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  • Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    1. Einleitung

    Bereits Anfang 2020 war erkennbar, dass die SARS-CoV-2-Pandemie erhebliche Implikationen auch auf die medizinische Rehabilitation haben wird. Daher initiierte die Deutsche Rentenversicherung Bund den Förderaufruf „Forschungsvorhaben zu Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf das System der Rehabilitation“. In diesem Rahmen wurde das hier vorgestellte Forschungsprojekt „Auswirkungen der SARS‐CoV‐2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation und Nachsorge (CoV-AZuR)“ im Sommer 2020 am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin konzipiert.

    Die Sucht-Rehabilitation unterscheidet sich von der medizinischen Rehabilitation bei anderen Indikationen in mehreren Aspekten, welche während der SARS-CoV-2-Pandemie Bedeutung gehabt haben könnten. Hierzu gehören besondere Zugangswege. Neben Entgiftungsstationen in Akutkrankenhäusern und weiteren Institutionen erfolgt der Zugang insbesondere über Suchtberatungsstellen. Das Spektrum der Einrichtungen, in denen Sucht-Rehabilitation durchgeführt wird, variiert erheblich, von Suchtberatungsstellen mit wenigen Reha-Behandlungsplätzen bis hin zu großen Fachkliniken mit hunderten Betten. Die durchschnittliche Dauer der Sucht-Rehabilitation beträgt 86 Tage, im Gegensatz zu 23 Tagen in der somatischen Rehabilitation (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Entsprechend höher liegen die Kosten für Sucht-Rehabilitationsleistungen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2020). Die Rehabilitandenstruktur unterscheidet sich deutlich von derjenigen in der übrigen medizinischen Rehabilitation: Sie weist einen hohen Männeranteil, ein vergleichsweise niedriges mittleres Alter und einen niedrigen sozioökonomischen Status mit einer Überrepräsentation von z. B. Arbeitslosen, Wohnungslosen, Menschen in betreutem Wohnen und Gefangenen auf.

    Während der Pandemie kam es zu Veränderungen im Zugang zu Suchtmitteln und im Konsumverhalten. Die Studienlage hierzu ist je nach Suchtmittel und untersuchter Population uneinheitlich (Georgiadou et al., 2020; Koopmann et al., 2020; Manthey et al., 2020; Suhren et al., 2021; Klosterhalfen et al., 2022). Es wurden neue oder vermehrt in der Pandemie auftretende Motive für erhöhten Substanzkonsum und verstärktes Suchtverhalten identifiziert, darunter Langeweile, Einsamkeit und Angst vor Ansteckung (Lochbühler, 2021). Es ist aus vorherigen Studien bekannt, dass diese Faktoren bestehende Suchterkrankungen verstärken bzw. die Rückfallgefahr erhöhen können (Henkel, Zemlin, 2009).

    Vor diesem Hintergrund hatte die Studie zum Ziel, pandemiebedingte Veränderungen in der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge zu beschreiben. Folgende Fragestellungen wurden untersucht: Welche Veränderungen während der SARS‐CoV‐2-Pandemie zeigten sich für die Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Bezug auf

    1. organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen,
    2. Personal und Teamarbeit,
    3. Zugang und Inanspruchnahme der Sucht-Rehabilitation und Rehabilitandenstruktur,
    4. Reha-Konzept, therapeutische Leistungsangebote und Digitalisierung
    5. und in Bezug auf Behandlungsergebnisse?

    2. Methoden

    Die Beobachtungsstudie verfolgt einen Mixed-Methods-Ansatz und bindet mehrere Akteure und Perspektiven ein. Hierzu gehören Einrichtungsleitungen, Behandler:innen und Rehabilitand:innen. Die Studie gliedert sich in vier Module M1 bis M4:

    M1: Einrichtungsleitungen aller ca. 1.050 Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Deutschland wurden zu zwei Zeitpunkten (t1: Herbst 2021, t2: Sommer 2022) angefragt, online einen Fragebogen auszufüllen. Einschlusskriterium war das Vorhalten wenigstens einer der folgenden Leistungstypen: stationäre Rehabilitation (STR), Adaption (ADA), ganztägig ambulante Rehabilitation (TAR), ambulante Rehabilitation (ARS) und Suchtnachsorge (NAS). Der auswertbare Rücklauf umfasste zu t1/t2 n=336/415 Fragebögen für n=556/615 Einrichtungsstandorte. Für einen Teil der Analysen wurden die Einrichtungen in drei Settings gruppiert:

    1. Stationäre Einrichtungen: ausschließlich stationäres Angebot inkl. Adaption (t1/t2 n=58/68)
    2. Gemischt stationär-ambulante Einrichtungen (inkl. TAR, n=39/35)
    3. 3. Ambulante Einrichtungen: ausschließlich berufs-/alltagsbegleitendes ambulantes Angebot (ARS und/oder NAS, n=239/312).

     M2: Zur vertieften Exploration wurden mit n=26 ärztlich oder therapeutisch in Sucht-Reha-Einrichtungen tätigen Personen Leitfaden-gestützte Interviews (über Videotelefonie) zu zwei Zeitpunkten durchgeführt (t1: Ende 2021/Anfang 2022; t2: Herbst 2022). Die Audioaufnahmen wurden transkribiert und inhaltsanalytisch nach Kuckartz ausgewertet.

     M3: In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde in 34 Sucht-Reha-Einrichtungen eine Hybrid-Befragung (wahlweise online oder schriftlich) von insgesamt n=460 Personen, die sich zum Befragungszeitpunkt in Sucht-Rehabilitation (n=303) oder Nachsorge nach vorheriger Sucht-Rehabilitation (n=157) befanden, durchgeführt. Die Angaben wurden deskriptiv ausgewertet.

    M4: Ergänzend wurden Routine-Statistiken der Deutschen Rentenversicherung und Routine-Daten, die mit dem Kerndatensatz Sucht (KDS) erhoben werden, vergleichend für die Jahre 2019 bis 2021 herangezogen.

    Abbildung 1 zeigt, wie sich die vier Studienmodule in den Pandemieverlauf zeitlich einordnen.

    Abbildung 1: Studienmodule mit Erhebungszeiträumen im Pandemieverlauf. Pfeile symbolisieren retrospektive Fragestellungen teils spezifisch auf die erste Welle bezogen (M1) und Einschluss von Personen in Nachsorge, die zuvor ihre Rehabilitation abgeschlossen hatten (M3). Quelle: Robert-Koch-Institut 2023; eigene Darstellung.

    In diesem Beitrag werden ausgewählte Studienergebnisse vorgestellt. Eine detailliertere Beschreibung sowohl der Methodik als auch von einzelnen Ergebnissen und deren Einordnung in den Forschungsstand wurde an anderer Stelle publiziert (Brünger et al., 2023; Burchardi et al., 2023).

    3. Ergebnisse

    3.1 Organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

    Nahezu sämtliche Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und Nachsorge berichteten von der Implementierung umfassender Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie. Diese Maßnahmen umfassten die Verpflichtung zum Testen und zum Tragen von Masken, Abstandsregeln, die Reduzierung von Gruppengrößen, die Erweiterung räumlicher Kapazitäten (teilweise durch Anmietung oder Umwidmung von Räumlichkeiten), die Umwandlung von Doppelzimmern in Einzelzimmer sowie restriktivere Vorschriften bezüglich Ausgang, Besuchen und Heimfahrten. Der infolge der Implementierung von Hygiene- und Abstandsregeln entstandene Raummangel führte bei etwa 70 % der Einrichtungen zu Problemen bei der Umsetzung von Therapie und Aufenthalt. Die subjektive Wahrnehmung von Corona-Schutzmaßnahmen durch die Rehabilitand:innen selbst variierte: Während 34 % der Befragten eher oder völlig zustimmten, dass sie sich durch die Hygienemaßnahmen stark eingeschränkt fühlten, gaben 42 % an, sie fühlten sich eher nicht oder überhaupt nicht eingeschränkt.

    Die Einstellungen in Bezug auf Corona-Schutzimpfungen variierten deutlich zwischen den verschiedenen Einrichtungen. Einerseits akzeptierte etwa ein Drittel der Einrichtungen zumindest zeitweise nur Rehabilitand:innen mit Impfnachweis (34 %). Andererseits verzichteten zwei Drittel der Einrichtungen durchgehend im Zeitverlauf auf einen Impfnachweis (66 %). Die einrichtungsbezogene Impfpflicht für das Personal wurde je nach Setting von 59-85 % der Einrichtungsleitungen begrüßt. Allerdings traten in 23-30 % der Einrichtungen Konflikte in der Belegschaft in Bezug auf die Corona-Schutzimpfung auf, die in Einzelfällen zu Kündigungen oder Versetzungen führten (Abbildung 2).

    Abbildung 2: Interne Probleme aufgrund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Abbrüche oder Unterbrechungen laufender Reha-Leistungen, ein Aufnahmestopp und die generelle Ein­­stellung von rehabilitativen und weiteren, nicht-rehabilitativen Leistungen waren am häufigsten in der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 zu verzeichnen. Jedoch war dies bei einer Minderheit der Einrichtungen der Fall. Die häufigsten genannten Gründe hierfür waren landesrechtliche bzw. behördliche Anordnungen gefolgt von innerbetrieblichen Gründen. Ein beträchtlicher Anteil der Einrichtungs­leitungen gab an, die Anzahl der Behandlungsplätze pandemiebedingt reduziert zu haben. Die Reduktion fiel in der ersten Welle besonders hoch aus, überwiegend in Einrichtungen der stationären (48 %) und ganztägig ambu­lan­ten Rehabilitation (55 %). Die am häufigsten genannten Gründe waren ein Mangel an Therapie­räumen sowie ein Mangel an Rehabilitandenzimmern aufgrund zunehmender Einzel­belegung.

    Bedingt durch die Reduktion von Behandlungsplätzen, die gesunkene Nachfrage und pandemiebedingte Mehrausgaben gestaltete sich die wirtschaftliche Situation der Einrichtungen 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 auch unter Berücksichtigung von Ausgleichszahlungen für etwa jede zweite Einrichtung mit stationärem Angebot (49 %) und gut jede dritte ambulante Einrichtung schwieriger (39 %). Dies führte je nach Setting bei 26-51 % der Einrichtungen zu Zurückstellungen von Investitionen (Abbildung 3).

    Abbildung 3: Finanzielle Auswirkungen der Pandemie (M1, t1). Mehrfachantworten möglich

    Die Einrichtungsleitungen bewerteten Vorgaben und Unterstützungsangebote der Fachverbände überwiegend positiv, auch die Leistungsträger erhielten eine eher positive Bewertung. Hierzu zählt die mehrheitlich als flexibel und unbürokratisch erachtete Möglichkeit zur modifizierten Leistungs­erbringung bzw. Abrechnung während der Pandemie. Hingegen wurden Gesundheitsämter und andere staatliche Institutionen bzw. Behörden kritischer bewertet.

    3.2 Personal und Teamarbeit

    Die Pandemie war mit erheblichen Auswirkungen auf Personalsituation und -management verbunden. Hierzu gehören zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 eine Verringerung oder Einstellung von Fortbildungen, mehr Homeoffice, Mehrarbeit/Überstunden und Verschiebung von Urlaub. Daneben wurden als Herausforderungen krankheitsbedingte Ausfälle beim Personal, besondere Regelungen für Risiko-Beschäftigte, Abbau von Überstunden bzw. Resturlaub sowie erhöhter Personalbedarf genannt. Zum zweiten Befragungszeitpunkt im Sommer 2022 hatten pandemiebedingte Auswirkungen auf die Personalsituation etwas abgenommen, lagen jedoch weiterhin auf einem hohen Niveau. Eine Ausnahme stellte der Personalausfall durch Krankheit dar: Dies war zu diesem Zeitpunkt mit je nach Setting 61-85 % Nennungen der am häufigsten berichtete Aspekt (Abbildung 4).

    Abbildung 4: Auswirkungen der Pandemie auf Personalsituation und -management (M1). Mehrfachantworten möglich

    Je nach Setting berichteten im Herbst 2021 74-82 % der Einrichtungen von erheblichen Veränderungen in der Teamarbeit. Im Sommer 2022 ging dieser Anteil bei den stationären Einrichtungen leicht von 74 % auf 67 % zurück und halbierte sich in gemischt stationär-ambulanten (41 %) und rein ambulanten Einrichtungen (37 %). Zu den genannten Veränderungen gehörten die Einführung von digitalen Teamsitzungen, weniger Möglichkeiten zur Supervision und Team-Konflikte hinsichtlich Corona (Abbildung 5).

    Abbildung 5: Art der Veränderungen in Teamarbeit (M1). Mehrfachantworten möglich

    Ein sehr hoher Anteil der Einrichtungsleitungen in stationären (90 %) und gemischt stationär-ambulanten Einrichtungen (97 %) sowie 77 % der ambulanten Einrichtungen berichteten im Herbst 2021 von pandemiebedingten beruflichen Mehrbelastungen beim Personal. Private Mehrbelastungen wurden vergleichbar häufig genannt (84-89 %). Im Sommer 2022 ging der Anteil zurück, jedoch gab weiterhin die Mehrheit der Einrichtungsleitungen berufliche (53-73 %) und private (58-71 %) Mehrbelastungen an. Zu den genannten beruflichen Mehrbelastungen gehören Hygiene- und Schutzmaßnahmen, höhere Arbeitsintensität bzw. Mehrarbeit, veränderte Teamarbeit und veränderte Arbeitsinhalte, Umstellung auf digitale therapeutische Angebote, Homeoffice und veränderte Arbeitszeiten. Als private Mehrbelastungen wurden psychische Anspannung und Stress, Angst vor Ansteckung und Belastung durch vermehrte häusliche Kinderbetreuung bzw. Homeschooling sowie Belastungen durch soziale Isolation und reduzierte Work-Life-Balance genannt.

    3.3 Zugang, Inanspruchnahme und Rehabilitandenstruktur

    Gut die Hälfte der befragten Rehabilitand:innen (54 %) gab an, dass es pandemiebedingt zu einem erhöhten Verlangen bzw. Drang nach Suchtmitteln kam. Von diesen Personen wurden als häufigste Gründe soziale Isolation/Einsamkeit (73 %), Langeweile (64 %) und Konflikte in Partnerschaft und/oder Familie (36 %) angegeben. 52 % gaben einen (eher) erhöhten Suchtmittel­konsum an, 11 % einen verminderten Konsum. 62 % der Befragten berichteten, häufiger allein konsumiert zu haben.

    Während der Pandemie waren zunächst 23 % der Rehabilitand:innen über Behandlungsmöglich­keiten (eher) verunsichert, 19 % hatten laut eigenen Angaben nicht ausreichend professionelle Hilfe. 12 % gaben (eher) Schwierigkeiten an, sich über Möglichkeiten einer Sucht-Rehabilitation zu infor­mieren. 13-15 % der Befragten empfanden die Suchthilfe und ‑beratung in der Nähe als schwer oder gar nicht persönlich erreichbar und nahmen überwiegend telefonische oder Online-Gespräche wahr. 11 % gaben (eher) an, dass sie von keiner Klinik zur Entgiftung aufgenommen werden konnten (Abbildung 6).

    Abbildung 6: Subjektive Wahrnehmung von Beratung und Unterstützung im Vorfeld einer Sucht-Rehabilitation (M3)

    Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung lag die Anzahl der Sucht-Reha-Leistungen 2020 und 2021 um 10 % bzw. 9 % unter dem Niveau des Vorpandemiejahrs 2019. Der Rückgang fiel bei Frauen (-12 %/-11 %) und Alkohol­abhängigkeit (-13 %/-16 %) sowie für Kurzzeitbehandlung (-12 %/-18 %) und Adaption (-14 %/-12 %) überdurchschnittlich hoch aus. Bei illegalen Drogen wurde 2021 fast wieder das Niveau von 2019 erreicht (-2 %). Die Quote von angetretenen zu bewilligten Sucht-Reha-Leistungen reduzierte sich gemäß Deutsche Rentenversicherung von 79 % im Jahr 2019 auf 70 % im Jahr 2021. Die Einrichtungsleitungen berichteten ebenfalls von einem erhöhten Anteil an Nicht-Antrit­ten, der im Sommer 2022 noch anhielt. Als Gründe für die gesunkene Nachfrage wurden Verun­sicherung über Behandlungsmöglichkeiten in der Pandemie (79 %), weniger Weitervermittlungen (69 %), Angst vor Ansteckung (62 %) und restriktive Regeln in der Einrichtung (48 %) am häufigsten genannt.

    Je nach Setting vermuteten im Sommer 2022 71-80 % der Einrichtungsleitungen mittelfristig einen erhöhten Bedarf an Sucht-Rehabilitationen im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Als primärer Grund wurde von 99 % ein pandemiebedingter Anstieg von Suchtproblematiken angegeben, 47 % begründeten ihre Erwartungen zudem mit nachzuholenden Leistungen.

    Hinsichtlich möglicher Veränderungen der Rehabilitandenstruktur während der Pandemie gaben die Einrichtungsleitungen zu beiden Befragungszeitpunkten an, dass der Anteil von Personen mit ausgeprägter somatischer bzw. psychischer Komorbidität gestiegen sei.

    3.4 Reha-Konzept, Leistungsangebote und Digitalisierung

    Die Einrichtungsleitungen berichteten zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 von erheblichen Änderungen sowohl am Reha-Konzept als auch bei einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten. Die Mehrheit der Einrichtungen trennte zumindest zeitweise konsequent sowohl Behandlungsgruppen (60-66 %) als auch Wohnbereiche (48-56 %). Bei gruppen­therapeutischen Angeboten wurden Gruppengrößen reduziert, Gruppen ins Freie verlagert, Ersatzangebote wie „Stillarbeit“ angeboten bzw. auf telefonische und videogestützte Einzel- und Gruppentherapie umgestellt. Auch angehörigenorientierte Interventionen wurden stark eingeschränkt bzw. auf digitale Formen umgestellt. Externe Belastungs- und Arbeitserprobungen sowie Praktika mussten aufgrund von Ausgangs- und Heimfahrtbeschränkungen sowie restriktiven Regeln bei kooperierenden Unternehmen eingeschränkt werden. Einige Reha-Einrichtungen erweiterten im Gegenzug ihre internen berufsbezogenen Angebote oder gewährleisteten einen digitalen Austausch mit externen Unternehmen. Im Sommer 2022 zum zweiten Befragungszeitpunkt wurden Änderungen am Reha-Konzept und an einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten seltener berichtet.

    Im Herbst 2021 gaben 48 % der Leitungen von stationären Einrichtungen und 71-74 % der Leitungen der übrigen Einrichtungen an, dass sich in der Pandemie die therapeutische Beziehung verändert habe. Als Gründe wurden vorwiegend die Maskenpflicht und Abstandsregeln genannt. Reduzierte Gruppengrößen sowie mehr Einzeltherapie wurden in Hinblick auf den Aufbau einer guten therapeutischen Beziehung kontrovers beurteilt. Je nach Setting überwogen leicht negative bzw. positive Bewertungen. Die Rehabilitand:innen nahmen ihre Rehabilitation während der Pandemie subjektiv überwiegend positiv wahr. 63 % stimmten der Aussage (eher) zu, sich innerhalb der Reha-Einrichtung sicher und frei zu fühlen. Nur 12 % gaben an, dass die Therapie durch Konflikte aufgrund von Meinungsverschieden­heiten zum Thema Corona beeinträchtigt war. Allerdings berichtete gut die Hälfte der Einrichtungsleitungen im Herbst 2021, dass es wegen restriktiverer Ausgangs-, Besuchs- und Heimfahrtregeln häufig (17 %) bzw. gelegentlich (39 %) zu Konflikten mit Rehabilitand:innen oder Angehörigen kam. Lediglich etwa 7 % der Einrichtungen gaben an, dass es diesbezüglich nie zu Konflikten gekommen sei.

    Telefonische und digitale Technologien kamen in der Pandemie für zahlreiche Leistungsangebote vermehrt zum Einsatz. Am häufigsten waren telefonische Einzeltherapien verbreitet, 95 % der ambulanten und 58 % der stationären Einrichtungen berichteten dies. Zudem boten 72 % der ambulanten Einrichtungen Einzeltherapie auch videogestützt an, bei stationären Einrichtungen waren es 22 %. Ein häufiger Einsatzzweck für digitale Technologien waren auch Online-Vorgespräche vor Aufnahme (je nach Setting bei 38-45 % der Einrichtungen) und Online-Angehörigengespräche (51-56 %). Gut ein Drittel der gemischt stationär-ambulanten (35 %) und ambulanten Einrichtungen (37 %) berichtete, auch Gruppentherapien online erbracht zu haben. Telefonisch angebotene Gruppen­therapien waren hingegen selten (je nach Setting 1-14 %) (Abbildung 7).

    Abbildung 7: Nutzung telefonischer/digitaler Therapieangebote (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Von den befragten Rehabilitand:innen gab ein Viertel an, telefonische bzw. digitale Angebote in Anspruch genommen zu haben, wobei die Nutzung in der ambulanten Rehabilitation (37 %) erheblich höher als in der stationären Rehabilitation (10 %) ausfiel.

    Die Implementierung von telefonischen bzw. digitalen Therapieangeboten wurde sowohl von Einrichtungsleitungen als auch Rehabilitand:innen überwiegend positiv beurteilt. 87 % der Einrichtungsleitungen fanden dies während der Pandemie als ergänzendes Angebot (eher) sinnvoll, 84 % plädierten (eher) dafür, dies auch nach der Pandemie zu ermöglichen. Zugleich gaben 75 % an, dass Vor-Ort-Angebote (eher) zu bevorzugen sind. Bei der Befragung von Rehabilitand:innen zeigten sich vergleichbare Ergebnisse.

    3.5 Behandlungsergebnisse

    Laut Deutscher Suchthilfestatistik blieb der Anteil planmäßiger Entlassungen über die Jahre 2019 bis 2021 konstant bei etwa 80 %. Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung ging der Anteil regulärer Entlassungen im Bereich Alkoholabhängigkeit im Jahr 2020 (62 %) im Vergleich zu 2019 (66 %) etwas zurück, stabilisierte sich jedoch 2021 (65 %) wieder annähernd. Ein vergleichbarer Befund zeigte sich für die Arbeitsfähigkeit bei Rehabilitationsende.

    Schwierigkeiten beim Entlassmanagement berichteten 77 % der stationären Einrichtungen und 43 % der Einrichtungen mit ambulantem Angebot im Herbst 2021. Im Sommer 2022 reduzierte sich dieser Anteil deutlich auf 33 % bzw. 19 % der Einrichtungen. Am häufigsten wurden Probleme bei der Weitervermittlung in Selbsthilfegruppen berichtet (je nach Setting 83-86 %). Ebenso war der Zugang in Nachsorge (41 %), in ambulante ärztliche (23-46 %) und psychotherapeutische Versorgung (36-52 %) und in berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen (28-51 %) während der Pandemie vielfach erschwert. Tendenziell wurden in allen drei Settings im Sommer 2022 für die meisten Weiterbehandlungsbereiche seltener besondere Schwierigkeiten berichtet. Ausnahmen stellen die ambulante ärztliche (48-55 %) und psychotherapeutische Versorgung (50-85 %) dar (Abbildung 8).

    Abbildung 8: Weiterbehandlungsbereiche, bei denen Schwierigkeiten auftraten (M1). Mehrfachantworten möglich; nur Ergebnisse n≥5 dargestellt

    Die befragten Einrichtungsleitungen berichteten sowohl von positiven als auch negativen Einflüssen auf den Behandlungserfolg. Verkleinerungen der Gruppengröße wurden am häufigsten positiv hinsichtlich des Behandlungserfolgs eingeschätzt, gefolgt von mehr Einzeltherapie und festen Gruppenkonzepten. Als negative Einflussfaktoren des Behandlungserfolgs wurden fehlende externe Belastungserprobung, Veränderungen der Ausgangs-, Heimfahrt- und Besuchsregelungen, Personalbelastungen sowie Hygiene- und Abstandsregeln genannt.

    4. Diskussion

    Es zeigten sich deutliche pandemiebedingte Auswirkungen auf die Sucht-Rehabilitation in Bezug auf Rahmenbedingungen, Personalsituation und Teamarbeit, Inanspruchnahme von Sucht-Rehabilitation sowie hinsichtlich Reha-Konzept und Ausgestaltung einzelner therapeutischer Leistungsangebote. Um das Therapieangebot bei gleichzeitig bestmöglichem Schutz von Rehabilitand:innen und Personal vor einer Corona-Infektion aufrechtzuerhalten, mussten die Sucht-Reha-Einrichtungen mit Beginn der Pandemie in kürzester Zeit umfassende Konzepte zur Hygiene und Infektionsprävention erstellen, umsetzen und regelmäßig an die aktuellen Vorgaben und die jeweilige Pandemiesituation anpassen. Damit einher gingen Veränderungen in der Teamarbeit – z. B. digital geführte Teamsitzungen, Supervisionen sowie Fort- und Weiterbildungen – sowie erhöhte berufliche und private Belastungen für das Personal.

    Die Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation reduzierte sich in den Jahren 2020 und 2021 um jeweils etwa 10 % gegenüber 2019, allerdings fiel dieser Rückgang weniger stark aus als in der medizinischen Rehabilitation insgesamt. Hier waren Rückgänge von 18 % bzw. 15 % zu verzeichnen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Ein Großteil der Einrichtungsleitungen rechnet kurz- bis mittelfristig mit einer steigenden Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation, im Wesentlichen begründet durch einen pandemiebedingten Anstieg an Suchtproblematiken und als Nachholeffekt. Die gesunkene Nachfrage, die notwendige Verringerung von Behandlungsplätzen und pandemiebedingte Mehrausgaben gingen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Reha-Einrichtungen einher. 2022 kamen Energiekrise und Inflation hinzu.

    Nahezu alle therapeutischen Leistungsangebote mussten zur Wahrung von Corona-Schutzmaßnahmen zumindest zeitweise in veränderter Form erbracht werden, beispielsweise durch Verkleinerungen von Gruppen, Verlagerungen ins Freie und durch Umstellungen auf digitale und telefonische Angebote. Dies hatte laut Einrichtungsleitungen unterschiedliche Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung. So wurden Maskenpflicht und Abstandsregeln mehrheitlich als negativ empfunden. Es ist derzeit noch nicht eindeutig beurteilbar, ob Pandemie und Corona-Schutzmaßnahmen und damit verbundene Änderungen des Rehabilitationskonzepts und der therapeutischen Leistungsangebote Auswirkungen auf den langfristigen Behandlungserfolg haben, da Auswertungen zur Katamnese zwölf Monate nach dem Ende der Rehabilitation im Pandemiezeitraum erst begrenzt verfügbar sind. Gemäß Routinedatenauswertungen hat sich der kurzfristige Behandlungserfolg hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit zu Reha-Ende – nach einem leichten Rückgang im Jahr 2020 – im Jahr 2021 wieder auf dem Niveau vor der Pandemie stabilisiert (Erbstößer et al., 2022).

    Während der Pandemie wurden vermehrt telefonische und digitale Technologien für einzelne therapeutische Leistungsangebote eingesetzt, darunter Einzel- und Gruppentherapien sowie für Vorgespräche und angehörigenorientierte Interventionen. Dies wurde sowohl von Einrichtungs­leitungen als auch Rehabilitand:innen als ergänzendes Angebot überwiegend positiv bewertet. Grund­sätzlich werden Vor-Ort-Angebote bevorzugt. Zugleich waren sowohl Einrichtungsleitungen als auch befragte Rehabilitand:innen mehrheitlich der Meinung, dass telefonische und digitale Therapieangebote auch über die Pandemie hinaus eine sinnvolle und niedrigschwellige Ergänzung darstellen. Solche Angebote ermöglichten es den Einrichtungen zudem, in der Pandemie unter Wahrung von Corona-S­chutz­maßnahmen die therapeutische Beziehung auch bei Personen aufrechtzuerhalten, die beispiels­weise aufgrund von Krankheit oder Quarantäne nicht an Vor-Ort-Therapien teilnehmen konnten.

