefangenen auf.

    Während der Pandemie kam es zu Veränderungen im Zugang zu Suchtmitteln und im Konsumverhalten. Die Studienlage hierzu ist je nach Suchtmittel und untersuchter Population uneinheitlich (Georgiadou et al., 2020; Koopmann et al., 2020; Manthey et al., 2020; Suhren et al., 2021; Klosterhalfen et al., 2022). Es wurden neue oder vermehrt in der Pandemie auftretende Motive für erhöhten Substanzkonsum und verstärktes Suchtverhalten identifiziert, darunter Langeweile, Einsamkeit und Angst vor Ansteckung (Lochbühler, 2021). Es ist aus vorherigen Studien bekannt, dass diese Faktoren bestehende Suchterkrankungen verstärken bzw. die Rückfallgefahr erhöhen können (Henkel, Zemlin, 2009).

    Vor diesem Hintergrund hatte die Studie zum Ziel, pandemiebedingte Veränderungen in der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge zu beschreiben. Folgende Fragestellungen wurden untersucht: Welche Veränderungen während der SARS‐CoV‐2-Pandemie zeigten sich für die Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Bezug auf

    1. organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen,
    2. Personal und Teamarbeit,
    3. Zugang und Inanspruchnahme der Sucht-Rehabilitation und Rehabilitandenstruktur,
    4. Reha-Konzept, therapeutische Leistungsangebote und Digitalisierung
    5. und in Bezug auf Behandlungsergebnisse?

    2. Methoden

    Die Beobachtungsstudie verfolgt einen Mixed-Methods-Ansatz und bindet mehrere Akteure und Perspektiven ein. Hierzu gehören Einrichtungsleitungen, Behandler:innen und Rehabilitand:innen. Die Studie gliedert sich in vier Module M1 bis M4:

    M1: Einrichtungsleitungen aller ca. 1.050 Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Deutschland wurden zu zwei Zeitpunkten (t1: Herbst 2021, t2: Sommer 2022) angefragt, online einen Fragebogen auszufüllen. Einschlusskriterium war das Vorhalten wenigstens einer der folgenden Leistungstypen: stationäre Rehabilitation (STR), Adaption (ADA), ganztägig ambulante Rehabilitation (TAR), ambulante Rehabilitation (ARS) und Suchtnachsorge (NAS). Der auswertbare Rücklauf umfasste zu t1/t2 n=336/415 Fragebögen für n=556/615 Einrichtungsstandorte. Für einen Teil der Analysen wurden die Einrichtungen in drei Settings gruppiert:

    1. Stationäre Einrichtungen: ausschließlich stationäres Angebot inkl. Adaption (t1/t2 n=58/68)
    2. Gemischt stationär-ambulante Einrichtungen (inkl. TAR, n=39/35)
    3. 3. Ambulante Einrichtungen: ausschließlich berufs-/alltagsbegleitendes ambulantes Angebot (ARS und/oder NAS, n=239/312).

     M2: Zur vertieften Exploration wurden mit n=26 ärztlich oder therapeutisch in Sucht-Reha-Einrichtungen tätigen Personen Leitfaden-gestützte Interviews (über Videotelefonie) zu zwei Zeitpunkten durchgeführt (t1: Ende 2021/Anfang 2022; t2: Herbst 2022). Die Audioaufnahmen wurden transkribiert und inhaltsanalytisch nach Kuckartz ausgewertet.

     M3: In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde in 34 Sucht-Reha-Einrichtungen eine Hybrid-Befragung (wahlweise online oder schriftlich) von insgesamt n=460 Personen, die sich zum Befragungszeitpunkt in Sucht-Rehabilitation (n=303) oder Nachsorge nach vorheriger Sucht-Rehabilitation (n=157) befanden, durchgeführt. Die Angaben wurden deskriptiv ausgewertet.

    M4: Ergänzend wurden Routine-Statistiken der Deutschen Rentenversicherung und Routine-Daten, die mit dem Kerndatensatz Sucht (KDS) erhoben werden, vergleichend für die Jahre 2019 bis 2021 herangezogen.

    Abbildung 1 zeigt, wie sich die vier Studienmodule in den Pandemieverlauf zeitlich einordnen.

    Abbildung 1: Studienmodule mit Erhebungszeiträumen im Pandemieverlauf. Pfeile symbolisieren retrospektive Fragestellungen teils spezifisch auf die erste Welle bezogen (M1) und Einschluss von Personen in Nachsorge, die zuvor ihre Rehabilitation abgeschlossen hatten (M3). Quelle: Robert-Koch-Institut 2023; eigene Darstellung.

    In diesem Beitrag werden ausgewählte Studienergebnisse vorgestellt. Eine detailliertere Beschreibung sowohl der Methodik als auch von einzelnen Ergebnissen und deren Einordnung in den Forschungsstand wurde an anderer Stelle publiziert (Brünger et al., 2023; Burchardi et al., 2023).

    3. Ergebnisse

    3.1 Organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

    Nahezu sämtliche Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und Nachsorge berichteten von der Implementierung umfassender Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie. Diese Maßnahmen umfassten die Verpflichtung zum Testen und zum Tragen von Masken, Abstandsregeln, die Reduzierung von Gruppengrößen, die Erweiterung räumlicher Kapazitäten (teilweise durch Anmietung oder Umwidmung von Räumlichkeiten), die Umwandlung von Doppelzimmern in Einzelzimmer sowie restriktivere Vorschriften bezüglich Ausgang, Besuchen und Heimfahrten. Der infolge der Implementierung von Hygiene- und Abstandsregeln entstandene Raummangel führte bei etwa 70 % der Einrichtungen zu Problemen bei der Umsetzung von Therapie und Aufenthalt. Die subjektive Wahrnehmung von Corona-Schutzmaßnahmen durch die Rehabilitand:innen selbst variierte: Während 34 % der Befragten eher oder völlig zustimmten, dass sie sich durch die Hygienemaßnahmen stark eingeschränkt fühlten, gaben 42 % an, sie fühlten sich eher nicht oder überhaupt nicht eingeschränkt.

    Die Einstellungen in Bezug auf Corona-Schutzimpfungen variierten deutlich zwischen den verschiedenen Einrichtungen. Einerseits akzeptierte etwa ein Drittel der Einrichtungen zumindest zeitweise nur Rehabilitand:innen mit Impfnachweis (34 %). Andererseits verzichteten zwei Drittel der Einrichtungen durchgehend im Zeitverlauf auf einen Impfnachweis (66 %). Die einrichtungsbezogene Impfpflicht für das Personal wurde je nach Setting von 59-85 % der Einrichtungsleitungen begrüßt. Allerdings traten in 23-30 % der Einrichtungen Konflikte in der Belegschaft in Bezug auf die Corona-Schutzimpfung auf, die in Einzelfällen zu Kündigungen oder Versetzungen führten (Abbildung 2).

    Abbildung 2: Interne Probleme aufgrund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Abbrüche oder Unterbrechungen laufender Reha-Leistungen, ein Aufnahmestopp und die generelle Ein­­stellung von rehabilitativen und weiteren, nicht-rehabilitativen Leistungen waren am häufigsten in der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 zu verzeichnen. Jedoch war dies bei einer Minderheit der Einrichtungen der Fall. Die häufigsten genannten Gründe hierfür waren landesrechtliche bzw. behördliche Anordnungen gefolgt von innerbetrieblichen Gründen. Ein beträchtlicher Anteil der Einrichtungs­leitungen gab an, die Anzahl der Behandlungsplätze pandemiebedingt reduziert zu haben. Die Reduktion fiel in der ersten Welle besonders hoch aus, überwiegend in Einrichtungen der stationären (48 %) und ganztägig ambu­lan­ten Rehabilitation (55 %). Die am häufigsten genannten Gründe waren ein Mangel an Therapie­räumen sowie ein Mangel an Rehabilitandenzimmern aufgrund zunehmender Einzel­belegung.

    Bedingt durch die Reduktion von Behandlungsplätzen, die gesunkene Nachfrage und pandemiebedingte Mehrausgaben gestaltete sich die wirtschaftliche Situation der Einrichtungen 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 auch unter Berücksichtigung von Ausgleichszahlungen für etwa jede zweite Einrichtung mit stationärem Angebot (49 %) und gut jede dritte ambulante Einrichtung schwieriger (39 %). Dies führte je nach Setting bei 26-51 % der Einrichtungen zu Zurückstellungen von Investitionen (Abbildung 3).

    Abbildung 3: Finanzielle Auswirkungen der Pandemie (M1, t1). Mehrfachantworten möglich

    Die Einrichtungsleitungen bewerteten Vorgaben und Unterstützungsangebote der Fachverbände überwiegend positiv, auch die Leistungsträger erhielten eine eher positive Bewertung. Hierzu zählt die mehrheitlich als flexibel und unbürokratisch erachtete Möglichkeit zur modifizierten Leistungs­erbringung bzw. Abrechnung während der Pandemie. Hingegen wurden Gesundheitsämter und andere staatliche Institutionen bzw. Behörden kritischer bewertet.

    3.2 Personal und Teamarbeit

    Die Pandemie war mit erheblichen Auswirkungen auf Personalsituation und -management verbunden. Hierzu gehören zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 eine Verringerung oder Einstellung von Fortbildungen, mehr Homeoffice, Mehrarbeit/Überstunden und Verschiebung von Urlaub. Daneben wurden als Herausforderungen krankheitsbedingte Ausfälle beim Personal, besondere Regelungen für Risiko-Beschäftigte, Abbau von Überstunden bzw. Resturlaub sowie erhöhter Personalbedarf genannt. Zum zweiten Befragungszeitpunkt im Sommer 2022 hatten pandemiebedingte Auswirkungen auf die Personalsituation etwas abgenommen, lagen jedoch weiterhin auf einem hohen Niveau. Eine Ausnahme stellte der Personalausfall durch Krankheit dar: Dies war zu diesem Zeitpunkt mit je nach Setting 61-85 % Nennungen der am häufigsten berichtete Aspekt (Abbildung 4).

    Abbildung 4: Auswirkungen der Pandemie auf Personalsituation und -management (M1). Mehrfachantworten möglich

    Je nach Setting berichteten im Herbst 2021 74-82 % der Einrichtungen von erheblichen Veränderungen in der Teamarbeit. Im Sommer 2022 ging dieser Anteil bei den stationären Einrichtungen leicht von 74 % auf 67 % zurück und halbierte sich in gemischt stationär-ambulanten (41 %) und rein ambulanten Einrichtungen (37 %). Zu den genannten Veränderungen gehörten die Einführung von digitalen Teamsitzungen, weniger Möglichkeiten zur Supervision und Team-Konflikte hinsichtlich Corona (Abbildung 5).

    Abbildung 5: Art der Veränderungen in Teamarbeit (M1). Mehrfachantworten möglich

    Ein sehr hoher Anteil der Einrichtungsleitungen in stationären (90 %) und gemischt stationär-ambulanten Einrichtungen (97 %) sowie 77 % der ambulanten Einrichtungen berichteten im Herbst 2021 von pandemiebedingten beruflichen Mehrbelastungen beim Personal. Private Mehrbelastungen wurden vergleichbar häufig genannt (84-89 %). Im Sommer 2022 ging der Anteil zurück, jedoch gab weiterhin die Mehrheit der Einrichtungsleitungen berufliche (53-73 %) und private (58-71 %) Mehrbelastungen an. Zu den genannten beruflichen Mehrbelastungen gehören Hygiene- und Schutzmaßnahmen, höhere Arbeitsintensität bzw. Mehrarbeit, veränderte Teamarbeit und veränderte Arbeitsinhalte, Umstellung auf digitale therapeutische Angebote, Homeoffice und veränderte Arbeitszeiten. Als private Mehrbelastungen wurden psychische Anspannung und Stress, Angst vor Ansteckung und Belastung durch vermehrte häusliche Kinderbetreuung bzw. Homeschooling sowie Belastungen durch soziale Isolation und reduzierte Work-Life-Balance genannt.

    3.3 Zugang, Inanspruchnahme und Rehabilitandenstruktur

    Gut die Hälfte der befragten Rehabilitand:innen (54 %) gab an, dass es pandemiebedingt zu einem erhöhten Verlangen bzw. Drang nach Suchtmitteln kam. Von diesen Personen wurden als häufigste Gründe soziale Isolation/Einsamkeit (73 %), Langeweile (64 %) und Konflikte in Partnerschaft und/oder Familie (36 %) angegeben. 52 % gaben einen (eher) erhöhten Suchtmittel­konsum an, 11 % einen verminderten Konsum. 62 % der Befragten berichteten, häufiger allein konsumiert zu haben.

    Während der Pandemie waren zunächst 23 % der Rehabilitand:innen über Behandlungsmöglich­keiten (eher) verunsichert, 19 % hatten laut eigenen Angaben nicht ausreichend professionelle Hilfe. 12 % gaben (eher) Schwierigkeiten an, sich über Möglichkeiten einer Sucht-Rehabilitation zu infor­mieren. 13-15 % der Befragten empfanden die Suchthilfe und ‑beratung in der Nähe als schwer oder gar nicht persönlich erreichbar und nahmen überwiegend telefonische oder Online-Gespräche wahr. 11 % gaben (eher) an, dass sie von keiner Klinik zur Entgiftung aufgenommen werden konnten (Abbildung 6).

    Abbildung 6: Subjektive Wahrnehmung von Beratung und Unterstützung im Vorfeld einer Sucht-Rehabilitation (M3)

    Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung lag die Anzahl der Sucht-Reha-Leistungen 2020 und 2021 um 10 % bzw. 9 % unter dem Niveau des Vorpandemiejahrs 2019. Der Rückgang fiel bei Frauen (-12 %/-11 %) und Alkohol­abhängigkeit (-13 %/-16 %) sowie für Kurzzeitbehandlung (-12 %/-18 %) und Adaption (-14 %/-12 %) überdurchschnittlich hoch aus. Bei illegalen Drogen wurde 2021 fast wieder das Niveau von 2019 erreicht (-2 %). Die Quote von angetretenen zu bewilligten Sucht-Reha-Leistungen reduzierte sich gemäß Deutsche Rentenversicherung von 79 % im Jahr 2019 auf 70 % im Jahr 2021. Die Einrichtungsleitungen berichteten ebenfalls von einem erhöhten Anteil an Nicht-Antrit­ten, der im Sommer 2022 noch anhielt. Als Gründe für die gesunkene Nachfrage wurden Verun­sicherung über Behandlungsmöglichkeiten in der Pandemie (79 %), weniger Weitervermittlungen (69 %), Angst vor Ansteckung (62 %) und restriktive Regeln in der Einrichtung (48 %) am häufigsten genannt.

    Je nach Setting vermuteten im Sommer 2022 71-80 % der Einrichtungsleitungen mittelfristig einen erhöhten Bedarf an Sucht-Rehabilitationen im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Als primärer Grund wurde von 99 % ein pandemiebedingter Anstieg von Suchtproblematiken angegeben, 47 % begründeten ihre Erwartungen zudem mit nachzuholenden Leistungen.

    Hinsichtlich möglicher Veränderungen der Rehabilitandenstruktur während der Pandemie gaben die Einrichtungsleitungen zu beiden Befragungszeitpunkten an, dass der Anteil von Personen mit ausgeprägter somatischer bzw. psychischer Komorbidität gestiegen sei.

    3.4 Reha-Konzept, Leistungsangebote und Digitalisierung

    Die Einrichtungsleitungen berichteten zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 von erheblichen Änderungen sowohl am Reha-Konzept als auch bei einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten. Die Mehrheit der Einrichtungen trennte zumindest zeitweise konsequent sowohl Behandlungsgruppen (60-66 %) als auch Wohnbereiche (48-56 %). Bei gruppen­therapeutischen Angeboten wurden Gruppengrößen reduziert, Gruppen ins Freie verlagert, Ersatzangebote wie „Stillarbeit“ angeboten bzw. auf telefonische und videogestützte Einzel- und Gruppentherapie umgestellt. Auch angehörigenorientierte Interventionen wurden stark eingeschränkt bzw. auf digitale Formen umgestellt. Externe Belastungs- und Arbeitserprobungen sowie Praktika mussten aufgrund von Ausgangs- und Heimfahrtbeschränkungen sowie restriktiven Regeln bei kooperierenden Unternehmen eingeschränkt werden. Einige Reha-Einrichtungen erweiterten im Gegenzug ihre internen berufsbezogenen Angebote oder gewährleisteten einen digitalen Austausch mit externen Unternehmen. Im Sommer 2022 zum zweiten Befragungszeitpunkt wurden Änderungen am Reha-Konzept und an einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten seltener berichtet.

    Im Herbst 2021 gaben 48 % der Leitungen von stationären Einrichtungen und 71-74 % der Leitungen der übrigen Einrichtungen an, dass sich in der Pandemie die therapeutische Beziehung verändert habe. Als Gründe wurden vorwiegend die Maskenpflicht und Abstandsregeln genannt. Reduzierte Gruppengrößen sowie mehr Einzeltherapie wurden in Hinblick auf den Aufbau einer guten therapeutischen Beziehung kontrovers beurteilt. Je nach Setting überwogen leicht negative bzw. positive Bewertungen. Die Rehabilitand:innen nahmen ihre Rehabilitation während der Pandemie subjektiv überwiegend positiv wahr. 63 % stimmten der Aussage (eher) zu, sich innerhalb der Reha-Einrichtung sicher und frei zu fühlen. Nur 12 % gaben an, dass die Therapie durch Konflikte aufgrund von Meinungsverschieden­heiten zum Thema Corona beeinträchtigt war. Allerdings berichtete gut die Hälfte der Einrichtungsleitungen im Herbst 2021, dass es wegen restriktiverer Ausgangs-, Besuchs- und Heimfahrtregeln häufig (17 %) bzw. gelegentlich (39 %) zu Konflikten mit Rehabilitand:innen oder Angehörigen kam. Lediglich etwa 7 % der Einrichtungen gaben an, dass es diesbezüglich nie zu Konflikten gekommen sei.

    Telefonische und digitale Technologien kamen in der Pandemie für zahlreiche Leistungsangebote vermehrt zum Einsatz. Am häufigsten waren telefonische Einzeltherapien verbreitet, 95 % der ambulanten und 58 % der stationären Einrichtungen berichteten dies. Zudem boten 72 % der ambulanten Einrichtungen Einzeltherapie auch videogestützt an, bei stationären Einrichtungen waren es 22 %. Ein häufiger Einsatzzweck für digitale Technologien waren auch Online-Vorgespräche vor Aufnahme (je nach Setting bei 38-45 % der Einrichtungen) und Online-Angehörigengespräche (51-56 %). Gut ein Drittel der gemischt stationär-ambulanten (35 %) und ambulanten Einrichtungen (37 %) berichtete, auch Gruppentherapien online erbracht zu haben. Telefonisch angebotene Gruppen­therapien waren hingegen selten (je nach Setting 1-14 %) (Abbildung 7).

    Abbildung 7: Nutzung telefonischer/digitaler Therapieangebote (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Von den befragten Rehabilitand:innen gab ein Viertel an, telefonische bzw. digitale Angebote in Anspruch genommen zu haben, wobei die Nutzung in der ambulanten Rehabilitation (37 %) erheblich höher als in der stationären Rehabilitation (10 %) ausfiel.