    Es liegt bislang wenig Evidenz vor, ob telefonische oder digitale rehabilitative Angebote genauso wirksam sind wie Vor-Ort-Angebote. Es gibt zwar vergleichende Studien zur Wirksamkeit einzelner digitaler Angebote wie ambulante Psychotherapie (Lutz et al., 2021) und Suchtberatung (Pritszens, Köthner, 2020). Jedoch existieren noch keine ausreichenden Erkenntnisse darüber, ob sich diese Ergebnisse auf komplexe Versorgungsformen wie die Sucht-Rehabilitation übertragen lassen. Weitere Wirksamkeits­untersuchungen sind wünschenswert, um den Nutzen digital erbrachter Therapieangebote besser beurteilen zu können.

    5. Fazit

    Die Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ­‑Nachsorge wurden in der Pandemie vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Durch gemeinschaftliche Anstrengungen konnten diese Herausforderungen gemeistert werden. Davon zeugen:

    • der im Vergleich zur übrigen medizinischen Rehabilitation geringere Rückgang bei der Inanspruch­nahme der Sucht-Rehabilitation,
    • die im gesamten Pandemieverlauf kontinuierliche und lückenlose Aufrechterhaltung eines niedrigschwelligen Sucht-Rehabilitations- und Nachsorgeangebots in der Fläche, teils unter Nutzung telefonischer und digitaler Technologien,
    • der allenfalls temporär reduzierte kurzfristige und langfristige Rehabilitationserfolg (soweit sich dies anhand der vorliegenden Studiendaten und weiterer Statistiken und Veröffentlichungen aktuell beurteilen lässt).

    Diese in der Pandemie gewonnenen Erfahrungen bieten Potenzial für die Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation sowohl für zukünftige Krisen als auch für die Routineversorgung in postpandemischer Zeit.

    Um die Versorgung auf hohem Niveau und angepasst an die gegebenen Bedingungen auch in Krisenzeiten zu gewährleisten, ist es sinnvoll, Vorkehrungen zu treffen. Dazu zählen:

    • die Erstellung von Pandemieplänen einschließlich der kurzfristigen Einrichtung eines Krisenstabs bei Bedarf,
    • die Bereitstellung der erforderlichen technischen Ausstattung,
    • das Vorhalten von Infektionsschutzmaterialien und
    • die entsprechende Schulung der Beschäftigten.

    Zusätzlich ist es von entscheidender Bedeutung, die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit des Suchthilfesystems für Betroffene und Angehörige auch in Krisenzeiten zu kommunizieren, um potenzielle Versorgungslücken zu vermeiden.

    In einem anderen Forschungsprojekt wurden detaillierte Handlungsempfehlungen für pandemische Krisensituationen entwickelt, die prinzipiell auch auf die Sucht-Rehabilitation übertragbar sind (Annaç et al., 2023a). Dieser Handlungskatalog ist frei zugänglich (Annaç et al., 2023b). Jedoch sollte wegen Spezifika der Sucht-Rehabilitation geprüft werden, ob gegebenenfalls Modifikationen oder Ergänzungen bei einzelnen Empfehlungen ratsam sind.

    Neben der besseren Bewältigung zukünftiger Krisensituationen lassen sich aus der Studie Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation in der Regelversorgung ableiten. Der bedeutendste Aspekt ist der vermehrte Einsatz digitaler Technologien. Die Pandemie wirkte als Katalysator für die Digitalisierung im Bereich der Sucht-Rehabilitation. Zum einen sind digitale Technologien für interne Prozesse wie Besprechungen, Homeoffice, Supervisionen, Fort- und Weiterbildungen sowie für die externe Kommunikation mit Vor- und Nachbehandler:innen, mit Rehabilitand:innen und deren Angehörigen nutzbar. Zum anderen ist vor allem der Einsatz für therapeutische Zwecke möglich, beispielsweise für Einzel- und Gruppentherapien sowie für angehörigenorientierte Interventionen. Die Mehrheit der Einrichtungsleitungen hält dies in Ergänzung zu Vor-Ort-Angeboten für sinnvoll, beispielsweise als niedrigschwelliges Angebot für bislang nicht ausreichend erreichte Personengruppen (z. B. ländliche Regionen, bessere Vereinbarkeit von Reha und beruflichen oder privaten Verpflichtungen wie Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen). Ob digitale Technologien nach dem temporären Einsatz während der Pandemie auch langfristig in der Regelversorgung für die Erbringung von therapeutischen Leistungen in der Sucht-Rehabilitation eingesetzt werden, hängt insbesondere von der Schaffung entsprechender rechtlicher, finanzieller und organisatorischer Rahmenbedingungen und dem Nachweis vergleichbarer Behandlungserfolge ab.

    Förderhinweis:
    Die Studie wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund finanziell gefördert. Kooperationspartner der Studie waren der Bundesverband Suchthilfe e. V. (bus.) und der Fachverband Sucht+ e. V. Die Forschungsgruppe dankt allen Einrichtungen, die mitgewirkt haben.

    Literatur
    • Annaç, K., Fieselmann, J., Wahidie, D., Ölcer, S., Audia, A., Yilmaz-Aslan, Y., Brzoska, P. (2023a): Entwicklung eines Handlungskatalogs zur Bewältigung pandemiebedingter Herausforderungen in der medizinischen Rehabilitation aus intersektionaler Multi-Stakeholder-Perspektive. Deutsche Rentenversicherung, 78(1). 3-26.
    • Annaç, K., Fieselmann, J., Wahidie, D., Ölcer, S., Audia, A., Yilmaz-Aslan, Y., Brzoska, P. (2023b). ReCoVer-Handlungskatalog. Handlungsoptionen zur Bewältigung pandemiebedingter Herausforderungen in der medizinischen Rehabilitation aus intersektionaler Multi-Stakeholder-Perspektive. Letzter Zugriff am 01.10.2023, https://www.uni-wh.de/fileadmin/user_upload/03_G/07_Humanmedizin/03_Lehrstuehle/Versorgungsforschung/ReCoVer_Handlungskatalog.pdf.
    • Brünger, M., Burchardi, J., Jansen, E., Schall, F., Schlumbohm, A., Spyra, K., Köhn, S. (2023): Änderungen der Therapiegestaltung und Nutzung digitaler Angebote in der Sucht-Rehabilitation während der SARS-CoV-2-Pandemie – Eine bundesweite Befragung von Einrichtungsleitungen und Rehabilitand:innen. SuchtAktuell, 1/2023. 5-14.
    • Burchardi, J., Brünger, M., Schlumbohm, A., Spyra, K., Köhn, S. (2023): Rehabilitand:innen mit Abhängigkeitserkrankungen in der SARS-CoV-2 Pandemie. Eine Querschnittbefragung in der Sucht-Rehabilitation und -Nachsorge. DRV-Schriften, 128. 210-212.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2020). Reha-Atlas 2020. Die Teilhabeleistungen der Deutschen Rentenversicherung in Zahlen, Fakten und Trends. Berlin, Deutsche Rentenversicherung Bund.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2022). Reha-Bericht 2022. Die medizinische und berufliche Rehabilitation der Rentenversicherung im Licht der Statistik. Berlin, Deutsche Rentenversicherung Bund.
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    Kontakt:

    Martin Brünger
    Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
    Charité – Universitätsmedizin Berlin
    Charitéplatz 1
    10117 Berlin
    https://medizinsoziologie-reha-wissenschaft.charite.de/forschung/rehabilitationsforschung/
    rehaforschung@charite.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Alle Autor:innen sind am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin affiliiert.

    • Martin Brünger, Arzt, MPH, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
    • Stefanie Köhn, Dipl.-Päd. (Rehab.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Jennifer Marie Burchardi, B.Sc. Physiotherapie, M.Sc. Public Health, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Anna Schlumbohm, M.A. Soziologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Eva Jansen, M.A. Ethnologie, Psychologie und Politik, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Friedericke Schall, cand. med., Doktorandin
    • Prof. Dr. Karla Spyra, Professorin für Rehabilitationswissenschaften und Leiterin des Bereichs Rehabilitationsforschung am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
  • Die Kinder mitnehmen

    Die Kinder mitnehmen

    Nathalie Susdorf
    Gotthard Lehner

    In Hutschdorf bei Thurnau (Landkreis Kulmbach – Oberfranken – Bayern) gibt es zukünftig zwei Einrichtungen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: suchtmittelabhängige Frauen und deren Kinder auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft nachhaltig zu unterstützen. Das ist zum einen die DGD Fachklinik Haus Immanuel, eine Rehabilitationseinrichtung zur Behandlung suchtmittelabhängiger Frauen, sowie das derzeit noch im Bau befindliche DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“, das voraussichtlich Ende des Jahres fertiggestellt wird. Den beiden Institutionen angeschlossen ist die Kindertagesstätte „Kindernest“, die sich ebenfalls auf dem Gelände in Hutschdorf befindet.

    Die DGD Fachklinik Haus Immanuel – Mit dem Aufhören anfangen

    DGD Fachklinik Haus Immanuel

    In idyllischer Lage nahe der oberfränkischen Städte Kulmbach, Bayreuth und Bamberg liegt innerhalb eines parkähnlichen Areals die DGD Fachklinik Haus Immanuel. Das Haus behandelt seit 1907 alkoholabhängige Menschen, seit 1961 ausschließlich suchtmittelabhängige Frauen. Heute zählt die Klinik zu den modernsten Suchtkliniken Bayerns. In den letzten Jahren rückten die Mitbetreuung und Förderung von Kindern immer stärker in den Fokus. So wurde 2012 eine heilpädagogische Kindertagesstätte, das Kindernest, eröffnet. Die DGD Fachklinik Haus Immanuel gehört ebenso wie das neue Mutter-Kind-Zentrum zur DGD-Stiftung (DGD steht für Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband) in Marburg. Pro Jahr werden etwa 250 suchtkranke Frauen und ca. 50 Kinder aufgenommen, die ihre Mütter während der Therapie begleiten. Für viele Rehabilitandinnen ist dies ein wichtiger Schritt für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern.

    Wohnen im Haus Immanuel

    Der familiäre Charakter der Klinik ist eine ideale Grundlage, um Rehabilitandinnen auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft zu unterstützen und nachhaltige Therapieerfolge bei alkohol- und medikamentenabhängigen Frauen zu erreichen.

    Der Klinikkomplex verfügt über 60 Therapieplätze für Frauen zwischen 18 und 75 Jahren. Zudem bietet die DGD Fachklinik Haus Immanuel eine gemeinsame Mutter-Kind-Therapie an. Bis zu 12 Kinder können ihre Mütter zur Behandlung nach Hutschdorf begleiten und werden im klinikeigenen Kindernest betreut. Jeder Mensch hat Anspruch auf Privatsphäre, deshalb bewohnen die Rehabilitandinnen moderne Einzelzimmer, die zu Wohngruppen mit max. zwölf Personen gehören. Die Mütter wohnen mit ihren Kindern jeweils in zwei zusammenhängenden Zimmern.

    Gemeinsame Mahlzeiten, kreatives Arbeiten, Begegnungen mit anderen, aktive oder stille Entspannung sind wichtige Komponenten einer erfolgreichen Therapie. Für Entspannung und therapeutische Anwendungen stehen zudem ein hauseigenes Schwimmbad, eine Sporthalle mit Kletterwand, ein Beachvolleyballfeld sowie eine Minigolfanlage zur Verfügung. Auch Spaziergänge und Ausflüge gehören zum Programm. Der soziale Gedanke, sich gegenseitig zu helfen und zu stärken, unterstützt nicht nur den Therapieerfolg, sondern hilft auch dabei, wieder auf Menschen zugehen zu können.

    Während ihrer Therapie werden die Rehabilitandinnen von einem multiprofessionellen Team aus etwa 70 Kolleg:innen aus verschiedenen Fachbereichen betreut. Die Mitarbeitenden aus den Bereichen Medizin, Sucht- und Psychotherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sporttherapie sowie Pädagogik, Sozialarbeit und Seelsorge begleiten die Frauen während ihres 15-wöchigen Aufenthalts im Haus Immanuel. Dabei werden die suchtkranken Frauen nach einem ganzheitlichen Ansatz behandelt. Neben medizinischen und therapeutischen Maßnahmen wird besonderer Wert auf ein Umfeld gelegt, das Körper und Seele guttut.

    Die Behandlung gliedert sich in drei Phasen:

    • Besinnungsphase
    • Intensivphase
    • Belastungsphase

    In allen Phasen wird auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen eingegangen. Jede Rehabilitandin wird bereits ab der ersten Woche einem/einer Bezugstherapeut:in zugeordnet. Neben Einzel- und Gruppentherapie werden verschiedene indikative Gruppen sowie eine integrierte Traumatherapie angeboten.

    Behandlungsangebot der DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Medizinische Versorgung

    Die medizinische Versorgung der Rehabilitandinnen wird durch erfahrene Ärzt:innen gewährleistet. Zu Beginn der Behandlung wird ein individuelles Behandlungskonzept festgelegt. In diesem Rahmen wird auch der Umfang der begleitenden Maßnahmen wie Schwimmen im Hallenbad, Kneippen, Waldlauf und Gymnastik bestimmt. Zur Linderung des Suchtdrucks wird auch Akupunktur angeboten.

    Psycho-/Sozialtherapie

    Der/die Bezugstherapeut:in ist Ansprechpartner: in für alle Belange, Fragen und Krisen der Rehabilitandinnen. Eine wesentliche Hilfe bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Vorgeschichte ist die wöchentliche psychotherapeutische Einzeltherapie. In der Gruppentherapie, die dreimal wöchentlich stattfindet, erarbeiten die Rehabilitandinnen gemeinsam ein Verständnis für ihre Abhängigkeitserkrankung und suchen nach Lösungsmöglichkeiten für einen Ausstieg aus der Sucht.

    Arbeits- und Ergotherapie

    Ein Aufenthalt im Haus Immanuel soll Rehabilitandinnen wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Ziel ist die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Hierfür stehen die arbeitstherapeutischen Bereiche Büro, Handwerk, Garten, Hauswirtschaft und Küche zur Verfügung. Bei Bedarf erhalten arbeitssuchende Rehabilitandinnen auch PC- und Bewerbungstraining. Bei der Ergotherapie sollen kreative Fähigkeiten (wieder)entdeckt und gefördert werden. Dies vermittelt Erfolgserlebnisse und stärkt das Selbstwertgefühl.

    Physiotherapie

    Bewegung und Entspannung sind wichtig, um ein Gefühl für den eigenen Körper und seine Leistungsfähigkeit zu bekommen. Angeboten werden z. B. Lauftraining, Nordic Walking, Rückenschule, Fahrrad fahren, Massagen und Wassergymnastik. Die Physiotherapeut:innen der Klinik entwickeln für jede Frau einen passenden Therapieplan. Darüber hinaus wurde die Behandlung der Rehabilitandinnen um das Angebot des therapeutischen Kletterns erweitert.

    Mutter-Kind-Therapie

    Es wird oft vergessen, dass Kinder besonders unter der Suchterkrankung eines Elternteils leiden. Die Mutter-Kind-Einrichtung in der DGD Fachklinik Haus Immanuel kümmert sich darum, die oftmals gestörte Mutter-Kind-Beziehung zu verbessern und den Kindern wieder eine tragfähige Beziehung zur Mutter zu ermöglichen. Die Mütter bilden eine eigene Therapiegruppe im Haus, das Programm ist auf ihre spezielle Situation abgestimmt.

    Traumatherapie

    Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt bei alkohol- oder medikamentenabhängigen Frauen etwa dreimal häufiger auf als bei männlichen Rehabilitanden. Die PTBS-Therapie ist deshalb ein wesentlicher Baustein einer ganzheitlichen und nachhaltigen Behandlung suchtkranker Frauen und damit fester Bestandteil des Therapieangebots. Ziel ist es, dass die Frauen lernen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, um so die Heilungschancen für die Suchterkrankung langfristig zu verbessern.

    Seelsorge

    Auch die Seelsorge wird im Haus Immanuel großgeschrieben. Unabhängig davon, wie die Rehabilitandinnen zur Kirche stehen, nimmt sich eine Seelsorgerin gerne Zeit für sie. Für die persönliche Ruhe steht ein „Raum der Stille“ zur Verfügung, der jederzeit genutzt werden kann. Die Rehabilitandinnen sind auch herzlich zur wöchentlichen Andacht eingeladen. Hier wird gemeinsam gesungen, gebetet oder sich zu einem biblischen Thema ausgetauscht.

    Mütter und Kinder profitieren gemeinsam

    Die neue Kita „Kindernest“, die im Zuge des Neubaus des Mutter-Kind-Zentrums erweitert wird

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder mit abhängigkeitskranken Müttern und/oder Vätern zusammen. Dadurch laufen sie ganz besonders Gefahr, in ihrem späteren Leben ebenfalls von Alkoholmissbrauch und psychischen Folgeerkrankungen betroffen zu sein. In der DGD Fachklinik Haus Immanuel können bis zu zwölf Begleitkinder betreut werden, während die Mütter ihre Therapie absolvieren: Säuglinge und Kleinkinder im klinikeigenen Kindernest, die Schulkinder besuchen Bildungseinrichtungen in der Region. Auch schwangere Frauen sind in der DGD Fachklinik Haus Immanuel herzlich willkommen.

    Die freundlich und kindgerecht gestalteten Wohn- und Spielbereiche werden Kindern aller Altersgruppen gerecht. Auch die Außenbereiche bieten ideale Bedingungen für eine abwechslungsreiche Gestaltung des Tages. Trampolin, Minigolf, Spielplätze und Kletteranlagen stehen zur Verfügung. Vor allem der neu angelegte Waldspielplatz bietet hervorragende Möglichkeiten für die Kinder, die (häufig wenig bekannte) Natur zu erkunden. Die Kinder spielen vorwiegend mit den Dingen, die sie im Wald oder auf dem Feld vorfinden. Daneben können sie ihren eigenen Garten bepflanzen und bewirtschaften. Und bei schlechtem Wetter bietet der liebevoll gestaltete Bauwagen Unterschlupf zum Geschichten erzählen, Malen, Basteln und Essen.

    Wenn Tiere der Seele guttun – tiergestützte Therapie

    Neu hinzukommen wird ein Therapieangebot mit Ponys und Alpakas. Dies soll die individuelle Entwicklung der Frauen und Kinder fördern. Durch die tiergestützte Therapie wird z. B. die Sinneswahrnehmung geschärft, das Selbstbewusstsein und die (soziale) Verantwortung werden gestärkt. Gerade Kindern fällt es leichter, über die Betreuung eines Tieres in die Therapie einzusteigen (das Tier als Eisbrecher) oder auch mögliche Einsamkeit zu überwinden (das Tier als Freund). Darüber hinaus werden auf dem weitläufigen Gelände der DGD Fachklinik Haus Immanuel mehrere Bienenvölker angesiedelt. Die Therapeut:innen pflegen gemeinsam mit den Müttern und Kindern die Bienenstöcke, schleudern Honig und ziehen Kerzen, die in der Region vermarktet werden sollen.

    Trotzt aller Bemühungen und Therapiemöglichkeiten kann nicht in jedem Behandlungsfall eine positive Prognose gestellt werden. Die Rückfallrate von suchtkranken, rehabilitierten Frauen liegt immerhin bei 50 Prozent. Immer wieder sucht das Haus Immanuel nach Nachsorgeeinrichtungen für Mütter mit ihren Kindern, die es aber leider in der Form nicht gibt. Um den Rehabilitandinnen und ihren Kindern gerecht zu werden, reifte der Entschluss, selbst ein neues Mutter-Kind-Zentrum zu bauen, das derzeit in direkter Nachbarschaft zur DGD Fachklinik Haus Immanuel fertiggestellt wird.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ – Zurück in ein eigenverantwortliches Leben

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder in einem Haushalt mit alkoholmissbrauchenden oder -abhängigen Eltern. Das bedeutet, ca. jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf. Über das Thema Abhängigkeit wird im Allgemeinen nur selten gesprochen, und wenn doch, zumeist nur sehr abwertend. Die Frauen, die in der Fachklinik Haus Immanuel behandelt werden, kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Traumatische Erlebnisse, gestörte Beziehungen oder auch finanzielle Probleme führten in ihre Abhängigkeitserkrankung. Darunter leiden nicht nur die Frauen selbst. Auch Freunde und Familie tragen die Last mit. Besonders schwer haben es die Kinder.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Die ständige Sorge und Ungewissheit beeinflussen ihre Entwicklung oft negativ und haben langfristige Auswirkungen. So ist das Risiko dieser Kinder, selbst suchtkrank zu werden, im Vergleich zu Kindern aus nicht suchtbelasteten Familien bis zu sechsmal höher. Mit dem Bau des neuen DGD Mutter-Kind-Zentrums „Rückenwind“, an das auch die Kita Kindernest angeschlossen sein wird, sollen vor allem die Kinder unterstützt werden. Sie werden gemeinsam mit ihren meist noch jungen Müttern betreut und begleitet. An oberster Stelle steht dabei das Kindeswohl.

    Die neue Einrichtung bietet Platz für zwölf Mütter, die eine Entwöhnungsbehandlung in einer Suchtrehabilitationseinrichtung abgeschlossen haben, und bis zu 16 Kinder. Es sind insgesamt zwölf Wohnungen mit zwei bis vier Zimmern geplant. Durch vielfältige Vernetzungen zu anderen professionellen Hilfswerken (z. B. zur Sprachförderung, Spezialisten für FASD, Sonderschulpädagogik) soll die Rückkehr zur Teilhabe an der Gesellschaft vereinfacht werden. Grundlegend ist hier die Gewöhnung an realitätsnahe und gelingende Alltagsstrukturen, sowohl für die Mütter als auch für die Kinder. Mütter und Kinder sollen auf dem Weg in ein eigenverantwortliches Leben unterstützt werden. Auch die soziale Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft wird gefördert. Mütter und auch Kinder finden wieder ihren Platz im sozialen Umfeld. Im Idealfall gehen Mütter (wieder) einer beruflichen Tätigkeit nach, Kinder können ihre schulischen Leistungen verbessern und weiterführende Schulen besuchen.

    Wer wird im Mutter-Kind-Zentrum aufgenommen?

    Das Angebot der Mutter-Kind Einrichtung richtet sich an ehemals abhängigkeitskranke Frauen mit Kindern, die nach § 19 SGB VIII einen Hilfebedarf haben. Eine Altersbegrenzung der Mutter ist nicht gegeben. Die Mutter sollte im Regelfall eine Entwöhnungsbehandlung erfolgreich abgeschlossen haben, und die Kinder sollten sie als sog. Begleitkinder in der Therapie begleitet haben. Es sollen auch Mütter aufgenommen werden, die aufgrund einer richterlichen Anordnung die Weisung haben, eine Mutter-Kind-Einrichtung aufzusuchen, da ihnen ansonsten die elterliche Sorge entzogen wird. Nach §§ 113 ff. und 123 ff. SGB IX wird Eingliederungshilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen geleistet. Durch das Hilfsangebot für ehemals abhängigkeitskranke Mütter und Schwangere sollen aktuelle Krisen- und Notfallsituationen im Schutze einer stationären Unterbringung überwunden werden. Bei den Kindern wird der Förderbedarf durch das Jugendamt festgestellt.

    Die Problematik FASD

    Man kann davon ausgehen, dass mindestens 1/3 der Kinder, die zukünftig im DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ aufgenommen werden, unter dem Syndrom FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) leiden. Nach Schätzungen der ehemaligen Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler werden jedes Jahr in Deutschland ca. 10.000 Kinder mit dieser Behinderung geboren (Mortler, 2018). Diese Beeinträchtigung entsteht, wenn Frauen während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren und damit das Kind schädigen.

    Kinder mit FASD weisen erhebliche Störungen auf. So kann mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu Wachstumsauffälligkeiten des Kindes führen. Typischerweise sind die Kinder mit FASD bereits bei der Geburt klein und leicht. Sie bleiben dystroph bis mindestens im Grundschulalter. Darüber hinaus führt eine Alkoholschädigung im Mutterleib zu schwerwiegenden und lebenslang andauernden Defiziten im kognitiven Bereich. Kinder mit FASD können eine globale Intelligenzminderung (IQ < 70) haben. Viele Betroffene weisen ein sehr heterogenes Profil mit Stärken in den sprachgebundenen Intelligenzleistungen und deutlichen Schwächen im logischen Denken, in der Arbeitsgeschwindigkeit, der Konzentration und in zahlengebundenen Aufgaben auf.

    Viele Kinder mit FASD haben eine auditive und/oder visuelle Gedächtnisstörung. Dadurch müssen Lerninhalte sehr häufig wiederholt werden – unabhängig davon, ob es sich um Alltags- oder Schulaufgaben handelt. Die Geduld und die Resilienz der Bezugsperson werden sehr stark beansprucht.

    Die häufigste Begleitstörung bei Kindern mit FASD ist jedoch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Davon betroffene Kinder benötigen eine ständige Begleitung und/oder Unterstützung.

    Zu den psychosozialen Entwicklungsrisiken von Kindern mit FASD zählen langfristig frustrierende Lebenserfahrungen wie Schulabbrüche, soziale Isolation, Stigmatisierung, Obdachlosigkeit und ein fehlendes soziales Netz. Laut einer Studie von Spohr & Steinhausen (2008) hatten nur 13 Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen wenigstens einmal einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. 27 Prozent der von FASD betroffenen Erwachsenen lebten in Institutionen, 35 Prozent im betreuten Wohnen, 8 Prozent bei den Eltern, 14 Prozent unabhängig, 8 Prozent mit einem Partner und 8 Prozent mit einer eigenen Familie.

    Das Hilfsangebot im Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Das individuelle Hilfsangebot richtet sich nach den Stärken bzw. Schwächen der Frau sowie dem Förderbedarf des Kindes. Im interdisziplinären Team werden die verschiedenen Aspekte der Behandlung besprochen, und es wird eine zeitliche Perspektive der Förderung von Mutter und Kind festgelegt.

    Beziehungsarbeit

    Eine tragfähige und vertrauensvolle professionelle Beziehung zwischen der Mutter und der Bezugstherapeutin bildet die Basis, auf der alle sozialpädagogischen und therapeutischen Interventionen aufbauen.

    Soziale Einzelfallhilfe

    In der Einzelfallhilfe wird die geplante Maßnahme mit der Mutter besprochen. Dabei werden ihre Vorstellungen berücksichtigt, und es erfolgt die konkrete Umsetzung. Die Einzelfallhilfe beinhaltet:

    • Krisenintervention
    • Beratungs- und Informationsgespräche
    • Planungs-, Organisations- und Strukturierungshilfen (Wochenplan, Haushaltsplan)
    • Abstinenzsicherung
    • Motivationsarbeit
    • Anleitung (bei Bedarf für Versorgung des Kindes, hauswirtschaftliche Tätigkeiten …)
    • Erweiterung der Erfahrungen und des Lebensraums (Freizeitaktivitäten …)
    • Reflexion des Erziehungsverhaltens – ggfs. zusammen mit dem Kind/den Kindern
    Pädagogische Arbeit mit dem Kind

    Die pädagogische Arbeit mit dem Kind findet zu einem großen Teil in der hauseigenen Kita Kindernest mit zwei heilpädagogischen Gruppen statt. Dabei sollen je nach Alter der Kinder folgende Programme durchgeführt werden:

    • Papilio U3
    • Papilio (3.–6. Lebensjahr)
    • Trampolin (6.–12. Lebensjahr)

    Papilio ist ein Programm zur Förderung der psychosozialen Gesundheit und zur Prävention von Verhaltensproblemen für Kinder in Kindertagesstätten und Kindergärten. Die Arbeit der Erzieherinnen/Heilpädagoginnen beinhaltet dabei u. a. die Entwicklungsbeobachtung und -förderung, die Sicherstellung der materiellen und der emotionalen Bedürfnisse des Kindes, die Freizeitgestaltung sowie das Netzwerken mit Frühfördereinrichtungen.

    Sozialpädagogische Arbeit mit den Müttern

    Um die Erziehungskompetenz der Mutter zu fördern, werden folgende Maßnahmen angeboten:

    • Mutter-Kind-Gruppe
    • Elterncoaching
    • Anleitung im Umgang mit dem Kind
    • Einbeziehung der Kinder in den Alltag
    • Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung
    Soziale Gruppenarbeit

    Die Gruppe bildet ein lebensnahes Umfeld, in dem sich die Mütter in schwierigen Situationen gegenseitig Hilfestellung geben können, sich in der Kinderbetreuung unterstützen und auch soziale Fähigkeiten ausbauen können. Folgende Gruppenaktivitäten werden in neuen DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ angeboten:

    • Freizeitgestaltung, Ausflüge
    • Organisation und Feiern von Festen (private und religiöse)
    • Gemeinsame Projekte
    • Sport
    • Kochen
    • Entspannungsübungen (Jacobson, Autogenes Training, Akupunktur …)
    • Jahresfeste
    • Kreative Beschäftigungen für Mütter und Kinder wie Malen, Basteln, Töpfern
    Sozialpädagogische Arbeit mit dem Umfeld

    Das soziale Umfeld der Frauen kann Ressourcen und Unterstützung bereithalten. Dies gilt es zu nutzen. Ebenso können aber auch Konflikte durch die Partner, die Kindsväter oder die Herkunftsfamilie bestehen. Die eigene Biografie zu verstehen, in eine Unabhängigkeit hineinzuwachsen und Beziehungen zu klären, sind Ziele in diesem Bereich. Hierfür besteht folgendes Angebot:

    • Einbeziehung der Väter und/oder der Partner: Paargespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit der Herkunftsfamilie: Angehörigengespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit dem Freundeskreis: Klärung von Beziehungen, Abbau von Gefährdungen, Stärkung von Ressourcen, Aufbau von stabilisierenden Sozialkontakten
    • Psychoedukation: Wie kann ich meine Krankheit besser verstehen und bewältigen?
    • Umgang mit Depressionen
    • Vermeidung von Rückfällen
    Kooperation mit externen Stellen

    Die Zusammenarbeit mit externen Einrichtungen ist wichtig, um den Frauen eine umfassende Nutzung des medizinischen und sozialen Hilfespektrums zu ermöglichen. Mit folgenden Einrichtungen kooperiert das Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“:

    • Jugendamt
    • Kinderärzt:innen
    • Ärzt:innen aller Fachrichtungen, Kliniken
    • Frühfördereinrichtungen
    • Schulen, Beratungs- und Förderzentrum (BFZ), Ausbildungs- und Arbeitsstellen
    • Psychotherapeut:innen
    • Beratungsstellen
    • Ämter, Behörden, Polizei, Opferhilfe Oberfranken (Weißer Ring)
    • Mutter-Kind-Gruppen
    • Arbeitskreise
    • DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Darüber hinaus findet Vernetzungsarbeit mit anderen Mutter-Kind-Einrichtungen und den verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe statt.

    Insgesamt steht den Müttern und ihren Kindern ein breit gefächertes Angebot pädagogischer, medizinischer, therapeutischer und psychologischer Hilfen zur Verfügung. Das DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ wird an 365 Tagen im Jahr geöffnet sein. Die Präsenz einer pädagogischen Fachkraft ist rund um die Uhr gewährleistet. Die Kita Kindernest mit ihren zwei heilpädagogischen Gruppen für Kinder und Jugendliche im Alter von 0–18 Jahren hat an allen Werktagen im Jahr geöffnet. Die offizielle Eröffnung der neuen Einrichtung ist für Anfang 2023 geplant.

    Literatur bei den Autor:innen

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Gotthard Lehner, Klinikleiter
    Nathalie Susdorf, Öffentlichkeitsarbeit

    DGD Fachklinik Haus Immanuel
    Hutschdorf 46
    95349 Thurnau-Hutschdorf
    Tel. 09228 / 99 68-0
    E-Mail: info(at)haus-immanuel.de

    www.dgd-haus-immanuel.de
    www.dgd-rueckenwind.de
    www.dgd-kliniken.de

  • Veränderungen in der Hamburger Suchthilfe in Zeiten der Corona-Pandemie

    Veränderungen in der Hamburger Suchthilfe in Zeiten der Corona-Pandemie

    Linda Heitmann

    Wie in vielen Bereichen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens hat die Corona-Pandemie auch in der Suchtkranken- und Drogenhilfe zu stark veränderten Arbeitsweisen geführt. Die Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) als Dachverband, in dem 40 verschiedene Träger, Verbände und Akteur*innen der Hamburger Suchtkranken- und Drogenhilfe organisiert sind, hat im März 2021 unter ihren Mitgliedern eine Umfrage durchgeführt. Ziel war es, die veränderten Arbeitsprozesse und Klient*innen-Strukturen sowie Probleme im Alltag, aber auch Chancen und Wünsche für die Zukunft, zu erfassen bzw. davon einen Eindruck zu bekommen. Der für die Umfrage eingesetzte Fragebogen ist auf der Website der HLS als Muster abruf- und einsehbar.

    Insgesamt 23 ausgefüllte Bögen wurden an die Landesstelle zurückgesendet. Pro Fragebogen konnten Angaben zu verschiedenen Bereichen der Suchthilfe gemacht werden. Die Ergebnisse der Umfrage werden in dem hier vorliegenden Bericht unterteilt in die einzelnen Bereiche dargestellt. Am Ende folgen bereichsübergreifende wichtige Aspekte. Die Umfrage und Auswertung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und erfüllt keine wissenschaftlichen Standards. Ziel war und ist es, Kenntnisse über die Situation der Hamburger Suchthilfelandschaft während der Pandemie zu gewinnen und daraus mögliche Bedarfe und Wünsche für die Zukunft abzuleiten.

    Beratung

    Arbeitsprozesse

    Zehn Beratungsstellen gaben per Fragebogen Rückmeldungen an die HLS. In den Suchtberatungsstellen war der Anteil am mobilen Arbeiten besonders hoch. Bei nahezu allen Beratungsstellen, die Rückmeldung gaben, lag der Anteil der Mitarbeitenden im mobilen Arbeiten bei über 50 Prozent, vielfach sogar bei über 75 Prozent. Es wurde auf Telefon- oder Videoberatung umgestellt. Teilweise wurden mit den Klient*innen auch Beratungs-Spaziergänge an der frischen Luft gemacht.

    Die Folgen, die sich aus dem mobilen Arbeiten ergaben und ergeben, sind vielfältig: Mitarbeiter*innen mussten teilweise ihre privaten Telefone und Laptops nutzen, sie wurden zu Hause durch andere Familienmitglieder beim Arbeiten gestört, oder es war ihnen unangenehm, dass Klient*innen per Video oder Telefon etwas über ihr privates Umfeld mitbekamen. Einige wenige Mitarbeiter*innen aus Beratungsstellen gaben an, dass sie Probleme mit dem Zugriff auf notwendige Dateien hatten. In den meisten Fällen aber war das nicht virulent.

    Folgende Chancen und Wünsche an die Zukunft wurden von den Beratungsstellen formuliert: Einige Mitarbeitende beschrieben, zu Hause sei ein konzentrierteres Arbeiten möglich. Mehrere Mitarbeitende freuten sich über den Wegfall von Fahrzeiten und auch über ein vermindertes Stresslevel durch die Möglichkeit einer freieren Zeiteinteilung. Gerade für Erstberatungen und Einmal-Beratungen wurden Video- und Telefonberatungen als gute Möglichkeiten wahrgenommen. Sie können für machen Klient*innen eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Setting in der Beratungsstelle darstellen.

    Insgesamt herrscht eine große Vielfalt bei den für Videoberatung oder auch Austausch per Messenger eingesetzten Programmen. Zoom, Jitsi, Skype, GoToMeeting, aber auch unbekanntere Programme wie Senfcall oder BigBlueButton, kamen und kommen zum Einsatz. Dass diese auch Kosten verursachen können, wurde in kaum einem Fall als Problem angegeben, dafür aber erfolgte häufig die Rückmeldung, dass man datenschutzrechtliche Bedenken oder Verbindungsprobleme habe oder dass Klient*innen mit den Tools nicht zurechtkamen. In einigen Fällen wurde auch RedMedical zur Beratung genutzt. Hier gab es keine datenschutzrechtlichen Bedenken, dafür aber erhöhte Kosten und teilweise ebenfalls Probleme bei der Bedienung durch Klient*innen.

    Klient*innen

    Einige wenige Beratungsstellen gaben an, dass sie gar keine Veränderungen in der Klient*innen-Struktur wahrgenommen haben. Die meisten Beratungsstellen konnten jedoch Veränderungen verzeichnen. Sie erklärten, mehr junge und internetaffine Personen sowie mehr Angehörige und mehr mobilitätseingeschränkte Menschen erreicht zu haben als vor der Pandemie. Die Klient*innen konnten Termine flexibler in ihren Alltag einbauen und dafür z. B. auch einmal die Mittagspause nutzen, weil Fahrwege entfielen. Dem steht leider gegenüber, dass Ältere und schon länger Betreute häufig ihren „digitalen Weg“ in die Beratung nicht mehr fanden und Kontakte abbrachen, wenn man sich nicht persönlich sehen konnte.

    Bezüglich des Konsumverhaltens konnten gerade bei jenen, die schon länger in Beratung waren, häufig Rückfälle beobachtet werden. Aus der Beratung von Menschen mit Essstörungen wurde berichtet, dass Ängste und Stress stark zugenommen haben, die Betroffenen eine Beratung per Video häufig aber nur ungern annahmen, um sich nicht selbst sehen zu müssen.

    Positive Aspekte von Video- und Telefonberatung wurden besonders im Zusammenhang mit Menschen genannt, die neu ihren Weg in die Beratung fanden: Mehrere Beratungsstellen berichteten, dass ihrem Eindruck nach die Termine per Video oder Telefon deutlich verbindlicher realisiert wurden als reale Beratungstermine. Absagen bzw. Nichterscheinen kamen seltener vor. Außerdem wurde die Pandemie von einigen Klient*innen offenbar im positiven Sinne als Umbruchsituation wahrgenommen. Da sich dadurch im Leben ohnehin Veränderungen ergaben, wurde die Pandemie als guter Zeitpunkt angesehen, um das Suchtproblem anzugehen und eine Abstinenz vom Suchtmittel dauerhaft ernsthaft umzusetzen. In der Motivation zur Abstinenz half einigen Klient*innen beispielsweise auch, dass Spielhallen und Kneipen geschlossen waren.

    Wünsche für die Zukunft

    Betrachtet man die Wünsche für die Zukunft, die von den Beratungsstellen formuliert wurden, so besteht durchgehend der Wunsch, Telefon- und Videoberatung ergänzend zur persönlichen Beratung beizubehalten, ebenso die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens. Viele gaben an, sich künftig ein bis zwei Tage mobiles Arbeiten pro Woche sehr gut vorstellen zu können. Bei den Klient*innen müsse man genau analysieren, für wen sich diese Beratungsform gut eigne und für wen nicht, um am Ende alle Ratsuchenden auf die beste Weise zu erreichen.

    Dienst-Handy und Dienst-Laptop stehen weit oben auf der Wunsch-Skala, um nicht mehr die privaten Geräte nutzen zu müssen. Gerade was Teamsitzungen und Fortbildungen angeht, können sich viele Mitarbeiter*innen vorstellen, diese regelhaft online durchzuführen. Bei Teamsitzungen wurde die Stimmung teilweise als konzentrierter und effizienter wahrgenommen. Voraussetzung dafür ist allerdings, wie häufig betont wurde, dass es in Bezug auf den Datenschutz eine größere Sicherheit geben solle. Außerdem wünschen die Mitarbeiter*innen der Beratungsstellen sich insgesamt stabileres Internet und Programme, die für Mitarbeiter*innen wie Klient*innen einfach in der Bedienung sind und nicht auf dem Rechner fest installiert werden müssen.

    Niedrigschwellige Hilfe

    Arbeitsprozesse

    Niedrigschwellige Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe bieten den Klient*innen häufig auch Möglichkeiten zum Aufenthalt sowie Konsumräume. Die Klient*innen sind nicht immer motiviert, den Ausstieg aus ihrer Sucht direkt anzugehen, aber für niedrigschwellige Ansprache und Unterstützung im Alltag sind sie offen. Vier niedrigschwellige Einrichtungen aus Hamburg füllten den Fragebogen der Landesstelle aus, so dass die hier beschriebenen Schlaglichter nur aus relativ wenigen Eindrücken gewonnen werden konnten.

    Insgesamt war der Anteil von Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten in den Einrichtungen der niedrigschwelligen Suchthilfe recht gering und lag in den meisten Fällen bei unter 20 Prozent, in einem Fall bei 20 bis 50 Prozent. Dieses Ergebnis überrascht nicht, da niedrigschwellige Arbeit sehr stark mit persönlichem Kontakt verbunden ist.

    Die Möglichkeit zur Kommunikation per Video oder Telefon mit den Klient*innen war hier recht gering. Dafür aber wurden Videokommunikations-Programme und auch Messenger-Dienste zur Kommunikation innerhalb des Teams verstärkt genutzt und auch positiv aufgenommen. Datenschutzrechtliche Bedenken oder die Tatsache, dass das private Umfeld im Video zu sehen sein könnte, wurden nicht unbedingt als Probleme angesehen und benannt.

    Beratungsgespräche wurden gerade in der niedrigschwelligen Suchthilfe häufiger bei Spaziergängen durchgeführt, statt in der Einrichtung, um dem Setting geschlossener Räume zu entgehen und Menschen trotzdem persönlich zu begegnen.

    Klient*innen

    Dass die Einrichtungen vor Ort Klient*innen zeitweise gar nicht oder nur mit großen Abständen einlassen konnten, führte vielerorts zu Problemen. Insgesamt nahmen die Einrichtungen in der Klient*innen-Struktur keine großen Veränderungen wahr, merkten aber sehr wohl, dass Kontakte zu langjährigen Klient*innen leider abbrachen. Auch verstärkte sich offenbar bei zahlreichen Klient*innen der Konsum in der Pandemie. Der persönliche Kontakt in niedrigschwelligen Einrichtungen ist durch Online-Angebote nicht ersetzbar.

    Insgesamt berichteten die niedrigschwelligen Einrichtungen, dass die konkreten Hilfestellungen – z. B. bei Behördengängen, bei dem Bemühen um Arbeits- oder Praktikumsplätze oder bei der Wohnungssuche – in der Pandemie noch schwieriger geworden waren.

    Wünsche für die Zukunft

    Konkrete Wünsche an die Zukunft bzw. an eine Übernahme von Arbeitsweisen aus Pandemiezeiten, wurden von Seiten niedrigschwelliger Einrichtungen in den ausgewerteten Rückmeldebögen nicht geäußert.

    Eingliederungshilfe

    Arbeitsprozesse

    Auch in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe ergaben sich mit der Pandemie deutliche Veränderungen. Von sechs Eirichtungen konnten Rückmeldungen ausgewertet werden. Der Anteil von Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten lag in der Eingliederungshilfe bei unter 50 Prozent, in den meisten Einrichtungen sogar bei unter 20 Prozent. Immer wieder wurde betont, dass die persönliche Betreuung und Versorgung der Klient*innen nicht aus der Ferne möglich sei, dafür aber wurden einzelne Gespräche oder auch Teamsitzungen vermehrt in den virtuellen Raum verlegt.

    Fast alle Einrichtungen hatten hingegen damit zu kämpfen, dass Klient*innen nur noch in Einzelzimmern untergebracht werden konnten und zudem Zimmer für Quarantäne-Zwecke freigehalten werden mussten. Dadurch konnten fast überall nur weniger Klient*innen aufgenommen und betreut werden als vor der Pandemie. Zudem entstand ein durchgängig stark erhöhter Bürokratieaufwand durch regelhafte Testungen und die konsequente Einhaltung und Überwachung sich immer wieder verändernder Hygienevorschriften.

    Für die Klient*innen bestanden in fast allen Einrichtungen der Eingliederungshilfe wiederholt Heimreise- wie auch Besuchsverbote. Gruppenangebote mussten in kleineren Gruppen durchgeführt werden, somit wurden mehr Gruppensitzungen insgesamt abgehalten, was den Personalaufwand erhöhte. Auch Raumplanungen wurden dadurch in den Einrichtungen deutlich komplizierter.

    Klient*innen

    Veränderungen in der Klient*innen-Struktur wurden in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe insgesamt nicht wahrgenommen.

    Die Einrichtungen berichteten davon, dass der Stress unter den Klient*innen spürbar zugenommen habe, insbesondere durch die Besuchs- und Heimreiseverbote, aber auch durch allgemeine mit der Pandemie verbundene Zukunftsängste. Die Aufenthaltsdauern haben sich dadurch teilweise verlängert, und die Sicherstellung nahtloser Behandlungsübergänge war noch wichtiger geworden.

    Wünsche für die Zukunft

    Besondere Wünsche, was aus der Pandemie an positiven Entwicklungen mit in die Zukunft genommen werden sollte und was es dafür an Voraussetzungen bräuchte, wurden von den Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht formuliert. Nur vereinzelt wurde angemerkt, dass die Möglichkeit von Teamsitzungen per Video auch in der Zukunft ein gutes Modell sein könnte.

    Ambulante Rehabilitation

    Arbeitsprozesse

    Fünf Einrichtungen, die Ambulante Reha Sucht (ARS) durchführen, haben den Fragebogen ausgefüllt. Bei den Angeboten der ARS war und ist die Möglichkeit der Mitarbeiter*innen, im mobilen Arbeiten tätig zu sein, deutlich begrenzt. Der Anteil der Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten lag nach Angaben der sich beteiligenden Einrichtungen zwischen 20 und 50 Prozent im Mittel.

    Vor allem in Bezug auf die Gruppenangebote gab es in der ARS einen deutlichen Mehraufwand, da zahlreiche Gruppen geteilt oder gedrittelt werden mussten, um Abstände vernünftig einhalten zu können. Für viele Angebote mussten größere Räume gesucht oder generell bei den Räumen umorganisiert werden. Sowohl die Umstrukturierung der Gruppensitzungen als auch der erhöhte Organisationsaufwand führten dazu, dass nur weniger Klient*innen bei allerdings erhöhtem Personaleinsatz betreut werden konnten. Auch einige Angebote zur gemeinsamen Freizeitgestaltung im Rahmen der ARS mussten stark umstrukturiert werden oder zeitweise ganz entfallen.

    Vereinzelt kamen für Klient*innen-Gespräche, insbesondere aber auch für die Kommunikation untereinander, auch in der ARS Videokonferenzsysteme zum Einsatz. Teilweise wurde das als sehr positiv wahrgenommen, teilweise aber auch als Nachteil. „Wir vermissten im Team insgesamt den Austausch jenseits von Fakten“, hieß es dazu in einer Rückmeldung.

    Klient*innen

    Insgesamt nahmen die Einrichtungen keine Veränderungen in der Klient*innen-Struktur in Bezug auf Alter, Suchtmittel, Geschlecht oder Familienstand wahr.

    Die Motivation zur Behandlung bei den Klient*innen wurde sehr unterschiedlich wahrgenommen. Wie auch schon im Beratungssetting war es in einigen Fällen schwieriger, die Klient*innen zu motivieren und sie dauerhaft „bei der Stange zu halten“. Teilweise wurde aber auch berichtet, Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit in den Gesprächen und Motivation zur Änderung der Lebenssituation seien höher als vorher.

    Wünsche für die Zukunft

    Die Einrichtungen der ARS äußerten keine Wünsche, was sie aus der Pandemie gerne positiv mit in Zukunft nehmen würden. Vereinzelt wurde auch hier positiv bewertet, Teamsitzungen künftig eher digital durchzuführen, aber einige Mitarbeitende sind dieser Option gegenüber durchaus skeptisch eingestellt.

    Stationäre Rehabilitation

    Arbeitsprozesse

    Im Bundesland Hamburg gibt es nur sehr wenig Angebote der stationären Rehabilitation für Abhängigkeitskranke, entsprechend erreichten die HLS auch nur von zwei Mitgliedern, die das Angebot der stationären Rehabilitation Abhängigkeitskranker vorhalten, eine Rückmeldung auf ihre Fragen.

    Die Einrichtungen gaben wenig überraschend an, dass im stationären Setting so gut wie keine Mitarbeiter*innen während der Pandemie im mobilen Arbeiten tätig waren, alle Mitarbeitenden mussten für die Behandlung und Betreuung der Klient*innen vor Ort sein. Es wurden aber vereinzelt Online-Einzeltherapiesitzungen durchgeführt, wenn z. B. Therapeuten*innen in Quarantäne waren. Dies lief dann in der Regel problemlos, und die Verantwortlichen waren selbst überrascht, wie gut derartige Therapiegespräche auch mit Videokonferenzsystemen geführt werden können.

    Insgesamt habe man die Krise daher auch als Chance wahrgenommen, aus eingefahrenen Strukturen herauszukommen und Neues auszuprobieren, gleichzeitig sei dies aber gerade für die Leitung auch mit einem enormen Stress und erhöhter Mehrarbeit einhergegangen aufgrund der Notwendigkeit, permanent flexible organisatorische Lösungen zu finden. Zudem war unter Mitarbeiter*innen wie Klient*innen eine anhaltende Anspannung zu spüren. Hauptgründe dafür waren die Angst, sich selbst oder Angehörige zu infizieren, oder die Sorge, dass die Klient*innen sich nicht an die Regularien halten und Ansteckungsrisiken verheimlichen.

    Es mussten Gruppen geteilt und verkleinert werden, dadurch hatte das Personal vielfach mehr zu tun, obwohl nur weniger Klient*innen als vor der Pandemie aufgenommen werden konnten, denn sämtliche Klient*innen waren in Einzelzimmern untergebracht, und es wurden Zimmer für Quarantäne frei gehalten.

    Klient*innen

    Aus den Einrichtungen wurde berichtet, dass in der Krise keine veränderten Klient*innen-Strukturen wahrgenommen wurden, aber ehemalige Rehabilitand*innen nahmen verstärkt Kontakt zur Reha-Klinik auf, um schlichtweg Anbindung oder Beratung zu erhalten, weil andere Angebote der Beratung oder auch der Selbsthilfe wegfielen. Das Therapiemodul „Heimfahrten als Belastungserprobung“ fiel für Rehabilitand*innen in der Krise komplett aus.

    Wünsche für die Zukunft

    Für die Zukunft können sich die Mitarbeiter*innen in der stationären Suchtreha Online-Angebote für einzelne Gespräche oder für Arbeitsgruppentreffen untereinander sowie zur Vernetzung mit Beratungsstellen oder Fachverbänden gut vorstellen. Dafür müsse die technische Infrastruktur und Ausstattung an vielen Stellen aber noch besser werden.

    Suchtselbsthilfe

    Von drei Verbänden der Suchtselbsthilfe sowie zwei Einrichtungen, in deren Räumen auch Selbsthilfegruppen tagen, sind Rückmeldungen zu diesem Bereich eingegangen. Zudem hat der Kreuzbund schon Ende des Jahres 2020 unter seinen Gruppen deutschlandweit eine Umfrage zur Selbsthilfe in Corona-Zeiten durchgeführt und die Ergebnisse in seiner Zeitschrift „Weggefährte“ im April 2021 veröffentlicht.

    Suchtselbsthilfe ist ein Bereich, der von den Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln, die während der Pandemie erlassen und immer wieder geändert wurden, sehr stark betroffen war.

    Teilnehmer*innen

    Wie alle Verbände einhellig in der HLS-Befragung rückgemeldet haben, betrafen die während der Pandemie wahrgenommenen Probleme von Einsamkeit, Job-Unsicherheiten, Kurzarbeit und eingeschränkten realen Sozialkontakten gerade die schon langjährig in der Suchtselbsthilfe aktiven und vielfach seit mehreren Jahren abstinent lebenden Gruppenmitglieder stark. Es wurde von allen Verbänden eine höhere Zahl von Rückfällen wahrgenommen.

    Gleichzeitig zeigte sich die Suchtselbsthilfe aber auch sehr flexibel und gewillt, ihre Angebote bestmöglich aufrechtzuerhalten. Viele Gruppen schwenkten auf Online-Treffen um oder tagten teilweise real und teilweise online. Gerade in den Sommermonaten 2020 waren reale Treffen auf Grund der niedrigen Inzidenzen gut möglich. Ein Verband meldete zurück, dass es für viele Aktive in der Suchtselbsthilfe ein sehr wichtiges Signal gewesen sei, als die Hamburger Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard in einer Pressekonferenz mit Verkündigung der ersten neuen Einschränkungen im Oktober 2020 explizit betont habe, dass die Selbsthilfe wichtig sei und sich weiterhin treffen dürfe. Das wurde als hohe Wertschätzung wahrgenommen.

    Trotz allem war und ist die Erreichbarkeit von Suchtselbsthilfe-Aktiven in der Pandemie nicht einfach. Die Verbände berichteten, dass sie durch die Online-Angebote teilweise jüngere und internetaffine Menschen sowie Menschen mit Mobilitätseinschränkung besser erreicht hätten als vorher. Gleichzeitig gingen aber auch zahlreiche Gruppenmitglieder, die schon langjährig aktiv waren, verloren, und neue Interessierte konnten nicht so gut und zuverlässig abgeholt und betreut werden.

    Ein Verband beschrieb sehr eindrücklich, dass gerade die Werte und Erfahrungen, die für Suchtselbsthilfe-Aktive wichtig sind, um stabil abstinent zu leben, durch die Pandemie nicht mehr erlebt werden konnten. Denn die Zeit der Pandemie war für die Selbsthilfe gekennzeichnet durch:

    • fehlende Verbindlichkeit und häufige Umplanung von Treffen (real wie virtuell)
    • Vermissen des körpersprachlichen Erlebens
    • Vermissen des direkten Blickkontaktes
    • Angst davor, durch digitale Treffen mit Bildübertragung das private Umfeld zu präsentieren

    Der Wunsch nach realen Treffen und höheren Verbindlichkeiten ist demnach bei vielen Aktiven noch mal größer geworden.

    Arbeitsprozesse

    Bei der Technik für Online-Angebote herrschte gerade in der Suchtselbsthilfe eine große Experimentierfreude. Vielfach wurde Zoom genutzt, dies ging aber mit Datenschutzbedenken und immer wieder auch technischen Problemen einher. Außerdem hatten einige Gruppenmitglieder offenbar große Vorbehalte gegen eine Nutzung von Videokonferenz-Tools, und es gab auch immer wieder Bedienungsprobleme, was die Dynamik und die Gespräche in den Gruppen störte.

    Bei real während der Pandemie stattfindenden Treffen bemühten sich die Teilnehmer*innen, so berichteten die Suchtselbsthilfe-Verbände, mit großer Gewissenhaftigkeit, die Auflagen in Bezug auf Hygiene und Abstände zu erfüllen. Was die Angabe von Kontaktdaten zur möglichen Kontaktnachverfolgung im Infektionsfall angeht, so haben die Gruppen verschiedene Wege gefunden, damit umzugehen. In der Suchtselbsthilfe ist es für viele Aktive essentiell, dass sie ein gewisses Maß an Anonymität wahren können. Um dem angemessen zu begegnen, haben die Gruppenleitungen z. B. Kontaktangaben in verschlossenen Urnen eingesammelt und zugesagt, diese nur im Infektionsfall zu öffnen. Oder es wurde den Anwesenden erlaubt, Alias-Namen auf den Kontaktzetteln anzugeben, solange entweder E-Mail-Adresse oder Telefonnummer korrekt war. Trotz all dieser Lösungen ist nicht auszuschließen, dass Aktive abgeschreckt waren und den Sitzungen fernblieben auf Grund der Notwendigkeit, Kontaktangaben zu machen.