    Die Implementierung von telefonischen bzw. digitalen Therapieangeboten wurde sowohl von Einrichtungsleitungen als auch Rehabilitand:innen überwiegend positiv beurteilt. 87 % der Einrichtungsleitungen fanden dies während der Pandemie als ergänzendes Angebot (eher) sinnvoll, 84 % plädierten (eher) dafür, dies auch nach der Pandemie zu ermöglichen. Zugleich gaben 75 % an, dass Vor-Ort-Angebote (eher) zu bevorzugen sind. Bei der Befragung von Rehabilitand:innen zeigten sich vergleichbare Ergebnisse.

    3.5 Behandlungsergebnisse

    Laut Deutscher Suchthilfestatistik blieb der Anteil planmäßiger Entlassungen über die Jahre 2019 bis 2021 konstant bei etwa 80 %. Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung ging der Anteil regulärer Entlassungen im Bereich Alkoholabhängigkeit im Jahr 2020 (62 %) im Vergleich zu 2019 (66 %) etwas zurück, stabilisierte sich jedoch 2021 (65 %) wieder annähernd. Ein vergleichbarer Befund zeigte sich für die Arbeitsfähigkeit bei Rehabilitationsende.

    Schwierigkeiten beim Entlassmanagement berichteten 77 % der stationären Einrichtungen und 43 % der Einrichtungen mit ambulantem Angebot im Herbst 2021. Im Sommer 2022 reduzierte sich dieser Anteil deutlich auf 33 % bzw. 19 % der Einrichtungen. Am häufigsten wurden Probleme bei der Weitervermittlung in Selbsthilfegruppen berichtet (je nach Setting 83-86 %). Ebenso war der Zugang in Nachsorge (41 %), in ambulante ärztliche (23-46 %) und psychotherapeutische Versorgung (36-52 %) und in berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen (28-51 %) während der Pandemie vielfach erschwert. Tendenziell wurden in allen drei Settings im Sommer 2022 für die meisten Weiterbehandlungsbereiche seltener besondere Schwierigkeiten berichtet. Ausnahmen stellen die ambulante ärztliche (48-55 %) und psychotherapeutische Versorgung (50-85 %) dar (Abbildung 8).

    Abbildung 8: Weiterbehandlungsbereiche, bei denen Schwierigkeiten auftraten (M1). Mehrfachantworten möglich; nur Ergebnisse n≥5 dargestellt

    Die befragten Einrichtungsleitungen berichteten sowohl von positiven als auch negativen Einflüssen auf den Behandlungserfolg. Verkleinerungen der Gruppengröße wurden am häufigsten positiv hinsichtlich des Behandlungserfolgs eingeschätzt, gefolgt von mehr Einzeltherapie und festen Gruppenkonzepten. Als negative Einflussfaktoren des Behandlungserfolgs wurden fehlende externe Belastungserprobung, Veränderungen der Ausgangs-, Heimfahrt- und Besuchsregelungen, Personalbelastungen sowie Hygiene- und Abstandsregeln genannt.

    4. Diskussion

    Es zeigten sich deutliche pandemiebedingte Auswirkungen auf die Sucht-Rehabilitation in Bezug auf Rahmenbedingungen, Personalsituation und Teamarbeit, Inanspruchnahme von Sucht-Rehabilitation sowie hinsichtlich Reha-Konzept und Ausgestaltung einzelner therapeutischer Leistungsangebote. Um das Therapieangebot bei gleichzeitig bestmöglichem Schutz von Rehabilitand:innen und Personal vor einer Corona-Infektion aufrechtzuerhalten, mussten die Sucht-Reha-Einrichtungen mit Beginn der Pandemie in kürzester Zeit umfassende Konzepte zur Hygiene und Infektionsprävention erstellen, umsetzen und regelmäßig an die aktuellen Vorgaben und die jeweilige Pandemiesituation anpassen. Damit einher gingen Veränderungen in der Teamarbeit – z. B. digital geführte Teamsitzungen, Supervisionen sowie Fort- und Weiterbildungen – sowie erhöhte berufliche und private Belastungen für das Personal.

    Die Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation reduzierte sich in den Jahren 2020 und 2021 um jeweils etwa 10 % gegenüber 2019, allerdings fiel dieser Rückgang weniger stark aus als in der medizinischen Rehabilitation insgesamt. Hier waren Rückgänge von 18 % bzw. 15 % zu verzeichnen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Ein Großteil der Einrichtungsleitungen rechnet kurz- bis mittelfristig mit einer steigenden Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation, im Wesentlichen begründet durch einen pandemiebedingten Anstieg an Suchtproblematiken und als Nachholeffekt. Die gesunkene Nachfrage, die notwendige Verringerung von Behandlungsplätzen und pandemiebedingte Mehrausgaben gingen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Reha-Einrichtungen einher. 2022 kamen Energiekrise und Inflation hinzu.

    Nahezu alle therapeutischen Leistungsangebote mussten zur Wahrung von Corona-Schutzmaßnahmen zumindest zeitweise in veränderter Form erbracht werden, beispielsweise durch Verkleinerungen von Gruppen, Verlagerungen ins Freie und durch Umstellungen auf digitale und telefonische Angebote. Dies hatte laut Einrichtungsleitungen unterschiedliche Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung. So wurden Maskenpflicht und Abstandsregeln mehrheitlich als negativ empfunden. Es ist derzeit noch nicht eindeutig beurteilbar, ob Pandemie und Corona-Schutzmaßnahmen und damit verbundene Änderungen des Rehabilitationskonzepts und der therapeutischen Leistungsangebote Auswirkungen auf den langfristigen Behandlungserfolg haben, da Auswertungen zur Katamnese zwölf Monate nach dem Ende der Rehabilitation im Pandemiezeitraum erst begrenzt verfügbar sind. Gemäß Routinedatenauswertungen hat sich der kurzfristige Behandlungserfolg hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit zu Reha-Ende – nach einem leichten Rückgang im Jahr 2020 – im Jahr 2021 wieder auf dem Niveau vor der Pandemie stabilisiert (Erbstößer et al., 2022).

    Während der Pandemie wurden vermehrt telefonische und digitale Technologien für einzelne therapeutische Leistungsangebote eingesetzt, darunter Einzel- und Gruppentherapien sowie für Vorgespräche und angehörigenorientierte Interventionen. Dies wurde sowohl von Einrichtungs­leitungen als auch Rehabilitand:innen als ergänzendes Angebot überwiegend positiv bewertet. Grund­sätzlich werden Vor-Ort-Angebote bevorzugt. Zugleich waren sowohl Einrichtungsleitungen als auch befragte Rehabilitand:innen mehrheitlich der Meinung, dass telefonische und digitale Therapieangebote auch über die Pandemie hinaus eine sinnvolle und niedrigschwellige Ergänzung darstellen. Solche Angebote ermöglichten es den Einrichtungen zudem, in der Pandemie unter Wahrung von Corona-S­chutz­maßnahmen die therapeutische Beziehung auch bei Personen aufrechtzuerhalten, die beispiels­weise aufgrund von Krankheit oder Quarantäne nicht an Vor-Ort-Therapien teilnehmen konnten.

    Es liegt bislang wenig Evidenz vor, ob telefonische oder digitale rehabilitative Angebote genauso wirksam sind wie Vor-Ort-Angebote. Es gibt zwar vergleichende Studien zur Wirksamkeit einzelner digitaler Angebote wie ambulante Psychotherapie (Lutz et al., 2021) und Suchtberatung (Pritszens, Köthner, 2020). Jedoch existieren noch keine ausreichenden Erkenntnisse darüber, ob sich diese Ergebnisse auf komplexe Versorgungsformen wie die Sucht-Rehabilitation übertragen lassen. Weitere Wirksamkeits­untersuchungen sind wünschenswert, um den Nutzen digital erbrachter Therapieangebote besser beurteilen zu können.

    5. Fazit

    Die Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ­‑Nachsorge wurden in der Pandemie vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Durch gemeinschaftliche Anstrengungen konnten diese Herausforderungen gemeistert werden. Davon zeugen:

    • der im Vergleich zur übrigen medizinischen Rehabilitation geringere Rückgang bei der Inanspruch­nahme der Sucht-Rehabilitation,
    • die im gesamten Pandemieverlauf kontinuierliche und lückenlose Aufrechterhaltung eines niedrigschwelligen Sucht-Rehabilitations- und Nachsorgeangebots in der Fläche, teils unter Nutzung telefonischer und digitaler Technologien,
    • der allenfalls temporär reduzierte kurzfristige und langfristige Rehabilitationserfolg (soweit sich dies anhand der vorliegenden Studiendaten und weiterer Statistiken und Veröffentlichungen aktuell beurteilen lässt).

    Diese in der Pandemie gewonnenen Erfahrungen bieten Potenzial für die Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation sowohl für zukünftige Krisen als auch für die Routineversorgung in postpandemischer Zeit.

    Um die Versorgung auf hohem Niveau und angepasst an die gegebenen Bedingungen auch in Krisenzeiten zu gewährleisten, ist es sinnvoll, Vorkehrungen zu treffen. Dazu zählen:

    • die Erstellung von Pandemieplänen einschließlich der kurzfristigen Einrichtung eines Krisenstabs bei Bedarf,
    • die Bereitstellung der erforderlichen technischen Ausstattung,
    • das Vorhalten von Infektionsschutzmaterialien und
    • die entsprechende Schulung der Beschäftigten.

    Zusätzlich ist es von entscheidender Bedeutung, die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit des Suchthilfesystems für Betroffene und Angehörige auch in Krisenzeiten zu kommunizieren, um potenzielle Versorgungslücken zu vermeiden.

    In einem anderen Forschungsprojekt wurden detaillierte Handlungsempfehlungen für pandemische Krisensituationen entwickelt, die prinzipiell auch auf die Sucht-Rehabilitation übertragbar sind (Annaç et al., 2023a). Dieser Handlungskatalog ist frei zugänglich (Annaç et al., 2023b). Jedoch sollte wegen Spezifika der Sucht-Rehabilitation geprüft werden, ob gegebenenfalls Modifikationen oder Ergänzungen bei einzelnen Empfehlungen ratsam sind.

    Neben der besseren Bewältigung zukünftiger Krisensituationen lassen sich aus der Studie Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation in der Regelversorgung ableiten. Der bedeutendste Aspekt ist der vermehrte Einsatz digitaler Technologien. Die Pandemie wirkte als Katalysator für die Digitalisierung im Bereich der Sucht-Rehabilitation. Zum einen sind digitale Technologien für interne Prozesse wie Besprechungen, Homeoffice, Supervisionen, Fort- und Weiterbildungen sowie für die externe Kommunikation mit Vor- und Nachbehandler:innen, mit Rehabilitand:innen und deren Angehörigen nutzbar. Zum anderen ist vor allem der Einsatz für therapeutische Zwecke möglich, beispielsweise für Einzel- und Gruppentherapien sowie für angehörigenorientierte Interventionen. Die Mehrheit der Einrichtungsleitungen hält dies in Ergänzung zu Vor-Ort-Angeboten für sinnvoll, beispielsweise als niedrigschwelliges Angebot für bislang nicht ausreichend erreichte Personengruppen (z. B. ländliche Regionen, bessere Vereinbarkeit von Reha und beruflichen oder privaten Verpflichtungen wie Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen). Ob digitale Technologien nach dem temporären Einsatz während der Pandemie auch langfristig in der Regelversorgung für die Erbringung von therapeutischen Leistungen in der Sucht-Rehabilitation eingesetzt werden, hängt insbesondere von der Schaffung entsprechender rechtlicher, finanzieller und organisatorischer Rahmenbedingungen und dem Nachweis vergleichbarer Behandlungserfolge ab.

    Förderhinweis:
    Die Studie wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund finanziell gefördert. Kooperationspartner der Studie waren der Bundesverband Suchthilfe e. V. (bus.) und der Fachverband Sucht+ e. V. Die Forschungsgruppe dankt allen Einrichtungen, die mitgewirkt haben.

    Literatur
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    • Annaç, K., Fieselmann, J., Wahidie, D., Ölcer, S., Audia, A., Yilmaz-Aslan, Y., Brzoska, P. (2023b). ReCoVer-Handlungskatalog. Handlungsoptionen zur Bewältigung pandemiebedingter Herausforderungen in der medizinischen Rehabilitation aus intersektionaler Multi-Stakeholder-Perspektive. Letzter Zugriff am 01.10.2023, https://www.uni-wh.de/fileadmin/user_upload/03_G/07_Humanmedizin/03_Lehrstuehle/Versorgungsforschung/ReCoVer_Handlungskatalog.pdf.
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    Kontakt:

    Martin Brünger
    Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
    Charité – Universitätsmedizin Berlin
    Charitéplatz 1
    10117 Berlin
    https://medizinsoziologie-reha-wissenschaft.charite.de/forschung/rehabilitationsforschung/
    rehaforschung@charite.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Alle Autor:innen sind am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin affiliiert.

    • Martin Brünger, Arzt, MPH, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
    • Stefanie Köhn, Dipl.-Päd. (Rehab.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Jennifer Marie Burchardi, B.Sc. Physiotherapie, M.Sc. Public Health, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Anna Schlumbohm, M.A. Soziologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Eva Jansen, M.A. Ethnologie, Psychologie und Politik, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Friedericke Schall, cand. med., Doktorandin
    • Prof. Dr. Karla Spyra, Professorin für Rehabilitationswissenschaften und Leiterin des Bereichs Rehabilitationsforschung am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
  • Sucht ist divers

    Sucht ist divers

    Prof. Dr. Rebekka Streck

    Dass Sucht als Krankheit zu verstehen ist, scheint in der deutschsprachigen Fachwelt unstrittig. Ein solches Krankheitsverständnis beruht auf einem Diagnosesystem, in dem Symptome einer Diagnostik untergeordnet werden. Diese Praxis hat Vorteile – aber auch Nachteile. Ein Nachteil ist, dass die Diversität eines Phänomens aus dem Blick gerät.

    Im Folgenden fokussiere ich auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phänomens Sucht. Ich setze das Wort „Sucht“ kursiv. Dies soll verdeutlichen, dass es sich dabei um ein gesellschaftliches Deutungsmuster handelt. Zugleich soll diese Schreibweise zeigen, dass Sucht ein offenes Konzept ist, das von Menschen – so wie den im Folgenden zitierten Gesprächspartner:innen – individuell genutzt wird. Ich spreche nicht von Abhängigkeit, weil dieser Begriff (jenseits von diagnostischen Setzungen) alltagsweltlich weniger präsent und in seiner Wortbedeutung unspezifisch ist, denn Menschen sind von sehr vielen Handlungsweisen und Stoffen abhängig.

    Nach einer kurzen kritischen Diskussion geläufiger Suchtdiagnostik werde ich einen lebensweltlichen Blick auf Sucht vorstellen, der Diversität zulässt, sogar nach ihr sucht. Hierzu werde ich anhand der Analyse von Interviews mit suchterfahrenen Menschen exemplarisch Unterschiede herausarbeiten und diese drei Kategorien zuordnen. Im Anschluss lege ich dar, welche Vorteile in einem solchen auf Diversität bezogenen Suchtverständnis liegen, im Gegensatz zu einem Verständnis, das nach Eindeutigkeit strebt. Dieser Artikel versteht sich als Teil der Wissenschaft Soziale Arbeit. Lebensweltorientierung (Thiersch u. a. 2012) ist eine der zentralen Theorien Sozialer Arbeit im deutschsprachigen Raum.

    1. Das Deutungsmuster „Sucht als Krankheit“ als Reduktion der Komplexität und Diversität

    Psychiatrisch-medizinisch geprägte Suchtdiagnostik ist gekennzeichnet durch Subsumtion (= Unterordnung). Ein Leiden, eine Beschreibung, ein Gefühl oder die Ergebnisse eines Tests werden einer Oberkategorie zugeordnet. Durch quantitative Forschung gestützte Diagnostikmanuale wie ICD-11 oder DSM-5 sollen das Diagnostizieren erleichtern, indem sie wahlweise unterschiedlich viele Aspekte benennen und festlegen, dass, wenn eine bestimmte Anzahl davon mit Ja beantwortet wird, eine Abhängigkeit oder substance use disorder vorliege (bei DSM-5 in unterschiedlicher Ausprägung). So ist medizinische Diagnostik erst einmal dadurch gekennzeichnet, dass Komplexität reduziert wird, um Kategorisierungen vorzunehmen. Dass diese Reduktion an Komplexität herausfordernd ist, wenn ein in sich konsistentes Diagnoseschema entwickelt werden soll, verdeutlicht eine rege Diskussion sowie eine kontinuierliche Veränderung von Diagnostiksystemen (vgl. bspw. Rumpf u. a. 2011, Heinz u. a. 2022).

    Ein solcher Prozess der Subsumtion prägt auch das alltagsbezogene Verständnis von Sucht. Menschen nehmen fremdes oder eigenes Handeln als abweichend und problematisch wahr und ordnen dieses dem Deutungsmuster Sucht zu. Diese alltägliche Typisierung eines Handelns als süchtig geschieht erheblich chaotischer und stärker subjektiv und kulturell geprägt, als es in der disziplinären Debatte in Psychologie und Medizin der Fall scheint. So begegnet uns Sucht ständig, im Gespräch mit der Freundin, die sich über das Computerspielverhalten ihres Freundes erregt, genauso wie in unterschiedlichsten medialen Formaten.

    Sucht ist also erstmal ein Deutungsmuster, mit dem diverse Phänomene in einen Container gepackt werden. Ein solches Deutungsmuster dient der alltäglichen oder auch der fachdisziplinären Kommunikation (vgl. Schmidt-Semisch 2010). Im sozialstaatlichen verwalterischen Umgang mit abweichendem Handeln dient es auch dazu, Zugänge zu öffentlich finanzierten Hilfemaßnahmen zu gewähren oder zu begrenzen. Es kann auch hilfreich sein, um das eigene oder fremde Handeln zu verstehen, ihm eine beispielsweise durch Medizin und Psychologie abgesegnete Bedeutung zu geben. Zugleich können solche vereinheitlichenden Deutungsmuster aber auch irreführend sein, weil möglicherweise auf subjektiver Ebene sehr unterschiedliche Erfahrungen gleichgesetzt werden. Vereinheitlichende Deutungsmuster können als einengend und stigmatisierend empfunden werden, weil die eigene Geschichte durch mächtigere Deutungen überschrieben wird (vgl. Boyd u.a. 2020).

    Eine solche Subsumtion kann auch den fachlichen Blick verstellen, so dass beispielsweise Sozialarbeiter:innen oder auch Ärzt:innen voreilig ihre Schlüsse ziehen, ohne den Einzelfall angemessen zu würdigen. Schütze (1992, S. 148 f.) sieht in dieser Paradoxie professionellen Handelns ein Risiko für Stigmatisierung und fachliche Fehleinschätzungen. In der Typisierung klammern Fachleute „sehr häufig – eigentlich empirisch durchaus vorliegende – konkrete, ‚schwierige‘ Informationen des Einzelfalls aus, die ein genaueres differenzierendes Hinsehen erforderlich machen und die automatische Anwendung von Typenkategorien verbieten würden“ (Schütze 1992, S. 149).

    2. Den lebensweltlichen Blick auf Diversitäten zulassen

    Auch wenn Sozialarbeiter:innen sich punktuell auf bio-medizinische Krankheitsverständnisse beziehen, bestimmen diese nicht ihre alltägliche Praxis. So wird in der Sozialen Arbeit eine lebensweltliche, soziale Diagnostik präferiert, die sich bspw. auf die ICF, die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, bezieht (vgl. Hansjürgens/Schulte-Derne 2020). Darüber hinaus möchte ich im Folgenden diesem diagnostizierenden Blick einen lebensweltlichen Blick zur Seite stellen. Hier geht es um die Frage, wie Menschen, die selbst sagen, dass sie süchtig sind oder süchtige Phasen durchlebt haben, Sucht beschreiben.