    Sieht man sich die Ergebnisse der Kreuzbund-Befragung unter den Gruppenleitungen des Verbandes bundesweit an, so decken sich zahlreiche Angaben und Erfahrungen mit den in den HLS-Fragebögen gemachten Aussagen.

    Wünsche für die Zukunft

    Auch wenn die Aktivitäten in der Suchtselbsthilfe mit Unstetigkeiten und auch Problemen einhergingen, so formulierten einige Verbände in ihren Rückmeldungen an die HLS trotzdem den ausdrücklichen Wunsch, digitale Angebote auch in Zukunft beibehalten zu wollen. Ergänzend zur „klassischen“ Suchtselbsthilfe mit realen regelmäßigen Treffen könnten virtuelle Gruppen eine Bereicherung sein, um vor allem jüngere, technikaffine sowie in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen gut zu erreichen. Gegenüber der klassischen Selbsthilfe haben virtuelle Gruppen den Vorteil, dass man ortsunabhängig teilnehmen kann und Fahrwege wegfallen.

    Eine verbesserte technische Ausstattung, mehr Sicherheit in Datenschutzfragen, Support durch Fortbildungsangebote, den Abbau von Ängsten gegenüber digitalen Settings sowie bessere Aufklärung über die Chancen digitaler Angebote wünscht sich die Suchtselbsthilfe.

    Qualifizierter Entzug

    Arbeitsprozesse

    Zum Qualifizierten Entzug ging bei der HLS nur ein Fragebogen ein, dieser kam aus einer größeren Hamburger Klinik. Auf Grund von Kapazitätsverlagerungen im Krankenhausbetrieb sowie verschärfter Hygienevorschriften und anderer veränderter Rahmenbedingungen wurde in jenem Krankenhaus die normalerweise durchgeführte Qualifizierte Entzugsbehandlung seit März 2020 ausgesetzt und nur noch der (körperliche) Entzug angeboten.

    Wie zu erwarten, war der Anteil von Mitarbeiter*innen, die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens nutzen konnten, extrem gering. Im Krankenhausbetrieb wurden und werden bei der körperlichen Entgiftung und der Betreuung von Klient*innen auf der Station die Mitarbeiter*innen vor Ort benötigt.

    Klient*innen

    Die Klinik beschrieb, dass sie in der Nachfrage und der Klient*innen-Struktur Veränderungen wahrgenommen hat. Es haben sich vermehrt Menschen an sie gewandt, die darum baten, aufgenommen zu werden, weil sie sich nach geregeltem Tagesablauf, Struktur und persönlichen Kontakten sehnten und dieses Bedürfnis in der ambulanten Betreuung und Beratung während der Pandemie aufgrund der Auflagen und Einschränkungen nicht mehr ausreichend abgedeckt werden konnte.

    Auch wandten sich mehr Angehörige mit der Bitte um Hilfe direkt an die Klinik. Dagegen wurden Menschen mit Mehrfachabhängigkeiten oder auch sehr stark sozial isolierte Personen weniger erreicht.

    Stützende und beratende Gespräche wurden von den Klient*innen gesucht und gewannen – im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten – an Bedeutung. Gleichzeitig aber wurde es viel schwerer, Menschen in andere Angebote wie z. B. Selbsthilfegruppen zu vermitteln, da diese wie vorne beschrieben nur unregelmäßig tagen konnten. Entgiftung und akutpsychiatrische Behandlungen standen bei der Arbeit in der Klinik im Vordergrund. Über längere Zeiträume bestanden Besuchs- oder Heimreiseverbote.

    Wünsche für die Zukunft

    Fragt man die Mitarbeiter*innen, was sie von diesen Entwicklungen mit in die Zukunft nehmen möchten, so ist das klare Signal, man wünsche sich gar nichts davon. Die meisten würden gern zum Zustand vor der Pandemie zurückkehren und die Wiederherstellung der fachlichen Standards und die Weiterentwicklung des suchttherapeutischen Angebotes in den Fokus nehmen.

    Gleichzeitig besteht der Wunsch, die technische und digitale Ausstattung in der Klinik langfristig zu verbessern, um z. B. Klient*innen die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Mitarbeiter*innen die Vernetzung mit außerklinischen Beratungs- und Behandlungsangeboten zu erleichtern.

    Bereichsübergreifende wichtige Aspekte

    Einige Eindrücke und Rückmeldungen zu Arbeitsweisen während der Corona-Pandemie gelten für alle Einrichtungsformen. So beschrieben es mehrere Einrichtungen als sehr positiv, dass das Bewusstsein für Hygienevorschriften insgesamt gewachsen sei und die Einhaltung allgemeingültiger Regeln wie regelmäßiges Händewaschen deutlich besser klappe. Es wird mehrfach der Wunsch geäußert, dass dies auch nach der Pandemie anhält. Einige Akteur*innen vermerkten in diesem Zusammenhang, dass der Krankenstand in der Mitarbeiterschaft während der Pandemie zurückgegangen sei. Dies wird darauf zurückgeführt, dass sich die Mitarbeiter*innen durch das erhöhte Hygienebewusstsein, das ständige Tragen von Masken und das konsequente Abstandhalten in Alltagssituationen auch mit anderen Krankheitserregern als dem Covid-19-Virus weniger ansteckten.

    Akteur*innen der Suchtkrankenhilfe, die auch im Bereich Prävention tätig sind, berichteten, dass Zielgruppen, die klassischerweise über Institutionen oder Kooperationspartner*innen aus dem sozialen Bereich erreicht werden, während der Pandemie deutlich schwieriger zugänglich waren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass auch diese Einrichtungen vielfach unter veränderten Bedingungen und im stetigen Wandel arbeiten mussten. Besonders schwer erreichbar für Präventionsangebote waren Schülerinnen und Schüler wegen des unregelmäßigen Schulbetriebes, wie eine Mitgliedseinrichtung der HLS rückmeldete. Zwei Träger gaben allerdings explizit an, dass sich während der Pandemie auch neue Kooperationen mit bisher unbekannten Projektpartner*innen ergeben hätten. Dies wird als sehr positiv erachtet.

    Vielen Rückmeldungen ist zu entnehmen, dass dauerhaft ein recht hoher Druck empfunden wurde, sich stets flexibel und schnell auf neue Situationen und Vorschriften einzustellen und kreative neue Angebote und Formate zu entwickeln. Dabei kam und kommt es auch oft zu Fehlplanungen und einem insgesamt erhöhten Verwaltungsaufwand, der in das Zeitbudget der Mitarbeiter*innen eingeplant werden müsse. Eine Einrichtung merkte dazu explizit an: „Für Fortbildungen blieb das ganze Jahr über so gut wie gar keine Zeit, obwohl diese eigentlich dringend notwendig gewesen wären.“

    In Bezug auf Verwaltungsvorgänge wünschen sich mehrere HLS-Mitglieder Erleichterungen. Original-Unterschriften auf Formularen, wie sie von einigen öffentlichen Stellen und Kostenträgern verlangt werden, sind in der Zeit des mobilen und digitalen Arbeitens häufig ein Problem. Außerdem berichteten mehrere Einrichtungen übereinstimmend, dass es auf Grund der Gesamtlage in der Pandemie noch einmal deutlich schwieriger war, Klient*innen bei der sozialen und beruflichen Re-Integration zu unterstützen.

    Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass alle Akteur*innen in der Arbeit mit suchtkranken Menschen sich durchgängig danach sehnen, dass wieder mehr Normalität einkehrt und auch wieder mehr reale Begegnungen stattfinden können. Online-Angebote können allenfalls eine Ergänzung zu den bestehenden Präsenz-Angeboten sein. Trotzdem muss festgehalten werden, dass durch Telefon- und Videoangebote gerade in der Beratung und teilweise in der Suchtselbsthilfe auch neue Zielgruppen erreicht wurden, so dass diese Angebote zumindest ergänzend beibehalten werden sollen. Speziell für Teamsitzungen können sich viele Mitarbeiter*innen digitale Lösungen auch in der Zukunft gut vorstellen.

    Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung der Suchthilfe massiv vorangetrieben – einige dieser Erfahrungen müssen nun validiert und bestenfalls in die Beratungs- und Behandlungskonzepte zur Verbesserung der Versorgung der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen und ihrer Angehörigen integriert werden. Die Pandemie hat noch einmal gezeigt: Entscheidend für erfolgreiches Arbeiten mit den Klient*innen sowie mit den Kolleg*innen ist der persönliche, unmittelbare Austausch. Dies ist eine der wesentlichsten Ableitungen. Denn die immensen gesamtgesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie werden wir in Zukunft auch und vor allem in der Suchthilfe zu bewältigen haben. Dazu brauchen wir ein verlässliches Netzwerk und verlässliche Kooperationspartner*innen.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Linda Heitmann
    Geschäftsführerin
    Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V.
    Burchardstraße 19
    20095 Hamburg
    Tel. 040/30 38 65 55
    linda.heitmann(at)landesstelle-hamburg.de

  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil I

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil I

    Wo stehen wir?

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Ursprung der Suchtrehabilitation geht zurück auf die Trinkerheilstätten, die Ende des 19. Jahrhunderts von Diakonie und Caritas aufgebaut wurden. Nach den Urteilen des Bundessozialgerichtes von 1968 (Anerkennung von Sucht als Krankheit) und 1978 (Kostenverteilung bei Suchtbehandlung) wurde die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker konzipiert und zu einer qualitativ hochwertigen Leistung mit zahlreichen Behandlungsoptionen weiterentwickelt. Die medizinische Rehabilitation im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen ist heute ein sehr spezifisch ausgestaltetes Segment im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen, bei dem vor allem die Förderung der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe im Mittelpunkt steht.

    Sie ist Teil eines komplexen Systems aus suchtspezifischen Angeboten in den Bereichen Beratung, Akutbehandlung, Selbsthilfe, Eingliederungshilfe und Substitution sowie vielen anderen Hilfeangeboten (bspw. in Justizvollzugsanstalten oder in der niedrigschwelligen Drogenhilfe). Eine Reha-Maßnahme (Entwöhnungsbehandlung) wird dabei i.d.R. im Rahmen eines Klärungs- und Motivationsprozesses in einer Suchtberatungsstelle vorbereitet und schließt sich idealerweise nahtlos an eine entsprechende Akutbehandlung (Entgiftung) an. Viele suchtkranke Menschen werden aber auch in anderen, nicht suchtspezifischen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens betreut und behandelt, bspw. in Arztpraxen oder Allgemeinkrankenhäusern. Eine umfassende Analyse der Hilfen und Angebote für Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen erstellt.

    Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation ist traditionell geprägt von vielen kleinen Einrichtungen (bis zu 50 Behandlungsplätze). Die Einrichtungen gehören überwiegend zu den freien Wohlfahrtsverbänden oder zu privaten Trägern, mit jeweils etwa der Hälfte der bundesweit verfügbaren Behandlungsplätze. Darüber hinaus gibt es auch einige wenige Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft, bspw. Fachkliniken oder Fachabteilungen der Psychiatrien in Baden-Württemberg oder der Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen. Vor dem Hintergrund der über 100-jährigen Geschichte der Suchthilfe hat sich ein hoher Organisationsgrad mit mehreren Fachverbänden und Fachgesellschaften entwickelt. Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation lässt sich wie folgt im Überblick darstellen:

    • 180 stationäre Einrichtungen (Fachkliniken, Therapieeinrichtungen oder Abteilungen/Stationen von Krankenhäusern) mit 13.000 Plätzen und 50.000 Behandlungen pro Jahr
    • 100 Adaptionseinrichtungen (intern oder extern) mit 1.300 Plätzen und 4.500 Behandlungen pro Jahr
    • 50 ganztägig-ambulante Einrichtungen (Tagesreha oder teilstationäre Reha) mit 600 Plätzen und 2.500 Behandlungen pro Jahr
    • 600 anerkannte ambulante Einrichtungen (vor allem Beratungsstellen und Fachambulanzen) mit 18.000 Behandlungen (Reha und Nachsorge) pro Jahr (vgl. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2019)

    Die Hauptdiagnose Alkoholabhängigkeit macht bei rund 65 Prozent der Behandlungsfälle den größten Anteil aus, 30 Prozent der Hauptdiagnosen betrifft die Abhängigkeit von illegalen Drogen, fünf Prozent der Fälle beziehen sich auf andere Indikationen (Pathologisches Spielen, Medikamentenabhängigkeit, Essstörungen, Internetsucht). Das Durchschnittsalter der behandelten Menschen im Bereich Alkohol liegt bei 44 Jahren und im Bereich Drogen bei 30 Jahren. 20 bis 25 Prozent der Behandelten sind Frauen. Aufgrund der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und der geltenden Anspruchsvoraussetzungen ist die Deutsche Rentenversicherung mit ca. 85 Prozent der überwiegende Leistungsträger in der Suchtrehabilitation, die gesetzliche Krankenversicherung finanziert etwa zwölf Prozent der Behandlungen. In einigen Fällen wird die Behandlung auch von Sozialhilfeträgern, Privaten Krankenversicherungen oder Selbstzahlern finanziert.

    In den Einrichtungen wird von interdisziplinären Teams (vertreten sind u. a. Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit, Pflege, Ergotherapie) ein breites Leistungsspektrum vorgehalten: medizinische Versorgung, Psycho- und Suchttherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sport und Bewegung, Kreativtherapie und Freizeitgestaltung, Sozialdienst sowie viele weitere Angebote, die in einem mit den Leistungsträgern abgestimmten Therapiekonzept beschrieben sind. Aufgrund entsprechender gesetzlicher Rahmenbedingungen und der eigenen fachlichen Ansprüche von Leistungsträgern und Leistungserbringern wurden für die Suchtrehabilitation hohe Standards in den Bereichen Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung erarbeitet, die weit über die Anforderungen in anderen Bereichen des deutschen Gesundheits- und Sozialwesens hinausgehen.

    Was beschäftigt uns?

    In den folgenden Abschnitten werden einige wichtige aktuelle Trends und Themen dargestellt, die die fachliche, organisatorische und sozialrechtliche Entwicklung in der Suchtrehabilitation derzeit bestimmen und vermutlich auch in der Zukunft maßgeblich beeinflussen werden. Die Auswahl und Schwerpunktsetzung entspricht der subjektiven Erfahrung des Autors und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

    a) Nachfrage und Zugang
    b) Fachkräftemangel
    c) Digitalisierung
    d) Therapie und Konzepte
    e) Modularisierung
    f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung
    g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit

    a) Nachfrage und Zugang

    Bis 2013 war eine stetig steigende Nachfrage in der Suchtrehabilitation zu beobachten, was zum Teil demografische Ursachen hatte: Die „Babyboomer“ der starken Geburtsjahrgänge bis Anfang der 1970er Jahre hatten einen zahlenmäßig hohen Behandlungsbedarf (Altersdurchschnitt Alkohol ca. 44 Jahre). Das gesetzlich gedeckelte Budget der Deutschen Rentenversicherung für die gesamte medizinischen Reha (nicht nur für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen) wurde fast komplett ausgeschöpft, und es drohte eine finanziell begründete Limitierung von Reha-Maßnahmen. In der Suchtrehabilitation war aber ab 2014 ein deutlicher Einbruch bei den Anträgen zu beobachten. Trotz umfassender gemeinsamer Analysen von Deutscher Rentenversicherung und Suchtverbänden konnten keine eindeutigen Ursachen identifiziert werden. Die Zugangswege in die Suchtreha verteilen sich grundsätzlich zu 60 Prozent auf die Vermittlung aus Beratungsstellen und zu 20 Prozent auf die (direkte) Verlegung aus psychiatrischen oder internistischen Entzugskliniken. Im Bereich illegale Drogen spielt auch der Zugang direkt aus Justizvollzugsanstalten mit rund zehn Prozent eine Rolle (vgl. Weissinger 2017: Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren). Es ist davon auszugehen, dass verschiedene Gründe für den Antragsrückgang vorliegen:

    • schwierige Finanzierungssituation in den Suchtberatungsstellen, die vor allem auf die kommunale Grundfinanzierung angewiesen sind,
    • alternative (und vermeintlich „niedrigschwelligere“) Behandlungs- und Betreuungsangebote in der Psychiatrie, Eingliederungshilfe und der ambulanten Substitution für Opiatabhängige,
    • Probleme beim Übergang aus der Haft in die Suchtreha (insbesondere bei Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG „Therapie statt Strafe“).

    Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind einige Einrichtungen in den letzten Jahren geschlossen worden, in manchen Regionen gingen bis zu zehn Prozent der Behandlungskapazitäten verloren. Die Situation vieler Einrichtungen wird zudem durch zu niedrige Vergütungssätze erschwert, die kaum die laufenden Kosten decken und keine Investitionen ermöglichen (vgl. Koch & Wessel 2016: Ein Gespenst geht um in Deutschland …). Seit 2017 steigen die Antragszahlen in der Suchtreha wieder, insbesondere im Bereich illegale Drogen. Allerdings sind auch für diesen positiven Trend keine eindeutigen Ursachen auszumachen. Es bleibt die Erkenntnis, dass die „Marktentwicklung“ in diesem Bereich kaum zu prognostizieren ist und damit die wirtschaftlichen Planungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern schwierig sind.

    Im Zusammenhang mit der Analyse des Antragsrückgangs und der Zugangswege in die Suchtrehabilitation sind einige spezifische Aspekte und Entwicklungen zu erwähnen, die Auswirkungen auf die „Schnittstellen“ zwischen den unterschiedlichen Hilfebereichen und Leistungssegmenten haben:

    • Auf der Grundlage gemeinsamer Beratungen von Leistungsträgern und Suchtverbänden wurde 2017 das Nahtlosverfahren Qualifizierter Entzug / Suchtrehabilitation verabschiedet. Die zwischen Deutscher Rentenversicherung, Gesetzlicher Krankenversicherung und Deutscher Krankenhausgesellschaft abgestimmten Handlungsempfehlungen sollen den Zugang nach qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker verbessern.
    • Im Auftrag der beiden Fachverbände Caritas Suchthilfe (CaSu) und Gesamtverband für Suchthilfe (GVS – Fachverband der Diakonie Deutschland) wurde im Oktober 2018 die von Prof. Dr. Rita Hansjürgens (Alice-Salomon-Hochschule Berlin) erarbeitete Expertise Tätigkeiten und Potentiale der Funktion „Suchtberatung“ veröffentlicht. Sie umfasst eine differenzierte Situationsbeschreibung und formuliert Forderungen für die zukünftige Gestaltung dieses zentralen Bereiches im Suchthilfesystem. Vor dem Hintergrund der sich weiter verschlechternden Finanzierungssituation vieler Suchtberatungsstellen wurde 2019 der „Notruf Suchtberatung“ von zahlreichen Verbänden veröffentlicht, und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen stellte entsprechende Forderungen zur Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Arbeit von Suchtberatungsstellen auf.
    • Seit 2013 läuft die Entwicklung eines neuen Entgeltsystems für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (PEPP-System). Es handelt sich um ein analog zu den DRG entwickeltes Entgeltsystem, das in den psychiatrischen Krankenhäusern seit 2018 verpflichtend umzusetzen ist. Die Einordnung in die für Suchtkranke vorgesehenen PEPP-Codierungen erfolgt nach dem ökonomischen Aufwand der Behandlung. Für die Qualität sorgt der verpflichtende Nachweis von Personal-Anhaltszahlen, der im Rahmen des ergänzenden Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) im Jahr 2016 festgelegt wurde. Es bleibt noch abzuwarten, welche Auswirkungen die Umsetzung auf die Behandlung von Suchtkranken in der Psychiatrie sowie das Zusammenspiel von Entgiftung und Entwöhnung haben wird.
    • Zwei veränderte Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) haben möglicherweise positiven Einfluss auf die Behandlung von Suchtkranken in der ambulanten Psychotherapie bzw. die Zusammenarbeit dieses Bereiches mit anderen Leistungsangeboten für Suchtkranke. Durch die Änderung der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2011 wird die ambulante Psychotherapie bei Suchterkrankungen erleichtert, da Patientinnen und Patienten nicht mehr zwingend abstinent sein müssen, um eine Therapie zu beginnen. Mit der Änderung der Rehabilitations-Richtlinie im Jahr 2017 wurde das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) umgesetzt, so dass nun auch Psychotherapeuten zur Verordnung bestimmter Leistungen zur medizinischen Rehabilitation befugt sind. Damit ist auch eine Weitervermittlung von suchtkranken Patientinnen und Patienten in die Suchtrehabilitation möglich.

    b) Fachkräftemangel

    Der Leiter einer Fachklinik machte im Pausengespräch während einer Verbandstagung folgende Bemerkung: „Wir werden demnächst irgendwo in Deutschland eine Klinikschließung erleben, nicht weil die Belegung oder die Finanzierung so schlecht ist, sondern weil nicht mehr genug qualifiziertes Personal zu finden ist!“ Damit wurde eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte  auf den Punkt gebracht. Wie in fast allen Branchen macht sich in Deutschland auch im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft der Fachkräftemangel immer deutlicher bemerkbar. Für den Bereich der Suchtrehabilitation betrifft das vor allem ärztliches und pflegerisches, mittlerweile aber auch sozialpädagogisches und psychologisches Personal.

    Die hohen quantitativen und qualitativen Anforderungen der Leistungsträger durch Sollstellenpläne und Formalqualifikationen verschärfen das Problem noch. Hier werden zukünftig neue Lösungen gefunden werden müssen, die einerseits die Qualität der Behandlung sicherstellen, andererseits aber auch der Arbeitsmarktlage Rechnung tragen. Im psychologischen Bereich wird bspw. ein von der Platzzahl abhängiger Anteil an Psychologischen Psychotherapeuten gefordert. Eine deutliche Erleichterung war hier die vor einigen Jahren eingeführte Regelung, dass bei noch nicht vorhandener Approbation auch die Zwischenprüfung oder absolvierte Hälfte der Weiterbildung bei dem entsprechenden Personal im Stellenplan anerkannt wird. Im Bereich Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit darf mittlerweile grundsätzlich nur noch Personal im Stellenplan gezählt werden, das die suchttherapeutische Weiterbildung vollständig abgeschlossen hat. In den von der Deutschen Rentenversicherung anerkannten Curricula der entsprechenden Institute gem. den neuen Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen von 2011 (vgl. DRV Bund 2013: Vereinbarungen im  Suchtbereich, S. 80) ist aber vorgesehen, dass diese Zusatzausbildung berufsbegleitend erfolgt. Es stellt sich also die Frage, wo das in Weiterbildung befindliche Personal beschäftigt werden soll? Es gibt nur geringe Stellenanteile  im Bereich „Sozialdienst“ und die Vergütungssätze in der Suchtrehabilitation lassen keinerlei Spielraum, diese Mitarbeitenden zusätzlich in den Einrichtungen zu beschäftigen.

    Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Personalsituation ist die deutliche Verschiebung des Geschlechterverhältnisses. Sozial- und Gesundheitsberufe werden immer stärker von weiblichen Arbeitskräften dominiert, was grundsätzlich natürlich kein qualitatives oder quantitatives Problem darstellt. Allerdings wird von vielen Einrichtungsleitungen das Fehlen von „männlichen Identifikationsfiguren“ in den therapeutischen Teams beklagt, da rund drei Viertel der Patienten in der Suchtreha Männer sind. Und die praktische Erfahrung zeigt, dass die therapeutische Beziehung ein wesentlicher Wirkfaktor für eine gelingende Behandlung ist. Diese Beziehung lässt sich gleichgeschlechtlich anders gestalten, was bspw. auch für die Therapie in spezifischen Fraueneinrichtungen gilt.

    Es werden in den Einrichtungen aber nicht nur Fachkräfte dringend gesucht, sondern ebenso Führungskräfte, die bereit sind, Verantwortung für Menschen, Konzepte und Gebäude zu übernehmen. Auch wenn das nach „früher war alles besser“ klingt, so lässt sich doch in der Praxis des Personalmanagements beobachten, dass die Nachbesetzung von Leitungsfunktionen in den Einrichtungen schwieriger wird. Bislang konnten häufig Nachfolgeregelungen mit ambitionierten Mitarbeitenden gefunden werden, die zunächst einige Jahre in der  „zweiten Reihe“ Erfahrungen als Bereichsleitung oder stellvertretende Einrichtungsleitung gesammelt hatten. Zunehmend berichten aber Personalverantwortliche in den Trägerorganisationen, dass dieses Modell nicht mehr funktioniert. Häufig fällt die Antwort von Nachwuchskräften, denen eine Führungsposition zugetraut und angeboten wird, so oder so ähnlich aus: „Den Stress und die Verantwortung tue ich mir für eine kleine Gehaltserhöhung lieber nicht an!“ Das mag zum einen ein Hinweis darauf sein, dass Führungspositionen in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen wegen der komplexen (fachlichen, personellen, organisatorischen, rechtlichen etc.) Anforderungen und der zunehmenden ökonomischen Zwänge weniger attraktiv sind als die möglicherweise eher sinnstiftende therapeutische Arbeit. Zum anderen könnte eine Ursache für dieses Phänomen in der veränderten Einschätzung der „Generation Y“ (Geburtsjahrgänge etwa 1985 bis 1995) im Hinblick auf eine akzeptable Arbeitsbelastung liegen. Wobei man sicherlich vorsichtig sein muss, denn diese Generationenmodelle sind stark verallgemeinert und können nicht jede individuelle berufliche Entscheidung erklären.

    Es stellt sich also die Frage, wie Unternehmen im Sozial- und Gesundheitsbereich auf diese existentielle Herausforderung reagieren sollen. Eine Trendwende am Arbeitsmarkt ist schon aus demografischen Gründen nicht zu erwarten, und die Rekrutierung von ausländischen Fachkräften ist wegen der hohen sprachlichen Kompetenzanforderungen in der Psycho- und Suchttherapie eher im Einzelfall eine sinnvolle Lösung. Wenn die Einrichtungsträger in ausreichendem Umfang junge Fach- und Führungskräfte finden wollen, erfordert das neue Wege bei der Personalgewinnung, der Personalentwicklung und der Personalbindung. Dazu gehören u. a. folgende Aspekte:

    • Personalgewinnung – Vermittlung eines positiven Berufsbildes für die Suchthilfe in der Öffentlichkeit und bei potenziellen Bewerbern, bspw. durch regionale Vernetzung (Jobmessen) oder Ausbildungspartnerschaften (Bereitstellung von Praktikumsplätzen, Kooperation bei dualen Studiengängen, Förderung von Weiterbildungen).
    • Personalentwicklung – Unterstützung der Mitarbeitenden bei der professionellen Weiterentwicklung, wenn in kleinen Einrichtung kaum hierarchische Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden sind, bspw. durch ergänzende therapeutische Weiterbildungen.
    • Personalbindung – Entwicklung einer Unternehmenskultur, die Identifikationsmöglichkeiten mit dem Arbeitgeber bietet sowie langfristig zufriedenes und (psychisch wie physisch) gesundes Arbeiten ermöglicht.

    Es ist im Zeitalter der extremen Vernetzung und Transparenz durch soziale Netzwerke nicht mehr ausreichend, sich als guter Arbeitgeber in Broschüren oder auf der Internetseite zu präsentieren. Wenn diese Darstellung von der Wahrnehmung der Mitarbeitenden im Arbeitsalltag abweicht, dann steigt zum einen die Fluktuation, weil es viele offene Stellen bei anderen Unternehmen gibt, und zum anderen verbreitet sich das schlechte Image schnell unter potenziellen Bewerbern. Daher muss der Gestaltung einer positiven Unternehmenskultur verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wichtige Bereiche sind in diesem Zusammenhang:

    • offene und vertrauensvolle Kommunikation (bspw. fairer Umgang mit Fehlern)
    • ressourcenorientierter und unterstützender Führungsstil (insbesondere Wahrnehmung individueller Stärken und Schwächen, Wünsche und Ziele)
    • transparente Entscheidungsstrukturen und Arbeitsabläufe (zur Vermeidung von Unberechenbarkeit und Unsicherheit)
    • Beteiligung an Gestaltungs- und Abstimmungsprozessen (zur Entwicklung eines gemeinsamen Verantwortungsbewusstseins)
    • individuelle zeitliche und räumliche Arbeitsgestaltung (u. a. flexible Arbeitszeit und mobiles Arbeiten in Abhängigkeit von den gegebenen Anforderungen und Rahmenbedingungen)
    • Förderung von Gemeinschaftsgefühl und Teamzusammenhalt (u. a. zur Herstellung von Verlässlichkeit und Verbindlichkeit)

    Dadurch entstehen hohe Anforderungen an die Führungskräfte, und es wird zunehmend wichtiger, diesen auch die entsprechenden Kompetenzen zu vermitteln, bspw. durch Fort- und Weiterbildungen, kollegiale Supervision oder externes Coaching.

    • Am 9. September 2020 erscheint Teil II mit den Themen: Digitalisierung, Therapie und Konzepte.
    • Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.
    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • KI oder k.o. – Digitalisierung als Herausforderung für das Suchthilfesystem

    KI oder k.o. – Digitalisierung als Herausforderung für das Suchthilfesystem

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Das Thema digitale Transformation ist in der Suchthilfe angekommen. Träger engagieren sich, Verbände agieren. Das sind positive erste Schritte. Das Arbeitsfeld muss sich allerdings in aller Breite und Tiefe den aktuellen Entwicklungen weiter öffnen und verstehen lernen, was es eigentlich heißt, am Anfang einer „digitalen Revolution“ zu stehen, und welche Auswirkungen diese „disruptive Technologie“, die in anderen Bereichen ganze bisherige Geschäftsmodelle zerstört, für die Suchthilfe hat. Digitalisierung ist kein Ereignis, sondern ein Prozess, der auch massive Veränderungen der Arbeitsstruktur und Arbeitsabläufe mit sich bringt.

    Digitalisierung ist nicht die ‚Aufhübschung‘ eines Geschäftsmodells durch einen Internetanschluss. Onlineberatung ergibt wenig Sinn, wenn im Hintergrund wie vor Jahrzehnten gearbeitet wird. Wenn sich eine Organisation ernsthaft damit beschäftigt, digitalisierte Prozesse in die Arbeit zu integrieren, reicht es bei der Umsetzung nicht aus, nur die verfügbaren neuen Technologien für neue Produkte einzusetzen. Vielmehr hat der Einsatz digitalisierter Prozesse weitreichende Konsequenzen für die Organisationsstruktur, das Arbeitskonzept, die Arbeitsprozesse, die Qualifikation des Personals, die Arbeitszeiten sowie die Führungskompetenzen (junge Mitarbeiter haben mehr Ahnung als ältere Kollegen). Eine Neuausrichtung der gesamten Geschäftsstrategie auf digitale Handlungsprozesse ist erforderlich.

    Und noch eine weitere Dimension gilt es zu berücksichtigen: Die digitale Wandlung ist ein disruptiver Prozess. Diese vielfach gehörte Aussage liest sich so einfach. Dabei bedeutet dieser Satz doch, dass aktuelle Geschäftsmodelle zerstört werden und völlig neue Player auf der Angebotsseite, wie aus dem Nichts, auftauchen. Mit anderen Worten: Wäre es auch in der Suchthilfe vorstellbar, dass sich in absehbarer Zeit Plattformen etablieren, die, von völlig fachfremden Betreibern geführt, keine eigenen Dienste anbieten, sondern nur als digitale Vermittlungsplattform für die komfortable Abwicklung von Dienstleistungen zwischen Anbietern und Nutzern agieren? 

    Die professionelle Suchthilfe und ihre Entwicklung in den letzten 50 Jahren

    Die Suchthilfe in ihrer professionellen Ausrichtung hat in den letzten 50 Jahren gezeigt, dass sie ein flexibles und vitales System ist, das sich den unterschiedlichen, von außen an sie herangetragenen Veränderungen (neue Substanzen, Mittelkürzungen) anpassen konnte. Die Kreativität der Träger und die Unterstützung aus dem politischen Raum waren hierbei wichtige Faktoren.

    Es muss jedoch die Frage gestellt werden, ob die bisherigen Überlebensstrategien und Anpassungsprozesse des Suchthilfesystems auch beim digitalen Wandel greifen. Um es vorwegzunehmen: Ich glaube es nicht. Wir haben es bei der digitalen Transformation nicht mit einem weiteren Veränderungsschritt, vergleichbar mit den oben genannten, zu tun, sondern mit einem Prozess, der gezeigt hat, dass er das Potential besitzt, bisherige Geschäftsmodelle zu zerstören. 

    Neue Marktstrukturen und neue Wettbewerber

    In der Debatte um die Digitalisierung in der Suchthilfe scheint mir ein Aspekt viel zu kurz zu kommen: der mit der Digitalisierung einhergehende Wandel der Marktstrukturen.

    Digitale Plattformen sind das zentrale Geschäftsmodell der digitalen Ökonomie. Das Grundprinzip der „digital matching“-Unternehmen ist einfach: Sie bieten selbst keine Waren an, sondern nur eine digitale Vermittlungsplattform für die einfache Abwicklung von Transaktionen. Damit schieben sie sich zwischen Anbieter und Kunden (Nutzer). Vor allem für die Endkunden ist das praktisch. Sie finden alle Angebote an einer Stelle, können Preise oder Funktionen vergleichen und sofort ordern. Kleineren Anbietern bieten Plattformen die Möglichkeit, ihre Angebote ‚der ganzen Welt‘ bekannt zu machen und anzubieten, ohne allzu große Investitionen, z. B. in Immobilien, tätigen zu müssen.

    Digitale Plattformen werden aber nicht nur von großen internationalen Firmen wie Amazon, Uber oder Booking.com betrieben. Für fast jede Branche gibt es inzwischen diese Geschäftsmodelle. Egal, ob solche Plattformen regional, national oder international agieren, immer gilt, dass die Plattformbetreiber selbst keinerlei Qualifikationen bezüglich der angebotenen Güter oder Dienstleistungen besitzen.

    Mit Pflegedienstleistungen ist die Plattformökonomie bereits in einem Segment des psychosozialen Arbeitsfeldes zu finden. Das „Uber-Prinzip“ in der Pflege bedeutet: Über eine Plattform bieten Menschen mit unterschiedlichstem Erfahrungs- und Ausbildungsgrad Dienstleistungen in den Bereichen Begleitung, Betreuung und Pflege für kürzere oder längere Dauer an. In manchen Modellen arbeiten die Menschen auf selbständiger Basis, in anderen als Angestellte des Plattformunternehmens. Gesellschaftlich entscheidend ist, was dabei mit dem Gesamtsystem der Begleitung, Betreuung und Pflege passiert – mit seiner Stabilität, Fachlichkeit und Qualität.

    Was bedeutet das übertragen auf Suchthilfe und Suchtprävention?

    SCENARIO 1: Digitale Hilfe und digitale Vermittlung von Hilfe

    „Die neuen Technologien … verändern vorhandene … oder gestalten neue Hilfeprozesse [und] ermöglichen damit die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle“. (Kreidenweis 2017, S. 164)

    Verbraucher kennen und schätzen das Konzept der digitalen Plattformen und übertragen ihre Erwartungen an den Angebotsservice auch auf andere (non-profit) Dienstleistungsbereiche. Die Anforderungen und Ansprüche von Kundenseite an die Anbieter von psychosozialen Dienstleistungen werden also wachsen (z. B. 24 Stunden 7 Tage die Woche erreichbar sein). Die Legalqualifikation der Anbieter (Hochschulabschlüsse der Mitarbeiter plus Zusatzqualifikationen, lange Felderfahrung des Trägers) wird bei der Suche nach Informationen und Unterstützung nicht mehr so stark im Vordergrund stehen.

    Die freie Wohlfahrtspflege hat derzeit praktisch ein Monopol in der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung. Dieses Monopol resultiert neben historischen und gesetzlichen Gründen auch daraus, dass man mit diesen Arbeitsfeldern bislang kein Geld verdienen kann. Sollte dies durch die Etablierung neuer, digitaler Geschäftsmodelle möglich werden, könnten Start-ups ganz schnell Angebote etablieren, die nicht unbedingt in der Tradition der Suchthilfeträger stehen (analog den zunehmend erfolgreichen Fin Techs in der Finanzwirtschaft) und die zu einer völligen Neujustierung der Arbeitsfelder führen könnten. (Fachfremde) Anbieter könnten sich als Dienstleister gemäß den heutigen Kunden(Klienten-)anforderungen entwickeln und mit digitalen Services Menschen in schwierigen Lebenslagen oder schambesetzten Situationen einfach, bequem und rund um die Uhr Unterstützung zukommen lassen. Oder aber sie könnten auch ‚nur‘ eine Plattform für entsprechende Anbieter ins Leben rufen. Diese Plattform könnte z. B. folgende Services anbieten:

    • Ein mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestatteter Chatbot gibt 7 Tage rund um die Uhr Antworten auf die wichtigsten, immer wiederkehrenden Fragen.
    • 24h lang Direktvermittlung zu spezialisierten Rechtsanwälten
    • Abklärung, ob ein Anspruch auf medizinische Reha besteht, plus anschließende komplette Abwicklung und Betreuung der Formalitäten inkl. Buchung eines entsprechenden Rehaplatzes
    • Chat mit fachkundiger Person von 8 bis 20 Uhr jeden Tag
    • schnelle Terminvermittlung in ortsnahe Suchthilfeeinrichtung
    • Online-/Teleberatung, Online-/Teletherapie

     SCENARIO 2: Matching und Online-Direktvermittlung zur Fachkraft

    Die Mieten in den Innenstädten haben inzwischen schwindelerregende Höhen erreicht. Die Mietkosten nehmen bei öffentlichen Einrichtungen einen immer größer werdenden Anteil an den Gesamtbudgets ein. Die Kommunen als Leistungsträger sind nicht mehr bereit, Räume zu finanzieren, die nur acht bis zehn Stunden am Tag genutzt werden. Zudem hat sich eine neue Generation von Fachkräften auch im psychosozialen Bereich etabliert, die ihre Arbeitsverhältnisse möglichst flexibel gestalten und im Arbeitszeitumfang permanenten Spielraum haben möchte. Der herrschende Fachkräftemangel stärkt ihre Position bei der Durchsetzung dieser Vorstellungen gegenüber potentiellen Arbeitgebern.

    Vor dieser Ausgangslange entwirft Horst Bossong (2018) folgendes Scenario: „Die Spezialisierung psychosozialer Einrichtungen wie Schuldnerberatung, Suchtberatung, Erziehungsberatung etc. könnten auf einer gemeinsamen digitalen Plattform zusammengefasst werden. Solche im virtuellen Raum etablierten Gemeinschaftspraxen könnten ihre von freien Mitarbeitenden angebotenen Dienstleistungen just in time anbieten.

    Die Anmeldung samt Anamnese erfolgt über ein Online-Tool. Ein Algorithmus matcht den Hilfesuchenden mit einer passgenau qualifizierten Fachkraft für eine (standardisiert festgelegte) Menge an Beratungsstunden. Sie erbringt die Beratung, Betreuung und Therapievermittlung sodann in ‚hybrider‘ Form, d. h. ohne festes Büro, sondern in je nach Einzelfall verabredeten variablen Formaten, etwa virtuell oder auch an einem physischen Orten zu einem dem Klienten passenden Zeitpunkt.“ 

    SCENARIO 3: Ein Handlungsfeld für große Player

    Die Mediangruppe ist ein privat geführter Klinikträger mit 120 Einrichtungen und 15.000 Mitarbeitern. Mit 18.000 Betten und Behandlungsplätzen werden pro Jahr etwa 230.000 Patienten versorgt. Die Mediangruppe ist auch in der medizinischen Rehabilitation für suchtkranke Menschen aktiv. Dieser große Player in der Sucht-Reha hat die Digitalisierung zur Chefsache erklärt und im April 2018 einen neuen Chief Development Officer (CDO) eingestellt, der sich auf Geschäftsführungsebene gezielt der Digitalisierungsstrategie des Unternehmens widmet. In einer Pressemitteilung gab Dr. André M. Schmidt, CEO bei Median, bekannt, dass das Unternehmen im Bereich Digitalisierung eine Vorreiter-Position anstrebt (Pressemeldung, 04.04.2018). Dies als Beispiel für einen ‚Großen‘, der sich schon massiv auf den Weg gemacht hat.

    Nur durch das Bewusstmachen solcher Szenarien wird der notwendige Handlungsdruck deutlich. Ihm muss die aktive Auseinandersetzung folgen, um wünschenswerte Entwicklungen zu fördern und Entwicklungsrisiken frühzeitig begegnen zu können. 

    Suchthilfe muss handeln, warum?

    Das Suchthilfesystem in Deutschland zeichnet sich durch differenzierte Leistungserbringer aus, die ein breit gefächertes Angebot für Betroffene und deren Angehörige bereithalten. Diese Angebote weisen heute hohe Standards und qualitätssichernde Begleitmaßnahmen auf. Wenn die Vielfalt der Leistungserbringer und eine nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Trägerlandschaft auch zukünftig die Maximen im Bereich der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung darstellen sollen, muss sowohl die Suchthilfe handeln als auch die Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen sicherstellen.

    Dieses Handeln seitens der Suchthilfeträger muss bereits zu einer Zeit passieren, in der das Bestehende noch sehr gut läuft. Und das fällt schwer. Denn so lange es gut läuft, versuchen alle Beteiligten, das Bestehende möglichst zu bewahren. Es wäre allerdings fatal, wenn sich die Suchthilfe im Heute verkämpft und dadurch den realistischen Blick auf morgen vernachlässigt. 

    Die Notwendigkeit digitaler Strategien

    Aber es gibt noch eine andere Gefahr: Die Suchthilfe darf sich bei dem Thema Digitalisierung nicht in zu vielen Einzelprojekten verlieren. Letztlich ist die Digitalisierung eine strategisch-strukturelle Aufgabe. Man kann nicht einfach kleine Einzelprojekte aneinanderreihen und denken, das reiche. Um ein gutes Gesamtergebnis zu erzielen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, braucht es dringend ein Gesamtkonzept – eine Digitalisierungstrategie sowohl für den einzelnen Suchthilfeträger als auch für das Suchthilfesystem als Ganzes. Zur Entwicklung dieser Strategien sind die bisherigen Konzepte nur bedingt tauglich. Es müssen völlig neue Formate und Kooperationen entwickelt werden.

    Der Prozess der digitalen Transformation erfordert enorme Ressourcen. Einzelne kleine wie auch große Einrichtungen sind personell und finanziell überfordert, so dass träger- und verbandsübergreifendes Handeln unumgänglich erscheint, will man die Digitalisierung mitgestalten und nicht nur Zuschauer sein. Dazu müssen sowohl die Träger als auch das System Suchthilfe Strategien entwickeln, wie sie den digitalen Wandel bewältigen wollen. Aktuell scheinen mir diese Strategien zu fehlen, gleichwohl werden digitale Produkte wie Apps oder Online-Beratungsmöglichkeiten bereits umgesetzt bzw. geplant.

    Um Nachhaltigkeit zu erreichen und Fehlinvestitionen zu vermeiden, lassen sich die Umsetzungsschritte einer Strategie zur Bewältigung des digitalen Wandels wie in Abb. 1 gezeigt skizzieren:

    Abb. 1

    Trägerinterne Strategieentwicklung

    Mit Unterstützung externer Expertise aus dem Bereich der Organisationsentwicklung sollten trägerintern im Rahmen einer Strategieentwicklung folgende Fragestellungen geklärt und folgende Arbeitsschritte abgearbeitet werden (s. Abb. 2):

    Abb. 2

    Lösungen entwickeln in „Future Labs“

    Auch wenn die Suchthilfe träger- und verbandsübergreifend agiert, kann sie den anstehenden Wandel nicht alleine bewältigen. Politik muss sie dabei unterstützen. Politik kann aber auch erwarten, dass Lösungen überregional und trägerübergreifend gesucht werden, z. B. in „Entwicklungslabors“ oder „Future Labs“. In solchen Future Labs finden sich Mitarbeitende unterschiedlicher Fachbereiche, externe Expert/innen (z. B. aus Hochschulen, der Start-up-Szene) und Mitarbeitende anderer Organisationen zusammen (s. Abb. 3). Diese Innovationsnetzwerke arbeiten an neuen Konzepten, Services und Geschäftsmodellen, die sie als Empfehlungen und Orientierungen dem Suchthilfesystem zur Verfügung stellen. Aber auch Fragestellungen zum Datenschutz und ethischen Dimensionen der Digitalisierung in der Suchthilfe könnten, ressourcenschonend, zentral diskutiert und die Ergebnisse z. B. über Handreichungen oder Webinare kostengünstig in die Fläche gebracht werden.

    Abb. 3

    Zur Einleitung einer solchen Entwicklung könnten in einem nationalen Future Lab „Suchthilfe“ mit externer multiprofessioneller Expertise folgende Fragestellungen bearbeitet werden (s. Abb. 4):

    Abb. 4

    Aktueller Stand und Ausblick

    In den letzten Monaten sind im Bereich der Suchthilfe vielfältige Entwicklungen und Fortschritte zu konstatieren, die die aufgezeigte Richtung unterstützen:

    • Im Januar 2019 haben die Wohlfahrtsverbände, das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland und der Bundesverband Deutscher Startups ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht (https://www.social-startups.de/wohlfahrtsverbaende/). Darin ist vereinbart, dass sich diese Organisationen stärker austauschen und zusammenarbeiten wollen, um effektiver zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen beizutragen und innovative Lösungen zu entwickeln. Die Verbände fordern in ihrem Positionspapier, dass bei der staatlichen Förderung mehr Priorität und Mittel für gemeinsame Begegnungs- und Experimentierräume sowie für die Verbreitung von erfolgreichen innovativen Projekten bereitgestellt werden. Nötig sind Förderprogramme, die den speziellen Bedürfnissen sozialer Innovationen gerecht werden, damit diese entwickelt und realisiert werden und schließlich den Menschen und der Gesellschaft dienen können.
    • Des Weiteren startete im April die Hessische Landesstelle für Suchtfragen ihr vom Bundesgesundheitsministerium finanziertes bundesweites Modellprojekt „Digitale Lotsen in der Suchthilfe“.

    Angesichts der anstehenden Herausforderungen beim digitalen Wandel ist es unabdingbar, dass zum einen die Verbände eine koordinierende und strukturierende Funktion einnehmen und zum anderen die Politik Unterstützung bietet. Ein Vorhaben von einer solchen Dimension bedarf unbedingt vorheriger strategischer Überlegungen auf Trägerebene, aber auch auf der Ebene des Systems, damit die entwickelten Instrumente und das fachliche Vorgehen die Ziele erreichen, die vorher definiert wurden. Solche Ziele, die sowohl einer Verbesserung der Versorgung als auch der Weiterentwicklung des Suchthilfesystems dienen, könnten z. B. sein:

    • dem Fachkräftemangel begegnen: Technische Assistenzsysteme können vorhandene Mitarbeitende von Routineaufgaben entlasten.
    • den demographischen Wandel gestalten: Mit Teleangeboten kann Immobilität begegnet werden (auch in strukturschwachen ländlichen Regionen).
    • eine bessere Klientenzentrierung/-versorgung erreichen: Technische Assistenzsysteme ermöglichen eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme mit dem Hilfesystem und erschließen damit neue Zielgruppen.
    • die Attraktivität der Angebote für Klienten erhalten: Zielgruppengemäß offeriert entsprechen die Möglichkeiten technischer Assistenzsysteme dem geänderten Dienstleistungsanspruch der Klientel.
    • die Attraktivität des Arbeitsfeldes Suchthilfe erhalten bzw. steigern: Als möglicher Arbeitsplatz steht die Suchthilfe im Wettbewerb mit anderen psychosozialen Arbeitsfeldern. Technische Assistenzsysteme und deren arbeitnehmerfreundliche Ausgestaltung (Homeoffice-Konzepte u. Ä.) können dazu beitragen, den Bedürfnissen der neuen Generation von Fachkräften, die ihre Arbeitsverhältnisse möglichst flexibel gestalten und im Arbeitszeitumfang permanenten Spielraum haben möchte, entgegenzukommen.
    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    w.schmidt-rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

    Literatur:
  • Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?

    Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Digitalisierung ist eine Revolution. Sie wird nicht nur die Wirtschaft und die Produktion radikal verändern, sondern auch unsere Kommunikation. Bis auf die Beziehungsebene werden die Auswirkungen spürbar werden. In sehr kurzen Zeitabständen werden immer weitere Innovationen marktreif. Nicht zuletzt wird sich durch die Digitalisierung das Arbeitsleben verändern. Es wird Aufgabe der Politik sein, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Prozess die Gesellschaft nicht in Digitalisierungsgewinner und Digitalisierungsverlierer spaltet.

    Die Digitalisierung ist bereits dabei, zunehmend alle Lebensbereiche zu durchdringen und zu verändern. Bereits heute sehen wir, dass ganze Häuser in kürzester Zeit im 3D-Druck erstellt werden, dass selbstfahrende Autos in Aussicht gestellt sind. Auch im Gesundheitsbereich werden heute Methoden eingesetzt, die vor wenigen Jahren noch nach Science-Fiction geklungen haben. Virtual Reality-Brillen finden erfolgreich Anwendung in der Arbeit mit demenzkranken Menschen oder in der Schmerztherapie. Depressionen werden mit Online-Therapieangeboten behandelt, und das Smartphone hilft bei der Hautkrebsvorsorge. Bewerbungsgespräche werden immer mehr von Chat-Bots und von mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Roboterelementen flankiert.

    Die Dynamik dieser Entwicklungen ist atemberaubend, dabei stehen wir erst am Anfang. Gleichwohl ist die Digitalbranche schon größter Arbeitgeber in Deutschland. Von den fünf wertvollsten Konzernen der Welt sind Anfang 2018 fünf Digitalkonzerne.

    Was kann die Digitalisierung der Suchthilfe und ihren Klient/innen bieten?

    Ratsuchende informieren sich bereits heutzutage immer häufiger im Internet über Angebote, kommunizieren über soziale Netzwerke und suchen online nach seriösen Informationsmöglichkeiten und kompetenter Beratung. Zudem nutzen sie verstärkt mobile Kommunikationskanäle.

    Auch wenn der Bedarf an individueller und qualitativ hochwertiger Beratung von Mensch zu Mensch bleiben wird, wird dennoch die Nachfrage und Akzeptanz gegenüber digitalen Dienstleistungen ansteigen. Die Digitalisierung wird deshalb auch für psychosoziale Dienste das Thema in den nächsten Jahren sein.

    Wenn in der Suchthilfe oder Suchtprävention das Thema Digitalisierung im Mittelpunkt steht, geschieht dies bislang zumeist nur mit dem Fokus auf die Klient/innen. Entweder weil eine mögliche Suchtgefahr durch die exzessive Mediennutzung droht oder weil man die technischen Möglichkeiten als neue Kommunikationskanäle im Kontakt zu Klient/innen betrachtet. Vielfach unbeachtet bleibt, welche Änderungen des Arbeitsfeldes durch die veränderten Angebote entstehen, z. B. dass neue Qualifikationsanforderungen an die Mitarbeiterschaft gestellt werden. Aber auch die anstehenden Veränderungen von Arbeitsabläufen in der Verwaltung und dem Management von Einrichtungen durch diese Entwicklungen, bis hin zu der Frage, wie zukunftsfähig Suchtberatungsstellen, wie wir sie heute kennen, zukünftig noch sind, scheinen mir noch zu wenig im Blickfeld zu sein.

    In der Suchtprävention und Suchthilfe haben sich in den letzten Jahren durchaus Aktivitäten entwickelt, digitale Techniken für das Arbeitsfeld zu nutzen. Im Internet finden sich strukturierte Programme, Apps und Selbsthilfemanuale. Informationsportale für unterschiedliche Zielgruppen geben Menschen Orientierung, bieten anonym und kostenfrei Hilfe, 24 Stunden/7 Tage. In Hamburg wird das komplette Angebot einer Beratungsstelle online vorgehalten. Fortbildungen sparen als Webinare Zeit und Fahrtkosten und vergrößern die Teilhabe an Fortbildungen. Erklärvideos lassen sich schnell in mehreren Sprachvariationen erstellen und kommen einem geänderten Rezeptionsbedürfnis nach.

    Diesen digitalen Solitärangeboten der Suchthilfe steht im ambulanten Bereich eine Praxis gegenüber, in der potentielle Klientinnen und Klienten allerdings hinnehmen müssen,

    • dass viele Homepages von Suchtberatungsstellen kaum mehr als dürftige Informationen über das Angebot, die Mitarbeitenden und ihre Qualifikation bieten,
    • dass ihnen Anfragen per Email nicht angeboten werden,
    • dass zum Notieren der komplexen Öffnungszeiten einer Beratungsstelle laut Text auf dem Anrufbeantworter eine halbe DIN A4-Seite notwendig ist,
    • dass sie lange Anfahrtswege in Kauf nehmen sollen, um Informationen zu erhalten,
    • dass ihnen Gespräche nur zu Zeiten angeboten werden, zu denen sie vielfach arbeiten müssen.

    Solchen Gegebenheiten stehen Wünsche und Bedürfnisse seitens der Klient/innen oder Angehörigen gegenüber, die sich wie folgt skizzieren lassen: schnelle kostenlose Unterstützung, Hilfe soll dann zur Verfügung stehen, wenn es gewünscht wird (24 Stunden/7Tage). Die Inanspruchnahme soll einfach und komfortabel sein, ohne Wartezeiten und Anrufbeantworter …

    Ergänzt werden diese Anforderungen durch Wünsche seitens der (finanziellen) Auftraggeber der Einrichtungen: Die individuellen Problemlagen sollen schnell, effektiv, nachhaltig und kostengünstig verbessert werden, um persönliches Leid und gesellschaftliche Folgekosten zu minimieren bzw. potentielle Problemlagen erst gar nicht entstehen zu lassen.

    Können digitale Assistenzsysteme bei der Bewältigung dieser Anforderungen helfen?

    Es gibt mehrere Gründe, auf der Basis der Erfahrungen, die die Suchthilfe mit den vorhandenen Angeboten bereits gemacht hat, weitere digitale Assistenzsysteme zu entwickeln:

    1. Die aufgezeigten generellen Veränderungen in unserer Umwelt durch digitale Angebote und eine damit einhergehende geänderte Rezeption von Informationen und Unterstützungsleistungen verändern zunehmend auch die Erwartungshaltungen der Klient/innen in Bezug auf Suchthilfeangebote.
    2. Der demographische Wandel führt zu einer Zunahme immobiler Menschen nicht nur im ländlichen Raum. Zusätzlich sorgt die strukturelle Ausdünnung in ländlichen Gebieten auch für eine Reduzierung wohnortnaher Hilfestrukturen.
    3. Digitale Techniken bieten neue Möglichkeiten der Begleitung von Klient/innen. Erfahrungen mit digital gestützten Angeboten in der Nachsorge zeigen, dass diese dazu beitragen können, mit Menschen in kritischen Situationen in Kontakt zu bleiben und Rückfällen vorzubeugen. Der Einsatz digitaler Techniken bietet die Chance, den Anspruch der Suchthilfe, individuell auf Klient/innen einzugehen, weiter auszubauen.

    In Deutschland leben circa zehn Millionen Menschen, die Probleme mit Suchtmitteln haben. Davon erreicht die Suchthilfe mit ihren umfangreichen Angeboten jedoch nur einen einstelligen Prozentsatz. Es ist seit vielen Jahren der ausgesprochene Wunsch der Suchthilfe, mehr Menschen, und diese zu einem früheren Zeitpunkt, mit dem Suchthilfesystem in Kontakt zu bringen. Auch die Politik hat dieses Ziel mit mehreren entsprechenden Modellvorhaben und Forschungsarbeiten unterstützt, ohne dass sich jedoch in der Praxis große positive Veränderungen gezeigt hätten.