    Füssenhäuser (2016, S. 214) entsprechend verstehe ich Sucht als „ein spezifisches Deutungs- und Handlungsmuster, in und mit dem Menschen/Subjekte ihr Leben gestalten“. Dieses Deutungs- und Handlungsmuster kann im Kontext der Bewältigung alltäglicher Aufgaben Handlungsoptionen eher eröffnen oder eher schließen. Funktionalität und Dysfunktionalität können auch gleichzeitig bestehen oder sich in einer dynamischen Entwicklung abwechseln.

    Diversität von Sucht kann mindestens auf vier Ebenen betrachtet werden: Erstens kann das Deutungsmuster über verschiedene Zeiten und sozio-kulturelle Orte hinweg verglichen werden. Zweitens kann es aus einer intersektionalen Perspektive analysiert werden. Wie beeinflussen bestimmte Ungleichheitskategorien (bspw. Geschlecht, ökonomische Ressourcen oder Staatsbürgerschaft) die Klassifikation eines Handelns als süchtig oder auch das Erleben und Bewältigen von süchtigen Phasen? Drittens kann Diversität auch bezogen auf die präferierten Substanzen und ihre bio-medizinischen und sozialen Eigenschaften untersucht werden. So unterscheiden sich beispielsweise Praxen und das Erleben von Alkohol-, Crack- oder Tabakkonsum oder gar exzessivem Glücksspiel erheblich. Ich werde im Folgenden eine vierte Ebene in den Fokus nehmen: Welche Unterschiede zeigen sich in den Erzählungen von suchterfahrenen Menschen?

    Mit dem Ziel, ein lebensweltliches Suchtverständnis zu entwickeln, begann ich im Oktober 2022 ein Lehr-Lern-Forschungsprojekt an der Evangelischen Hochschule Berlin. Studierende führten zehn problemzentrierte Interviews mit suchterfahrenen Menschen. Die Kontaktaufnahme erfolgte unsystematisch über das private Umfeld der Studierenden, über Praxisstellen Sozialer Arbeit sowie über Selbsthilfegruppen. Es wurden neun Männer und eine Frau interviewt. Vornehmlich konsumierten die Befragten illegale Substanzen (Cannabis, Amphetamine, Kokain oder Heroin). Sie waren zwischen 19 und 60 Jahre alt. Die Analyse wurde gemeinsam mit den Studierenden angestoßen und schließlich allein fortgesetzt und orientiert sich an dem Forschungsstil der Grounded Theory.*

    Die Interviewtexte unterschieden sich stark voneinander und waren schwer unter ein lebensweltliches Suchtverständnis zusammenzufassen. Vielmehr wurden Unterschiede deutlich, die ich im Folgenden anhand von drei Kategorien darstellen werde: Motive für fortgesetzten Konsum (1), Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum (2) sowie Prozessverläufe (3). Ziel der folgenden Darstellung ist es nicht, Unterscheidungskategorisierungen zu fixieren. Hierzu bedürfte es einer entsprechenden Weiterführung der Forschung. Ich möchte die Bandbreite von Erfahrungen, die mit dem Deutungsmuster Sucht verbunden werden, darstellen. Zudem ist es mir wichtig, Menschen mit Suchterfahrungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Denn ein Blick in die deutschsprachige Forschungslandschaft verdeutlicht, dass Menschen, die von sich sagen würden, dass sie süchtig sind oder waren, bisher kaum in den Diskurs zur Frage, was Sucht ist, einbezogen werden.

    3. Suchterfahrene Menschen erzählen

    3.1 Motive für fortgesetzten Konsum: Sucht als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit

    Menschen berauschen sich mit legalen wie illegalen Substanzen. Die Gründe für den Konsum variieren: gemeinsam eine gute Zeit verbringen, Entspannung am Abend oder Intensivierung eines Erlebnisses (vgl. auch Barsch/Leicht 2014, S. 230). Auch suchterfahrene Menschen berichten von solchen Motiven. Bei den Motiven, den Konsum fortzusetzen und zu intensivieren, können mindestens zwei Begründungen unterschieden werden: Konsum als Bewältigung schwieriger Lebenssituationen einerseits und Konsum als Teil der Identitätsentwicklung andererseits.

    Daniel ist beim Interview ungefähr 30 Jahre alt. Wir haben ihn über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous für ein Interview gewinnen können. Er erzählt, dass er mit 19 Jahren begonnen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen, um sich „dicht zu machen. Das heißt, die Realität war mir zu viel.“ Er sagt: „Das Cannabis habe ich funktional genutzt, […] um mich zu betäuben.“ Er habe eine „hohe Grundanspannung“, und Cannabis habe ihm dabei geholfen, sich zu entspannen. Mit der Wirkung von Cannabis gelang es ihm, sich „freier zu fühlen und um auch tanzen zu können“ und auch „soziale Ängste“ zu bewältigen. Insofern erweitert der Konsum von Cannabis zunächst seine Handlungsmöglichkeiten, weil er sich in Situationen bewegen kann, die ihm zuvor verschlossen geblieben waren. Das Rauchen von Cannabis hilft ihm, soziale und emotionale Komplexität zu reduzieren. Der Konsum kann somit als Anpassungsversuch an soziale Anforderungen gedeutet werden.

    Konträr zu dieser Beschreibung erzählt Andreas, dass er derjenige gewesen sei, der immer „ins Extrem und dann noch einen Schritt weiter“ gegangen sei. Andreas ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Ein Student hat über eine gemeinsame Freundin zu ihm Kontakt aufgenommen. Andreas beginnt das Interview folgendermaßen: „Also es ist relativ früh schon sichtbar geworden, 14, 15, 13 um den Dreh. Extrem extrovertiertes Verhalten. Immer so ein bisschen ins Extreme gehen müssen und so, um Aufmerksamkeit zu generieren.“ Andreas stellt seinen Drogenkonsum in den Kontext einer Selbstbeschreibung. Dieser hilft ihm aber nicht – wie Daniel –, sich sozialen Anforderungen anzupassen, sondern ermöglicht ihm, sich als besonders darzustellen. Im weiteren Verlauf des Interviews bringt er die Funktion des Drogenkonsums auf den Punkt: „Also so blöd das klingt, es war halt ein Stück von mir sozusagen, wie ich mich gegeben habe. Ich war halt Andreas, so ein bisschen das Sorgenkind. Andreas der Süchtige, was weiß ich, um den man sich kümmert und der ja voll lieb ist und den wir voll gern haben und so.“

    Sowohl Daniel als auch Andreas leben mittlerweile weitgehend abstinent. Sie beschreiben, dass sie ihren Konsum verändert haben, als diese Strategien im Kontakt zu anderen Menschen zunehmend dysfunktional wurden. Für Daniel behindert der Konsum zunehmend das angestrebte integrierte Leben (bspw. Kritik von Freund:innen, Probleme beim Lernen für die Universität). Andreas befürchtet, an einem Punkt seine Familie zu verlieren, die ihn lange begleitet hat. Sucht wird in beiden Fällen sozial kontextualisiert: als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit.

    3.2 Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum: Sucht als soziale Eingebundenheit oder radikales Ausblenden sozialer Einflüsse

    Eine Vielzahl von Unterschieden im Erleben des Konsums psychoaktiver Substanzen und im Erzählen davon zeigt sich auf einer zweiten Ebene. Diese Ebene entspricht dem, was mit der Akteur-Netzwerk-Theorie als „Attachements“ bezeichnet werden kann (vgl. Gertenbach 2019, Streck 2022). Menschen stellen in ihrem Alltag unterschiedliche Verknüpfungen zwischen Substanzen, Zeiten, Orten oder auch sozialen Beziehungen her. Diese Verknüpfungen prägen auch die Möglichkeiten der Veränderungen des Konsums.

    Denise ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt. Eine Studentin hat über ein Jugendberufshilfeprojekt zu ihr Kontakt aufgenommen. Denise erzählt, dass sie auf der Straße gelebt hat, nachdem sie aus einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe „abgehauen“ war. Im Interview gibt es mehrere Passagen, in denen Denise das Leben auf der Straße, ihre soziale Eingebundenheit und ihren Drogenkonsum (v. a. Kokain, Speed und Ecstasy) miteinander verknüpft. So antwortet sie auf die Frage, welche Rolle ihre Freundinnen und Freunde bezogen auf den Konsum spielen: „Also dieses Motto, nach dem Motto, wenn du Drogen nimmst, geht‘s ja wieder gut so, und du bist halt so in deiner Welt so und du bist halt nicht alleine so.“ Sie stellt die Erfahrung von Gemeinsamkeit heraus: „Auch die Freunde, die dabei waren so. Die waren alle genauso verballert wie ich so. Aber es hat mir irgendwie auch gefallen, so irgendwie, dass wir alle zusammen auf demselben Film waren.“ Denise bearbeitet ihre Einsamkeitsgefühle, indem sie mit anderen Menschen illegale Substanzen konsumiert. Beides, die Wirkung der Drogen und das gemeinsame Handeln, helfen ihr bei der Bewältigung der schwierigen Lebensphase. Zugleich bietet die Gruppe auf der Straße einen Zufluchtsort in einer Zeit, in der andere Möglichkeiten der Einbindung (Jugendhilfe oder auch Kontakte zu den Eltern) konflikthaft sind.

    Denises ambivalente Haltung gegenüber dieser Eingebundenheit und ihre Erkenntnis, dass das Leben auf der Straße auch mit vielen Verletzungen und Enttäuschungen einhergeht, nimmt dieser biografischen Erfahrung nicht ihre emotionale Bedeutung und die damit erfahrene Sicherheit. Im Interview erzählt Denise, dass sie kein Verlangen hat, Drogen zu nehmen, wenn sie bei ihrem Vater ist. Für sie gibt es somit Menschen und Orte, die mit dem Konsum von Drogen verknüpft sind, und andere Menschen und Orte, mit und an denen sie keine Drogen nimmt.

    Während solche Verknüpfungen in Denises Erzählungen sehr bedeutsam sind, spielen sie in Roberts Erzählungen keine Rolle. Ihm scheint es stärker um die Wirkung der Substanz selbst und die damit einhergehenden Handlungen zu gehen. Eine Studentin hat den Kontakt zu Robert über gemeinsame Freund:innen hergestellt. Er ist 33 Jahre alt und erzählt, dass er zwischen 19 und 21 Jahren exzessiv Amphetamine genommen hat. Diese Phase, in der er „eigentlich bloß noch für die Drogen gelebt“ habe, mündete in die Einweisung ins Krankenhaus aufgrund einer psychotischen Episode, nachdem er sieben Tage wach gewesen sei.

    Seine Konsumphasen beschreibt Robert so: „Wenn man dann halt relativ viel nach einer Zeit, irgendwie so eins, zwei Gramm, wenn der Körper halt mehr aushält sozusagen. Ähm ja, wird es halt trotzdem irgendwie, ja man kriegt einen Art Tunnelblick, sowas habe ich oft beim Zocken dann gehabt, dass ich dann halt voll den Tunnelblick hatte und konnte halt wirklich die ganze Zeit irgendwie halt eine und dieselbe Sache machen. Ich habe dann zum Schluss irgendwie, drei Stunden am Stück, ohne mich zu bewegen, Solitär gezockt auf dem Handy. Das war dann halt irgendwie total der Film, ja.“

    Aus Roberts Schilderungen kann geschlossen werden, dass im Verlauf der Steigerung seines Amphetaminkonsums für ihn andere Menschen weitgehend unbedeutend waren. In diesem Ausschnitt verbindet er den Konsum mit dem Spielen eines relativ simplen Computerspiels. Beides zusammen führte zu einem „Tunnelblick“, der es ihm ermöglichte, alle andere Dinge auszublenden. Auch er verknüpft den Konsum mit einer anderen Tätigkeit. Im Gegensatz zu Denise, für die der Konsum mit sozialer Eingebundenheit einher geht, hebt Robert stärker die Bindung an die Wirkung der Substanz selbst hervor. Der Konsumkontext scheint für ihn weniger relevant.

    Mit der Hilfe eines Freundes distanziert sich Denise von ihrem sozialen Umfeld und reduziert ihren Konsum illegaler Substanzen. Robert wird nach mehreren Nächten ohne Schlaf ins Krankenhaus eingewiesen. Das Fehlen einer sozialen Eingebundenheit von Roberts Konsum begünstigt die exzessivere Konsumdynamik. In der situativen Verengung des Alltagslebens auf den Substanzkonsum zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Denises Suchtverhalten.

    Neben den Merkmalen von Substanzen (bspw. legal oder illegal, betäubend oder aufputschend) sind somit auch die Verknüpfungen der Konsumsituation und des sozialen Gefüges von großer Bedeutung, um spezifische Suchtdynamiken, aber auch Bedürfnisse und Sehnsüchte von Menschen zu verstehen, in deren Leben phasenweise der Konsum psychoaktiver Substanzen eine große Rolle spielt. Je nachdem, welche Aspekte miteinander verknüpft werden, kann es sein, dass Konsumveränderung begünstigt (bspw. wenn man aus einem Milieu herauswächst) oder auch erschwert wird (bspw. wenn ein Aufenthaltsort mit dem Konsum verknüpft ist).

    3.3 Prozessverläufe: Sucht als persönlicher Veränderungs- oder Normalisierungsprozess

    „Klassische“ Ergebnisse der Suchtforschung wie beispielsweise die „Subspecies of Alcoholism“ von Jellinek aus den 1960er Jahren (vgl. Kelly 2018, S. 3) oder die Analyse von Prozessen des „Herauswachsen aus der Sucht“ von Weber und Schneider (1997) zeigen, dass sich Konsummuster und Prozesse unterscheiden. Studien zu solchen Unterschieden sind jedoch immer noch marginal. Um die Bedeutung dieser Perspektive auf Sucht hervorzuheben, stelle ich die Erzählungen von Igor und Bernd dar.

    Igor ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Der Kontakt konnte über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous hergestellt werden. Er beschreibt, dass er mit 13 angefangen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen. Er sagt, dass es seine „erste Liebe“ gewesen sei, weil es ihm in einer Phase des Hin und Her zwischen Jugendhilfe und seiner Mutter half abzuschalten. Zugleich erleichterte das gemeinsame Kiffen eine Verbindung zwischen ihm und seiner Mutter. „Das hat son bisschen die Spannung rausgenommen.“

    Mit Mitte zwanzig merkt er, dass das Kiffen das Lernen für die Ausbildung und das Fachabitur erschwert. Eine Entgiftung sowie eine Drogentherapie folgen. Erst nach der Drogentherapie, in der er neue Kontakt knüpft, beginnt er, andere illegale Substanzen auszuprobieren. Er bezeichnet diese Phase als „Experimentierorgie“. Er habe in einer recht kurzen Zeit das „Ende der Spirale schnell durchlaufen, um dann zu verstehen, dass es keine Substanz gibt, die mich irgendwie ja hält“. Es folgen die Kontaktaufnahme zu den Narcotics Anonymous und verschiedene stationäre und ambulante Therapien. „Es waren so viele Runden, dass ich das manchmal gar nicht so richtig rekapitulieren kann.“ Er stellt schließlich heraus: „Und ich würd sagen, dieses Kapitel Drogen ist auch irgendwann abgehakt für mich gewesen so. Ich hab mich jetzt ausgelebt mit der Sache und ähm bin ja jetzt auch 33.“ Rückblickend sagt er, dass seine Sucht „mein Lebensretter“ war. „Weil es war irgendwie meine intelligenteste Form, irgendwie mit dem Leben klar zu kommen.“ Zugleich sei es aber auch „Selbstzerstörung auf Raten“ gewesen, weil der Drogenkonsum seine Situation langfristig nicht verbessert habe.

    Igor erzählt seine Konsumgeschichte als Prozess, in dem der Konsum die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen erleichtert und zugleich andere Aspekte erschwert. Im Verlauf seiner Konsumgeschichte hat er sich mit den Wirkungen verschiedener Substanzen auseinandergesetzt. Phasen des Ausprobierens, Stabilisierens, Destabilisierens und Reflektierens wechselten sich ab. Sucht scheint hier Teil eines biografisch-dynamischen Veränderungsprozesses zu sein, dessen retrospektive Bewertung ambivalent ist und damit auch als bedeutsam für die eigene Entwicklung eingeschätzt wird.

    Bernd ist zum Zeitpunkt des Interviews ungefähr 50 Jahre alt und wird von einem Studenten in einer Tagesstätte für Menschen in Substitution interviewt. Bernd erzählt, dass er als junger Mann verschiedene Substanzen im Partykontext aus Neugier probiert habe. „Sucht selber ist erst viele Jahre später durch Heroin entstanden.“ Mit ca. 30 Jahren bietet ihm ein Freund Heroin an, und dann habe sich der regelmäßige Konsum so „eingeschlichen“. Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass er seit ca. 20 Jahren Opiate konsumiert. Mit ca. 40 Jahren entscheidet er sich für eine Substitutionsbehandlung.

    Das Interview mit Bernd unterscheidet sich deutlich von anderen Interviews. Bernd redet ruhig und abgeklärt über seinen Drogenkonsum. Zugleich scheint es kaum größere Krisen aufgrund des Konsums gegeben zu haben. Er berichtet von kürzeren Phasen, in denen er versucht habe, nicht zu konsumieren, letztlich aber wegen der Entzugserscheinungen wieder angefangen habe. Das Rauchen von Heroin begleitet ihn durch sein Leben. Die körperliche Abhängigkeit von Opiaten stellt er schließlich als Normalität in seinem Leben heraus, mit der er sich abgefunden habe. So sagt er: „Turn selber hat man nicht mehr, sondern nur, dass man aufm normalen Level ist.“ Im Gegensatz zu Igor berichtet Bernd nicht von Therapien oder Selbsthilfegruppen, auch die Auseinandersetzung mit seinem sozialen Umfeld scheint konfliktarm. Die biografische Erzählung lässt sich so deuten, dass der Drogenkonsum in einem Prozess der Normalisierung zum alltäglichem Begleiter wird.

    Hier zeigt sich die Bandbreite der biografischen Prozesse mit und durch den Konsum illegaler Substanzen. Sucht kann eine zeitlich begrenzte biografische Phase beschreiben, genauso wie eine lebenslange Bindung an eine Substanz. Die Deutung von Drogenkonsum als Sucht kann das Resultat eines Prozesses der Bewusstwerdung oder die Interpretation körperlicher Reaktionen als Entzugserscheinungen sein. Genauso können süchtige Phasen als konflikthaft, eruptiv und als Grenzerfahrungen beschrieben werden, sie können aber auch relativ unauffällig auftreten und konfliktarm in die Arbeit am eigenen Alltag integriert werden.

    4. Chancen eines Suchtverständnisses, das Vielfalt zulässt

    Die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben kann Forschung und Praxis dazu anstoßen, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und das Erleben von Menschen und deren Erzählungen ernst zu nehmen.

    Für die Suchtforschung heißt das, weniger nach typisierenden Mustern oder Regeln zu suchen, als Unterschiede hervorzuheben. Diese Perspektive ermöglicht auch eine komplexere Analyse von Einflussfaktoren auf Suchterleben und -verläufe.

    Für die Suchthilfe heißt das, dass subjektbezogen und dialogisch gearbeitet wird. Es geht weniger darum, die eine Behandlungsform für diese oder jene Gruppe zu finden, als für jede Person erneut zu schauen, was bezogen auf ihre biografischen Erfahrungen, Deutungsmuster und ihren Alltag Unterstützung bedeuten kann. So fühlen sich Menschen in ihrer konkreten Einzigartigkeit sowie in den spezifischen sozialen Kontexten ihrer Erlebnisse ernst genommen.