    Die Tatsache, dass Suchthilfeangebote nur einen Bruchteil der betroffenen Menschen erreichen, muss Anlass sein, darüber nachzudenken, wie mithilfe digitaler Angebote der Erreichungsgrad erweitert werden könnte. Möglichkeiten der unkomplizierten und niedrigschwelligen Zugänge zum Hilfesystem sind hier primär zu nennen. Diese digitalen Angebote sollten über eine Schnittstelle zur Kontaktaufnahme mit einer professionellen Hilfeeinrichtung verfügen. Der Kontakt kann je nach den Bedürfnissen der/des Betroffenen per E-Mail-Chat, telefonisch oder face-to-face erfolgen.

    Die Erfahrungen zeigen, dass Klient/innen nach wie vor Wert auf den persönlichen Kontakt zu ihrem Berater/ihrer Beraterin oder ihrem Therapeuten/ihrer Therapeutin legen. Allerdings liegen inzwischen bei verschiedenen Krankheitsbildern (z. B. Depressionen) Befunde vor, die auch bei einer ausschließlich online durchgeführten Therapie keine signifikanten Unterschiede bzgl. der Beziehungsqualität im Vergleich zu einer face-to-face-Therapie zeigen.

    Datenschutz

    Die aktuell große Dynamik bei der Entwicklung digitaler Angebote auch im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention erzeugt aufgrund des Anspruchs der Ressourcenschonung und des Verbraucherschutzes einen dringlichen Bedarf nach Systematisierung und Qualitätsbewertung der Angebote.

    Das Thema Datenschutz verdient gerade im sensiblen Bereich der Suchhilfe höchste Beachtung. Die gesetzlichen Vorgaben zur Datensparsamkeit und Datenvermeidung sind auch bei Angeboten der Suchthilfeträger unbedingt zu beachten. Elektronische Kommunikationswege sollten die aktuell sichersten Übertragungsstandards verwenden. Die Diskussion um den Datenschutz darf allerdings nicht dazu missbraucht werden, um Veränderung zu unterbinden.

    Fördermöglichkeiten

    Die Politik hat die enorme Bedeutung des digitalen Wandels erkannt und stellt Fördermöglichkeiten zur Verfügung, die auch für Suchthilfeträger von Interesse sein können. In Hessen hat z. B. das Sozialministerium zwölf Millionen Euro für innovative E-Health-Projekte in den Haushalt 2018/19 eingestellt.

    Während das Internet per se keine räumlichen Grenzen kennt, existieren diese allerdings in starkem Maße in den gesetzlichen Finanzierungsvorgaben bei Kommunen und Ländern. Diese Herausforderung bedarf eines kreativen Umgangs mit der Finanzierung von internetgestützten Angeboten, die auch von Menschen außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs in Anspruch genommen werden (können).

    Handlungsschritte

    Suchthilfeträger sollten jetzt die Zeit dafür nutzen, sich intensiv mit der Thematik zu beschäftigen, die Mitarbeiterschaft fortzubilden, zu prüfen, inwieweit digitale Assistenzangebote die aktuellen Hilfemöglichkeiten erweitern können, und diese dann mit Hilfe staatlichen Fördermöglichkeiten entwickeln.

    Als erster Schritt in diese Richtung wäre es notwendig, dass sich das Arbeitsfeld den aktuellen Entwicklungen stärker öffnet und verstehen lernt, was es eigentlich heißt, am Anfang einer „digitalen Revolution“ zu stehen, und welche Auswirkungen diese „disruptive Technologie“ für das eigene Arbeitsfeld hat. Hierbei könnten die Verbände eine koordinierende Funktion einnehmen und umgehend entsprechenden Fortbildungsangebote anbieten.

    In einem zusätzlichen Qualifizierungsprogramm könnten technikaffine und innovative Mitarbeiter/innen mit Unterstützung der verbandlichen Fortbildungsakademien und Landesstellen für Suchtfragen zu „Digitalen Lotsen“ ausgebildet werden. Die Teilnehmer/innen erhalten dabei einen Überblick über die Digitalisierung im psychosozialen und E-Health-Bereich. Weitere Themen wären z. B. die Klärung von Rechtsfragen und Datenschutzaspekten im Kontext der Digitalisierung. Auch die Kommunikation in internetbasierten Netzwerken wie Foren, Blogs und sozialen Medien sollte Teil der Qualifizierung sein.

    Ihr Wissen und ihre Erfahrungen geben die Digitalen Lotsen als Multiplikatoren zielgerichtet an Kollegen/innen weiter. Praktische Hilfe im Umgang mit den neuen Anwendungsfeldern digitaler Assistenzmöglichkeiten zählt ebenso zu ihren Aufgaben wie das Bestreben, die Motivation für den digitalen Wandel weiter zu stärken. Durch den regelmäßigen Fachaustausch auf Landes- und/oder Bundesebene bauen die Digitalen Lotsen die digitale Fitness der Suchthilfe zum Wohle der Klientinnen und Klienten weiter aus.

    Ausblick

    Die schon angesprochene Dynamik der technischen Entwicklung wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Die Rolle sprachgesteuerter Assistenzsysteme (Amazons Alexa oder Echo von Google) wird stärker, die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) wird ‚Maschinen‘ in die Lage versetzen, eigenständig zu kommunizieren. Der Fortschritt in den Bereichen Virtual Reality und Augmented Reality wird ganz neue Eisatzmöglichkeiten dieser Techniken erschließen.

    Die digitale Revolution ist keine Entwicklung, die man befürworten oder ablehnen kann, sondern ein kultureller Wandel, den es zu gestalten gilt. Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass nicht nur etablierte Firmen, sondern ganze Branchen durch die Digitalisierung von einem tiefgreifenden Wandel erfasst werden können. So wird die Taxibranche weltweit durch Unternehmen wie Uber in ihrer Existenz bedroht. Der traditionelle Einzelhandel wird durch Online-Anbieter immer mehr in die Defensive gedrängt und kann nur mit neuen, kundenorientierten Konzepten überleben.

    Die freie Wohlfahrtspflege hat derzeit praktisch ein Monopol in der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung. Dies resultiert – neben anderen historischen und gesetzlichen Gründen – auch daraus, dass mit diesen Arbeitsfeldern bislang kein Geld zu verdienen ist. Sollte Letzteres durch die Etablierung neuer, digitaler Geschäftsmodelle möglich werden, könnten Start-ups ganz schnell Angebote etablieren, die nicht unbedingt in der Tradition der Suchthilfeträger stehen (analog den zunehmend erfolgreicheren FinTechs in der Finanzwirtschaft) und zu einer völligen Neujustierung der Arbeitsfelder führen.

    Ich würde mir wünschen, dass die Suchthilfeträger einer solchen Entwicklung nicht passiv zusehen, sondern möchte sie ermuntern, die fachlichen Kompetenzen der Suchthilfe um digitale Kompetenzen zu erweitern und diese Angebote selbst zur Verfügung zu stellen.

    Den ersten Schritt haben Sie dazu heute mit dem Besuch dieser Veranstaltung gemacht. Dazu auch meinen herzlichen Glückwunsch an den buss. Es ist meines Wissens der erste bundesweite Suchtkongress, der das Thema so prominent aufgreift. Ein gutes und wichtiges – ein notwendiges Signal.

    Herzlichen Dank.

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er rund 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

    Kontakt:

    W.Schmidt-Rosengarten@t-online.de

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    Iris Otto
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) ist als Fachverband der bundesweite Zusammenschluss von rund 160 stationären Einrichtungen und Fachabteilungen mit knapp 7.500 Plätzen zur Behandlung und Betreuung suchtkranker Menschen. Zahlreiche Mitgliedseinrichtungen verfügen über spezielle Betreuungskonzepte für die Kinder von suchtkranken Rehabilitanden. Diese Konzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und wurden jeweils in Abstimmung mit dem federführenden Leistungsträger der Deutschen Rentenversicherung entwickelt. Auch die Höhe der Vergütung für diese zusätzliche Betreuungsleistung ist sehr unterschiedlich und folgt keiner einheitlichen Systematik. Dabei ist zu beachten, dass die Rehabilitationsträger bislang nur für die Behandlung der Eltern mit Suchtdiagnose zuständig sind und die Betreuung als so genannte Begleitkinder lediglich über einen Haushaltshilfesatz finanziert wird. Eine weitergehende Unterstützung liegt dann in der Zuständigkeit der Jugendhilfe.

    Einige aktuelle politische Entwicklungen lenken nun aber den Fokus verstärkt auf diese spezielle Zielgruppe: Zum einen sieht das Flexi-Rentengesetz vor, dass die Kinder- und Jugendrehabilitation nun eine Pflichtleistung für die Deutsche Rentenversicherung ist. Zum anderen hat die Bundesdrogenbeauftragte einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages mit initiiert, der eine deutliche Verbesserung der Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern fordert. Bemerkenswert ist daran, dass auch suchtkranke Eltern explizit genannt werden. Kinder aus suchtbelasteten Familien sind nicht selten psychisch stark belastet. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung für den Schutz der Kinder ergibt sich der dringende Handlungsbedarf auch aufgrund der volkswirtschaftlichen Folgekosten bei Vernachlässigung dieser Risikozielgruppe.

    Vor diesem Hintergrund entschied sich der buss, eine verbandsinterne Umfrage zur begleitenden Aufnahme von Kinder in der Suchtrehabilitation durchzuführen, um sich einen Überblick über die Betreuungsangebote, die finanzielle Situation und den Personalmehraufwand in den Einrichtungen zu verschaffen. Über die verbandseigene Webseite www.therapieplaetze.de konnten durch die erweiterte Suche „Eltern mit Kind“ insgesamt 37 Einrichtungen ermittelt und angeschrieben werden. 26 Einrichtungen füllten den Fragebogen aus, neun Einrichtungen nahmen in den Jahren 2015/2016 keine Begleitkinder auf, drei Einrichtungen gaben keine Rückmeldung.

    Betreuungsplätze und Fallzahlen

    Insgesamt stellen diese 26 Einrichtungen 212 Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung und hatten 676 Betreuungsfälle im Jahr 2015 sowie 665 Fälle im Jahr 2016. Die Altersverteilung der Begleitkinder ist heterogen, die meisten Kinder sind zwischen drei und fünf Jahre alt (43 Prozent). Jeweils etwa gut ein Viertel fällt auf die Gruppe der Kinder unter zwei Jahren und auf die Gruppe der 6- bis 11-Jährigen. In Ausnahmefällen nehmen einzelne Einrichtungen Kinder ab zwölf Jahren auf, also jenseits des Grundschulalters.

    Der überwiegende Teil der Einrichtungen hält bis zu zehn Betreuungsplätze vor. Das Minimum liegt bei drei, das Maximum bei 26 Plätzen (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1: Anzahl der Betreuungsplätze pro Einrichtung

    Betreuungsangebote

    Die Betreuung der Kinder während der Therapiezeiten erfolgt in den meisten Fällen in der Einrichtung oder bei Kooperationspartnern. Die Betreuungsangebote reichen von externer Unterstützung (z. B. Notmütterdienst) bis hin zur Heilpädagogischen Tagesstätte. In Abbildung 2 ist die Häufigkeitsverteilung der Angebote dargestellt (Mehrfachnennung möglich). Insgesamt 13 Einrichtungen bieten unterstützende Maßnahmen zur Betreuung in eigenen Kinder-Einrichtungen an.

    Abbildung 2: Betreuungsangebote in den Einrichtungen

    Einrichtungen, die keine eigene Kindertagesstätte oder einen Kindergarten vorhalten, haben Kooperationsvereinbarungen mit entsprechenden ortsansässigen Anbietern  (siehe Abbildung 3). Jedoch bestehen die meisten Kooperationsvereinbarungen mit Grundschulen (14 Nennungen).

    Abbildung 3: Kooperationsvereinbarungen mit externen Partnern

    Neben einer Grundversorgung der Kinder bestehen weitere Kooperationsvereinbarungen mit folgenden Institutionen:

    • Förder- oder Sonderschule, Schule für Behinderte
    • Frühförderstelle
    • Kinderarzt oder Kinderklinik
    • Ambulante Einrichtung für Kinder von Suchtkranken
    • Kommunaler Fachbereich Familienhilfe und Erziehungsberatung
    • Kreisjugendamt (örtlich zuständiges Landratsamt)
    • Ergotherapie oder Logopädie

    Suchtkranke Eltern sind in vielen Fällen überfordert mit der Erziehung der Kinder. Daher bieten 16 Einrichtungen neben der Betreuung der Kinder auch gemeinsame Unterstützungsangebote für Eltern und Kinder an. Insbesondere Spiel-, Sport- und Freizeitaktivitäten werden genannt. Therapeutische Gesprächsrunden und Interaktionstherapien mit Videoanalyse gehören außerdem zum Portfolio einzelner Einrichtungen. Eltern erhalten Unterstützung in Form von speziellen Gruppenangeboten (Müttergruppe, Indikative Gruppe für Eltern), Elternsprechstunden und Mütter-Kompetenztraining nach dem Programm des Kinderschutzbundes. Im Bedarfsfall finden Krisengespräche statt. Im Zusammenhang mit diesen Angeboten stellt sich für die Einrichtungen ein zusätzliches Problem: Nicht alle genannten Leistungen lassen sich angemessen in der KTL (Klassifikation Therapeutischer Leistungen) abbilden und somit entstehen Nachteile bei der Erfüllung der im Rahmen der Reha-Qualitätssicherung geforderten Standards (bspw. Reha-Therapiestandards).

    Kinder von suchtkranken Eltern benötigen in erheblichem Umfang psychische, soziale, pädagogische und z. T. medizinische Unterstützung. Elf Einrichtungen geben in diesem Zusammenhang an, spezielle Förderprogramme für Kinder vorzuhalten. Je nach Entwicklungsstand des Kindes steht die emotionale, motorische, sprachliche, kognitive und soziale Förderung im Vordergrund. Dazu werden Angebote wie Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie und Frühförderprogramme angesetzt. Entspannungsverfahren, Suchtprävention und angeleitete aktive Freizeitgestaltung gehören ebenso dazu. Drei Einrichtungen verfügen über eine eigene heilpädagogische Tagesstätte. In fünf Einrichtungen werden die Kinder unter Einbeziehung von externen Kooperationspartner betreut.

    Personalausstattung

    Die o. g. besonderen Leistungen können nur mit Hilfe von zusätzlichem Personal bewältigt werden. In den Einrichtungen werden Erzieher/innen (16 Nennungen), Sozialpädagog/innen, Heilpädagog/innen und Therapeut/innen (elf Nennungen), Psycholog/innen bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeut/innen (vier Nennungen) und Kinderkrankenschwestern (vier Nennungen) eingesetzt. Neben Absolvent/innen des FSJ (drei Nennungen) werden auch Sport-/ Ergotherapeut/innen, Sozialassistenz und Tagesmütter genannt. Ein Teil der Einrichtungen holt sich bei Bedarf fachliche Unterstützung auf Honorarbasis.

    Diese vielfältigen und umfassenden Betreuungskonzepte werden mit vergleichsweise geringem Personaleinsatz realisiert. Im Schnitt stehen 0,2 bis 0,3 Vollkräfte pro Betreuungsplatz zur Verfügung (siehe Abbildung 4), dies entspricht etwa zehn Wochenstunden pro Betreuungsplatz. Dieser Umfang ist letztlich der unzureichenden Vergütung geschuldet.

    Abbildung 4: Personalausstattung pro Betreuungsplatz

    Finanzierung

    Für die Aufnahme von Kindern im Rahmen der Suchtrehabilitation der Eltern sehen die Rehabilitationsträger (DRV und GKV) einen tagesgleichen Haushaltshilfesatz vor, der nur die Unterbringung, Verpflegung und Aufsicht abdecken soll, weitere Leistungen werden nicht berücksichtigt. Die Obergrenze für diesen Haushaltshilfesatz liegt derzeit bei 74 Euro und wird jährlich angepasst. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen eine große Spannbreite der Vergütungssätze für begleitende Kinder. 14 Einrichtungen weisen Kostensätze bis 60 Euro aus, sieben Einrichtungen erhalten eine Vergütung in Höhe von 61 bis 70 Euro, und sechs Einrichtungen liegen über 70 Euro (siehe Abbildung 5).

    Abbildung 5: Kostensätze für die Kinderbetreuung (gruppiert)

    Der geringste Kostensatz bei den befragten Einrichtungen lag bei 38,50 Euro. Die betroffene Einrichtung hat den Betrieb des hauseigenen Kindergartens inzwischen wegen der massiven Unterfinanzierung eingestellt. Bei den angegebenen Kostensätzen von über 74 Euro (Obergrenze Haushaltshilfesatz DRV) werden die Differenzbeträge vom Jugendamt übernommen. Hier handelt es sich um einige wenige Einrichtungen mit Behandlungsverträgen in der Jugendhilfe gem. § 78 ff., § 27 i.V. mit § 34, § 35 i.V. mit § 34 SGB VIII. Im Bereich der GKV zahlt die AOK in vier Fällen einen Pflegesatz von 42 Euro, obwohl mit den übrigen Rehabilitationsträgern Tagessätze von 62 bis 74 Euro vereinbart sind.

    Ausblick

    Die Behandlung der suchtkranken Eltern steht im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zwar im Vordergrund, aber mindestens die intensive Betreuung der Kinder, wenn nicht sogar die spezifische Behandlung, ist unumgänglich. Eine frühzeitige Intervention stärkt die Kinder in ihrer psychischen und physischen Entwicklung und kann die Ausbildung von psychischen Problemen bis hin zu eigenen Suchterkrankungen verhindern. Die Umfrage zeigt, dass in den Einrichtungen mit viel Engagement versucht wird, den Kindern und ihren Familien zu helfen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Betreuungskonzepte teilweise weit über den finanzierten Rahmen hinausgehen. Die Suchtrehabilitationseinrichtungen leisten einen enorm wichtigen Beitrag zur Förderung der Teilhabe von Familien, die von Suchterkrankungen betroffen sind, und es ist sehr bedauerlich, dass es dafür bislang keinen einheitlichen leistungsrechtlichen Rahmen gibt.

    Bei einem Treffen der entsprechenden Mitgliedseinrichtungen des buss im Sommer 2017 wurde der Vorschlag formuliert, eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage für die Betreuung von Kindern suchtkranker Eltern im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zu schaffen und in diesem Zusammenhang auch eine einheitliche Vergütung von Seiten der Rehabilitationsträger zu fordern. Insbesondere folgende Elemente sollten Teil der gemeinsamen konzeptionellen Grundlage sein:

    • Kindgerechte Unterbringung (Zimmer der Rehabilitand/innen mit Kinderschlafraum, Spielmöglichkeit, Speise- und Aufenthaltsräume, Sicherheit etc.)
    • Kindgerechtes Notfallmanagement (Notfallversorgung, Kinder-Reanimationsmaske etc.)
    • Angebote zur gemeinsamen Freizeitbeschäftigung für Eltern und Kinder
    • Vermittlung von Kompetenzen zur Haushaltsführung und zur Grundversorgung eines Kindes
    • Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und Förderung der Eltern-Kind-Bindung
    • Feststellung des Förderbedarfs für das Kind und bei Bedarf Einleitung entsprechender Hilfe bzw. Erarbeitung von Nachsorgeempfehlung
    • Bei Bedarf fallbezogene Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt
    • Bei Bedarf Organisation der Vorstellung bei einem Kinderarzt

    Ziel muss es sein, dass für Einrichtungen, die diese Mindeststandards erfüllen, der Höchstsatz für die Haushaltshilfe voll ausgeschöpft wird. Über diese ‚Basisbetreuung‘ hinausgehende Angebote müssen zusätzlich vergütet werden. Eine Möglichkeit wäre in diesem Zusammenhang die Erhöhung des tagesgleichen Vergütungssatzes der Eltern, weil von den Einrichtungen zusätzliche therapeutische Leistungen auch für die Eltern erbracht werden. Notwendig wäre auch eine längere Dauer der Reha, um der Eingewöhnungsphase und den häufigen Erkrankungen der Kinder Rechnung zu tragen. Ganz besondere Anforderungen entstehen zudem für Einrichtungen, die schwangere Patientinnen aufnehmen und diese häufig auch bis zur Geburt und darüber hinaus begleiten. Eine weitere Möglichkeit ist die ‚Co-Finanzierung‘ der Leistungen für die Kinder durch die Jugendhilfe, was in einigen wenigen Fällen schon realisiert wird. Allerdings sind hier nicht unerhebliche Hürden zwischen zwei Versorgungssegmenten (medizinische Rehabilitation und Jugendhilfe) zu überwinden, und das ist von einzelnen Einrichtungen alleine nur mit großer Mühe zu bewältigen.

    Es ist dringend geboten, die Einrichtungen mit Angeboten für begleitend aufgenommene Kinder deutlicher als bisher durch die Leistungsträger zu unterstützen und dabei den gegebenen rechtlichen Rahmen auszuschöpfen sowie nach weiteren Finanzierungsmodellen zu suchen. Damit kann ein entscheidender Beitrag dazu geleistet werden, Kinder suchtkranker Eltern davor zu bewahren, selbst suchtkrank zu werden oder an anderen seelischen oder körperlichen Folgen ein Leben lang zu leiden. Einrichtungen, die Kinder begleitend zur Suchtreha der Eltern aufnehmen und entsprechende Angebote vorhalten, unterstützen die Kinder wesentlich darin, potentielle Einschränkungen in ihrer späteren gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung zu überwinden.

    Der Artikel ist in der Zeitschrift Sozial Extra erschienen:
    Koch, A., Otto, I., „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation, in: Sozial Extra 1/2018, 42, 40-43, DOI 10.1007/s12054-018-0004-8, http://link.springer.com/article/10.1007/s12054-018-0004-8

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im ersten Teil des Artikels (vom 11. Juli 2017) wurden die Schwachstellen des Versorgungssystems im Hinblick auf die Reintegration in Arbeit von abhängigkeitskranken Langzeitarbeitslosen als Hintergrund für die Entstehung des Projektes Su+Ber beschrieben. Im zweiten Teil wird nun das Projekt selbst vorgestellt. Im Rahmen des Projekts Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) haben Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitserkrankung in Baden-Württemberg seit Anfang 2016 die Möglichkeit, sich im Rahmen einer Arbeitsfördermaßnahme ohne Abstinenzverpflichtung mit dem eigenen Suchtverhalten auseinanderzusetzen, soweit dieses eine berufliche Reintegration und eine soziale Teilhabe konkret beeinträchtigt oder gefährdet. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF).

    Zentrale Entwicklungsziele des ESF-Projekts Su+Ber

    Karl Lesehr

    Anstelle eines weiteren Abmühens an bestehenden sozialleistungsrechtlichen Abgrenzungen und an Schnittstellen, die den institutionellen Eigenlogiken entsprechen, wird in Su+Ber eine neuartige und konsequent nutzerorientierte Vernetzung von Jobcenter, Arbeitshilfeträger und Suchtberatung entwickelt. Dabei ist die Beratungsstelle als anerkannter Leistungserbringer der ambulanten Suchtrehabilitation an einer zeitlichen, örtlichen, personellen und fachlichen Vernetzung zweier teilhabeorientierter Sozialleistungen (Suchtreha und Arbeitsförderung) im Lebensalltag der langzeitarbeitslosen Menschen beteiligt. Durch diese Leistungsvernetzung wird für die Projektteilnehmer eine auch über den Zeitpunkt einer Arbeitsaufnahme hinausreichende Betreuungskontinuität ermöglicht. Durch projektspezifische Instrumente und durch standardisierte Bausteine der Zusammenarbeit soll erreicht werden, dass die beiden Leistungsträger jeweils ihre volle Leistungsverantwortung beibehalten, sich aber auch wie die beiden Leistungserbringer als Partner einer gemeinsamen Entwicklungsförderung verstehen und sich ungeachtet aller eigenen abgegrenzten Leistungszuständigkeiten auf eine gemeinsame Suche nach der im Einzelfall wirksamsten Förderungsoption einlassen.

    Kooperation kann nur dann funktionieren, wenn für alle Beteiligten auch Erfolge erkennbar werden: Das Projekt Su+Ber konzentriert sich deshalb ganz bewusst auf Langzeitarbeitslose, für die schon nach einer relativ kurzen und durch suchtrehabilitative Leistungen gestützten Arbeitsfördermaßnahme eine realistische Chance auf die Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz vermutet und dann realisiert werden kann. Als mögliche Zielgruppen wurden daher definiert:

    • Langzeitarbeitslose, die hinreichend stabil substituiert und an einer vollwertigen beruflichen Reintegration nachweislich interessiert sind,
    • Langzeitarbeitslose, die aufgrund gescheiterter Rehaerfahrungen oder auch persönlicher Entscheidung aktuell nicht zu einer abstinenzgebundenen Suchtrehamaßnahme fähig oder bereit sind (v. a. Alkohol), bei denen aber begründete Aussicht besteht, dass sie mit einem strukturierten Suchtmittelkonsum hinreichend arbeitsfähig und in der Lage sind, ihren Lebensalltag nachhaltig ohne suchtbedingte Krisen in den Griff zu bekommen,
    • langzeitarbeitslose Rehabilitanden aus einer (teil)stationären Suchtrehamaßnahme, die sich bereits für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben und für die eine Rückkehr in die vertraute soziale Umgebung wünschenswert ist, die aber nach ihrer regulären Entlassung noch nahtlos eine gezielte alltagsnahe Weiterbehandlung und Förderung für eine wirksame berufliche Reintegration brauchen,
    • langzeitarbeitslose Teilnehmer aus ambulanter Suchtreha, die sich zwar für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben, die aber im Rehaverlauf wiederholt Probleme bei der Aufrechterhaltung einer umfassenden Abstinenz hatten und die aktuell auch nicht für eine stationäre Suchtrehamaßnahme gewonnen werden können; diese Teilnehmer können dann in die arbeitsorientierte ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber übernommen werden, wenn trotz der Suchtmittelrückfälle während der ambulanten Reha eine erfolgreiche Weiterführung der Suchtrehabilitation im Rahmen des Projekts Su+Ber zu vermuten ist.

    Das Projekt Su+Ber geht davon aus, dass sich für eine derartige konkrete Arbeitsplatzperspektive vor allem Klienten gewinnen lassen, die bereits seit langem wiederholt oder kontinuierlich Betreuungsleistungen der Beratungsstelle nutzen oder die durch abstinenzgebundene Suchtrehamaßnahmen nicht wirksam im Erwerbsalltag stabilisiert werden konnten. Entscheidende Voraussetzung für das Projekt Su+Ber ist deshalb ein Konzept suchtrehabilitativer Leistungen, das sich konsequent an einer konstruktiven Bewältigung von Arbeitsrealität orientiert und bei dem eine Suchtmittelabstinenz nur eine mögliche (und oft auch wünschenswerte) Option im Umgang mit Suchtmitteln darstellt. Ziel der suchtrehabilitativen Arbeit im Projekt Su+Ber ist demnach die Entwicklung einer beschäftigungssichernden eigenen Problemwahrnehmung und Risikokompetenz, also einer der aktuellen Lebenslage entsprechenden Selbststeuerungskompetenz und -bereitschaft.

    Konzeptionelle Umsetzung des ESF-Projekts Su+Ber

    Für diese Projektideen konnte im Förderaufruf NaWiSu im Herbst 2015 die Unterstützung der Landespolitik, aber auch der Regionaldirektion für Arbeit und der DRV Baden-Württemberg gewonnen werden. Mit sechs Standorten konnte das Projekt Su+Ber zum Jahresbeginn 2016 starten. Beteiligt sind sechs Jobcenter (davon drei von Optionskommunen), sechs federführende Suchtberatungsstellen (die sich im Vorfeld mit anderen Suchtberatungsstellen im regionalen Einzugsgebiet auf eine gemeinsame Nutzung dieses Projekts verständigt hatten) und sechs an diesem Projekt interessierte Arbeitshilfeträger. Projektträger ist die Werkstatt Parität Stuttgart. Die zunächst aus haushaltstechnischen Gründen auf zwei Jahre begrenzte Projektlaufzeit wird nach aktuellem Stand wohl bis Ende 2018 auf dann drei Jahre verlängert werden, um so auch sinnvolle erste Entwicklungsdaten gewinnen zu können.

    Im Projekt werden aus Landesmitteln nur die Suchtberatungsstellen (Aufwand für 0,8 Vollzeitkräfte) und der Projektträger gefördert; für die Arbeitsfördermaßnahmen wurden im Projektaufruf vergleichsweise günstige Personalschlüssel definiert, die eine intensive Kooperation ermöglichen sollen und von den beteiligten Jobcentern voll finanziert werden. Die DRV Baden-Württemberg fördert die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch das Institut für Therapieforschung München (IFT). Die Entwicklung der notwendigen Rahmenkonzeption für eine projektspezifische ambulante Suchtreha sowie die Einbindung der projektbezogenen Evaluation in die Systematik der Deutschen Suchthilfestatistik wurden ergänzend einmalig vom Suchtreferat des Sozialministeriums gefördert.

    Das Projekt sieht für die Teilnehmer drei Projektphasen vor:

    • In der Phase A (Clearing) bemühen sich die beteiligten Einrichtungen um die Gewinnung und Motivierung von Projektteilnehmern (Grobclearing, Erarbeitung einer persönlichen Entwicklungsperspektive). Dies erfolgt zunächst in den jeweils eigenen Handlungsfeldern und mündet im gemeinsamen prognostischen Verfahren eines Grobclearings, bei dem alle mit dem potentiellen Projektteilnehmer persönlich befassten Kontaktpersonen eine Einschätzung abgeben sollen (also Jobcenter, Beratungsstelle, Arbeitshilfeträger, Substitutionsarzt, Bewährungshelfer o. ä.). Das Grobclearing dient der für jede Sozialleistung erforderlichen prognostischen Einschätzung der aktuell nutzbaren Fähigkeiten und Ressourcen. Es muss zwingend ergänzt werden um eine Klärung der persönlichen Entwicklungsperspektiven und der Teilhabebereitschaft. Die Ergebnisse dieses umfassenden Grobclearings bilden die Grundlage einer gemeinsam abgestimmten Behandlungs- und Maßnahmenempfehlung gegenüber der DRV Baden-Württemberg bzw. dem Jobcenter. Um schon in dieser Phase der Teilnehmergewinnung die Erfahrungen an einem konkreten Arbeitsplatz motivationsklärend nutzen zu können, wurde im Projektverlauf die Möglichkeit geschaffen, dass potentielle Projektteilnehmer quasi auf Probe dem Arbeitshilfeträger für eine Arbeitsfördermaßnahme zugewiesen werden und dass dann in diesem Setting alle weiteren Clearingaktivitäten erfolgen.
    • Die Phase B (Training, Entwicklung) besteht aus der Integration einer sechs- bis achtmonatigen Maßnahme der Arbeitsförderung und einer Maßnahme der projektspezifischen ambulanten Suchtreha. Die Teilnahme ist nur möglich, wenn die Teilnehmer sich freiwillig für diese Leistungsvernetzung entscheiden und mit dem Projektkonzept einverstanden sind. Im Projekt Su+Ber wird zudem eine personelle Verflechtung zwischen der Suchtberatung und dem Sozialdienst des Arbeitshilfeträgers angeregt, die Arbeitsfördermaßnahme sollte regelmäßig auch vor Ort suchtkompetent begleitet und beobachtet werden (sechs bis acht Wochenstunden). Die Leistungen der ambulanten Suchtreha sollen dabei bestmöglich in die Arbeitsplatzstruktur und in den Lebensalltag der Teilnehmer eingebunden sein und hier v. a. einen konfrontierend-stützenden Charakter haben: Ziel ist es, die Kompetenz der Teilnehmer, ihre arbeitsplatzrelevanten Risiken und Schwächen zu erkennen, zu fördern und die Teilnehmer dann gezielt bei konstruktiven Verhaltensmustern zu unterstützen.Nach den ersten acht Wochen in Phase B wird das Grobclearing wiederholt; dabei sollen sowohl das aktuelle Reintegrationsziel als auch der dafür gewählte Weg über das Projekt Su+Ber überprüft und bei Bedarf zusammen mit dem Teilnehmer Entscheidungen zur Veränderung der individuellen Entwicklungsplanung getroffen werden. Bis zum Ende der sechs- bis achtmonatigen Arbeitsfördermaßnahme soll eine Vermittlung an einen sozialversicherungspflichtigen eigenen Arbeitsplatz intensiv versucht und über Betriebspraktika unterstützt werden.Bei einer vorzeitigen Beendigung der Projektteilnahme nach dem zweiten Grobclearing oder auch bei einer Beendigung ohne erfolgreiche Vermittlung an einen eigenen Arbeitsplatz findet eine abschließende Auswertung statt, in der der Teilnehmer von allen Beteiligten eine differenzierte Bewertung der mit ihm gemachten Erfahrungen erhält. Gemeinsam wird dann nach anderen, möglicherweise wirksameren, Fördermöglichkeiten und Behandlungsformen oder nach anderen aktuell vorrangigen Interventionsformen gesucht; entsprechende Maßnahmen werden möglichst unmittelbar im Kontext der Leistungsvernetzung eingeleitet. Grundhaltung bei all diesen Bemühungen ist, dass eine Maßnahme zwar vielleicht nicht zum gewünschten Ergebnis geführt und der Teilnehmer möglicherweise bislang unbekannte Entwicklungsbedarfe entdeckt hat, dass aber eine vorzeitige Beendigung oder eine Beendigung ohne Arbeitsplatzvermittlung nicht automatisch schon als Versagen oder Scheitern des Teilnehmers wahrgenommen wird.
    • In der Phase C (nachhaltige Stabilisierung der Arbeitsreintegration) hat der Teilnehmer im Regelfall einen eigenen Arbeitsplatz und kann dann für weitere zwölf Monate eine intensive suchtrehabilitative Begleitung und Stabilisierung seiner alltäglichen Arbeits- und Lebenssituation nutzen, auch direkt am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld. In diese Weiterbetreuung können im Interesse von Beziehungskontinuitäten auch Fachkräfte des Arbeitshilfeträgers integriert werden.

    Erfahrungen und Ergebnisse aus dem ersten Projektjahr 2016

    An allen Projektstandorten wurden zwischen den beteiligten Akteuren verbindliche und regelmäßige (teilweise monatlich) fallbezogene Arbeitsformen aufgebaut, die von den Beteiligten durchweg als lohnend und hilfreich erlebt werden: In der fallbezogenen Vernetzung geht es nicht mehr nur um Informationsaustausch, sondern zunehmend darum, wie nächste Schritte für einen konkreten Menschen gemeinsam wirksam gestaltet werden können. Vor allem die für das Projekt an mehreren Standorten definierten ‚Scharnierverantwortlichen‘ in den Jobcentern werten diese Netzwerkstrukturen als sehr hilfreich und trotz hoher Sitzungsdichte erstaunlich effizient. Während sich die beteiligten Jobcenter meist relativ leicht über die Beauftragung solcher institutioneller Bezugspersonen für das Projekt Su+Ber verständigen konnten, erwies sich eine vergleichbare Verankerung in den beteiligten Suchtberatungsstellen und v. a. auch in kooperierenden anderen Suchtberatungsstellen teilweise als strukturell mühsam und sogar konflikthaft.

    An einzelnen Standorten gab es durch das Projekt Su+Ber erstmals mehr als nur punktuelle Gesprächskontakte zwischen Suchtberatung und Arbeitshilfeträgern. Das Eintauchen in die Denkvorstellungen und in die Handlungswirklichkeiten der jeweils anderen Seite bedeutet natürlich auch Verunsicherung, wird aber vielerorts als Neuland erlebt, in dem auch bislang unbekannte Entwicklungsmöglichkeiten für die eigenen Klienten/Kunden gestaltet werden können. Allein schon die eigenen Suchtklienten außerhalb des Beratungszimmers in einer vergleichsweise normalen Alltagssituation mit all ihren Implikationen erleben zu können, kann Horizonte öffnen.

    Mit dem relativ einfachen Instrument des Grobclearings wurde eine effiziente Form gefunden, in der sich die verschiedensten Akteure trotz aller fachlichen und menschlichen Unterschiede in eine gemeinsame Entwicklungsplanung einbringen und gleichzeitig von den Einschätzungen anderer profitieren können. Nicht zuletzt ist die gemeinsame Bearbeitung dieses Grobclearings für die Teilnehmer selbst eine sehr differenzierte und letztlich stärkende Beziehungserfahrung – sie können im Idealfall ein entwicklungsorientiertes persönliches Beziehungsnetz erleben.

    Gleichzeitig wird über das Projekt Su+Ber auch deutlich, wie ‚behandlungsfixiert‘ in den beteiligten Suchtberatungsstellen teilweise noch gearbeitet wird. Aus den ersten Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung ging hervor, wie wenig die Frage einer konkreten Reintegration in Arbeit beispielsweise bei der Rehagesamtplanung und Rehavermittlung bislang schon berücksichtigt wird oder auch wie selten solche Rehaplanungen nicht nur das Ergebnis eines individualisierten Beratungsprozesses sind, sondern auch die differenzierte Expertise eines ganzen Teams einbeziehen.

    Ähnliches gilt für die Fachkräfte der Arbeitshilfeträger, die ja auch in vielen sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen mit Menschen mit Abhängigkeitsstörungen konfrontiert sind und deshalb notgedrungen oft sehr pragmatisch-kurzfristige Problemlösungen im Umgang mit diesen Menschen entwickelt haben. Jetzt in der Auseinandersetzung mit suchtkompetenten Kollegen zu entdecken, dass deren zentrales Handwerkszeug eine reflektierte und methodisch geschulte Beziehungsarbeit ist, hilft diesen Fachkräften, einen umfassenderen Blick auf die Lebenslage und damit auf die Entwicklungsoptionen und Förderungsbedarfe des einzelnen Teilnehmers zu finden.

    Zu Projektbeginn hat sich die Projektgruppe intensiv mit dem Institut für Therapieforschung München (IFT) über Möglichkeiten und Details einer wissenschaftlichen Evaluation verständigt. Ziel war es, für alle standardisierten Evaluationsdaten die EDV-gestützte Datenerhebung für die Deutsche Suchthilfestatistik zu nutzen und deshalb alle weiteren für das Projekt notwendigen teilnehmerbezogenen Daten auch darüber zu erheben. Nachdem der Verfasser dieses Artikels als Mitglied des Fachausschusses Statistik der DHS damals unmittelbar in die Überarbeitung des Kerndatensatzes Sucht eingebunden war und zudem in Baden-Württemberg vom Sozialministerium mit der Erweiterung des KDS 3.0 um einen landesspezifischen Datensatz und dessen Implementierung in die Dokusoftware beauftragt war, waren hier zahlreiche Synergieeffekte möglich.

    Im bisherigen Projektverlauf mussten die Initiatoren lernen, dass zahlreiche Klienten (v. a. Substituierte), die nach Einschätzung der betreuenden Beratungsstelle durchaus für eine Projektteilnahme geeignet und daran auch interessiert wären, viel stärker in ihrem aktuellen (eben auch arbeitslosen) Lebensstil verankert sind, als sie sich bislang wohl selbst eingestanden hätten. Es wird verstärkt deutlich, dass vielerorts das Behandlungskonzept der Drogensubstitution immer weniger mit der Perspektive einer Verbesserung beruflicher Teilhabe verbunden ist: Für viele Mitarbeiter in der Suchthilfe und angrenzenden Gebieten impliziert das Bemühen um die Aufnahme einer Arbeit den Ausstieg aus der Substitutionsbehandlung (was auch die Premos-Studie – aber als eher problematisch – skizziert, vgl. Wittchen et al., 2011). Gleichzeitig wurde deutlich, dass für eine wirksame Motivierung für eine berufliche Reintegration eben nicht nur der einzelne Patient/Klient, sondern eben auch verstärkt die subjektiven Realitäten des familiären und sozialen Umfelds einbezogen werden müssen.

    Für den Verfasser als fachlichen Begleiter des Projekts Su+Ber war und ist die schönste Erfahrung, dass immer wieder Projektmitarbeiter in der Suchtberatung begeistert entdecken, welche Gestaltungsfreiräume sich für sie in ihrer Arbeit mit dem Projekt auftun. Natürlich ist dieses Projekt mit einem erheblichen Mehraufwand an Arbeit verbunden, und natürlich stellen sich in einem solchen Vernetzungsprojekt zahlreiche Fachfragen und auch datenschutzrechtliche Unsicherheiten. Gemeinsam wurden aber bislang für alle diese Fragen konstruktive und alltagstaugliche Lösungen gefunden. Dennoch muss allen Beteiligten klar bleiben, dass niemand für alle Situationen und alle individuellen Bedarfe von Hilfe Suchenden eine passende Problemlösung bereitstellen kann – schon gar nicht im Rahmen eines Modellprojekts, das die Ergebnisse ganz spezifischer Lösungswege sauber evaluieren will.

    Konzeption für eine ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber

    Zentrales Arbeitsergebnis aus dem ersten Projektjahr ist die intensive Erarbeitung einer Rehakonzeption für das Su+Ber-Projekt, die zum Jahresende 2016 auch von der DRV Baden-Württemberg anerkannt wurde. Mit dieser Konzeption gewährt die DRV Baden-Württemberg für das Projekt Su+Ber zahlreiche Entwicklungsfreiräume. Dafür ist die Projektgruppe dankbar und sie ist stolz zugleich, denn es war auch in der Projektgruppe Mut notwendig, um in diesem Maß über bewährte Formen hinaus zu denken und dennoch die gewohnte Leistungsqualität ambulanter Suchtreha nicht aus dem Blick zu verlieren. Viele dieser Entwicklungsfreiräume gilt es nun im weiteren Projektverlauf teilnehmerorientiert und kreativ zu nutzen und zu gestalten – immer mit Blick auf eine wirksame und nachhaltige Reintegration in Arbeit und die darauf orientierte Evaluation der Projektarbeit. Im Folgenden werden wesentliche Innovationen dieser Rehakonzeption dargestellt:

    • Für die ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber wurden die möglichen Zielgruppen (Indikationskriterien) erweitert, es besteht keine Abstinenzvoraussetzung und auch keine zwingende Abstinenzperspektive – zentrales suchtrehabilitatives Kriterium ist vielmehr eine stabile berufliche Reintegration bei dafür notwendiger Reduktion bzw. Auflösung suchtassoziierter Risiken.
    • Die DRV Baden-Württemberg ist bereit, die Ergebnisse des leistungsträgerübergreifenden und interdisziplinären Grobclearings als wesentlichen Baustein der für eine Leistungszusage notwendigen Erfolgsprognose zu nutzen. Analog dazu werden auch projektbezogene Entscheidungen zur vorzeitigen Beendigung einer Projektteilnahme von der DRV für die bewilligte Suchtrehamaßnahme übernommen (im Regelfall endet mit der Projektteilnahme also auch die ambulante Suchtreha, sofern nicht gemeinsam mit dem Rehabilitanden die Weiterführung in einer anderen Suchtrehaform vereinbart wurde).
    • Im Projekt Su+Ber sollen geeignete Verfahren zur Erarbeitung teilhaberelevanter persönlicher Entwicklungsziele und -bereitschaften entwickelt werden, auf deren Grundlage die Nutzung unterschiedlicher Rehaformen wirksamer gesteuert werden könnte.
    • Für die auf eine unmittelbare Arbeitsintegration orientierte ambulante Suchtreha wurden vorläufig sieben suchtrehabilitative Entwicklungsdimensionen formuliert, die für die Fachkräfte sowie für den einzelnen Teilnehmer eine verständliche Grundlage für die jeweiligen in einer Rehagesamtplanung zu vereinbarenden suchtrehabilitativen Leistungen sein sollen. Die Verfasser der Konzeption erhoffen sich von einer konsequenten Zuordnung aller suchtrehabilitativen Leistungen zu diesen sieben Dimensionen, dass darüber auch eine qualitative Professionalisierung der entsprechenden suchtrehabilitativen Kompetenzen der Fachkräfte in der Suchtberatung/ambulanten Suchtrehabilitation erleichtert werden kann.
    • Die ersten Erfahrungen mit den Projektteilnehmern haben rasch gezeigt, dass die vertrauten Arbeitsformen ambulanter Suchtreha bei ihnen auf wenig Gegenliebe und teilweise sogar auf offene Ablehnung stoßen. Manche Teilnehmer wären z. B. mit den üblichen Gruppensitzungen weitgehend überfordert. Sehr positiv ist deshalb, dass sich die DRV Baden-Württemberg darauf eingelassen hat, für die Arbeit im Projekt Su+Ber statt der sonst verbindlichen Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) projektspezifische Leistungskategorisierungen zuzulassen und zu erproben. Der von der Projektgruppe entwickelte Katalog suchtrehabilitativer Leistungen im Projekt Su+Ber gliedert sich auf der ersten Ebene in sieben Inhaltsdimensionen und ordnet diesen dann auf einer zweiten Ebene Leistungsarten zu (jeweils etwa zehn Maßnahmen mit dem einzelnen Teilnehmer bzw. mit einer Gruppe oder im sonstigen sozialen Kontext). Diesen damit inhaltlich und formal definierten Maßnahmen werden dann Zeiteinheiten in 10-Minuten-Schritten zugeordnet. Mit dieser Variabilität von Zeit und der Unabhängigkeit der Leistungsarten von Therapieschulen sollen auch kleinteilige Interventionsformen ermöglicht werden, die im Setting der Arbeitsfördermaßnahme oder im Alltag von den Teilnehmern gut umgesetzt werden können. Für eine Leistungsabrechnung werden solche kleinteiligen Zeiteinheiten dann zu den für die ambulante Suchtreha geltenden Abrechnungseinheiten zusammengefasst.
    • Während sich in den letzten Jahren v. a. in der stationären Suchtrehabilitation das Spektrum arbeitsbezogener Suchtrehaleistungen deutlich ausdifferenziert hat, geht das Projekt Su+Ber bei seiner Leistungsvernetzung davon aus, dass alle unmittelbar auf die Arbeitsintegration bezogenen Förderleistungen in der vorrangigen Leistungszuständigkeit des SGB II bleiben. Für Leistungen wie z. B. das Bewerbungstraining wird die Suchtreha deshalb im Regelfall nur supportiv einbezogen, um dabei die spezifischen Probleme und Risiken, die aufgrund einer Abhängigkeitsstörung bestehen, zu thematisieren.
    • Für das Projekt Su+Ber besteht von Seiten der DRV Baden-Württemberg sowohl die Bereitschaft zu den im Projektverlauf notwendig kurzfristigen Leistungsentscheidungen als auch zu einer Langfristigkeit für die im Projektverlauf konzipierte Gesamtbetreuungszeit (inklusive einer gegebenenfalls für die Absicherung der vollen Projektlaufzeit noch erforderlichen Suchtrehanachsorge). Gleichzeitig besteht die Bereitschaft, einen Übergang in das Projekt Su+Ber aus anderen (abstinenzorientierten) Rehaformen bei fachlicher Begründung und einer Mitwirkungsbereitschaft des Rehabilitanden zeitnah zu ermöglichen.

    Nach den erwartbaren anfänglichen Schwierigkeiten nicht nur bei der Teilnehmergewinnung, sondern auch bei der konkreten Umsetzung des Projekts im ersten Projektjahr sind die Initiatoren wirklich neugierig darauf, welche differenzierten ersten Ergebnisse und Bewertungen der Projektarbeit sie vom IFT in den nächsten Wochen und Monaten als externes Feedback erwarten dürfen.

    Literatur beim Verfasser. Alle im Text erwähnten projektbezogenen Unterlagen sind als Datei über den Verfasser erhältlich.

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Karl Lesehr

    Psychosoziale Stabilisierung durch Arbeit

    Dass ein drohender Arbeitsplatzverlust für viele Menschen mit Suchtproblemen eine erstmals ernsthaft aufrüttelnde Bedeutung haben kann, kennt wohl jede Fachkraft in der Suchthilfe. Gleichzeitig gilt für die Arbeit mit Suchtkranken aber auch die Erfahrung, dass geregelte Arbeit und Beschäftigung ganz wesentlich zur Stabilisierung von Lebenslagen beitragen können, die durch eine Suchtproblematik in unterschiedlichster Art und Weise beeinträchtigt sind. 1968 wurde Sucht vor Gericht als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt, was von einigen Akteuren schnell als vermeintlich vorrangige Leistungszuständigkeit der Krankenversicherung verstanden wurde. In der schließlich 1978 – wieder auf gerichtlichen Druck hin – zustande gekommenen Suchtvereinbarung wurde dann eine gemeinsame Leistungszuständigkeit von Kranken- und Rentenversicherung für die damals bekannten Behandlungsangebote bei Abhängigkeitsstörungen geregelt. Diese Entwicklung war keineswegs zufällig: In der aus den ersten Heilstätten entstandenen stationären Suchtrehabilitation war die berufliche Reintegration – anders als in der Rehabilitation bei sonstigen psychiatrischen Erkrankungen – bereits ein zentrales Ziel des Behandlungssystems. Diese durch die Suchtvereinbarung bestätigte medizinische Suchtrehabilitation hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter fachlich ausdifferenziert, um bei suchtassoziierten Teilhabebeeinträchtigungen für ganz unterschiedliche Patientengruppen jeweils qualifizierte und passgenaue Entwicklungsanstöße geben zu können.

    Gerade weil dieses teilhabeorientierte Behandlungsangebot sich insgesamt unstrittig bewährt hat und weltweit als Erfolgsmodell gilt, ist es aber auch notwendig, seine ‚Schwachstellen‘ in den Blick zu nehmen. Dabei interessieren in diesem Beitrag weniger die zahlreichen behandlungs- und teilhaberelevanten ‚Schnittstellen‘, um deren Verbesserung sich die Suchtreha seit langem bemüht. Für das Projekt Su+Ber impulsgebend ist stattdessen die These, dass mit strukturell neuartigen Förder- und Behandlungsformen für langzeitarbeitslose Menschen mit Abhängigkeitsstörungen wesentliche Verbesserungen ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe erreicht werden könnten (teilhaberelevante Versorgungsschwachstellen).

    Schon in den 90er Jahren hat Günther Wienberg (1992) mit dem einprägsamen Begriff der „vergessenen Mehrheit“ darauf aufmerksam gemacht, dass ein großer Teil der diagnostizierten Abhängigkeitskranken faktisch keinen Zugang zu spezialisierten suchtrehabilitativen Hilfen hat bzw. sie nicht in Anspruch nimmt. In dieser Versorgungsanalyse hat Wienberg verdeutlicht, dass dafür methodische und strukturelle Aspekte des Versorgungssystems mitverantwortlich sind und eben nicht nur eine unzureichende oder fehlende Krankheitseinsicht dieser Menschen, wie es das alte Jellinek-Modell mit seiner „Tiefpunkt-Theorie“ vermeintlich nahelegte.

    Teilhaberelevante Schwachstellen des Suchtbehandlungssystems

    • In der überwiegend wohnort- und alltagsfernen stationären Suchtreha hat sich die Reintegrationsperspektive bei langzeitarbeitslosen Patienten fast zwangsläufig auf die Perspektive einer ‚Teilhabebefähigung‘ verkürzt. Im Wesentlichen gelingt nur in der Drogenrehabilitation, bei der häufig auch ein Wohnortwechsel der Patienten eingeplant wird und längere Behandlungszeiten nutzbar sind, die unmittelbare Verknüpfung von Suchtbehandlung und Arbeitsintegration in nennenswertem Umfang. Die ARA-Studie (Dieter Henkel et al. 2005) hat schon vor Jahren verdeutlicht, wie gering auch nach einer formal erfolgreichen Alkoholrehabilitationsmaßnahme für langzeitarbeitslose Rehabilitanden die Chancen auf eine nachhaltig erfolgreiche berufliche Reintegration und damit auch auf einen Erhalt der erreichten Suchtmittelabstinenz sind. Auch die neu entwickelten Instrumente einer arbeitsorientierten Rehanachsorge bleiben noch zu oft im Beratungssetting und damit auf einer reflektierenden Metaebene stehen und haben dann viel Distanz zum komplexen realen Lebensalltag des Rehabilitanden.
    • Die Regelung des § 16a SGB II wird auch über zehn Jahre nach ihrer Einführung ganz überwiegend nur dafür genutzt, dass Jobcenter Kunden mit vermuteten oder diagnostizierten Abhängigkeitsstörungen an die Suchtberatung verweisen und so möglichst auch in weiterführende Suchtbehandlungen vermitteln. Eine unmittelbare Einbeziehung der Fach- und Steuerungskompetenz der Suchtberatungsstellen in die wohnortnahen Bemühungen um eine konkrete berufliche Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker ist dagegen nur an wenigen Standorten Realität geworden. Dementsprechend sind in den Suchtberatungsstellen das Interesse, aber auch die Handlungskompetenzen für eine direkte suchtkompetente Unterstützung der Klienten bei ihrer nachhaltigen beruflichen Integration in diesem Jahrzehnt kaum gewachsen.
    • Mit der Drogensubstitutionsbehandlung, die sich längst von einer Überbrückungshilfe zu einem grundständigen Behandlungsangebot für Drogenabhängige entwickelt hat, wurde das bislang für die Suchtrehabilitation grundlegende Paradigma einer (zumindest aktuell angestrebten) Suchtmittelabstinenz als Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Reintegration auch aus einer medizinischen Perspektive in Frage gestellt. Gleichzeitig entfallen aber für diese durch die Krankenversicherung finanzierte und als ambulante Behandlung im Lebensalltag konzipierte Behandlungsoption aufgrund der für die Suchtrehabilitation bislang geltenden abstinenzorientierten Behandlungskonzepte weitgehend alle in der Suchtvereinbarung seinerzeit für unverzichtbar gehaltenen suchtrehabilitativen Leistungsmöglichkeiten. Langzeitarbeitslose Substituierte (wie im Übrigen auch andere nicht abstinenzwillige oder -fähige Abhängigkeitskranke) sind deswegen für eine berufliche Reintegration fast ausschließlich auf das Leistungsportfolio des SGB II angewiesen. In diesem wurden in den letzten Jahren aber viele Beschäftigungsangebote radikal abgebaut, die angesichts der oft vielfältigen Teilhabebeeinträchtigungen eine wenigstens schrittweise Arbeitsintegration ermöglichen sollen. Außerdem finden im SGB II generell die spezifischen Dynamiken abhängigkeitskranker ‚Kunden‘ nur höchst unzureichend und wenig systematisch Berücksichtigung. So können z. B. aufgrund der leistungsrechtlichen Vorgaben des SGB II die für die suchtkranken Menschen dringend notwendigen Unterstützungsleistungen nach einer Wiedereingliederung an einem Arbeitsplatz im Rahmen einer Arbeitsförderung kaum ermöglicht werden. Aber auch die für alle Fördermaßnahmen im SGB II maßgebliche leistungsrechtliche Definition der „Langzeitarbeitslosigkeit“ mit ihrem Konstrukt der „schädlichen Unterbrechungen“ wirkt gerade bei Menschen mit Abhängigkeitsstörungen allzu oft als Leistungsbarriere: Bei guter Arbeitsmarktkonjunktur findet nämlich mancher von ihnen relativ leicht einen Arbeitsplatz, scheitert dann aber nach kurzer Zeit aufgrund seines Suchtverhaltens. Diese Krisenerfahrung kann dann aber wegen dieser Regelung oft nicht zeitnah und motivationsfördernd für die Einleitung geeigneter Fördermaßnahmen genutzt werden.