    Für in der Suchthilfe beruflich tätige Menschen bedeutet die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben auch, sich immer wieder überraschen zu lassen und nach dem Besonderen, Neuen und Erstaunlichen Ausschau zu halten. Brown und MacDonald (2022, S. 405) plädieren für das Zulassen, Fördern und Wertschätzen von „Counternarratives“. Solche Gegenerzählungen fordern gängige Sucht-Narrative heraus und wären somit elementarer Teil einer kritischen und stigmasensiblen klinischen Sozialen Arbeit.

    Und für suchterfahrene Menschen heißt das, dass ihnen eine eigene, mitunter widersprüchlich, eigensinnige Deutung ermöglicht wird. Ihnen wird die Anstrengung erspart, sich mit den dominanten Deutungen anderer auseinandersetzen zu müssen. Die Arbeit mit lebensweltlichen Deutungen ermöglicht das Herstellen eigener Kohärenz und die Aneignung des süchtigen Erlebens unter eigenen, und nicht fremden Konditionen.

    *Ich danke den Ko-Forschenden L. Beyer, J. Bürgel, F. Dürr, L. Fink, M. Gollnick, A. Heckert, S. Hofer, A. Janz, R. Kaiser, G. Kalayeh, H. Kiesewetter, S. Kuhn, K. Müller, R. Neumann, S. Pfitzner, V. Rakow, L. Sawatzki, C. Strauß, M. Vogt, J. Wockenfuß.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rebekka Streck
    Studiengang Soziale Arbeit
    Evangelische Hochschule Berlin
    rebekka.streck(at)eh-berlin.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rebekka Streck hat eine Professur für Sozialpädagogik und die Studiengangsleitung des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin inne.

    Literaturverzeichnis:
    • Barsch, Gundula/Leicht, Astrid (2014). Drogenkonsum und Abhängigkeit/Sucht – Begrifflichkeiten und Diagnostik. In: Marc Lehmann/Marcus Behrens/Heike Drees (Hg.). Gesundheit und Haft. Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit. Lengerich, Pabst Science Publishers, 226–252.
    • Brown, Catrina/MacDonald, Judy E. (2020). Counterstorying for Social Justice. In: Catrina Brown/Judy E. MacDonald (Hg.). Critical clinical social work: Counterstorying for social justice. Toronto, Vancouver, Canadian Scholars, 405–409.
    • Boyd, Susan/Ivsins, Andrew/Murray, Dave (2020): Problematizing the DSM-5 cirteria for opioid use disorder: A qualitative analysis. In: International Journal of Drug Policy (78), 1-10.
    • Füssenhäuser, Cornelia (2016). Lebensweltorientierung und Sucht. In: Klaus Grunwald/Hans Thiersch (Hg.). Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. 3. Aufl. Weinheim, Beltz Juventa, 212–220.
    • Gertenbach, Lars (2019). Die Droge als Aktant. Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Robert Feustel/Henning Schmidt-Semisch/Ulrich Bröckling (Hg.). Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden, Springer VS, 263–277.
    • Hansjürgens, Rita/Schulte-Derne, Frank (2020) (Hrsg.). Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
    • Heinz, Andreas/Gül Halil, Melissa/Gutwinski, Stefan/Beck, Anne/Liu, Shuyan (2022). ICD-11: Änderungen der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit. Der Nervenarzt (1), 51–58.
    • Kelly, John F. (2019). E. M. Jellinek’s Disease Concept of Alcoholism. Addiction 114 (3), 555–559.
    • Rumpf, Hans-Jürgen/Kiefer, Falk (2011). DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte. Sucht 57 (1), 45–48.
    • Schmidt-Semisch, Henning (2010). Doing Addiction. Überlegungen zu Risiken und Nebenwirkungen des Suchtdiskurses. In: Bettina Paul/Henning Schmidt-Semisch (Hg.). Risiko Gesundheit. Über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitsgesellschaft. Wiesbaden, VS Verl. für Sozialwiss., 143–162.
    • Schütze, Fritz (1994). Strukturen des professionellen Handelns, biographische Betroffenheit und Supervision. Supervision 26, 10–39.
    • Streck, Rebekka (2022). Parkbank, Schnaps und Spritze – ethnografische Einblicke in Relationierungen von Alkohol- und Drogenkonsum mit dem Schlafen auf der Straße. In: Dierk Borstel/Jennifer Brückmann/Laura Nübold et al. (Hg.). Handbuch Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wiesbaden, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; Springer VS.
    • Thiersch, Hans; Grunwald, Klaus; Köngeter, Stefan 2012: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag. S. 175-196.
    • Weber, Georg/Schneider, Wolfgang (1997). Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen: Selbstausstieg, kontrollierter Gebrauch und therapiegestützter Ausstieg. Berlin, VWB Verl. für Wiss. und Bildung.
  • Cannabis weiterhin prominenteste illegale Droge

    Workbook Drogen
    Kurzbericht

    Am 7. Dezember 2018 wurde der aktuelle Jahresbericht der deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), ehemals bekannt unter dem Namen „REITOX-Bericht“, veröffentlicht. Er liefert umfangreiches Zahlenmaterial und Hintergrundinformationen zur Drogensituation in Deutschland.

    Cannabis

    Sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen nimmt Cannabis unter den illegalen Drogen weiterhin die prominenteste Rolle ein. Im Vergleich zu anderen Drogen dominiert Cannabis mit einer 12-Monats-Prävalenz von 7,3 Prozent unter 12- bis 17-Jährigen und 6,1 Prozent unter 18- bis 64-Jährigen deutlich. Der Anteil der Jugendlichen und Erwachsenen, die im gleichen Zeitraum irgendeine andere illegale Droge konsumiert haben, liegt bei 1,2 Prozent bzw. 2,3 Prozent. Insgesamt zeigt die Cannabisprävalenz bei Jugendlichen und Erwachsenen bei wellenförmigem Verlauf einen zunehmenden Trend.

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Cannabiskonsum ist und bleibt ein Thema, sowohl bei den Jugendlichen, als auch bei den Erwachsenen. Das ist keine gute Entwicklung! Wer in jungen Jahren regelmäßig kifft, schädigt sich fürs ganze Leben: Merkfähigkeit, Konzentration und Leistungsfähigkeit lassen nach, Depressionen und Schizophrenie können die Folge sein. Daher werden wir ab 2019 eine halbe Million Euro mehr für den Ausbau einer bundesweiten Cannabisprävention mit dem starken Fokus auf Schulen in die Hand nehmen. Damit machen wir klar und deutlich: „Cannabis kann abhängig machen, ist nicht harmlos und hip, sondern eine Droge mit immensen gesundheitlichen Nebenwirkungen!“

    Basierend auf den aktuellsten Bevölkerungsumfragen des Jahres 2015 haben in Deutschland etwa 14,4 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren sowie 479.000 Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren zumindest einmal in ihrem Leben eine illegale Droge konsumiert. Dies entspricht einer Lebenszeitprävalenz von 28,2 beziehungsweise 10,2 Prozent.

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen-und Drogensucht: „Die uns vorliegenden Daten zu Sicherstellungen und zum Konsumverhalten in der Bevölkerung weisen nicht immer in die gleiche Richtung – dennoch können uns beide Informationsquellen wertvolle Hinweise zu verschiedenen Aspekten des Marktgeschehens liefern, die unter Einbeziehung weiterer Informationen zu einem Gesamteindruck beitragen.“

    Sicherstellungen

    Die Sicherstellungsmenge von Kokain ging verglichen mit dem Vorjahr um 337 Prozent nach oben, damit ist bei Kokain der bedeutendste Anstieg im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Sicherstellungsmenge von Marihuana stieg um 30 Prozent an, was auf beträchtliche Einzelsicherstellungen zurückzuführen ist. Der stärkste Rückgang mit 693.668 sichergestellten Tabletten ist für Ecstasy, nach einer Rekordsicherstellungsmenge in 2016, zu verzeichnen  (-69 Prozent). Der starke Rückgang ist durch drei große Sicherstellungen im Jahr 2016 zu erklären, die die Rolle Deutschlands als Transitland zwischen den Niederlanden und der Türkei belegen. Sicherstellungen dieser Größenordnung wurden 2017 nicht verzeichnet. Im Vergleich zum Vorjahr wurde 10 Prozent weniger Heroin und 30,9 Prozent weniger Haschisch sichergestellt.

    Wirkstoffgehalt

    Während der Wirkstoffgehalt bei Cannabisblüten mit durchschnittlich 13,1 Prozent einen neuen Höchststand erreicht und sich dieser beim Kokain im Straßenhandel seit 2011 mehr als verdoppelt hat (2017 bei 78,4 Prozent), ist bei den Amphetaminen ein markanter Rückgang zu verzeichnen. Nach einem Peak im Jahr 2016 (42,1 mg/Konsumeinheit (KE)) hat sich der Wirkstoffgehalt wieder deutlich auf 18 mg/KE reduziert.

    Der vorliegende Jahresbericht wird jährlich durch die Deutsche Drogenbeobachtungsstelle (DBDD) als Beitrag zum Europäischen Drogenbericht erstellt. Die acht Workbooks und der zehnseitige Kurzbericht finden Sie unter www.dbdd.de.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und der DBDD, 07.12.2018

  • „Was am Anfang verloren geht, kann man nicht mehr aufholen“

    „Was am Anfang verloren geht, kann man nicht mehr aufholen“

    Marcus Breuer

    Die Frage nach der so genannten Haltequote (d. h. nach dem Anteil derjenigen Rehabilitanden, die eine Rehabilitationsbehandlung planmäßig beenden) ist eine, wenn nicht sogar die zentrale Frage in der stationären Drogenrehabilitation. Erstaunlicherweise gibt es kaum empirische Forschung zu diesem Thema. Im Rahmen eines mehrmonatigen Projektes haben die Ordenswerke des Deutschen Ordens versucht, hierzu weitere Erkenntnisse zu sammeln. Der Autor dieses Artikels war von Januar bis April 2017 damit beauftragt, sich mit diesem Thema näher zu beschäftigen.

    Das Haltequotenprojekt sollte folgende Fragestellungen bearbeiten:

    1. Analyse der Haltequoten in den zehn Drogenfachkliniken (Reha) im Bereich Suchthilfe der Ordenswerke des Deutschen Ordens
    2. Identifikation möglicher Einflussfaktoren auf die jeweilige Haltequote
    3. Möglichst Generierung von Vorschlägen für Maßnahmen zur Verbesserung der Haltequote in ausgewählten Einrichtungen

    Folgende Umsetzungsschritte und Methoden wurden angewandt:

    1. Literaturrecherche
    2. Analyse ausgewählter Qualitätsindikatoren bzw. möglicher Einflussfaktoren auf die Haltequoten in den betrachteten Einrichtungen
    3. Erstellung eines strukturierten Interview-Leitfadens und Durchführung von Interviews mit den einzelnen Klinikleiter/innen sowie Stellvertreter/innen
    4. Vor-Ort-Besuch ausgewählter Einrichtungen
    5. Erstellung eines internen Abschlussberichtes

    Ergebnisse der Literaturrecherche

    Wie bereits erwähnt, existiert derzeit kaum Forschung zum Thema „Haltequoten in der Drogenrehabilitation“.  Die wenigen Studien, die vorliegen, wurden zunächst ausgewertet.

    Patientenmerkmale

    Wenn man sich mit den unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die Haltequoten in der Suchttherapie befasst, stellt man zunächst fest, dass Patientenmerkmale einen wesentlichen Einfluss auf den Behandlungserfolg haben (Abbildung 1).

    Abb. 1

    Der Einfluss der Patientenmerkmale ist als Ausdruck von Patientenselektion zu verstehen, das heißt:

    1. unterschiedliche Settings behandeln unterschiedliche Patientengruppen,
    2. innerhalb eines gegebenen Settings kann man diesen Faktor als Behandler nicht direkt beeinflussen bzw. nur durch eine zukünftig veränderte Selektion im jeweiligen Setting.

    Um die Haltequote durch therapeutisches Vorgehen zu beeinflussen und zu verbessern, interessieren daher andere Einflussfaktoren als die Patientenselektion.

    Patientenzufriedenheit

    Mit irregulären Beendigungen von Drogen-Rehabilitationsbehandlungen beschäftigt sich eine Studie des IFT München (Küfner et al., 1994). Die Autoren finden folgende Gründe für Abbruchgedanken bzw. für den Verbleib in der Einrichtung:

    Gründe für Abbruchgedanken:

    1. Unzufriedenheit mit der Einrichtung
    2. Verzweiflung und Unbehagen
    3. Probleme im Therapieprozess
    4. Mitklient/innen und deren Abbruch

    Gründe für den Verbleib:

    1. Hoffnung und Nachdenken
    2. Bindung an die Einrichtung
    3. Schutzfunktion der Therapie

    Diese Aspekte nannten drogenabhängige Klienten in stationärer Behandlung als Antworten auf die Fragen, welche Gründe sie einerseits zum Infragestellen der Fortsetzung der Behandlung und andererseits zum Verbleib in der Behandlung bewogen haben.

    Therapeutisch ist es also sinnvoll, die Gründe für Abbruchgedanken in den Blick zu nehmen und möglichst zu minimieren sowie die Gründe für den Verbleib in der Rehabilitationsbehandlung möglichst zu betonen und zu stärken.

    In einer weiteren Publikation fassen Küfner et al. (2016) folgende Hinweise zur Reduzierung von Therapieabbrüchen zusammen:

    • Abbruchgedanken sind so häufig, dass dieses Thema präventiv angesprochen werden sollte.
    • Die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut/in und Patient/in ist von Bedeutung, aber schwierig zu beeinflussen.
    • Erlebnispädagogische Maßnahmen stärken die Bindung an die Einrichtung.
    • Strenge Regeln und Sanktionen führen zu einem häufigeren Therapieabbruch.

    Wenn man sich nun im Rahmen von Untersuchungen zur Patientenzufriedenheit möglichst vorurteilsfrei mit kritischen Beurteilungen von Rehabilitand/innen auseinandersetzt, ergeben sich als häufigste Nennungen (dichotomisiert nach einer 6-stufigen Skala; mod. n. Küfner, 2008):

    Mit „stimmt überwiegend“ beurteilt:

    • Regeln wurden stur gehandhabt: 72,2%
    • Wurde unfreiwillig zu Sachen gedrängt: 57,4%
    • War für mich nicht die richtige Einrichtung: 40,7%
    • Kann nicht profitieren von Therapie: 35,2%
    • Belastung durch Probleme anderer Patienten: 33,3%

    Mit „eher unzufrieden mit“ beurteilt:

    • Großgruppe 48,1% (andere Aussagen wurden nur zu 14,8% bis 27,8% mit „eher unzufrieden“ beurteilt)

    Aus diesen Ergebnissen lässt sich schließen, dass die Handhabung von Regeln ein wichtiger Faktor für Therapieabbrüche ist. Die therapeutische Einzelarbeit wird im Vergleich zur Gruppenarbeit unterschätzt. Einschränkend ist anzumerken, dass dies den Stand von 2008 darstellt, es gibt keine neueren Daten! Seitdem hat es in den beiden Bereichen „Regeln“ bzw. „Großgruppen“ in den Einrichtungen wesentliche Veränderungen (Verbesserungen) gegeben. Weitere Folgerungen für die Optimierung von Suchttherapien sind (mod. n. Küfner, 2016):

    • Die Thematisierung negativer Folgen des Drogenkonsums ist wichtig, vor allem für psychoedukative Ansätze.
    • Soziale Beziehungen zu Personen ohne Drogenkonsum sind von erheblicher Bedeutung.
    • Die subjektive Belastung durch andere Drogenabhängige (in der Klinik) sollte ernst genommen werden. Dies spricht für eine Verstärkung von Einzeltherapien!
    • Der Abbau von Barrieren in der Vorbereitung auf psychosoziale Interventionen bedarf einer systematischen Verbesserung. Besprochen werden sollten Stigmatisierung, negative Therapieerfahrungen und generelle Vorbehalte gegenüber psychosozialen Therapien wie Misstrauen, die Befürchtung, die eigene Autonomie zu verlieren, Angst vor dem Verlust des eigenen Lebensstils und der bisherigen Freunde.

    Bei einer vertieften Beschäftigung mit dem Thema lässt sich ein Spannungsfeld zwischen einer sach- bzw. fachgerechten Behandlung einerseits und dem Dienstleistungsaspekt der Leistungserbringung in der Rehabilitation andererseits feststellen.

    Komorbide Erkrankungen (Doppeldiagnosen)

    Ein wesentlicher Aspekt bei der Behandlung Drogenabhängiger ist das Vorkommen von und der therapeutische Umgang mit komorbiden Erkrankungen, d. h. es liegen – neben der Suchterkrankung – eine oder auch mehrere weitere psychische Erkrankungen vor. Aus der Beurteilung des Behandlungsbedarfs wissen wir (mod. n. Küfner, 2016):

    • Etwa 60 bis 70% der Opioidabhängigen und der substituierten Drogenabhängigen weisen eine komorbide Störung auf.
    • Besonders häufig sind Angststörungen und affektive Störungen. Unter den Persönlichkeitsstörungen fällt die Häufigkeit von antisozialen Persönlichkeitsstörungen auf.
    • Ein beträchtlicher Teil der komorbiden Störungen ist zeitlich vor der Suchtstörung entstanden. Dies kann als Hinweis auf die notwendige Behandlung sowohl der Sucht als auch der komorbiden Störung betrachtet werden.
    • Neben den Klassifikationsebenen I und II (Persönlichkeitsstörungen) der ICD-10 müssen die sozialen und psychosozialen Problembereiche mitbetrachtet werden.
    • Dieser Behandlungsbedarf gilt auch für die substitutionsgestützte Therapie
      (s. Ergebnisse der PREMOS Studie, Wittchen et al., 2007).

    Der Aspekt der komorbiden psychischen Erkrankungen und deren Berücksichtigung in der Behandlung spielt im Zusammenhang mit der Frage nach der Haltequote aus mehreren Gründen eine Rolle. Zum einen gibt es Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Personen mit komorbiden psychischen Erkrankungen grundsätzlich eine schlechtere Prognose haben. Zum anderen ist es unmittelbar plausibel, dass sich diese Personen die Bearbeitung aller ihrer Probleme von einer Behandlung erwarten. Die Enttäuschung dieser Erwartung könnte zu einer Häufung von Behandlungsabbrüchen führen. Schließlich gibt es empirische Hinweise darauf, dass diese tendenziell schlechtere Prognose durch einen erhöhten Behandlungsaufwand kompensiert werden kann.

    Im Hinblick auf die Haltequote und eine erfolgreiche Behandlung gibt es noch einige zusätzlich zu berücksichtigende Aspekte, die den Rahmen dieses Artikels hier sprengen würden. Dies sind vor allem:

    • die Häufigkeit von Rückfällen und der Umgang mit Rückfällen seitens der behandelnden Klinik sowie
    • unterschiedliche Klinikstrategien im Umgang mit individuellem Fehlverhalten und Regelverstößen.

    Eigene Beobachtungen und Ergebnisse aus Kliniken des Deutschen Ordens

    Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Haltequotenprojekts standen eigene Zahlenerhebungen bzw. Zahlenzusammenstellungen sowie die Durchführung strukturierter Interviews und deren Auswertung.

    Die nachfolgend dargestellten Zahlen stammen aus zehn Drogenrehabilitationskliniken der Ordenswerke des Deutschen Ordens. Aus Gründen der Diskretion und Vertraulichkeit wurden die Einrichtungen anonymisiert. Betrachtet wurden alle im Zeitraum von 01.01.2014 bis 31.12.2016 in diesen zehn Kliniken behandelten Patienten (n=4.223). Diese Stichprobe wurde einer ausführlichen Datenanalyse unterzogen. Hierzu hatte der Autor Zugang zu sämtlichen Daten, so wie sie in den Rehakliniken mit dem Patientenverwaltungsprogramm „Patfak“ erfasst worden waren. Ein zweiter Weg, Daten zu erheben und auszuwerten, bestand in der Durchführung von strukturierten klinischen Interviews mit jeweils zwei Leitungsvertretern aus den betrachteten Einrichtungen. Hierzu wurde ein eigener mehrseitiger Interview-Leitfaden entwickelt. Die Ergebnisse wurden qualitativ ausgewertet. Dieser zweite Teil beinhaltet daher durchaus auch subjektive Interpretationsanteile.

    Die Abbildungen 2 und 3 zeigen die Ergebnisse der Datenanalyse. Diese Zahlen zur Haltequote und zu den irregulären Beendigungen in den ersten 30 Tagen sind jedoch mit äußerster Vorsicht zu interpretieren! Sie wurden neu errechnet und sind NICHT mit Zahlen und Quoten vergleichbar, wie sie z. B. im Patientenverwaltungsprogramm ausgegeben werden. So wurden hier sämtliche Beendigungen mit der Entlassform „vorzeitig auf ärztliche Veranlassung“ nicht zu den planmäßigen Beendigungen gezählt bzw. nicht als solche bewertet. Grund hierfür ist die sehr unterschiedliche Handhabung dieser Entlassform in den verschiedenen Rehakliniken, die einen Vergleich unmöglich gemacht hätte. Die hier betrachtete „Haltequote-kons“ (für Haltequote, konservativ) beinhaltet ausschließlich die Entlassformen „regulär“ sowie „vorzeitig mit ärztlichem Einverständnis“.

    Auch die „30-Tage-irreg-Quote“ ist nicht mit einer ähnlichen Variable im Patientenverwaltungsprogramm vergleichbar. Die hier aufgeführte „30-Tage-irreg-Quote“ misst den prozentualen Anteil der irregulären Beendigungen in den ersten 30 Tagen des Aufenthaltes im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Entlassungen in einem betrachteten Zeitraum.

    Abb. 2
    Abb. 3

    Erklärung der Variablen in Abbildung 3:
    Der Zusatz „ZR“ meint jeweils „Zeitraum“, d. h. die Quote bezogen auf die einzelnen Halbjahre
    „Haltequote-kons“: beinhaltet nur die Entlassformen „regulär“ sowie „vorzeitig mit ärztlichem Einverständnis“
    „Spannweite ZR-Haltequote-kons“: Differenz zwischen dem jeweils besten und dem jeweils schlechtesten Wert der betrachteten Einrichtung, somit ein Maß für die Schwankungen innerhalb einer Einrichtung über den Gesamtzeitraum
    „ZR-30-Tage-irreg-Q“: der prozentuale Anteil an irregulären Beendigungen in einem betrachteten Halbjahr gemessen an allen Beendigungen im gleichen Zeitraum
    „Spannweite ZR-30-Tage-irreg-Q“: Differenz zwischen dem jeweils besten und dem jeweils schlechtesten Wert der betrachteten Einrichtung, somit ein Maß für die Schwankungen innerhalb einer Einrichtung über den Gesamtzeitraum

    Die Ergebnisse in Abbildung 2 und 3 zeigen: Die Einrichtungen haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die betrachteten Kliniken zwar alle im Bereich der Drogenrehabilitation tätig sind, innerhalb dieses Feldes jedoch z. T. recht unterschiedliche Patientengruppen behandeln, d. h., es wurden teilweise „Äpfel mit Birnen“ verglichen. Deshalb sollte die Interpretation der Zahlen äußerst vorsichtig erfolgen, ebenso ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. Patentrezepte für die Verbesserung der Haltequote gibt es (leider) keine. Konkretere Aussagen, die aus diesen Zahlen abgeleitet werden können, lauten:

    1. Die Haltequoten der betrachteten Einrichtungen unterscheiden sich z. T. erheblich.
    2. Dies ist nur teilweise Ausdruck von unterschiedlicher Klientel (Patientenselektion).
    3. Einrichtungen, deren Zahlen im zeitlichen Verlauf stärker schwanken, sind entweder grundsätzlich instabiler (d. h. geringere Schwankungen im zeitlichen Verlauf sind besser) oder aber einzelne Einrichtungen sind/waren zwischenzeitlich von Sondereffekten betroffen (zwei Einrichtungen).
    4. Die Haltequote innerhalb der jeweils ersten 30 Tage einer Rehabilitationsbehandlung ist zentral für die generelle Haltequote einer Einrichtung („Was am Anfang verloren geht, kann man später nicht mehr aufholen“).

    Beim Versuch, sich etwas genauer mit den Effekten hinter diesen Zahlen zu befassen, ergeben sich Hinweise auf wahrscheinliche Einflussfaktoren auf die Haltequote. Auch wenn im Rahmen des Haltequotenprojekts keine Ressourcen für eine aufwändige Pfadanalyse oder eine Faktorenanalyse zur statistischen Quantifizierung der jeweiligen Einflussfaktoren vorhanden waren, so lassen sie sich hier zumindest auflisten wie folgt.

    Mögliche Einflussfaktoren auf die Haltequote

    Etwas zugespitzt könnte man festhalten: „Alles hat einen Einfluss!“. Die Ergebnisse der Datenanalyse und der klinischen Interviews weisen darauf hin, dass folgende Faktoren die Haltequote beeinflussen:

    • 30-Tage-irreg Quote: Irreguläre Verluste in den ersten 30 Tagen der Reha wirken sich negativ auf die Gesamt-Haltequote aus.
    • Anzahl der „vom Setting abgestoßenen“ Rehabilitanden: Diese Gruppengröße dient als indirektes Maß für die Güte der Adhäsion des Settings. Dies betrifft die Aspekte Kundenfreundlichkeit sowie Bindungsgestaltung.
    • Stimmigkeit des Settings (innere Konsistenz): Passen die einzelnen Behandlungselemente gut zueinander?
    • Anzahl der Rückfälle im Setting: Die Anzahl dient als (sehr indirektes) Maß für das „Chaos im Setting“ bzw. die vorhandene Setting-Kontrolle.
    • Qualität des „Umgangs mit Fehlverhaltens“ im Setting: Werden viele Patienten disziplinarisch entlassen und wenn ja, die ‚richtigen‘? Existieren angemessene Strategien, um nicht ‚unnötig‘ Patienten zu entlassen?

    Darüber hinaus spielen noch die Bereiche Patientenzufriedenheit und Mitarbeiterzufriedenheit eine Rolle. Weil deren Einfluss sich jedoch nicht eindeutig in eine bestimmte Richtung auswirkt wie bei den oben genannten Faktoren, werden sie hier als „Ja, aber“-Einflussfaktoren auf die Haltequote bezeichnet.

    Die Patientenzufriedenheit hat natürlich einen Einfluss. Relevant ist v. a. die Patientenzufriedenheit der (späteren) Abbrecher, diese lässt sich allerdings kaum erheben. Wenn Querschnittsbefragungen durchgeführt werden (wie dies der Deutschen Orden regelmäßig tut), muss berücksichtigt werden, dass es zu einer recht zufälligen Stichprobenauswahl kommt und die Ergebnisse einer tagesaktuellen Beeinflussung unterliegen (Stichwort: Re-Test-Reliabilität). In Längsschnittbefragungen wie bei der deQus-Patientenbefragung ergibt sich ein anderes Problem: Es werden zwar gute Items abgefragt, aber es gibt hierbei einen Selektionseffekt, denn es werden nur planmäßige Beender befragt.

    Die Mitarbeiterzufriedenheit hat natürlich ebenfalls einen Einfluss auf die Haltequote. Die Interpretation von Befragungen zur Mitarbeiterzufriedenheit ist jedoch keineswegs linear und einfach. So gibt es z.B. auch Teams, die vollauf mit sich selbst zufrieden und beschäftigt sind, was sich nicht nur positiv auf die Patienten auswirkt.

    Hinweise für die Setting-Gestaltung

    Bei der Setting-Gestaltung geht es wesentlich um Bindung.  Die Maxime könnte sein: „Schaffe kein Setting, in dem du nicht selbst (gern) Patient sein möchtest.“ In der Zusammenschau aller hier betrachteten Faktoren ergeben sich folgende notwendige Grundprinzipien für sinnvolle Setting-Gestaltung (Breuer, 2017):

    • TSB – Teamorientierte stationäre Behandlung (F. Urbaniok)
    • Berücksichtigung der Anreizbedingungen im Setting (Kontingenz)
    • Bindung (K.-H. Brisch)
    • Transparenz und Berechenbarkeit
    • Nach-Erziehung
    • Waage: Akzeptanz vs Veränderung (analog DBT, M. Linehan)
    • Motivational Interviewing (Miller & Rollnick)
    • Gestaffelte Konsequenzen für Fehlverhalten
    • Perspektivübernahme seitens der Therapeuten bei der Detailausgestaltung des Settings → das Setting soll in sich stimmig sein

    Für die Zukunft gilt es, die verschiedenen, hier aufgeführten Faktoren zu den Themen „Haltequote“ sowie „Setting-Gestaltung“ in den Fachkliniken der Drogenrehabilitation möglichst umfassend zu berücksichtigen und zu implementieren.

     Literaturhinweise beim Verfasser

    Kontakt:

    Dipl.-Psych. Marcus Breuer
    Psychologischer Psychotherapeut
    Klinikleitung
    Würmtalklinik Gräfelfing
    Josef-Schöfer-Str. 3
    82166 Gräfelfing
    marcus.breuer@deutscher-orden.de

    Angaben zum Autor:

    Marcus Breuer, Dipl.-Psych. (PP), ist Leiter der Würmtalklinik Gräfelfing und des Adaptionshauses Kieferngarten, München.

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Europäischer Drogenbericht 2018

    Der am 7. Juni 2018 in Brüssel vorgestellte Europäische Drogenbericht 2018: Trends und Entwicklungen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) zeigt, dass die Verfügbarkeit von Kokain zugenommen hat. Hintergrund dieser Entwicklung ist ein dynamischer Drogenmarkt, der in der Lage ist, sich rasch auf Maßnahmen zur Drogenbekämpfung einzustellen. Die Agentur untersucht in ihrem jährlichen Überblick zudem, welche Herausforderungen Neue psychoaktive Substanzen (NPS) und die Verfügbarkeit neuer synthetischer Opioide (insbesondere hochpotenter Fentanyl-Derivate) sowie der Konsum synthetischer Cannabinoide in marginalisierten Bevölkerungsgruppen (unter anderem bei Gefängnisinsassen) mit sich bringen. Die im Bericht vorgelegten Daten beziehen sich auf das Jahr 2016 bzw. das jeweils letzte Jahr, für das Daten verfügbar sind. Außerdem erschienen sind 30 Länderberichte (in englischer Sprache) mit den jüngsten Analysen zur Drogensituation in den einzelnen Ländern.

    Laut dem Bericht der EMCDDA ist eine durchweg hohe Verfügbarkeit von Drogen zu beobachten, die in einigen Regionen sogar anzusteigen scheint. Den jüngsten Zahlen zufolge wurden in Europa (EU-28, Türkei und Norwegen) 2016 mehr als eine Million Sicherstellungen illegaler Drogen gemeldet. Über 92 Millionen in der EU lebende Erwachsene (im Alter von 15 bis 64 Jahren) haben im Verlauf ihres Lebens schon mindestens einmal irgendeine illegale Droge konsumiert, während schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen in der EU-28 im Jahr 2016 wegen des Konsums illegaler Drogen in Behandlung waren.

    Dimitris Avramopoulos, Europäischer Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, erklärt hierzu: „Es ist zu beobachten, dass in Europa derzeit mehr Drogen produziert und angeboten werden. Hinzu kommt, dass der Markt für illegale Drogen sehr dynamisch und anpassungsfähig – und daher umso gefährlicher – ist. Wenn wir nicht ins Hintertreffen geraten wollen, müssen wir uns verstärkt darum kümmern, die Widerstands- und Reaktionsfähigkeit zu erhöhen, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Bedeutung von Online-Marktplätzen und der Entwicklung neuer Drogenarten. Bis zum Jahresende werden neue Vorschriften hinsichtlich neuer psychoaktiver Substanzen in Kraft treten, die Europa zusätzliche, gute Instrumente an die Hand geben werden, um die Herausforderungen wirksamer angehen zu können und den Schutz der Bürger und Bürgerinnen in Europa vor gefährlichen Drogen zu erhöhen.“

    Kokain: Erhöhte Verfügbarkeit und höchster Reinheitsgrad seit zehn Jahren

    Kokain ist das am häufigsten konsumierte illegale Stimulans in Europa. Etwa 2,3 Millionen junge Erwachsene (zwischen 15 und 34 Jahren) haben diese Droge in den vergangenen zwölf Monaten konsumiert (EU-28). Die aktuelle Analyse zeigt, dass angesichts der Hinweise auf einen steigenden Koka-Anbau und eine erhöhte Kokainproduktion in Lateinamerika der Kokainmarkt in Europa floriert. Einige Indikatoren deuten gegenwärtig darauf hin, dass die Verfügbarkeit der Droge in einer Reihe von Ländern angestiegen ist. Obwohl der Kokainpreis stabil geblieben ist, erreichte die Reinheit der Droge 2016 im Straßenverkauf den höchsten Grad seit zehn Jahren. Auch die Zahl der Beschlagnahmungen von Kokain hat zugenommen. In der EU wurden 2016 rund 98 000 Sicherstellungen der Droge gemeldet (2015 waren es 90 000). Insgesamt wurden 70,9 Tonnen beschlagnahmt).

    Auf städtischer Ebene zeigte eine kürzlich durchgeführte Untersuchung, dass die Kokainrückstände im Abwasser von 26 der 31 Städte, zu denen Daten für diesen Zeitraum vorliegen, zwischen 2015 und 2017 angestiegen sind. Die meisten Rückstände wurden in Städten in Belgien, den Niederlanden, Spanien und im Vereinigten Königreich verzeichnet, während in den untersuchten osteuropäischen Städten niedrige Werte gemessen wurden.

    Der Bericht zeigt auch, dass die Zahl der lebenszeitbezogenen Erstbehandlungen im Zusammenhang mit Kokain zugenommen hat. Im Jahr 2016 begaben sich 30 300 Personen aufgrund von Problemen mit dieser Droge erstmals in Behandlung – über ein Fünftel mehr als 2014. Insgesamt unterzogen sich 2016 mehr als 67 000 Personen einer auf Kokainprobleme zugeschnittenen Spezialbehandlung. Besonders besorgniserregend sind die schätzungsweise 8 300 Personen, die sich 2016 wegen des primären Konsums von Crack in Behandlung begaben. Zudem war Kokain 2016 die zweithäufigste Droge, die bei drogenbedingten Notfällen in den Krankenhäusern des 19 Beobachtungsklinken umfassenden Euro-DEN-Netzes nachgewiesen wurde (Euro-DEN Plus).

    Auch die Schmuggelmethoden und Schmuggelrouten scheinen sich zu ändern. Die Iberische Halbinsel – bislang Haupteinfuhrort für Kokain, das auf dem Seeweg nach Europa gelangt – ist in dieser Hinsicht zwar weiterhin von Bedeutung, steht den Daten von 2016 zufolge jedoch nicht mehr unangefochten an erster Stelle, da auch von den Containerhäfen weiter nördlich große Sicherstellungen gemeldet wurden. 2016 wurden in Belgien 30 Tonnen Kokain sichergestellt (43 % der geschätzten jährlichen Gesamtmenge des in der EU beschlagnahmten Kokains).

    Anzeichen für eine gestiegene Drogenproduktion innerhalb Europas

    Europa ist ein wichtiger Markt für illegale Drogen, die aus verschiedenen Teilen der Welt, etwa aus Lateinamerika, Westasien und Nordafrika eingeschleust werden. In dem Bericht wird jedoch auch auf die Rolle Europas als Ort der Herstellung von Drogen hingewiesen: Bei einer Vielzahl von Substanzen waren im Berichtsjahr besorgniserregende Anzeichen dafür zu beobachten, dass die Herstellung von Drogen in Europa zunimmt.

    Die Produktion findet aus mehreren Gründen näher an den Verbrauchermärkten statt, etwa aus praktischen Erwägungen heraus, wegen des geringeren Risikos, an der Grenze entdeckt zu werden, und weil die Grundsubstanzen für die Produktion je nach Droge verfügbar und kostengünstig sind. Der Bericht führt mehrere Beispiele für eine höhere Drogenproduktion in Europa und für innovative Produktionsmethoden auf. Dazu zählen Hinweise auf illegale Labore, die Kokain verarbeiten, die zahlenmäßige Zunahme entdeckter MDMA- bzw. Ecstasy-Labore, die Ausweitung der Methamphetamin- produktion unter höherer Beteiligung organisierter Banden, die Produktion von Amphetaminen in der Endphase im Land des Konsums sowie die Entdeckung einer geringen Zahl an Laboren zur Herstellung von Heroin. Einige der in der EU hergestellten synthetischen Drogen sind für Auslandsmärkte, etwa für den amerikanischen Kontinent, Australien, Nah- und Fernost sowie die Türkei, bestimmt.

    Die vermehrte Produktion von hochpotentem Cannabis innerhalb Europas hat offenbar auch Auswirkungen auf die Aktivitäten von Cannabisproduzenten außerhalb der EU, was sich daran ablesen lässt, dass Cannabisharz mit höherem Wirkstoffgehalt aus Marokko nach Europa geschmuggelt wird. Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass neue psychoaktive Substanzen, die gewöhnlich in China hergestellt und zur Verpackung nach Europa geliefert werden, bisweilen auch innerhalb Europas produziert werden.

    Cannabis: Verfügbarkeit und Konsum sind weiterhin hoch

    Cannabis ist auch weiterhin die am meisten konsumierte illegale Droge in Europa. Dies zeigen die Daten zur Prävalenz, zu Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, zu Sicherstellungen und zum gestiegenen Behandlungsbedarf. Etwa 17,2 Millionen junge Europäer (zwischen 15 und 34 Jahren) haben in den vergangenen zwölf Monaten Cannabis konsumiert (EU-28), und rund ein Prozent aller erwachsenen Europäer (zwischen 15 und 64 Jahren) verwenden die Droge täglich oder fast täglich (EU-28).

    Cannabis war bei mehr als drei Viertel (77 Prozent) aller 2016 in der EU gemeldeten 800 000 Verstöße gegen die Vorschriften über den Drogenbesitz oder -konsum, bei denen die Primärdroge bekannt ist, beteiligt. Zudem ist Cannabis die am häufigsten beschlagnahmte Droge: Im Jahr 2016 wurden in der EU 763 000 Sicherstellungen von Cannabisprodukten gemeldet. Der größte Anteil (45 Prozent) von Erstbehandlungen aufgrund von Drogenproblemen in Europa (EU-28, Türkei und Norwegen) geht auf den Konsum von Cannabis zurück. Die Zahl der Erstpatienten, die sich wegen Cannabisproblemen behandeln ließen, stieg in den 25 Ländern, für die Daten zu beiden Jahren vorliegen, von 43 000 im Jahr 2006 auf 75 000 im Jahr 2016.

    Kürzlich vorgenommene gesetzliche Änderungen in Bezug auf Cannabis in Teilen Amerikas, etwa die Legalisierung in einigen Ländern, haben dazu geführt, dass sich dort schnell ein kommerzieller Cannabismarkt für den Freizeitkonsum entwickelt hat. Dies führt derzeit zu Innovationen bei den Abgabesystemen und bei der Entwicklung von Cannabisprodukten (z. B. E-Liquids, essbare Produkte und hochpotente Stämme).

    Noch ist unklar, welche Folgen es für Europa haben wird, wenn in Teilen Amerikas ein großer legaler Markt für diese Droge entsteht, allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich dies auf die Angebots- oder Konsummuster in Europa auswirken wird. Die EMCDDA beobachtet die internationalen Entwicklungen im Bereich der Cannabis-Regulierung aufmerksam, um die sich vollziehenden Änderungen erfassen und verständlich darstellen zu können und mögliche Auswirkungen auf die Situation in Europa zu ermitteln. Ein Bereich, der infolge der sich weltweit ändernden Einstellungen zur Cannabis-Regulierung größere politische Aufmerksamkeit erhält, ist der Cannabiskonsum in Verbindung mit dem Fahren unter Drogeneinfluss. Dieses Thema steht im Mittelpunkt eines kürzlich veröffentlichten EMCDDA-Berichts, der sich auf die Erkenntnisse internationaler Experten stützt.

    Geringere Zahl neuer psychoaktiver Substanzen, aber mehr Hinweise auf Schädigungen

    Neue psychoaktive Substanzen (NPS/„neue Drogen“) stellen in Europa nach wie vor ein gravierendes Problem für die Politik und die öffentliche Gesundheit dar. Diese Substanzen, die nicht vom internationalen Drogenkontrollsystem erfasst werden, umfassen ein breites Spektrum, zu dem synthetische Cannabinoide, Opioide, Cathinone und Benzodiazepine gehören. Im Jahr 2017 wurden 51 neue psychoaktive Substanzen erstmals in das EU-Frühwarnsystem aufgenommen, dies entspricht einer Quote von etwa einer Substanz pro Woche. Auch wenn die jährliche Gesamtzahl neu auf dem Markt erscheinender Substanzen die der Spitzenjahre unterschreitet – 2015: 98, 2014: 101 –, ist die Zahl der verfügbaren neuen psychoaktiven Substanzen insgesamt weiterhin hoch. Ende 2017 überwachte die EMCDDA mehr als 670 neue psychoaktive Substanzen (gegenüber etwa 350 im Jahr 2013). Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit neuen synthetischen Cannabinoiden und neuen synthetischen Opioiden, darunter akute Vergiftungen und Todesfälle, veranlassten die EMCDDA dazu, 2017 insgesamt neun Risikobewertungen durchzuführen, so viele wie noch nie davor.

    Die größte von der EMCDDA beobachtete Gruppe chemischer Stoffe sind neue synthetische Cannabinoide, von denen seit 2008 179 nachgewiesen wurden (10 davon im Jahr 2017). Die häufig als „Kräutermischungen“ verkauften synthetischen Cannabinoide waren 2016 mit knapp über 32 000 gemeldeten Beschlagnahmungen (gegenüber 10 000 im Jahr 2015) die am häufigsten sichergestellten neuen psychoaktiven Drogen. Damit machten sie fast die Hälfte aller beschlagnahmten neuen psychoaktiven Substanzen aus, die der Agentur 2016 gemeldet wurden. Vier synthetische Cannabinoide wurden 2017 einer Risikobewertung unterzogen: AB-CHMINACA, ADB-CHMINACA, 5F-MDMB-PINACA und CUMYL-4CN-BINACA.

    Es werden zunehmend mehr hochpotente neue synthetische Opioide (insbesondere Fentanyl-Derivate) entdeckt, die die Wirkung natürlich gewonnener Opiate (wie Heroin und Morphin) imitieren. Gelegentlich sind sie in neuartiger Form erhältlich (z. B. als Nasensprays), oder sie werden mit illegalen Drogen wie Heroin oder Kokain gemischt oder als solche verkauft. Seit 2009 wurden insgesamt 38 neue synthetische Opioide auf den europäischen Drogenmärkten nachgewiesen (13 davon im Jahr 2017). Fentanyl-Derivate, die wichtigsten Substanzen in der derzeitigen Opioidkrise in den USA, sollten in Europa weiter mit Besorgnis und Wachsamkeit verfolgt werden. Diese hochpotenten Substanzen – manche sind um ein Vielfaches potenter als Morphin – machten mehr als 70 Prozent der schätzungsweise 1 600 neuen synthetischen Opioide aus, die 2016 beschlagnahmt wurden. Im Jahr 2017 wurden zehn neue Fentanyl-Derivate über das EU-Frühwarnsystem gemeldet, fünf davon wurden einer Risikobewertung unterzogen (Acryloylfentanyl, Furanylfentanyl, 4-Fluorisobutyrylfentanyl, Tetrahydrofuranylfentanyl und Carfentanil).

    Haftanstalten: Konzentration auf Gesundheitsfürsorge und neue Drogen

    Haftanstalten sind relevante Settings, wenn es um die medizinische Versorgung von Drogen- konsumierenden geht. Eine gute intramurale Versorgung kann auch der Allgemeinheit zugutekommen (etwa indem Überdosierungen nach der Entlassung vermieden oder die Übertragung drogenbedingter Infektionskrankheiten wie HIV und HCV verringert werden). Der diesjährige Bericht zeigt die Interventionsmöglichkeiten in Gefängnissen und die unterschiedlichen Versorgungsleistungen in den einzelnen Ländern auf.

    In einer neuen länderübergreifenden Studie, die gemeinsam mit dem heute vorgestellten Bericht veröffentlicht wird, untersucht die Agentur die zunehmenden Gesundheits- und Sicherheitsprobleme, die sich aus dem Konsum neuer psychoaktiver Substanzen in Haftanstalten ergeben. „Der Konsum neuer psychoaktiver Substanzen und die damit einhergehenden Schäden sind für das Strafvollzugs- system in Europa eine neue wichtige Herausforderung“, heißt es in der Studie. Unter den vier Haupttypen der in Haftanstalten entdeckten neuen psychoaktiven Substanzen stehen synthetische Cannabinoide an erster Stelle. Wichtige Faktoren, die ihren Konsum in Gefängnissen ermöglichen, sind die Leichtigkeit, mit der sie eingeschleust werden können (etwa in flüssiger Form auf Papier oder auf Textilien aufgesprüht), sowie die Schwierigkeit, sie in Drogentests nachzuweisen.

    Verkauf im Internet und das Aufkommen neuer Benzodiazepine 

    Mengenmäßig wird der Verkauf von Drogen nach wie vor von traditionellen Offline-Märkten dominiert, allerdings scheint die Bedeutung von Online-Marktplätzen zuzunehmen, was die Drogenbekämpfung vor neue Herausforderungen stellt. In einer kürzlich veröffentlichten EMCDDA/Europol-Studie wurden über 100 globale Darknet-Marktplätze ermittelt, rund zwei Drittel aller Käufe auf diesen Plattformen betrafen Drogen. Auch das sichtbare Web und die sozialen Medien spielen offenbar eine immer wichtigere Rolle, vor allem beim Angebot neuer psychoaktiver Substanzen und beim Zugang zu missbräuchlich verwendeten Arzneimitteln.

    In dem Bericht wird auch auf das besorgniserregende Aufkommen neuer Benzodiazepine – sowohl auf der Straße als auch im Internet – hingewiesen, die in der EU nicht als Arzneimittel zugelassen sind. Die EMCDDA überwacht derzeit 23 neue Benzodiazepine (drei davon wurden 2017 erstmals in Europa nachgewiesen). Einige werden unter ihrem Eigennamen verkauft (z. B. Diclazepam, Etizolam, Flubromazolam, Flunitrazolam, Fonazepam). In anderen Fällen werden diese Substanzen zur Herstellung von Fälschungen häufig verschriebener Benzodiazepine (z. B. Diazepam, Alprazolam) verwendet, die dann auf dem Schwarzmarkt angeboten werden. Im Jahr 2016 wurden mehr als eine halbe Million Tabletten sichergestellt, die neue Benzodiazepine oder ähnliche Stoffe enthielten – rund zwei Drittel mehr als noch 2015.

    In einer zusammen mit dem Bericht veröffentlichten Analyse untersucht die EMCDDA den Benzodiazepinmissbrauch bei Hochrisiko-Opioidkonsumierenden in Europa. Obwohl die Verschreibung dieser Arzneimittelgruppe an Hochrisiko-Drogenkonsumierenden größtenteils legitime therapeutische Ziele verfolgt, kommt es durchaus vor, dass sie weitergegeben und missbraucht werden, was zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität in dieser Gruppe führt. Rund 40 Prozent aller Personen, die sich wegen des primären Konsums von Opioiden in Behandlung begaben, nannten Benzodiazepine als ihre sekundäre Problemdroge. Die Studie enthält auch eine Zeitleiste, an der sich die Meldung neuer Benzodiazepine an die EMCDDA ablesen lässt.

    Anstieg der Todesfälle durch Überdosierung und die Rolle von Naloxon bei der Prävention

    Der Bericht unterstreicht die Besorgnis über die hohe Zahl an Todesfällen durch Überdosierung in Europa, welche in den letzten vier Jahren stetig angestiegen ist. Laut Schätzungen starben in Europa (EU-28, Türkei und Norwegen) 2016 mehr als 9 000 Menschen an einer Überdosis, hauptsächlich in Verbindung mit Heroin und anderen Opioiden, die jedoch häufig in Kombination mit anderen Substanzen, insbesondere Alkohol und Benzodiazepinen, konsumiert wurden.

    Die mit alten und neuen Opioiden verbundenen Probleme rücken erneut die Rolle des Opioid-Gegenmittels Naloxon bei Maßnahmen zur Verhinderung von Überdosierungen in den Fokus. Im Bericht wird darauf hingewiesen, dass es dringend notwendig ist, „die derzeitige Naloxonpolitik zu überprüfen und die Ausbildung und Sensibilisierung sowohl der Drogenkonsumierenden als auch der Fachleute, die mit der Droge in Berührung kommen könnten, zu verstärken“.

    Die Vorsitzende des Verwaltungsrates der EMCDDA, Laura d’Arrigo, bemerkt abschließend: Die Gefahren, die von Drogen für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit in Europa ausgehen, machen nach wie vor eine gemeinsame Reaktion erforderlich. Der 2017 verabschiedete EU-Drogenaktionsplan bildet den Rahmen für die europäische Zusammenarbeit. Es ist äußerst wichtig, dass unser Überwachungssystem mit den sich verändernden Drogenproblemen und neu aufkommenden Entwicklungen Schritt hält.“

    Pressestelle der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), 07.06.2018

  • Startschuss für das Bundesprogramm „rehapro“

    Verbunden mit einem ersten Förderaufruf wurde am 4. Mai 2018 die Förderrichtlinie für die Modellprojekte „rehapro“ im Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Förderung von Modellprojekten zur Stärkung der Rehabilitation wurde im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes beschlossen (§ 11 SGB IX neu). Beide Papiere stehen im Bundesanzeiger zum Download zur Verfügung (www.bundesanzeiger.de, Suchbegriff „rehapro“). Zusätzliche Informationen zum Antragsverfahren finden sich auf der Internetseite http://www.modellvorhaben-rehapro.de.

    Die Modellvorhaben haben als übergeordnete Ziele, neue Ansätze zur Unterstützung von Menschen mit komplexen gesundheitlichen, psychischen und seelischen Unterstützungsbedarfen oder beginnenden Rehabilitationsbedarfen zu erproben. Des Weiteren soll auch die Zusammenarbeit der Akteure im Bereich der medizinischen und beruflichen Rehabilitation weiter verbessert werden. Dies betrifft insbesondere die folgenden Themenfelder:

    • Zusammenarbeit der Akteure, z. B. der Leistungsträger untereinander oder mit Leistungserbringern
    • Individualisierte Bedarfsorientierung/Leistungserbringung
    • Frühzeitige Intervention
    • Nachsorge und nachhaltige Themen

    Den Trägern der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Jobcenter) und den Rentenversicherungsträgern stehen hierzu bis 2022 jeweils 500 Millionen Euro zur Verfügung. Die Anträge können bei den örtlichen Jobcentern und den Rentenversicherungsträgern, als so genannten federführenden Bedarfsträgern, gestellt werden. Die Förderdauer der Modellprojekte beträgt nach § 11 Absatz 2 SGB IX bis zu fünf Jahren.

    Das Antragsverfahren ist zweistufig gestaltet und sieht vor, dem eigentlichen Projektantrag eine aussagefähige Projektskizze voranzustellen. Dies ermöglicht sowohl den Antragstellern wie auch den Bedarfsträgern entsprechende Ansätze zu sondieren, ohne gleich in ein finales Antragsverfahren (Projektantrag) einzusteigen. Nachdem die Antragsskizze positiv beschieden wurde, kann innerhalb von zwei Monaten ein Projektantrag eingereicht werden.

    Erste Bewilligungen sind für November 2018 vorgesehen. Es sind weitere Förderstufen geplant. Die zweite Stufe wird voraussichtlich Anfang 2019 erfolgen. Sowohl die Suchtfachverbände wie auch die DHS planen jeweils Anträge einzureichen.

    Quelle: CaSu Infobrief 08/2018, 11.05.2018

  • Kaum Heroin in Heroin

    Nachgewiesene Streckmittel und Begleitstoffe. Quelle: Substanzmonitoring in Konsumräumen – Analysenergebnisse der Untersuchungen des Jahres 2017, Universitätsklinikum Freiburg

    Was ist eigentlich in illegalen Drogen enthalten? Das wollte die Stadt Frankfurt wissen und hat Proben aus drei Drogenkonsumräumen untersuchen lassen. Vor allem der Wirkstoffgehalt von Heroin war deutlich geringer als erwartet.

    Von der Herstellung bis zum Konsum gehen illegale Drogen wie Heroin und Kokain durch viele Hände. Händler strecken die Drogen, um ihre Gewinnspanne zu erhöhen. Was letztlich bei Konsumierenden ankommt, das wollte die Stadt Frankfurt genauer wissen und ließ erstmals Rückstände aus Drogenverpackungen und Spritzen analysieren. Gesundheitsdezernent Stefan Majer erklärt: „Der Handel und Konsum von illegalen Drogen stellt nach wie vor ein großes Dunkelfeld dar. Niemand kann sagen, was genau er oder sie gerade konsumiert.“

    Die Proben stammen aus Drogenkonsumräumen, in denen sich Abhängige ihre Drogen unter hygienischen Bedingungen spritzen können und schnell Hilfe bekommen, falls ein Notfall eintritt. Mehr als 400 Heroin- und Kokainproben wurden an das Institut für Rechtsmedizin der Universität Freiburg geschickt und unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Auwärter analysiert. Bei der Analyse von Heroinproben zeigte sich ein auffälliges Ergebnis: Der durchschnittliche Reinheitsgehalt betrug nur neun Prozent. Sicherstellungen von Heroin in der Europäischen Union legen jedoch Reinheitsgehalte von etwa 19 Prozent auf der untersten Handelsebene nahe.

    Heroin, das in Frankfurt von Konsumierenden erworben wird, enthält somit überwiegend andere Substanzen. Darunter sind Begleitstoffe, die bei der Herstellung der Droge entstehen, und Streckmittel, die von Händlern zwecks Gewinnmaximierung hinzugefügt werden. Häufige Streckmittel in Heroin waren Paracetamol und Coffein. Das scheinbar harmlose Schmerzmittel Paracetamol kann gefährlich sein, weil es bei Überdosierungen schwere Leber- und Nierenschäden verursachen kann. Aufhorchen ließ, dass an zwei Verpackungen Spuren des synthetischen Opioids Fentanyl gefunden wurden. Regina Ernst, Leiterin des Frankfurter Drogenreferats, betont: „Fentanyl spielte 2017 bei mindestens drei Frankfurter Drogentoten eine Rolle.“ Fentanyl wird als besonders gefährlich eingestuft, weil es etwa 100-mal stärker wirkt als Heroin und die Gefahr einer lebensbedrohlichen Überdosierung besonders hoch ist.

    Das Problem der Dosierung kann auch auftreten, wenn Straßenheroin ausnahmsweise mal einen höheren Wirkstoffgehalt als üblich aufweist. So schwankte der Heroingehalt der analysierten Proben zwischen einem und 58 Prozent. Gifte wie Strychnin wurden hingegen nicht in den untersuchten Heroinproben gefunden.

    Der Reinheitsgehalt von Kokain lag hingegen mit durchschnittlich über 70 Prozent etwa auf dem Niveau, das auch in anderen europäischen Ländern beobachtet wird. Ein häufiges Streckmittel war das Medikament Levamisol, das normalerweise gegen Darmparasiten in der Tiermedizin eingesetzt wird. Der Konsum von mit Levamisol verschnittenem Kokain kann eine lebensgefährliche Bluterkrankung verursachen und die Gefäße schädigen, was zum Absterben von Gewebe führt.

    Auwärter und sein Team schreiben in der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse, dass sie entgegen den Erwartungen von Konsumierenden in keiner Kokainprobe Amphetamine wie Crystal Meth oder neue synthetische Drogen wie Badesalz gefunden haben.

    Weitere Informationen:

    Quelle: www.drugcom.de, 20.04.2018

  • Kulturdrogen – Drogenkultur

    Kulturdrogen – Drogenkultur

    Jost Leune

    Drogenkonsum ist kein neuzeitliches Phänomen. Drogen begleiten die Menschheit seit ihren Anfängen. Rauschmittel waren stets präsent und nie unumstritten. Mit der industriellen Herstellung von Wirkstoffen und dem daraus zu erzielenden Profit entwickelten sie sich sowohl zu einem unverzichtbaren Heilmittel als auch zu einem im Extremfall gesundheitsgefährdenden Konsumgut. Nicht zuletzt deshalb ist Gesundheitsförderung im Sinne von Prävention eine gesellschaftliche Aufgabe, der aber die nötigen finanziellen Mittel fehlen, um dem Angebotsdruck der Drogenproduzenten standzuhalten.

    Entdeckungen und Erfindungen – Drogen im Lauf der Jahrtausende

    Bis zum 16. Jahrhundert blieben die Gewohnheiten einzelner Völker in der Verwendung von Drogen aufgrund der geographischen Isolation erhalten, und Drogenmissbrauch wurde gewöhnlich durch soziale und religiöse Kontrolle in Grenzen gehalten. Im klassischen Altertum (ca. 3500 v. Chr. bis 600 n. Chr.) wurden Cannabis und Opium zu medizinischen Zwecken und die Cannabispflanze als Fasertyp zur Herstellung von Gegenständen des täglichen Bedarfs verwendet. Es gibt keine Hinweise auf einen bedeutsamen Konsum von Cannabis und Opium als Genuss- und Rauschmittel im Mittelmeerraum. Die einzige Droge, die soziale Probleme verursachte, war und ist Alkohol. Zweifellos geht das Trinken von Bier und Wein bis in prähistorische Zeiten zurück. Zeugnisse, die die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Bier und Wein sowie die Bemühungen, ihren Genuss zu kontrollieren, diskutieren, reichen bis in das alte Ägypten und Mesopotamien zurück. Das klassische griechisch-römische Schrifttum ist angefüllt mit kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und voller Lob der Tugend der Mäßigkeit (Legarno 1982).

    Bereits in der Geschichte des Alten Ägyptens (vor 4000 v. Chr. bis 395 n. Chr.) finden wir Belege für alkoholische Getränke. Bier ist schon 3000 v. Chr. bezeugt. Bei der Herstellung war das Brotbacken als Vorstadium des Brauens wichtig. Da man weder das Destillieren noch den Gebrauch von Hopfen kannte, wurde Brotteig, vermischt mit gegorenem Dattelsaft oder Honig, als Maische verwendet. Bier war ein gebräuchliches Heil- oder Nahrungsmittel, aber es war auch das Hauptgetränk in den verrufenen Bierhäusern und Schenken, wo leichte Mädchen junge Männer von ihrem Studium abhielten, so dass die Moralprediger mahnten: „Du verlässt die Bücher und Du gehst von Kneipe zu Kneipe, der Biergenuss allabendlich, der Biergeruch verscheucht die Menschen (von Dir)!“ (von Cranach 1982). An anderer Stelle wird empfohlen: „Ein Napf Wasser stillt schon den Durst“ – eine frühe Präventionsbotschaft. Gegorene Fruchtsäfte waren in Ägypten schon in der Vorgeschichte (vor 4000 v. Chr.) bekannt, ebenso Dattel- und Granatapfelwein. Die ersten Rebsorten wurden vermutlich aus dem mesopotamischen Raum nach Ägypten gebracht (von Cranach 1982).

    Wein war für die Bewohner des antiken Griechenlands (1600 v. Chr. bis 146 v. Chr.) Grundnahrungs- und Genussmittel und damit auch Opfergabe sowie Mittel des sozialen Kontaktes. Beobachtungen und Urteile zum Weingenuss und seinen Folgen finden sich zu damaliger Zeit in allen Literaturgattungen in Fülle, dafür gibt es genügend Belege (Preiser 1982).

    Hanf ist wahrscheinlich ursprünglich in China in den Dienst des Menschen gestellt worden, und zwar als Faserpflanze, als nahrhafte Körnerfrucht und als Rauschmittel. Es wird vermutet, dass Reitervölker der Steppen Ostasiens die Anwendung von Hanf als Rauschmittel von den Chinesen gelernt und dann weitervermittelt haben. Herodot (450 v. Chr.) berichtet von den Skythen, einem Volk von Reiternomaden, die ab etwa dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine besiedelten: „In die Hütte stellen sie ein flaches Gefäß mit glühenden Steinen gefüllt und werfen mitgebrachte Hanfsamen zwischen die Steine. Sofort beginnt es zu rauchen und zu dampfen, mehr noch als in einem griechischen Schwitzbad. Begeistert heulen die Skythen auf (…).“ (zit. n. Völger & von Welck 1982)

    Über die Germanen schreibt der römische Historiker und Senator Tacitus im Jahr 98 n. Chr.:

    22 Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. (…)
    23 Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. (…) Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.
    24 Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. (zit. n. Reclam-Ausgabe 1972)

    Im Mittelalter spielte der Hexenglaube eine große Rolle. Die Herkunft des Wortes „Hexe“ verweist auf eine Frau mit okkultem oder Naturheilwissen, die unter Umständen einer Priesterschaft angehörte. Diese Zuschreibungen sind eine Übertragung der Fähigkeiten der Göttin Freya aus der nordischen Mythologie und vergleichbarer Göttinnen in anderen Regionen (Heilen, Zaubern, Wahrsagen) auf die mittelalterlichen Priesterinnen, die im frühchristlichen Umfeld noch lange in der gewohnten Weise agierten. Mit dem Vordringen des Christentums wurden die heidnischen Lehren und ihre Anhänger dämonisiert. Der Begriff des Hexenglaubens ist im Übrigen doppeldeutig. Er bezeichnet nicht nur die Überzeugung, dass Hexen real und bedrohlich sind – eine Überzeugung, die im Volksglauben verwurzelt war und sich zum Hexenwahn steigern konnte. Sondern er kann heute auch die (naturreligiösen) Überzeugungen beschreiben, die sich auf ein vorchristliches Verständnis berufen, nach dem es Menschen beiderlei Geschlechts gibt, die über besondere Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen und die als Hexen bezeichnet werden. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse bezogen sich mit Sicherheit auch auf Pflanzen, die unter den Sammelbegriff Drogen fallen.

    Spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts beschrieben zuerst, dass in Südamerika ein weitverbreiteter Gebrauch einer Vielzahl von Pflanzen mit außergewöhnlichen, zu Weissagungen und Ekstasen führenden Wirkungen auf die Sinne zu beobachten ist. In den Überlieferungen wird dabei besonders auf Pilze, Peyote und Trichterwinde Bezug genommen (Völger & von Welck 1982).

    Die Weinproduktion erreicht in Europa im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt, und die Berichte über ausgedehnte Saufgelage von Feudalherren und Bauern häufen sich in dieser Zeit. Dies nahm Luther 1534 zum Anlass, zu wettern: „Es muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben (…) unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauf heißen.“ (Völger & von Welck 1982)

    500 Jahre Drogen-Geschichte in Stichworten

    Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Publikationen von Günter Amendt (1984), Norman Ohler (2017) und Irmgard Vogt (1982). 

    1618–1648
    30-jähriger Krieg, Weinberge werden verwüstet, Branntwein wird in größeren Mengen produziert und ist das beliebteste alkoholische Getränk bei Soldaten.

    1677
    Die Holländer bekommen das Monopol für Opiumlieferungen nach China. Städte wie Macao, Hongkong und Shanghai werden als Handelsstützpunkte gegründet.

    1771
    Die importierten Konsumgüter Tabak, Kaffee und Tee sind so populär wie kostspielig. Dies erregt Ärger bei Kaufleuten und Regierung. Dieser Handel liegt außerhalb ihrer Kontrolle, er führt zu einer ungünstigen Handelsbilanz und bedroht andere wichtige Einnahmen. In Preußen förderte Friedrich der Große das Kaffeetrinken, bis er entdeckte, dass es seine Einkünfte aus dem Biermonopol schmälerte und – wie er in seinem 1771 erlassenen Kaffeemanifest feststellte – dazu führte, dass ein „abscheulich hoher Geldbetrag“ außer Landes ging. Der Konsum wurde auf heimische Produkte abgestellt – das sind in der Konsequenz Bier und Branntwein aus, wie man heute sagt, „regionaler Produktion“ (Austin 1982).

    1773
    Das Handelsmonopol für Mohnsaft liegt bei der englischen Ostindien-Kompanie.

    1780
    Kartoffeln werden zur Schnapsherstellung verwendet.

    1804
    Morphium (Morphin) wird erstmals von dem deutschen Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Adam Sertürner in Paderborn aus Opium isoliert.

    19. Jahrhundert
    Technische Neuerungen verbessern die Schnapsproduktion, es entwickeln sich mittelgroße und Großfabriken.

    1850
    Die Injektionsspritze wird erfunden. Es beginnt der Siegeszug des Morphiums in Europa.

    1859/60
    Albert Niemann isoliert die aktiven Komponenten des Cocastrauches. Er gibt dem Alkaloid den Namen Kokain.

    1845
    Laut Friedrich Engels führen die schlechten Lebensbedingungen des Proletariats fast zwangsläufig zur Trunksucht. Auch Teile der SPD sehen den Alkoholismus vor allem als Hindernis im Klassenkampf an. Diese Position wird vehement vom 1903 gegründeten Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund (DAAB) vertreten.

    1862
    Die Firma Merck produziert Kokain als Medikament – u. a. gegen Husten, Depressionen und Syphilis.

    1875
    Eine Morphiumwelle erreicht Europa als Folge des amerikanischen Bürgerkrieges und des deutsch-französischen Krieges.
    „Morphin ist der Absinth der Frauen.“ (Alexandre Dumas)

    1878
    20.000.000 Opiumabhängige in China

    1893
    Das Vereinigte Königreich erteilt der Regierung von Indien den Auftrag, in Bengalen Hanf anzubauen und die Gewinnung von Drogen, den Handel damit und die Auswirkung auf den Zustand der Bevölkerung sowie die Frage eines etwaigen Verbotes zu überprüfen. Ergebnis: Die Kommission stellt fest, dass die medikamentöse Anwendung von Hanfdrogen umfangreich ist und daher ein Verbot unzweckmäßig erscheint.

    1896
    Bayer entwickelt ein Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin und lässt sich dafür den Markennamen „Heroin“ schützen.

    1912
    MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin) wird von Merck als Beiprodukt zur Herstellung von Hydrastinin (Blutstiller) patentiert.

    1920er Jahre
    Die Firmen Merck, Böhringer und Knoll beherrschen 80 Prozent des Weltmarktes für Kokain.

    1920er Jahre
    In München entsteht der Nationalsozialismus. München ist Gründungsort der NSDAP. Die Stadt wird zur „Hauptstadt der Bewegung“, weil es den wenigen nationalsozialistischen Gründungsaktivisten hier gelingt, ihre anfängliche Splitterpartei von ein paar versprengten Verwirrten zu einer Massenbewegung anwachsen zu lassen. Dabei spielen die großen Bierkeller in München eine zentrale Rolle. Hier werden nicht nur Volksfeste gefeiert, sondern auch die großen politischen Versammlungen abgehalten. Im Kindl-Bräu sah und hörte Ernst „Putzi“ Hanfstaengl Hitler zum ersten Mal reden. Er war es, der Hitler auch in den großbürgerlichen Kreisen salonfähig machte. Auf den Rednerbühnen des Bürgerbräukellers avancierte Hitler unter Johlen und Bierkrugschwenken seiner Anhänger allmählich zum Volksheld und schließlich zum Führer des Deutschen Reiches. Der Aufstieg Adolf Hitlers – der selbst keinen oder kaum Alkohol getrunken hat – ist ohne das Bier nicht denkbar. Bier, das in München auch bei politischen Versammlungen in rauen Mengen konsumiert wurde, verwandelte Hitlers Zuhörer regelmäßig in eine berauschte, betrunkene Masse, die fast beliebig zu steuern war. Die durch den Alkohol bewirkte Enthemmung schuf aus Hitlers kleinbürgerlichen Anhängern gefährliche, gewaltbereite Extremisten. Der NS-Terror auf Münchens Straßen in den Zwanziger Jahren ist ohne Alkohol nicht denkbar (Hecht 2013).

    1926
    Deutschland steht an der Spitze der Morphin produzierenden Staaten und ist Exportweltmeister bei Heroin: 98 Prozent der Produktion gehen ins Ausland. Zwischen 1925 und 1930 werden 91 Tonnen Morphin hergestellt.

    1926
    Die Firma Parke-Davis entwickelt Phencyclidin (Abkürzung PCP, in der Drogenszene bekannt als „Angel Dust“) als Arzneistoff der Klasse der Anästhetika.

    Berlin mutiert zur Experimentierhauptstadt Europas. 1928 gehen in Berlin 73 Kilogramm Morphin und Heroin legal auf Rezept in Apotheken über den Ladentisch. 40 Prozent der Berliner Ärzte sind angeblich morphinsüchtig.
    „Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversität!“ (Klaus Mann)

    1937
    Am 31. Oktober melden die Temmler-Werke Berlin das erste – an Potenz das amerikanische Benzedrin weit in den Schatten stellende – deutsche Methylamphetamin zum Patent an. Der Markenname: Pervitin. Der Tübinger Pharmakologe Felix Haffner schlägt die Verordnung des Pervitin sogar als „höchstes Gebot“ vor, wenn es um den „letzten Einsatz für das Ganze“ gehe: eine Art „chemischer Befehl“.
    Pervitin wird zum Symptom der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Selbst eine mit Methamphetamin versetzte Pralinensorte kam auf den Markt. Pro Genusseinheit waren stolze 14 Milligramm Methamphetamin beigemischt – beinahe das Fünffache einer Pervitin-Pille. „Hildebrand Pralinen erfreuen immer“, lautete der Slogan der potenten Leckerei. Die Empfehlung lautete forsch, drei bis neun Stück davon zu essen mit dem Hinweis, dies sei, ganz anders als Koffein, ungefährlich. Die Hausarbeit ginge dann leichter von der Hand, zudem schmelzen bei dieser außergewöhnlichen Süßigkeit sogar die Pfunde, da der Schlankmacher Pervitin den restlichen Appetit zügle (Ohler 2017).

    1938
    Albert Hofmann stellt Lysergsäurediethylamid (LSD) her.

    1940
    Weckmittelerlass der Reichswehr vom 17. April: „Die Erfahrung des Polen-Feldzuges hat gezeigt, dass in bestimmten Lagen der militärische Erfolg in entscheidender Weise von der Überwindung der Müdigkeit einer stark beanspruchten Truppe beeinflusst wird. Die Überwindung des Schlafes kann in besonderen Lagen wichtiger als jede Rücksicht auf eine etwa damit verbundene Schädigung sein, wenn durch den Schlaf der militärische Erfolg gefährdet wird. Zur Durchbrechung des Schlafes (…) stehen die Weckmittel zur Verfügung.“
    Pervitin wurde in der Sanitätsausrüstung planmäßig eingeführt. Daraufhin bestellte die Wehrmacht für Heer und Luftwaffe 35 Millionen Tabletten, die noch bis ca. 1950 im Umlauf waren.

    1945
    Der Zweite Weltkrieg endet, der Konsum von Aufputschmitteln geht weiter. Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.

    1949
    Die Firma Sandoz bringt LSD unter dem Namen „Delysid“ in den Handel. Es soll Psychiatrie-Ärzten ermöglichen, sich in die Wahrnehmungswelt psychotischer Patienten einzufühlen.

    1953
    Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.

    1954
    In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den ‚Raketentreibstoff‘ Pervitin eingeflößt zu haben.

    1954
    Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.

    1967
    Hippies in den USA berauschen sich an der ‚Liebesdroge‘ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.

    1968
    Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung sind Schlagworte der gesellschaftlichen Entwicklung der späten 1960er Jahre in Deutschland. Dazu muss man sich verdeutlichen, dass die Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre in der BRD von denselben Personen, derselben Doppelmoral und denselben Ritualen beherrscht wird, die Deutschland in den 1930er Jahren eingeübt hatte. Als sich der Vietnamkrieg zum Völkermord entwickelt, in Bonn eine große Koalition gebildet wird und diese über Notstandsgesetze berät, die im Krisenfall das demokratische System außer Kraft setzen sollen, regt sich in der Gesellschaft ein lange angestauter Widerstand. Dabei geht es vor allem um eine Abgrenzung zur Elterngeneration und zum politischen System. Dazu gehören Provokation, Widerstand und Drogen. In Westdeutschland entwickelt sich daraus ein ‚hedonistischer Antifaschismus‘, während Ostdeutschland seinen moralischen Antifaschismus bewahrt: Die DDR erschafft sich einen perfekten Entstehungs- und Rechtfertigungs-Mythos, der sie gegen jede Kritik immunisiert. In der DDR sind Drogen nicht Teil des Widerstandes, sondern dienen den großen und kleinen Fluchten, mit denen man sich dem nicht minder spießigen System in der ‚Volksrepublik Preußen‘ entziehen kann.

    Drogen und ihre Kultur

    Alkoholkonsum

    Drogenkultur in Deutschland ist Alkoholkultur, genauer gesagt Bierkultur. Der Blick auf den Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland zeigt dies deutlich (Abbildung 1). 

    Abbildung 1: Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland (eigene Grafik)

    Während der jährliche Branntweinkonsum von einem Höchststand Anfang des 20. Jahrhunderts mit wenigen Schwankungen seit vielen Jahren bei fünf bis sechs Litern pro Kopf liegt, ist der Weinkonsum in über 100 Jahren von etwa fünf Litern auf fast 25 Liter gestiegen. Absoluter Spitzenreiter ist das Bier, das mit einem nicht erklärbaren Tiefpunkt in den späten 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Konsumhöhepunkt im Jahre 1975 erreichte und jetzt bei einem Durchschnittsverbrauch von etwas über 100 Litern pro Kopf und Jahr liegt. Der in Rein-Alkohol umgerechnete Verbrauch erreichte erst 1970 wieder die hohen Werte um 1900 und sank dann allmählich auf jetzt etwa 9,5 Liter pro Kopf ab (DHS 2017).

    Über die Schattenseite dieser Kultur informiert der Alkoholatlas Deutschland 2017:

    • 18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen nehmen riskante Mengen Alkohol zu sich, vor allem unter 25-Jährige und Personen zwischen 45 und 65 Jahren.
    • Der Anteil der Risikokonsumenten ist bei den Männern in Thüringen, Sachsen und Berlin (je 22 Prozent) am höchsten.
    • 2015 standen zehn Prozent aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss.
    • 2015 ereigneten sich rund 34.500 Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter alkoholisiert war. Bei über 13.000 dieser Unfälle wurden Personen verletzt oder getötet.

    Konsum illegaler Drogen

    An zweiter Stelle bei den konsumierten psychotropen Substanzen steht in Deutschland Cannabis. Bei Cannabis handelt es sich allerdings um eine illegale Droge, so dass die Ergebnisse von Konsument/innen-Befragungen sich nur in einer Grauzone abspielen können und die Realität abbilden können, aber nicht müssen. Nach den vorliegenden Daten (DBDD 2016) konsumieren bundesweit innerhalb einer Jahresfrist knapp über 4,5 Millionen Menschen Cannabis. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Werte für alle illegalen Substanzen:

    Abbildung 2. Konsum illegaler Drogen pro Jahr. *Aufgrund zu geringer Zellbesetzungen werden für einige Zellen keine Prozentwerte angegeben. Werte im niedrigen Prozentbereich sind mit großer Vorsicht zu interpretieren, da von einer erheblichen Unschärfe bei der Extrapolation der Messwerte auszugehen ist. Quelle: DBDD 2016

    Gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich

    Der Grund, Drogen zu nehmen, liegt nicht nur in wie auch immer gearteten Rauscherlebnissen. Fast jede Droge erzeugt eine gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich. Auch darüber muss im Zusammenhang mit verbotenen illegalen Substanzen immer wieder diskutiert werden.

    Alkohol
    Alkohol ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Ethanol. Die Vergärung von Zucker zu Ethanol ist eine der ältesten bekannten biochemischen Reaktionen. Ethanol wird als Lösungsmittel für Stoffe verwendet, die für medizinische oder kosmetische Zwecke eingesetzt werden, wie Duftstoffe, Aromen, Farbstoffe oder Medikamente. Außerdem dient es als Desinfektionsmittel. Die chemische Industrie verwendet Ethanol als Lösungsmittel sowie als Ausgangsstoff für die Synthese weiterer Produkte wie Carbonsäureethylester. Ethanol wird auch als Biokraftstoff, etwa als so genanntes Bioethanol, verwendet. 

    Die folgenden Informationen zu illegalen Drogen stützen sich auf die Publikation von Fred Langer et al. (2017). 

    Amphetamin
    Amphetamin wurde erstmals 1887 synthetisiert. Zunächst wurde es gegen Asthma und als Appetitzügler eingesetzt, heute findet es Anwendung bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Narkolepsie (Schlafsucht). Wegen seiner aufputschenden Wirkung ist es als Partydroge beliebt (Speed). 

    Barbiturate
    Barbitursäure wurde erstmals 1864 hergestellt. Barbiturate waren ab dem frühen 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte das Schlafmittel schlechthin. Sie werden als Narkosemittel, bei Epilepsie und auch in der Sterbehilfe eingesetzt. In den USA werden sie in Kombination mit anderen Präparaten zur Hinrichtung mittels Spritze verwendet. Abhängigkeit und Entzug verlaufen ähnlich wie beim Alkohol. 

    Cannabis
    Seit Jahrtausenden nutzen Heilkundige die Wirkstoffe der Hanfpflanze (Cannabinoide). Cannabis wird gegenwärtig in immer mehr Ländern für medizinische Zwecke freigegeben. Einsatz findet es u. a. in der Schmerztherapie, bei Multipler Sklerose, gegen Übelkeit und Erbrechen, unterstützend in der Therapie von Krebs und Aids. Als Drogen werden die getrockneten Blütentrauben und Blätter als Marihuana geraucht (‚Gras‘) oder extrahiertes Harz als Haschisch. Die Wirkung ist entspannend und stimmungsaufhellend.

    Kokain
    Kokain wird aus den Blättern des Cocastrauches extrahiert. Es ist das älteste Mittel zur örtlichen Betäubung und spielte früher eine wichtige Rolle in der Augenheilkunde. Bei Eingriffen am Kopf ist es heute noch zulässig. Als Droge wird Kokain wegen seiner euphorisierenden Wirkung geschnupft (Pulver) oder als Crack geraucht.

    Ketamin
    Ketamin wurde ab 1962 gezielt als Arzneimittel entwickelt und wird als Analgetikum (schmerzstillendes Mittel) und Narkosemittel angewendet, vor allem in der Notfall- und Tiermedizin, neuerdings auch gegen schwere Depressionen. Als Rauschdroge (geschluckt, geschnieft oder gespritzt) löst es starke Wahrnehmungsveränderungen aus.

    LSD
    LSD wurde 1938 erstmals als Derivat der Lysergsäure hergestellt, die im Mutterkornpilz auch natürlich vorkommt. Früher wurde es zur psychotherapeutischen Behandlung von Krebspatienten und bei Alkoholismus eingesetzt. Vermutlich ist es wirksam gegen Cluster-Kopfschmerzen. LSD ist eine starke halluzinogene Droge (Acid) und löst einen intensiven psychedelischen Rausch aus.

    MDMA
    MDMA wurde 1912 synthetisiert und in den 1960er Jahren von US-Chemikern wiederentdeckt. Es ist ein viel versprechender Wirkstoff in der Therapie Posttraumatischer Belastungsstörungen. In Pillenform (Ecstasy) oder pulverisiert (Molly) ist es eine beliebte Partydroge.

    Opiate
    Opiate werden aus dem Saft geritzter Samenkapseln des Schlafmohns gewonnen. Durch Trocknen des Saftes entsteht Rohopium. Rohopium enthält u. a. die Wirkstoffe Morphin (eingesetzt als Schmerzmittel) und Codein (eingesetzt als gegen Hustenreiz). Das bekannteste Morphinderivat ist Heroin, ein sehr starkes Schmerzmittel, dessen therapeutische Anwendung heute in den meisten Ländern verboten ist aufgrund seines starken Abhängigkeitspotenzials. Opium ist nur noch zur Behandlung chronischen Durchfalls erlaubt. Gespritzt, geschnupft oder geraucht wirken Opiate euphorisierend und sedierend. 

    Psilocybin
    Psilocybin kommt in diversen Pilzarten vor (Magic Mushrooms) und wurde ab 1959 auch synthetisch hergestellt. Seit Jahrhunderten ist es Teil spiritueller Rituale. In der modernen Medizin wird es zur Linderung von Depressionen und Angstzuständen, möglicherweise auch gegen Alkoholismus und Nikotinsucht eingesetzt. Es ruft einen bewusstseinsverändernden Rausch hervor, ähnlich wie bei LSD, aber kürzer.

    Schlussbemerkung

    Die Dosis macht das Gift: Drogen haben eine heilsame und eine unheilvolle Seite. Eine Ausnahme bildet Alkohol. Dieser ist vor allem als Lösungsmittel wirksam – zum Beispiel in menschlichen Beziehungen. Menschen aus anderen Kulturkreisen bringen andere Haltungen gegenüber Drogen und andere Konsumkulturen mit. Prävention muss sich einer Arbeit im Feld interkultureller Begegnung öffnen. Ein solcher Prozess ist angesichts der Zuwanderung in allen Bereichen erforderlich. Voraussetzung für diesen Prozess ist die Entwicklung interkultureller Kompetenz. Diese Entwicklung kann nur als mittel- bis langfristiger Prozess gedacht werden, dessen Realisierung u. a. gezielte Fortbildungs- und Supervisionsmaßnahmen erfordert. 

    „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern, schreibt Karl Marx in seinen Thesen über Feuerbach. In der Suchtprävention reicht es daher nicht aus, das Gefüge von Kultur und Drogen zu beschreiben und soweit möglich zu interpretieren, sondern es bedarf auch einer Handlungsanleitung für die Praxis. Für die Fachkräfte in der Suchtprävention könnte diese heißen, zu überprüfen, in welchem Umfeld ihre Arbeit stattfindet und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beeinflussen.

    Prävention ist Gesundheitsförderung und versucht die Wirkungen zu lindern, die von den Drogenproduzenten durch den Verkauf ihrer Produkte und die entsprechende Werbung dafür erzeugt werden. Für illegale Drogen finden Werbung und Verkauf auf dem Schwarzmarkt statt, über den naturgemäß keine Daten vorliegen. Bei legalen Drogen dagegen – und hier reden wir nur über Alkohol – liegen die Informationen offen vor. Abbildung 3 zeigt die Werbeausgaben für alkoholische Getränke. Bundesweit sind das 544 Millionen Euro.

    Abbildung 3: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke bundesweit (in Millionen Euro) (eigene Grafik, Quelle: DHS, Daten und Fakten)

    Abbildung 4 zeigt, wie sich die Situation umgerechnet auf Thüringen darstellt (Angaben in Millionen Euro). Aussagekräftig ist der Vergleich der Ausgaben für Werbung und für Prävention.

    Abbildung 4: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke in Thüringen (in Millionen Euro) (eigene Grafik)

    Auf Thüringen entfallen 14,62 Millionen Euro an Werbeausgaben. Präventionsangebote werden in Thüringen von den Kommunen und dem Land gefördert. Für die Kommunen liegen keine Zahlen vor. Für das Land finden sich Angaben im Haushaltsplan 2017 des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Titel: 684 71 314 (Freistaat Thüringen 2017). Es handelt sich um Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung, des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitshilfen, für die 1,7005 Millionen Euro aufgewendet werden. Selbst wenn wir unterstellen, dass die Kommunen noch einmal eine Million Euro drauflegen, was wahrscheinlich sehr optimistisch ist, stünden dann diese 2,7 Millionen Euro Werbeaufwendungen der Alkoholindustrie in Höhe von 14,62 Millionen Euro gegenüber. Dieses als Ungleichgewicht zu bezeichnen, ist eine maßlose Untertreibung.

    Wenn Gesundheitsförderung in Form von Suchtprävention nicht so wirkt, wie wir uns das wünschen, liegt das nicht an der Qualifikation und dem Fleiß der Fachkräfte. Es liegt an dem Ungleichgewicht zwischen Angebotsdruck bei legalen und illegalen Drogen und den gesundheitsfördernden Leistungen, die die Gesellschaft diesem Druck entgegenstellt. Und da tut Thüringen Einiges. Das darf an dieser Stelle auch mal gelobt werden. Ein kulturverträglicher Drogenkonsum funktioniert nämlich nur, wenn die möglichen Risiken von Substanzen und Verhalten durch ein wirksames Konzept der Gesundheitsförderung ausgeglichen werden können. Dazu braucht man Geld und guten Willen, sonst kann der Genuss schnell zum Verdruss führen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor anlässlich der 5. Thüringer Jahrestagung Suchtprävention am 25. Oktober 2017 in Erfurt gehalten hat.
    Redaktion des Vortragsmanuskripts: Simone Schwarzer 

    Kontakt:

    Jost Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

     Angaben zum Autor:

    Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.

     Literatur:
    • Amendt, G. (2014), Legalisieren! Vorträge zur Drogenpolitik. Herausgegeben von Andreas Loebell, Rotpunktverlag
    • Amendt, G. (1984), SUCHT – PROFIT – SUCHT, Zweitausendeins Verlag Frankfurt
    • Austin, G. (1982), Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Cranach, D. von (1982), Drogen im alten Ägypten, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) (Hg.) (2016), Bericht 2016 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD (Datenjahr 2015/2016), Workbook 3 Drogen. Internet: http://www.dbdd.de/fileadmin/user_upload_dbdd/01_dbdd/PDFs/wb_03_drogen_2016_germany_de_2016.pdf (Zugriff am 23.11.2016)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hg.) (2017), Jahrbuch Sucht 2017, Papst-Verlag Lengerich
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Daten und Fakten. Internet: http://www.dhs.de/datenfakten.html (Zugriff am 11.10.2017)
    • Deutsches Krebsforschungszentrum (Hg.) (2017), Alkoholatlas Deutschland 2017. Internet: http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/sonstVeroeffentlichungen/Alkoholatlas-Deutschland-2017_Auf-einen-Blick.pdf (Zugriff am 19.10.2017)
    • Freistaat Thüringen, Haushaltsplan 2017. Internet: https://www.thueringen.de/th5/tfm/haushalt/aktuell/index.aspx (Zugriff am 16.10.2017)
    • Hecht, M. (2013), Die Stadt, das Bier und der Hass. Der Zusammenhang von Politik und Alkohol in der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus. Vortrag gehalten vor dem 36. fdr-Kongress am 7. Mai 2013 in München. Internet: https://fdr-online.info/wp-content/uploads/file-manager/redakteur/downloads/veranstaltungen/36_fdrkongress/S29-3_Hecht.pdf (Zugriff am 10.09.2017)
    • Langer, F., Khazan, O., Hanske,P. (2017), Vom Segen der Drogen, in: Zeitschrift GEO, Ausgabe 06 2017 Seite 68-89
    • Legarno, A. (1982), Ansätze zu einer Soziologie des Rausches – zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Ohler, N. (20172), Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Kiepenheuer & Witsch, Köln
    • Preiser, G. (1982), Wein im Urteil der griechischen Antike, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Springer, A. (1997), Anthropologisch-gesellschaftliche Aspekte des Drogengebrauchs, in: Heckmann, W. (Hg.), Fleisch, E., Haller R., Suchtkrankenhilfe. Lehrbuch zur Vorbeugung, Beratung und Therapie, Beltz-Verlag Weinheim/Basel
    • Tacitus (1972), Germania, Reclam Ditzingen
    • Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Vogt, I., Alkoholkonsum, Industrialisierung und Klassenkonflikte, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Wie wirksam ist die Suchtrehabilitationsbehandlung?

    Zur Wirksamkeit der abstinenzorientierten Suchtrehabilitationsbehandlung liegen zwar keine randomisierten Kontrollgruppenstudien vor, aber die in den großen Fachverbänden zusammengeschlossenen Rehabilitationseinrichtungen führen regelmäßige Katamnesebefragungen der entlassenen Patientinnen und Patienten durch. Die aktuellen Daten vermitteln ein differenziertes Bild der Rehabilitationsbehandlung.

    Standards zur Berechnung der Erfolgsquote

    Katamnesebefragungen in der Suchthilfe orientieren sich in Deutschland seit vielen Jahren an den Katamnesestandards der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Diesen Standards zufolge sollen Katamnesebefragungen regelmäßig ein Jahr nach der Entlassung aus der Behandlung als Vollerhebung durchgeführt werden. Zur Berechnung der Erfolgsquote werden vier verschiedene Standards errechnet, die sich hinsichtlich der Bezugsgröße (nur regulär entlassene Patientinnen und Patienten oder alle Patientinnen und Patienten) und hinsichtlich der Behandlung unklarer Fälle und so genannter Non-Responder (Entlassene, die sich nicht an der Katamnesbefragung beteiligt haben) unterscheiden. Die höchsten Erfolgsquoten berechnen sich mit dem DGSS-Standard 1, der sich nur auf reguläre Entlassungen und nur auf die Responder bezieht. Die niedrigste Erfolgsquote ergibt DGSS-Standard 4, der sich auf alle Patientinnen und Patienten (also auch auf nicht regulär entlassene) bezieht und alle unklaren Fälle und Non-Responder als Rückfälle und somit nicht erfolgreiche Fälle behandelt.

    In der abstinenzorientierten Rehabilitation gilt als erfolgreich, wer ein Jahr nach der Entlassung dauerhaft abstinent oder nach einem oder mehreren Rückfällen mindestens seit 30 Tagen abstinent lebt. Standard 1 führt zu einer Überschätzung, Standard 4 zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Anzahl abstinent lebender ehemaliger Patientinnen und Patienten. Da Standard 4 dem international üblichen intention-to-treat-Konzept entspricht, beziehen sich alle folgenden Erfolgsdaten auf diesen Standard.

    Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige

    Der Fachverband Sucht e.V. (FVS) hat 2017 die Katamnesedaten für den Entlassjahrgang 2014 veröffentlicht. In den Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt die katamnestische Erfolgsquote für den konservativen Standard 4 bezogen auf 11.033 ehemalige Patientinnen und Patienten bei 40,9 Prozent. Betrachtet man die katamnestische Erfolgsquote über einen längeren Zeitraum, so zeigt sich ein langsamer, aber stetiger Rückgang. Um ältere Katamneseergebnisse vergleichen zu können, muss man sich dabei auf das frühere Erfolgskriterium „Abstinenz nach Rückfall drei Monate“ beziehen. In den 1990er Jahren lag die Erfolgsquote danach über oder um die 50 Prozent, zwischen 2000 und 2009 über 40 Prozent und seit 2010 unter 40 Prozent, für den Entlassjahrgang 2014 nach diesem älteren Kriterium bei 37,4 Prozent.

    Frauen sind erfolgreicher als Männer, über 40-Jährige erfolgreicher als Jüngere. Am höchsten liegt die katamnestische Erfolgsquote bei einer Behandlungsdauer von zwölf bis 16 Wochen, sowohl bei kürzerer als auch bei längerer Behandlungsdauer geht die Erfolgsquote zurück. Weitere Faktoren, die mit einer höheren Erfolgsquote korrelieren, sind feste Partnerschaften, Erwerbstätigkeit vor der Aufnahme sowie ein planmäßiger Behandlungsabschluss. Die Abhängigkeitsdauer steht nicht in einem signifikanten Zusammenhang mit dem Behandlungserfolg. In knapp 85 Prozent der Fälle ist die Rentenversicherung der Kostenträger und in rund 13 Prozent eine Krankenkasse. Die Arbeitsunfähigkeit geht zwischen Therapiebeginn und Katamnesezeitpunkt deutlich zurück (von 62 auf 39 Prozent), während der Anteil der Erwerbstätigen nur moderat (von 46 auf 52 Prozent) steigt.

    Vom Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) liegen seit August 2017 die Katamnesedaten für den Entlassjahrgang 2015 vor. Die katamnestische Erfolgsquote liegt diesen Daten zufolge bei 38,6 Prozent.

    Tageskliniken

    In Tageskliniken, in denen eine ganztägige ambulante Suchtrehabilitationsbehandlung angeboten wird, liegen die katamnestischen Erfolgsquoten bei der Auswertung des FVS (Entlassjahrgang 2014) bei einer Gesamtzahl entlassener Patientinnen und Patienten von 336 bei 40,5 Prozent, beim buss (Entlassjahrgang 2015) bei einer Gesamtzahl von 183 bei 37,7 Prozent, insgesamt also ungefähr auf dem Niveau der stationären Behandlung in den Fachkliniken. Die Merkmale der Klientel unterscheiden sich allerdings: In der ganztägig ambulanten Rehabilitation der FVS-Einrichtungen sind mehr Frauen, mehr Ältere, mehr Erwerbstätige und mehr Klientinnen bzw. Klienten, die in einer festen Partnerschaft leben, als in den Fachkliniken des FVS.

    Ambulante Suchtrehabilitation

    Bereits 2016 haben Caritas und Diakonie Ergebnisse ihrer Katamnesebefragung zur ambulanten Suchtrehabilitation in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen für den Entlassjahrgang 2014 vorgestellt. Befragt wurden 2.791 Personen, von denen 85 Prozent wegen einer Alkohol- oder Medikamentendiagnose und der Rest wegen illegaler Drogen oder pathologischem Glückspiel in Behandlung waren. Je nachdem, ob alle Einrichtungen oder nur diejenigen mit einem Rücklauf von mindestens 45 Prozent betrachtet werden, lag die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS-4-Standard zwischen 49,6 und 52,4 Prozent und damit höher als in der stationären und ganztägig ambulanten Rehabilitation. In der ambulanten Rehabilitation waren mehr Frauen, mehr Erwerbstätige, weniger Bezieher von Arbeitslosengeld 1 und 2 und mehr Patientinnen in festen Beziehungen als in den Fach-kliniken und in den Tageskliniken.

    Fachkliniken für Drogenabhängige

    Deutlich niedriger liegt die katamnestische Erfolgsquote in der stationären abstinenzorientierten Drogenrehabilitation. Bei einer deutlich geringeren Rücklaufquote als in den Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt der Anteil der Abstinenten (dauerhaft und 30 Tage nach Rückfall) auf der Basis von 253 Fällen in der buss-Katamnese in Drogeneinrichtungen bei 22,5 Prozent. Die FVS-Katamnese errechnet auf der Grundlage von 1.508 Fällen eine Erfolgsquote von 23,8 Prozent. Dabei differenziert die Katamnese des Fachverbandes Sucht in Fachkliniken für Drogenrehabilitation zwischen verschiedenen Substanzen. Während die Erfolgsquote bei Cannabis, Kokain und Stimulanzien zwischen 24,6 und 27,6 Prozent schwankt, liegt sie für Opioide bei 11,9 Prozent. Wie nicht anders zu erwarten, unterscheiden sich die Merkmale der Rehabilitand/innen in Drogeneinrichtungen deutlich von den Merkmalen der Rehabilitand/innen in Alkoholeinrichtungen: In den Drogeneinrichtungen war das Durchschnittsalter mit 29,8 Jahren gut 16 Jahre jünger als in den Alkoholeinrichtungen (46,2 Jahre). Der Anteil der Erwerbstätigen, der regulären Beendigungen und der Patientinnen und Patienten mit einer festen Partnerbeziehung liegt in den Drogeneinrichtungen jeweils deutlich niedriger als in den Alkoholeinrichtungen.

    Quelle: HLS-Forschungsbrief, Ausgabe 48/Dezember 2017
    Download des gesamten Forschungsbriefes sowie früherer Ausgaben unter:
    https://www.hls-online.org/service/materialien/hls-forschungsbriefe/

    Literatur:
    • Bachmeier, R., Feindel, H., Herder, F. et al. (2017): Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2014 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht-Aktuell, 24: 53-69.
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Alkoholeinrichtungen. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Tageskliniken. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Drogeneinrichtungen. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Fischer, M., Kemmann, D., Domma-Reichart, J. et al. (2017): Effektivität der stationären abstinenzorientierten Drogenrehabilitation. FVS- Katamnese des Entlassjahrgangs 2014 von Fachkliniken für Drogenrehabilitation. SuchtAktuell, 24: 70-78.
    • Medenwaldt, J. (2016): Katamnesen Ambulante Rehabilitation Sucht von DCV und GVS – Wesentliche Ergebnisse aus vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016. Online unter: http://www.sucht.org/angebote/publikationen/dokumentation/ergebnisse-der-katamnesen-ambulante-rehabilitation-sucht-wirkungsdialog-und-daraus-abgeleitete-perspektiven/
    • Schneider, B., Mielke, D., Bachmeier, R. et al. (2017): Effektivität der Ganztägig Ambulanten Suchtrehabilitation – Fachverband Sucht – Katamnese des Entlassjahrganges 2014 aus Einrichtungen Alkohol- und Medikamentenabhängiger. SuchtAktuell, 24: 90-100.