    Systembedingt unzureichende Reintegrationsperspektiven

    Die o. g. Schwachstellen in der aktuellen Versorgungsstruktur haben Auswirkungen für die betroffenen Menschen und für die fachlichen Akteure in den Versorgungsstrukturen:

    • Es gibt bis heute trotz der AOK-Studie (Henkel & Schröder, 2015, 2016) nahezu keine versorgungspolitisch sinnvoll nutzbaren Zahlen über den Anteil der Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen.
    • Aber auch in keiner der an der Suchtbehandlung oder der Arbeitsförderung beteiligten Institutionen wird das maßnahmen- oder förderungsrelevante Ausmaß suchtassoziierter Probleme festgestellt, ebenso wenig wie die aktuelle teilhaberelevante Mitwirkungsfähigkeit und -bereitschaft. Gerade bei den oft länger dauernden psychosozialen Betreuungen Substituierter gibt auch der im KDS dokumentierte soziodemografische Eingangsstatus dafür zu wenig aktuelle Informationen.
    • Die vielerorts genutzte Strategie zur Qualifizierung von Jobcenter-Mitarbeitenden für eine sachgerechtere Problemidentifizierung und Problemansprache bei Kunden mit möglichen Suchtproblemen kann zwar die Zuweisung von Kunden nach § 16a SGB II an die Suchtberatung erhöhen und verbessern, löst dort aber keineswegs die für die Zielgruppe (angesichts nur begrenzter Rehaperspektive, v. a. aufgrund der Abstinenzgebundenheit) bestehenden Motivierungs- und Reintegrationsprobleme.
    • Das Konzept ‚erfolgreiche Suchtbehandlung und Abstinenz als notwendige Voraussetzung für eine berufliche Reintegration‘ ist in seiner Ausschließlichkeit hochselektiv. Es nutzt auch zu wenig die differenzierten Erkenntnisse der Motivationsforschung und vor allem nicht die realen Entwicklungsperspektiven betroffener Menschen: Einerseits sind in der Lebensrealität zahlreiche Menschen mit Abhängigkeitsstörungen auch längerfristig relativ unauffällig in Arbeit, andererseits haben aber viele Langzeitarbeitslose aufgrund ihrer Biografie und aktuellen Lebenslage selber kaum mehr ernsthaft Interesse an einer beruflichen Reintegration.
    • Die Ausgrenzung von Betroffenengruppen aus dem suchtrehabilitativen Angebot verstärkt aber auch eine generalisierte Misserfolgserwartung für diese Menschen im Gesamtversorgungssystem. Die Ausgrenzung reduziert das gesellschaftliche Interesse an konstruktiven Fördermaßnahmen und führt mit dazu, dass Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitsstörungen zu den Jobcenterkunden mit den geringsten Chancen auf eine nachhaltige Vermittlung in Arbeit zählen, also auch die schlechteste gesundheitliche Erfolgserwartung haben.
    • Diese ‚Misserfolgserwartung‘ trägt implizit weiter dazu bei, dass sich tradierte Strukturen einer individualisierten Rehavermittlung ohne umfassende Rehagesamtplanung in vielen Suchtberatungsstellen bis heute erhalten können und dass regionale, einrichtungsübergreifende und fallbezogene Kooperationen zwischen Suchtberatungsstellen und Jobcentern zur Verbesserung der Chancen einer beruflichen Reintegration eher Seltenheitswert haben.
    • Der sozialleistungsrechtlich in der Regel nicht abgesicherte Status der Suchtberatungsstellen erschwert vor allem im Bereich der Drogensubstitution eine teilhabeorientierte Behandlungskooperation (im Sinne der alten Suchtvereinbarung) auf Augenhöhe. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass viele Kommunen, die die Suchtberatung (mit)finanzieren, trotz mancher gut gemeinter Steuerungsbemühungen selten nachhaltig teilhabeorientierte Steuerungsimpulse mit ihrer Finanzierung verbinden und dafür dann auch ihre eigene Mitwirkungsbereitschaft einbringen.

    Strukturelle Herausforderungen an das Suchthilfesystem

    Die Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg hat sich in den letzten Jahren wiederholt mit den o. g. Problemzusammenhängen befasst und dafür auch intensiv das Gespräch mit dem Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Landespolitik gesucht. Als Institution der Suchthilfe hat sich die Landesstelle im Gegensatz zu Wienberg zunächst auf das eigene Handlungsfeld und damit auch auf die dort mögliche Kooperation mit den Jobcentern beschränkt.

    Fachlicher Hintergrund für die Gespräche waren zum einen die schon seit über einem Jahrzehnt gesammelten Erfahrungen aus dem Projekt Q-Train der AG Drogen Pforzheim, in dem sich überwiegend substituierte Drogenabhängige in einer Arbeitsfördermaßnahme im konkreten Arbeitsalltag mit den Beeinträchtigungen durch ihren Suchtmittelkonsum und ihr suchtassoziiertes Sozialverhalten auseinandersetzen können und müssen. Nach Möglichkeit werden sie dann an einen festen Arbeitsplatz vermittelt, wo sie nach Bedarf noch weiter betreut werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation zu diesem Projekt machen deutlich, dass sich durch den unmittelbaren suchttherapeutischen Fokus auf Arbeitsprozess und Arbeitsleistung bei den auf einen geeigneten Arbeitsplatz vermittelten Teilnehmern vergleichbare Stabilisierungs- und sogar Abstinenzeffekte erreichen lassen wie über eine traditionelle Drogenrehabilitationsmaßnahme.

    Einen weiteren wichtigen Hintergrundaspekt bildeten zum anderen die Ergebnisse der bereits erwähnten ARA-Studie und die darauf aufbauenden intensiven Bemühungen der AHG-Fachklinik Wilhelmsheim, durch den Aufbau und die Verbesserung einer möglichst nahtlosen Kooperation mit den zuweisenden Suchtberatungsstellen und den Jobcentern die Reintegrationschancen für ihre langzeitarbeitslosen Rehabilitanden spürbar zu erhöhen.

    Und schließlich haben die gegenüber der ambulanten Suchthilfe teilweise durchaus vorwurfsvollen Äußerungen der DRV zum Rückgang der Suchtreha-Antragszahlen und die darauf aufbauenden Strukturdiskussionen mit der DRV Baden-Württemberg mit dazu beigetragen, dass eine Arbeitsgruppe der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg im November 2013 eine Rahmenkonzeption zur beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den ersten Arbeitsmarkt vorgelegt hat. Nach geduldiger und auch hartnäckiger Weiterverfolgung dieser konzeptionellen Ansätze veröffentlichte das Land schließlich im August 2015 den Förderaufruf zur Einreichung von Projektanträgen zur „Förderung der nachhaltigen Wiedereingliederung langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den Arbeitsmarkt nach der Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg (NaWiSu)“. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und richtet sich im Gegensatz zu den meisten anderen ESF-Projekten zur Arbeitsmarktintegration überwiegend an die zu einer Leistungsvernetzung eingeladenen Suchtberatungsstellen. Dieser Förderaufruf bildet den Rahmen für das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht), das im Folgenden vorgestellt wird.

    Ziele des ESF-Förderaufrufs NaWiSu

    Ausgangspunkte für den Förderaufruf waren, wie auch schon für die Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen, folgende Einschätzungen:

    • In der Gruppe der ‚dauerhaft‘ Langzeitarbeitslosen gibt es – übrigens neben gut einem Drittel abstinent lebender Menschen (!) – eine offenbar wachsende Teilgruppe von Menschen, bei denen eine Abhängigkeitsstörung oder ein suchtassoziierter Lebensstil als wesentliches Integrationshindernis festgestellt oder vermutet werden kann. Diese Teilgruppe der Langzeitarbeitslosen ist nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern vor allem sozialpolitisch ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem.
    • Es scheint unstrittig, dass Jobcenter und Arbeitshilfeträger mit ihren aktuellen Leistungsmöglichkeiten weniger in ihrer Qualifikation als vielmehr strukturell bzw. leistungsrechtlich überfordert sind, wenn es um eine nachhaltige berufliche Reintegration von Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen geht. Unabhängig von allen angestrebten Verbesserungen der Arbeitsmarktinstrumente im SGB II können Bemühungen der Jobcenter deshalb nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, störungsspezifische Fachkompetenzen und Interventionsmöglichkeiten besser und unmittelbar in zielgruppenspezifische Reintegrationsmaßnahmen einzubinden.
    • Die Bemühungen, mit Hilfe des § 16a SGB II die Suchtberatungsstellen stärker in Aktivitäten für eine berufliche Reintegration einzubinden, waren bislang bestenfalls insoweit erfolgreich, als es dabei um die verstärkte Vermittlung in klassische Suchtrehamaßnahmen ging. Darüber hinaus ist die Suchtberatung aber angesichts ihrer Finanzierungsstruktur (freiwillige Leistung der öffentlichen Daseinsvorsorge) und der dadurch sehr begrenzten Ressourcen und Leistungsmöglichkeiten bislang kaum in der Lage, aus eigenen Kräften einen ausreichenden, störungsbezogenen Beitrag für eine nachhaltige berufliche Reintegration suchtkranker Menschen zu leisten.

    Damit strukturelle Verbesserungen der beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Menschen mit Abhängigkeitsstörungen gelingen können, werden daher im Förderaufruf NaWiSu folgende fünf Veränderungen angestrebt:

    • Um wirksame fallbezogene Kooperationen zu ermöglichen, müssen in Ergänzung zu den tradierten stationären und damit in aller Regel wohnort- und v. a. alltagsfernen Behandlungsmodellen wohnortnahe ambulante Behandlungsansätze und Fördermaßnahmen verstärkt werden.
    • Für die Teilnehmer müssen integrierte und zeitlich überschaubare Fördermaßnahmen mit einer klaren Zielperspektive entwickelt werden. Dabei sollte die berufliche Reintegration maßnahmenleitend sein, und auch die suchtbezogene Behandlung sollte vorrangig auf dieses Ziel orientiert sein: Die Behandlung muss für die Teilnehmer einen erkennbaren Gewinn für ihre aktuellen persönlichen Entwicklungsperspektiven haben.
    • Die Suchtberatungsstellen werden für solche integrierten Behandlungs- und Reintegrationsmaßnahmen nur dann einen nennenswerten und stabilen Beitrag leisten können, wenn solche Leistungen wenigstens teilweise als suchtrehabilitative Leistungen eigenständig finanziert werden und die Suchtberatung dem Jobcenter damit auch als gleichwertiger Leistungspartner gegenübertreten kann.
    • Angesichts der seit langem eher stagnierenden Entwicklung der ambulanten Suchtrehabilitation hat die stärkere Einbindung einer wohnortnahen beruflichen Reintegration aber nur dann eine Erfolgsperspektive, wenn die bisher für die Suchtreha verbindlichen Behandlungsgrundsätze zugunsten einer unmittelbaren Orientierung auf eine nachhaltige Arbeitsintegration gelockert und dafür auch neuartige Arbeits- und Interventionsformen ermöglicht werden.
    • Gleichzeitig muss die ambulante Suchtreha die in den letzten Jahren aufgebauten spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen der stationären Suchtreha stärker auch für ihren Arbeitsbereich nutzen. Für die Einrichtungen und Fachkräfte der ambulanten Suchthilfe gilt es zudem, neben den natürlich weiterhin sinnvollen und notwendigen Angeboten der traditionellen stationären oder ambulanten Suchtreha im Bewusstsein der Mitarbeitenden und in den Arbeitsstrukturen ein neues Handlungskonzept aufzubauen und zu implementieren und dann auch klientenorientierte Brücken zwischen den unterschiedlichen Optionen einer nachhaltigen Teilhabeförderung zu nutzen. Diese strukturelle Entwicklung v. a. der Suchtberatungsstellen soll im Aufruf NaWiSu modellhaft gefördert werden.

    Im Rahmen des Förderaufrufs wird seit Jahresbeginn 2016 das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) durchgeführt. Welche Entwicklungsziele und konkrete Maßnahmen es beinhaltet, wird im zweiten Teil des Artikels vorgestellt. Dieser erscheint in Kürze im Rahmen von Teil 2 des Titelthemas „Wege in Arbeit“.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai

    Nur 16 Prozent der Menschen mit einem riskanten oder abhängigen Konsum von Alkohol holen sich Hilfe im Versorgungssystem. Dabei gehen fast alle von ihnen mindestens einmal im Jahr zum Arzt oder ins Krankenhaus. Wie können diese Menschen erreicht werden, damit sie besser von Hilfeangeboten für die Suchtproblematik profitieren können? An der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg wurde untersucht, welche Auswirkungen die Einführung eines Suchtkonsils zeigt. Bei einem Suchtkonsil handelt es sich um eine spezifische Suchtberatung durch einen erfahrenen Suchttherapeuten, die von der Krankenhausstation (Ärzte, Pflegepersonal) gezielt angefordert wird. Nach zweieinhalb Jahren wurden die Ergebnisse dieser Beratung (z. B. Vermittlung in die Entzugsbehandlung) ausgewertet.

    Handlungsbedarf bei Früherkennung und Frühintervention

    Im Jahr 2015 formulierte die Bundesrepublik Deutschland „Alkoholkonsum reduzieren“ als Nationales Gesundheitsziel (http://gesundheitsziele.de/). Darin wird die Bedeutung von Früherkennung und Frühintervention betont:

    „Trotz hoher gesellschaftlicher Folgekosten des problematischen Alkoholkonsums und alkoholbezogener Erkrankungen ist in Deutschland eine Unterversorgung insbesondere in den Bereichen der Früherkennung und Frühintervention bekannt und belegt. Andererseits wurde in Studien die Wirksamkeit von Frühinterventionen insbesondere in Hausarztpraxen (Kaner et al., 2007) und unter bestimmten Voraussetzungen auch im Allgemeinkrankenhaus nachgewiesen (McQueen, Howe, Allan, Mains, & Hardy, 2011). Durch Frühinterventionen beispielweise über die ärztliche Praxis oder im Krankenhaus kann eine breite Gruppe von Personen mit problematischem Alkoholkonsum erreicht werden. So weisen 80 Prozent der Alkoholabhängigen jährlich mindestens einen Kontakt zur hausärztlichen oder einer vergleichbaren Praxis auf; 24,5 Prozent mindestens einen Krankenhausaufenthalt und insgesamt 92,7 Prozent irgendeinen Kontakt zu einem niedergelassenen Arzt bzw. einer niedergelassenen Ärztin oder Krankenhaus (Rumpf, Hapke, Bischof, & John, 2000). Von riskant Alkohol Konsumierenden finden sich 75 Prozent beim Hausarzt/Hausärztin ein, 70 Prozent hatten beim Zahnarzt/Zahnärztin, 58 Prozent beim Facharzt/Fachärztin und 15 Prozent im Krankenhaus Berührungspunkte zum Gesundheitswesen; lediglich sieben Prozent der Alkohol-Risikokonsumenten nimmt in zwölf Monaten keinerlei medizinische Angebote in Anspruch (Bischof, John, Meyer, Hapke, & Rumpf, 2003). Dies unterstreicht die Bedeutung der primärärztlichen Versorgung im Bereich der Früherkennung und Frühintervention. Zudem sollte die Qualifikation und Kompetenz bezüglich der Früherkennung auch durch die verschiedenen Berufsgruppen im Sozial- und Bildungswesen gewährleistet sein.“ (Nationales Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“, 2015, S. 11, http://gesundheitsziele.de/)

    Auch in der gültigen S3-Leitlinie „Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung“ finden sich entsprechende Empfehlungen: „Generell ist Screening auf riskanten Alkoholkonsum oder schädlichen Konsum von Alkohol und Alkoholabhängigkeit in Settings sinnvoll, in denen proaktiv auf Patienten zugegangen wird. Das betrifft häufig Frühinterventionsmaßnahmen in Settings der medizinischen Grundversorgung.“ (Langfassung vom 28.02.2016, S. 15)

    Die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.) geht in „Psyche im Fokus“ (1/2016, S. 2–3) ebenfalls auf die Früherkennung und Frühintervention bei Suchterkrankungen ein und gibt ein richtungsweisendes Statement ab: „Doch auch das Gesundheitswesen ist noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert. Vor allem in der primärmedizinischen Versorgung ist der Grad an Awareness verbesserungsfähig, gleichzeitig ist auch zu wenig Zeit für Diagnostik und Behandlungsplan vorgesehen.“

    Pilotprojekt: Einführung eines Suchtkonsils

    Im deutschen Krankenhausalltag findet ein systematisches Alkohol-Screening auf somatischen Stationen in vielen Fällen nicht statt. Der psychiatrische Konsiliardienst (Begleitdiagnostik durch einen angeforderten Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) kann aufgrund der begrenzten Ressourcen nur einen geringen Teil der zu erwartenden Fälle erfassen. Wie viele Patienten durch die Einrichtung eines zusätzlichen Suchtkonsils erreicht werden können, wurde an zwei Standorten der Vivantes-Kliniken in Berlin Tempelhof-Schöneberg im Rahmen eines Pilotprojektes untersucht.

    Im Bezirk leben etwa 330.000 Menschen, die Prävalenz für Alkoholabhängigkeit liegt bei rund 7.840 und für den schädlichen Konsum von Alkohol bei rund 12.420. Nach der Studie von Rumpf, Hapke, Bischof & John (2000) sind bis zu 5.000 Fälle an Folgeerkrankungen von Alkoholkonsum pro Jahr an den beiden Vivantes-Standorten auf den verschiedenen Stationen zu erwarten. Dabei handelt es sich nur um eine grobe Schätzung, da die Zahlen eines dritten Krankenhauses im Bezirk von einem anderen Träger nicht berücksichtigt werden konnten.

    Zusätzlich zum psychiatrischen Konsiliardienst der Abteilungen für Allgemeinpsychiatrie in den beiden Krankenhäusern wurde von 11/2013 an ein Suchtkonsil der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit angeboten, das entweder vom Oberarzt der Klinik oder einem approbierten Diplom-Psychologen durchgeführt wurde. Das Suchtkonsil wurde in der Klinikkonferenz beschlossen und auf den somatischen Stationen im Rahmen von Besprechungen oder Abteilungsfortbildungen bekannt gemacht. Die Reaktionen auf den Dienst waren in dieser Phase sehr vielfältig. Sie reichten von Zustimmung („höchste Zeit bei den vielen Fällen, die wir sehen“) bis hin zu Ablehnung („spielt bei uns keine Rolle“). Das Konsil musste von den Stationen standardisiert über die elektronische Patientendokumentation ausgelöst werden wie jede andere fachärztliche Untersuchung auch. Die durchgeführten Gespräche waren sehr differenziert. Es gab erste Informationsgespräche, bei denen das Motivational Interviewing nach Miller und Rollnick zum Einsatz gebracht wurde, und es gab Gespräche zur gezielten Vorbereitung weiterführender suchtmedizinischer Maßnahmen (Kontakt zur Beratungsstelle, Verlegung zur Entzugsbehandlung und Antragstellung für eine Entwöhnungstherapie).

    Von 11/2013 bis 5/2016 wurden insgesamt 185 Konsile angefordert. Von diesen 185 Fällen erschienen in der Folge 24 Fälle (13 Prozent) zu einem Vorgespräch in der Entwöhnungsklinik, in den meisten Fällen nach einer vorangegangenen Entzugsbehandlung in der psychiatrischen Nachbarabteilung. In insgesamt 17 Fällen (neun Prozent) konnte die Aufnahme zur Entwöhnungsbehandlung realisiert werden. Nicht systematisch erfasst wurde die Akzeptanz für die Gespräche, gerade auch bei den angesprochenen Patienten, die zunächst keine Hilfe annahmen. Ein Interview mit den durchführenden Ärzten und Psychologen erbrachte die Einschätzung einer recht hohen Akzeptanz für die Gespräche. Dies würde die Ergebnisse der Studie von Freyer et al. (2006) in Greifswald bestätigen. Dort reagierten rund 66 Prozent der angesprochenen Patienten mit einer Alkoholproblematik auf somatischen Stationen positiv auf die Intervention mit Beratung.

    Das Stigma der Sucht

    Neben der Ausstattung und den Ressourcen der Klinik ist auch das Phänomen „Stigma der Sucht“ zum großen Teil dafür verantwortlich, dass so wenig Patienten mit alkoholbezogenen Störungen in den somatischen Abteilungen eines Krankenhauses erreicht werden. Studien wie die von Schomerus, Matschinger & Angermeyer (2006 und 2013 ) belegen eine Ablehnung von Abhängigkeitserkrankungen in unserer Gesellschaft und eine nach wie vor vorhandene Einschätzung, dass Sucht selbst verschuldet ist (siehe Abbildungen 1 und 2).

    Abb. 1: Anhand von Fallbeispielen, ohne Kenntnis der Diagnose, beurteilten Studienteilnehmer, ob die jeweiligen Betroffenen an einer psychischen Krankheit im medizinischen Sinne leiden. Das Krankheitsbild Alkoholismus wurde deutlich seltener als Krankheit angesehen als z. B. Depression oder Schizophrenie. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2013. Continuum beliefs and stigmatizing attitudes towards persons with schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychiatry Res 209, 665-669.
    Abb. 2: Per Telefoninterview wurde gefragt, bei welchen Krankheiten bei der Versorgung von Patienten am ehesten Geld eingespart werden könnte. Zur Auswahl gestellt wurden neun Krankheiten, drei Antworten waren möglich. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2006. Preferences of the public regarding cutbacks in expenditure for patient care: Are there indications of discrimination against those with mental disorders? Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 41, 369-377.

    Dies führt dazu, dass Betroffene lange Zeit versuchen, die Erkrankung zu verbergen aus Furcht vor der negativen Bewertung des Umfeldes. Wird eine Suchterkrankung bekannt, fühlt sich aber auch häufig das Umfeld unwohl und schaut reflexhaft, mit einer Art von falschem Taktgefühl, weg. Auch auf somatischen Stationen oder auf Rettungsstellen ist dieses Phänomen zu beobachten: Ein Patient wird mit einer akuten Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung) in das Krankenhaus gebracht. Recht rasch wird anhand des klinischen Befundes und der Laborkonstellation deutlich, dass die Krankheit durch übermäßigen Konsum von Alkohol entstanden ist (alkoholtoxische Genese). Bei Konfrontation mit den Befunden reagiert der Patient bagatellisierend und beschämt, lehnt auch per Mimik und Gestik Gespräche darüber ab. An dieser Stelle wirken Zeitnot und das (falsche) Taktgefühl des Arztes unheilvoll zusammen. Der Arzt spürt die Not seines Patienten und den Wunsch, nicht weiter beschämt oder auch ‚belästigt‘ zu werden, und respektiert ihn. Selbst wenn ihm bewusst wird, dass dieser Zustand überwunden werden sollte, spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Dem Arzt ist klar, dass ein Gespräch über den Alkoholkonsum nicht ‚zwischen Tür und Angel‘ geführt werden sollte, also zeitlichen und empathischen Aufwand bedeutet. Häufig sind die personellen Ressourcen so knapp, dass diese Gespräche dann gar nicht stattfinden. Die Hoffnung des Patienten, dass der Konsum „noch nicht so schlimm ist“, wird damit indirekt bestätigt.

    Das Stigma der Sucht wirkt aber auch auf eine andere Weise. Die Extremformen des Konsums von Substanzen, die Abhängigkeit erzeugen, werden gesellschaftlich recht breit abgelehnt. Konsum, der ohne die extremen Anzeichen von Missbrauch und Abhängigkeit auftritt, wird dagegen sehr lange toleriert, obwohl er bereits mit Schäden behaftet sein kann. Es ist eine heikle Frage, ab wann und wie Betroffene auf ihren Konsum angesprochen werden sollten.

    Für das medizinische Personal kann der risikoreiche Alkoholkonsum eines Patienten auch noch ein ganz anderes Problem aufwerfen, nämlich die Frage nach dem eigenen Konsum. Dieser wird möglicherweise konflikthaft erlebt und wirft Unsicherheiten auf. Diese Gefühlslage kann sich mit der Situation des Patienten zu einer unausgesprochenen Übereinkunft darüber vermengen, nicht über das Thema zu sprechen. Entsprechende Zusammenhänge thematisiert die Psychotherapeutin Agnes Ebi in ihrem Buch „Der ungeliebte Suchtpatient“ (1998). Neben vielen anderen Aspekten der Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten beschreibt sie dabei auch die unbewusste Furcht vor der Nähe zum Süchtigen.

    Sucht als Krankheit in der öffentlichen Wahrnehmung verankern

    Welche Konsequenzen lassen sich aus all dem ableiten? Ein gesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Stigmatisierung der Sucht wird einen langen Zeitraum erfordern. Erwähnt sei an dieser Stelle der bekannte historische Umstand, dass die Definition der Alkoholabhängigkeit durch die WHO von 1952 in der Bundesrepublik Deutschland erst 16 Jahre später, 1968, zu einer sozialrechtlichen Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit führte. Vor 1945 wurde ein Teil der Alkoholabhängigen umgebracht oder der Zwangssterilisierung zugeführt. Dies scheint im transgenerativen Prozess noch nicht vollständig verarbeitet zu sein, und ein Teil der Menschen sieht eine Abhängigkeitserkrankung immer noch als einen selbstverschuldeten Zustand an.

    Die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbegriff in den öffentlichen Räumen unserer Gesellschaft wird notwendig sein, um die Akzeptanz für die Erkrankung auf einen Stand zu bringen, der z. B. mit dem beim Diabetes mellitus vergleichbar ist. Schulen, Betriebe, Vereine, Institutionen, aber auch die Medien, sind Kommunikationsorte, an denen entsprechende Prozesse in Gang gebracht werden müssen. Anfangen können diese Prozesse jedoch im Krankenhaus, das mit gutem Beispiel vorangeht und systematisch daran arbeitet, den Umgang mit Abhängigkeitserkrankungen ‚salonfähig‘ zu machen. Ein routineartig durchgeführtes Suchtkonsil stellt das wichtigste Signal in diesem Zusammenhang dar. Die Widerstände gegen die Einführung dieses Konsils sind zunächst groß, weil ein direkter betriebswirtschaftlicher Nutzen für das Krankenhaus zunächst nicht berechnet werden kann. Das DRG-System liefert je nach Lesart (Controlling-Haltung) Anreize, einen Abhängigkeitserkrankten mit mehreren Folgeerkrankungen als eine Art ‚Cash-Cow‘ zu betrachten, die erlösorientiert ausgeschlachtet wird. Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen und eine Motivierung zur Entzugsbehandlung stellen möglicherweise ein unternehmerisches Risiko dar. Die Endrechnung wird der Gesellschaft an anderer Stelle präsentiert und belastet Kommunen und Rentenversicherungen.

    Beim Deutschen Suchtkongress im September 2016 in Berlin referierte PD Dr. Georg Schomerus über das Stigma der Sucht und gab einen Überblick über den Forschungsstand. Dabei scheute er nicht die Frage, ob ein Stigma positive Folgen habe, zum Beispiel durch eine Form der Abschreckung. Die Ergebnisse sind bislang eindeutig: Das Stigma führt vielmehr zu einer Aufrechterhaltung von Heimlichkeit und Wegschauen. Im September 2016 fand eine Klausurtagung mit verschiedenen Experten in Greifswald statt, die sich mit dem Thema „Stigma der Sucht“ beschäftigten. Auftraggeber war das Bundesministerium für Gesundheit. Als Ergebnis dieses Expertentreffens liegt nun das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ vor, das den Versuch unternimmt, das Phänomen der Stigmatisierung von Menschen mit Suchtkrankheiten zu erklären und Wege für einen stigmafreien Umgang mit Suchtkrankheiten aufzuzeigen. Für den klinischen Bereich ist zu hoffen, dass das Suchtkonsil zum Standard in deutschen Krankenhäusern wird.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai
    Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum
    Rubensstraße 125
    12157 Berlin
    Tel. 030/13 020-86 00
    Darius.ChahmoradiTabatabai@vivantes.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA, ist Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg.