Schlagwort: Suchtmedizin

  • Gesundheitliche Folgen von Cannabiskonsum

    Gesundheitliche Folgen von Cannabiskonsum

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann
    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann

    In der gesellschaftlich kontroversen Diskussion um eine Legalisierung bzw. die Möglichkeit eines legalen Erwerbs von Cannabis sind die Hauptargumente der Befürworter einer Legalisierung, dass Cannabis geringere gesundheitliche Schäden verursacht als Alkohol, dass Cannabis trotz des Verbots eine hohe Verfügbarkeit aufweist und somit die Prohibition versagt hat, dass der Justizapparat durch cannabisassoziierte, opferfreie Vergehen ineffizient belastet wird und dass ein gesellschaftsschädigender illegaler Drogenmarkt aufrechterhalten wird. Somit argumentieren die Befürworter vor allen Dingen mit den negativen Folgen der Prohibition für die Gesellschaft. Die Gegner einer Legalisierung argumentieren, dass Cannabis zu relevanten Gesundheitsschäden führt, der Jugendschutz nicht gewährleistet sei und dass durch die Legalisierung mit einer Zunahme des Cannabiskonsums gerechnet werden müsse. Es wird die Gefahr gesehen, dass eine Legalisierung von der Bevölkerung und insbesondere Jugendlichen als Zeichen der Ungefährlichkeit von Cannabis interpretiert würde. Für die Gegner einer Legalisierung stehen also die negativen Folgen von Cannabis für die Gesundheit im Vordergrund. Somit erscheint es sinnvoll, aktuelle Forschungsergebnisse aus wissenschaftlichen Studien zu den gesundheitsschädlichen Folgen von Cannabis mit in die Argumentation einzubeziehen.

    Wie wirkt Cannabis im Gehirn?

    1964 wurde der psychotrop wirkende Inhaltsstoff von Cannabis entdeckt, das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC). Als zweithäufigster Inhaltsstoff wurde das nicht-psychotrop wirkende, also nicht high machende, Cannabidiol identifiziert. 1988 wurde entdeckt, dass THC an den Cannabinoid-1-Rezeptor (CB1) bindet, der vor allem im Gehirn vorkommt. Fünf Jahre später wurde ein zweiter Rezeptor entdeckt (CB2), der vorrangig in blutbildenden Zellen und der Milz lokalisiert ist. 1992 wurde das erste körpereigene (Endo)-Cannabinoid entdeckt (Anandamid), das an CB1 und CB2 bindet, 1995 ein zweites (Arachidonylglycerol) und mittlerweile eine Reihe weiterer Endocannabinoide mit nachrangiger Bedeutung. Seit der Entdeckung des Endocannabinoidsystems wird intensiv daran geforscht, die Funktion dieses Systems zu charakterisieren.

    Denkvorgänge im Gehirn entsprechen einer Weiterleitung elektrischer Impulse von einer Nervenzelle zu einer anderen, hierbei werden Impulse ggf. gehemmt oder verstärkt. Die Nervenzellenübertragung erfolgt durch Synapsen. Von der Präsynapse werden Neurotransmitter (Botenstoffe) ausgeschüttet, die durch den synaptischen Spalt zur Postsynapse diffundieren und dort an Rezeptoren binden. Der häufigste erregende Neurotransmitter im Gehirn ist das Glutamat. Damit das Gehirn gut funktioniert, ist es notwendig, dass eine feinjustierte Konzentration Glutamat präsynaptisch ausgeschüttet wird. Eine zu hohe Konzentration von Glutamat führt zu einer Übererregung wie bei einem zu hoch gedrehten Motor. Zu viel Glutamat ist toxisch, schädigt die Nervenzellen und kann zum Untergang der Nervenzellen führen (Exitotoxizität).

    Endocannabinoide wirken retrograd (rückwärts). Sie werden von der Postsynapse ausgeschüttet, diffundieren zur Präsynapse und binden dort an CB1-Rezeptoren. In der Präsynapse, also dort, wo andere Neurotransmitter ausgeschüttet werden und die elektrische Weiterleitung beginnt, hemmen Endocannabinoide die Ausschüttung von allen anderen Neurotransmittern. Damit können z. B. zu hohe, toxische Konzentrationen von Glutamat reduziert werden. Dieser wünschenswerte Effekt der Endocannabinoide war die Grundlage dafür, intensiv nach neuro-protektiven Eigenschaften von Cannabis zu suchen, z. B. in der Forschung zu ischämischem Schlaganfall, Schädel-Hirn-Traumata, Morbus Parkinson und Multipler Sklerose.

    Aus den bisher beschriebenen Funktionen des endocannabinoiden Systems lässt sich die Wirkung von Cannabis gut herleiten. Cannabis verlangsamt zentralnervöse Vorgänge, führt dadurch zu Müdigkeit, Antriebsminderung, Gleichgültigkeit, psychomotorischer Hemmung und Feinmotorikstörung. Vegetativ wird der Speichelfluss reduziert und durch eine direkte Erweiterung der Arterien der Blutdruck gesenkt mit reaktivem Anstieg des Pulses, was bei einer Überdosierung zu einem Kreislaufkollaps führen kann. Auch die neuronale Übertragung von Schmerzen wird gehemmt. Zusätzlich vermittelt das Cannabinoidsystem Hunger und die Induktion von Schlaf und hat eine wichtige Funktion beim Löschen von unangenehmen Erinnerungen. Gerade der letzte Punkt könnte hilfreich sein bei der Entwicklung neuer Therapien für psychiatrische Erkrankungen wie Depression oder psychische Traumata, die die Betroffenen häufig ein ganzes Leben lang verfolgen.

    Das zweithäufigste Cannabinoid Cannabidiol (CBD) macht nicht high, sondern begrenzt die gesundheitsschädliche Wirkung von THC und zeigt deutliche neuro-protektive Eigenschaften. Aktuell wird die Wirkung von CBD intensiv erforscht. THC führt zu einer Atrophie (Schrumpfung) des Gedächtniszentrums im Gehirn, des Hippocampus. Eine eigene Studie konnte zeigen, dass CBD vor dieser Schrumpfung schützt und dass die Schrumpfung nur auftritt, wenn Cannabissorten mit einem niedrigen CBD-Gehalt konsumiert wurden (Demirakca et. al 2011). Es gibt erste Anzeichen dafür, dass CBD in der Behandlung von Psychosen eingesetzt werden kann, gegen Angsterkrankung hilft und auch Depressionen lindert. CBD verhindert das Entstehen psychotischer Symptome durch THC.

    Gibt es einen Kausalzusammenhang zwischen Cannabis und Psychose?

    Zahlreiche Studien haben den Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und der Entwicklung einer Psychose untersucht. Mittlerweile wurden Studien mit großer Anzahl von Studienteilnehmern durchgeführt, teils mit langer Nachbeobachtungszeit, die eine hohe wissenschaftliche Aussagekraft aufweisen. Die Studienergebnisse zeigen eine gesicherte und valide Assoziation von Cannabiskonsum und Psychose. Das bedeutet: Personen, die Cannabis konsumieren, weisen eine zwei- bis dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, eine Psychose zu entwickeln. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass Cannabis die Psychose verursacht. Vielmehr haben Cannabiskonsum und Psychosen gemeinsame Risikofaktoren, d. h., Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Gewalterfahrung, psychischen Traumata in der Kindheit, Alkohol-, Tabak- oder anderem Drogenkonsum weisen ein höheres Risiko für beides auf, Psychose und Cannabiskonsum. Je nach politischer Grundhaltung kann also die Haltung vertreten werden, dass ungünstige Lebensumstände zur Psychose geführt haben (und Cannabiskonsum nur eine kleine Rolle spielt) oder dass Cannabis die Psychose verursacht hat und die ungünstigen Lebensumstände keine Rolle spielen. Damit weist gerade die Debatte um den Umgang mit Cannabis eine hohe Anfälligkeit für politische motivierte Verzerrungen auf. Kann Wissenschaft da zu einer objektiven und neutralen Beurteilung beitragen? Wenn wissenschaftliche Studien kritisch hinterfragt und Verzerrungen offengelegt werden: Ja.

    Für den Zusammenhang zwischen Cannabis und Psychose müssen also sozioökonomische Faktoren in die Analyse miteinbezogen werden. Dann weisen Cannabiskonsumenten eine 41 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit auf, eine Psychose zu entwickeln (Moore et al. 2007). In die Analyse von Moore et al. wurden 35 Studien einbezogen und etwa 60 potentielle Einflussfaktoren berücksichtigt, so dass von einer hohen Validität ausgegangen werden kann.

    Zusätzlich zu sozioökonomischen Faktoren wurde in einer 2014 publizierten Studie gezeigt, dass auch biologische Faktoren zur Assoziation von Cannabis und Psychosen beitragen: Dieselben Gene, die das Risiko für eine Psychose erhöhen, erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, Cannabis zu konsumieren und vor allem größere Mengen Cannabis zu konsumieren (Power et al. 2014). Nicht nur ‚Cannabiskonsum führt zur Psychose‘, sondern auch ‚Disposition zur Psychose führt zu Cannabiskonsum‘. Personen, die ein starkes genetisches Risikoprofil für Psychosen aufweisen, scheinen die Wirkung von Cannabis gegenüber anderen Drogen oder Alkohol zu präferieren und konsumieren deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit Cannabis. Nicht nur die Substanzwirkung von Cannabis ist somit für das Auftreten einer Schizophrenie (die zu den Psychosen gehört) verantwortlich, vielmehr stellen Cannabiskonsumenten eine Selektion von Personen dar, die als Gruppe mehr Risiko-Gene für eine Schizophrenie aufweisen. Dieser genetische Zusammenhang kann auch erklären, warum in einer anderen Studie 46 Prozent der Patienten, die mit einer ersten cannabisinduzierten Psychose stationär behandelt wurden, eine Schizophrenie entwickelten, während nur 30 Prozent der Patienten mit einer amphetamininduzierten Psychose und fünf Prozent bei alkoholinduzierter Psychose eine Schizophrenie entwickelten. Über 18.000 Patienten mit cannabisinduzierten Psychosen waren zwischen 1987 und 2003 in Finnland in diese Studie eingeschlossen und acht Jahre lang nachverfolgt worden (Niemi-Pynttäri et al. 2013).

    Einige Studien zeigen, dass Cannabiskonsum insbesondere bei Jugendlichen das Risiko für die Entwicklung einer Psychose erhöht. Besonders gefährdet sind Jugendliche, die mit 15 Jahren (Arseneault et al. 2002) oder bereits vor dem 14. Lebensjahr (Schimmelmann et al. 2011) mit dem Cannabiskonsum begonnen haben.

    2005 wurde erstmals ein einzelnes Gen identifiziert, das das Risiko für Psychosen unter Cannabiseinfluss erhöht. Es handelte sich um eine genetische Variante im Dopaminabbau, die jedoch in drei späteren Studien mit knapp 5.000 Studienteilnehmern nicht verifiziert werden konnte. Stattdessen wurde ein anderes Gen (AKT1) identifiziert, das mit einem erhöhten Risiko für Psychose assoziiert ist; allerdings nur bei täglichem Cannabiskonsum und nicht, wenn Cannabis ausschließlich an Wochenenden oder seltener konsumiert wird.

    Um den Zusammenhang von Cannabis und Psychose besser quantifizieren zu können, wurde kalkuliert, wie viele Personen kein Cannabis konsumieren müssten, um einen Fall einer Psychose zu verhindern (Hickman et al. 2009). Ergebnis war, dass im Altersbereich von 20 bis 24 Jahren 1.360 Männer bzw. 2.480 Frauen auf Cannabiskonsum verzichten müssten, um einen Fall einer Psychose zu verhindern. Im Alter von 35 bis 39 müssten 2.900 Männer oder 3.260 Frauen auf Cannabis verzichten.

    Neuropsychologische Defizite nur bei Konsumbeginn im Jugendalter

    Es ist bereits lange bekannt und ausreichend gut untersucht, dass während einer Intoxikation mit Cannabis Defizite im neuropsychologischen Bereich, z. B. Gedächtnis, Orientierung und Aufmerksamkeit, auftreten. Umstritten ist jedoch die Frage, ob diese Defizite auch nach Beendigung des Cannabiskonsums weiter bestehen bleiben, ob sie sich ganz oder nur teilweise zurückbilden und ob sie mit der Dauer und der Menge des konsumierten Cannabis in Zusammenhang stehen. Um diese Frage zu untersuchen, sind longitudinale Studien notwendig, die über einen langen Zeitraum an mehreren Messzeitpunkten neuropsychologische Leistungen und Cannabiskonsum erheben.

    In einer aussagekräftigen Studie wurden 1.037 Personen, die 1972/73 geboren wurden, einem Intelligenztest im Alter von 13 Jahren und 38 Jahren unterzogen (Meier et al. 2012). Der Cannabiskonsum wurde im Alter von 18, 21, 26, 32 und 38 Jahren erhoben. Diese Studie zeigte, dass fortgesetzter Cannabiskonsum mit einer Verminderung kognitiver Leistung verbunden war. Eine Verminderung des Intelligenzquotienten wurde nur bei den Personen beobachtet, die vor dem 18. Lebensjahr mit dem Cannabiskonsum begonnen hatten. Diese Defizite verschlechterten sich bei weiterem Konsum zusätzlich und bildeten sich nach einer Cannabisabstinenz nicht vollständig zurück. Dieser Effekt wurde bei Beginn des Cannabiskonsums im jugendlichen Alter sowohl für regelmäßigen als auch für unregelmäßigen Konsum nachgewiesen (mindestens ein Mal wöchentlicher Konsum). Wurde mit dem Cannabiskonsum erst im Erwachsenenalter begonnen, zeigte sich keine Verminderung des Intelligenzquotienten. Somit hat diese sehr hochwertige Studie zwei wichtige Hauptaussagen: Wird mit dem Cannabiskonsum vor dem 18. Lebensjahr begonnen, führt dies zu einer Minderung der Intelligenz, die sich auch bei späterer Cannabisabstinenz nicht zurückbildet. Wird erst nach dem 18. Lebensjahr begonnen, entstehen keine bleibenden Intelligenzdefizite.

    Eine weitere aktuelle Studie bestätigte diese Ergebnisse indirekt (Silins et al. 2014). Hier wurde nachgewiesen, dass Personen, die vor dem 17. Lebensjahr mit dem Cannabiskonsum begonnen hatten, bei täglichem Cannabiskonsum ein um 64 Prozent erhöhtes Risiko für einen Schulabbruch aufwiesen, ein um den Faktor 18 erhöhtes Risiko für eine Cannabisabhängigkeit, ein um den Faktor 8 erhöhtes Risiko bezüglich einer Abhängigkeit für andere Drogen und ein um den Faktor 8 erhöhtes Risiko für Suizidversuche. Bei mindestens wöchentlichem Cannabiskonsum, aber seltener als täglich, waren die entsprechenden Risiken noch etwa halb so hoch wie bei täglichem Cannabiskonsum.

    Als biologischen Mechanismus für neuropsychologische Defizite wird eine Interaktion mit dem endogenen Cannabinoidsystem vermutet, da nachgewiesen wurde, dass Endocannabinoide die Bildung, Reifung und Wanderung neuer Nervenzellen im Gehirn steuern, das Wachstum von Axonen bestimmen (ein Axon ist der Fortsatz einer Nervenzelle, über den Signale weitergeleitet werden) sowie die Entwicklung von Gliazellen (Gliazellen transportieren Flüssigkeit und  Nährstoffe zu den Nervenzellen) und die Position von verschiedenen Nervenzellen festlegen (Berghuis et al. 2007). Wenn Cannabis konsumiert wird, stört dies diesen feingesteuerten Umbauprozess, der während der Pubertät stattfindet. Im Erwachsenenalter finden sehr viel weniger Umbauprozesse statt, so dass Cannabiskonsum keine großen Veränderungen mehr bewirken kann. Tierversuche mit Ratten, denen Cannabinoide während der Pubertät verabreicht wurden, bestätigen eindeutig, dass neuropsychologische Defizite vor allem bei Beginn des Cannabiskonsums in der Pubertät auftreten.

    Trends im Konsum von Cannabis

    Bereits seit einigen Jahren gibt es einen Trend zu höherem THC- und niedrigerem CBD-Gehalt. In den USA hat sich in den letzten 20 Jahren der THC-Gehalt von etwa vier Prozent im Jahr 1995 auf etwa zwölf Prozent im Jahr 2012 erhöht, in den Niederlanden gab es einen ähnlichen Trend, der zu einer gesetzlichen Begrenzung des THC-Gehaltes auf 15 Prozent geführt hat. Auch aus Deutschland und Italien ist ein entsprechender Anstieg des THC-Gehaltes bekannt. Gleichzeitig enthalten neuere Cannabissorten nur noch wenig CBD, z. B. lag der CBD Gehalt in niederländischem Marihuana unter einem Prozent, während in die Niederlande importiertes Haschisch weiterhin einen CBD-Gehalt von  acht Prozent aufwies (Pijlmann et al. 2005).

    Ein weiterer Trend besteht im Aufkommen von Räuchermischungen, die synthetische Cannabinoide enthalten, erstmals mit dem Produkt „Spice“ 2008. Die Räuchermischungen werden regelmäßig durch die Aufnahme der Wirkstoffe ins Betäubungsmittelgesetz verboten, jedoch sind jeweils rasch neue Produkte mit anderen, nicht verbotenen synthetischen Cannabinoiden auf den Markt. Die in Räuchermischungen enthaltenen synthetischen Cannabinoide haben meist eine vier- bis achtfach stärkere Wirkung als Cannabis, einige Produkte haben aber sogar eine mehr als hundertfache Wirkstärke von THC. Diese Tatsache führt zu mehr Überdosierungen, die mit Kreislaufkollaps, Angst- und Panikattacken, psychotischen Symptomen, Verwirrtheitszuständen und epileptischen Anfällen einhergehen. Zusätzlich enthalten Räuchermischungen kein CBD und sind daher auch im Dauergebrauch potentiell schädlicher als die altbekannten Cannabissorten. Da es sich um chemisch andere Substanzen handelt als THC, sind synthetische Cannabinoide nicht durch übliche Drogentests im Urin nachweisbar.

    Hoher THC-Gehalt, niedriger CBD-Gehalt und synthetische Cannabinoide stellen einen Trend hin zu mehr gesundheitsschädlichen Cannabisprodukten dar. In der Geschichte gibt es vergleichbare Beispiele aus der Prohibition von Alkohol, z. B. in den USA 1919 bis 1933. Dort kam es zu einem verstärkten Verkauf von hochprozentigen Alkoholika wie Whisky anstatt von Bier und Wein sowie von selbstgebrannten Alkoholika, die oft gesundheitsschädliche Mengen von Methanol enthielten. Entsprechend kann der Trend zu gesundheitsschädlichen Cannabisprodukten als direkte Folge des Verbots von Cannabis angesehen werden.

    Schlussfolgerungen für die Legalisierungsdebatte

    Bisher wurde davon ausgegangen, dass Cannabis als direkte Substanzwirkung pauschal bei jedem Menschen Psychosen verursachen kann. Aktuelle Studien zeigen hingegen, dass es genetisch bedingte Unterschiede im individuellen Risiko gibt, durch Cannabiskonsum eine Psychose zu entwickeln. Zusätzlich konsumieren Personen, die Risiko-Gene für Psychosen tragen, häufiger und mehr Cannabis. Diese Personen würden evtl. auch ohne Cannabiskonsum eine Psychose entwickeln. Kalkulationen zeigen, dass eine hohe Zahl von mehreren Tausend Cannabiskonsumenten auf Cannabis verzichten müsste, um einen Fall einer Psychose zu verhindern. Aktuelle Studien relativieren also das von Cannabis ausgehende Risiko.

    Trotz des bisher von Gegnern der Legalisierung propagierten Risikos, dass jeder Konsum von Cannabis unmittelbar bei jedem Konsumenten zu einer lebenslangen Psychose führt, ist Cannabis weit verbreitet. Dieses Argument hat seine abschreckende Wirkung verfehlt. Aktuelle Studien machen zudem deutlich, dass das Risiko für Psychosen auch vom Alter bei Beginn des Cannabiskonsums abhängt, weil die Entwicklung des Gehirns gestört wird. Neuropsychologische Defizite durch Cannabis entstehen nur, wenn der Cannabiskonsum im jugendlichen Alter begonnen wird, aber nicht bei Konsumbeginn im Erwachsenenalter. Dies steht im krassen Gegensatz zu dem jetzigen Image von Cannabis als Jugenddroge, das dringend verändert werden muss.

    Cannabis ist nicht harmlos. Cannabiskonsum sollte daher so gering gehalten werden wie möglich. Darüber besteht eine Einigkeit bei den Befürwortern und den Gegnern einer Legalisierung. Aktuelle Studien belegen deutlich, dass Cannabis definitiv als Jugenddroge nicht geeignet ist, sondern im Gegenteil für Jugendliche besonders riskant ist. Daher kommt dem Jugendschutz eine besondere Bedeutung zu.

    Empfehlungen der EMCDDA

    Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (engl. European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction, EMCDDA, www.emcdda.europa.eu) hat sich seit 2010 in einem von der EU-Kommission finanziell geförderten Projekt intensiv mit der Frage der Cannabispolitik auseinandergesetzt und Empfehlungen entwickelt (ALICE RAP, 2014). Diese Empfehlungen – „Policy paper 5. Cannabis: From prohibition to regulation“ – stellen einen Mittelweg dar zwischen einem Verbot von Cannabis mit strafrechtlicher Verfolgung und einem freien, legalen Verkauf von Cannabis. Kernpunkt der Empfehlung ist, dass Cannabis von staatlichen Einrichtungen legal verkauft wird, aber die Verkaufsbedingungen sehr strengen Regeln unterliegen und streng kontrolliert werden sollten. Insbesondere soll der Jugendschutz damit verbessert werden. Hintergrund dieser Empfehlung ist die Einsicht, dass die aktuelle Prohibition von Cannabis versagt hat. Die Prohibitionspolitik geht davon aus, dass durch das Verbot von Cannabis die Verfügbarkeit reduziert wird. In einer aktuellen Umfrage des Eurobarometers im Juni 2014 schätzten 55 Prozent der 15- bis 24-Jährigen die Verfügbarkeit von Cannabis als leicht oder sehr leicht ein. Bei anderen Drogen hingegen, z. B. Ecstacy oder Kokain, scheint die Prohibition zu wirken, hierfür wurde die Verfügbarkeit nur von 20 Prozent als leicht oder sehr leicht eingeschätzt.

    Wenn die Prohibition funktionieren würde, dann müsste eine Verschärfung der Cannabisgesetze die Häufigkeit des Konsums reduzieren, während eine Liberalisierung den Cannabiskonsum erhöhen müsste. In England, Griechenland und Finnland wurden die Strafen reduziert, seit diesem Zeitpunkt ging der Konsum von Cannabis aber zurück. In Italien stoppte auch eine Erhöhung der Strafe nicht den Anstieg des Cannabiskonsums, während in Dänemark nach einer Straferhöhung genauso häufig Cannabis konsumiert wurde wie zuvor. Die Prävalenz von Cannabiskonsum ist also unabhängig von dem angedrohten Strafmaß.

    Ein legaler Verkauf von Cannabisprodukten würde die Möglichkeit eröffnen, Regeln und Bedingungen an Public-Health-Aspekten zur orientieren und so auf einen möglichst wenig gesundheitsschädlichen Konsum von Cannabis hinzuwirken.

    Kontakt:

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann
    Leitender Oberarzt
    Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
    Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
    J 5, 68159 Mannheim
    Derik.Hermann@zi-mannheim.de
    www.zi-mannheim.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann hat in Heidelberg und Mannheim Medizin studiert. Die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat er am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim absolviert. Nach Tätigkeiten als Oberarzt an der Charité Berlin Mitte 2007 und als Ärztlicher Direktor der suchtmedizinischen Klinik des Klinikum Stuttgart 2014 kehrte er jeweils wieder an die Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit zurück, wo er aktuell als Leitender Oberarzt tätig ist. Forschungsschwerpunkte sind  MRT- und PET-Untersuchungen zu Alkohol, Cannabis und Opiaten.

    Literatur:
    • ALICE RAP – Addiction and Lifestyles in Contemporary Europe Reframing Addictions Project. Policy paper 5. Cannabis: From prohibition to regulation, 2014. Online verfügbar unter: http://www.alicerap.eu/resources/documents/cat_view/1-alice-rap-project-documents/19-policy-paper-series.html
    • Arseneault et al. Cannabis use in adolescence and risk for adult psychosis: longitudinal prospective study. BMJ 2002; 325:1212-3.
    • Berghuis et al. Hardwiring the brain: endocannabinoids shape neuronal connectivity. Science 2007; 316:1212-6.
    • Demirakca et al. Diminished Gray Matter in the Hippocampus of Cannabis Users: Possible Protective Effects of Cannabidiol. Drug and Alcohol Dependence 2011; 114:242-5.
    • Hickman et al. If cannabis caused schizophrenia – how many cannabis users may need to be prevented in order to prevent one case of schizophrenia? England and Wales calculations. Addiction 2009; 104:1856-61.
    • Meier et al. Persistent cannabis users show neuropsychological decline from childhood to midlife. Proc Natl Acad Sci U S A. 2012;109:E2657-64.
    • Moore et al. Cannabis use and risk of psychotic or affective mental health outcomes: a systematic review. Lancet 2007; 370:319-28.
    • Niemi-Pynttäri et al. Substance-induced psychoses converting into schizophrenia: a register-based study of 18,478 Finnish inpatient cases. J Clin Psychiatry 2013; 74(1); e94-9.
    • Power et al. Genetic predisposition to schizophrenia associated with increased use of cannabis. Mol Psychiatry. 2014; 19:1201-4.
    • Schimmelmann et al. Cannabis use disorder and age at onset of psychosis-a study in first-episode patients. Schizophr Res. 2011; 129:52-6.
    • Silins et al. Young adult sequelae of adolescent cannabis use: an integrative analysis. The Lancet Psychiatry 2014; 1, 286–293.
  • Mensch und Milligramm

    Mensch und Milligramm

    Flyer Drogentagung 150518.pubSubstitution ist in Deutschland die mit Abstand häufigste Behandlungsform bei Opiatabhängigkeit: Etwa 77.000 Personen mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit werden derzeit substituiert. Demgegenüber befinden sich ca. 5.000 Personen in einer Reha-Maßnahme, und nur weniger als fünf Prozent wechseln aus der Substitution in eine abstinenzorientierte Therapie. Ein Übergang zwischen den Behandlungsformen ist also selten, und die ‚Unverbundenheit‘ der beiden ‚Systeme‘ erschwert eine optimale, passgenaue Behandlung.

    Deshalb haben sich die fünf Suchtverbände zum Ziel gesetzt, die Brückenbildung zwischen Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu fördern und Opiatabhängigen den Zugang zur Entwöhnungsbehandlung zu erleichtern. Dazu veranstalteten sie am 18. Mai 2015 in Berlin den Workshop „Wie geht es weiter … mit der Behandlung Opiatabhängiger?“, in dessen Rahmen die Ausgangslage analysiert und darüber diskutiert wurde, wie eine integrierte und systemübergreifende Behandlungsplanung erreicht werden kann. Eingeladen waren Experten/-innen und Fachleute aus Forschung und Praxis und Vertreter/-innen der Leistungsträger, die einladenden Verbände waren der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), die Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), der Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS), der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und der Fachverband Sucht e. V. (FVS).

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    In der folgenden Darstellung werden die Beiträge und Aussagen der Referenten/-innen und Teilnehmer/-innen wiedergegeben. Diese repräsentieren die teilweise gegensätzlichen Positionen unterschiedlicher Expertengruppen und Institutionen und entsprechen nicht immer der Sichtweise der Veranstalter. Es war den Suchtverbänden aber ein wichtiges Anliegen, mit der Veranstaltung ein offenes Forum zu schaffen, bei dem jede relevante Meinung zur Behandlung Opiatabhängiger dargestellt und diskutiert werden konnte.

    Einführung und Grußwort: Auf dem Weg zur optimalen Behandlungsform

    Dr. Theo Wessel, Geschäftsführer des GVS, begrüßte die Teilnehmer und betonte das Ziel, jedem Abhängigen die optimale Behandlungsform anbieten zu können. Bei dem Workshop gehe es darum, einen offenen Dialog über Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu führen und sich insbesondere über die substitutionsgestützte Entwöhnungsbehandlung zu verständigen. Es folgte ein Grußwort von Dr. Ingo Ilja Michels, Leiter der Geschäftsstelle der Bundesdrogenbeauftragten. Michels berichtete über die Vorzüge und Verdienste der Substitutionsbehandlung: Sie sichert Leben, verhindert die Übertragung von Krankheiten, die Betroffenen agieren nicht mehr in der Illegalität, eine soziale Integration ist möglich, und die Abhängigen, für die Abstinenz kein Ziel ist, können durch die Substitution dennoch erreicht werden. Michels sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen Substitutionsärzten und Reha-Einrichtungen aus. Die Abstinenzorientierung in der Substitution solle unterstützt werden, gleichzeitig sollten mehr Reha-Einrichtungen substituierte Patienten aufnehmen. Zum Abschluss stellte er die geplante Änderung der Betäubungsmittelgesetz-Verordnung dar, die vorsieht, den substituierenden Ärzten mehr Handlungs- und Therapiefreiheit zu geben und den Druck von Seiten des Strafrechts zu mindern.

    Epidemiologie: Weniger neue Klienten und eine alternde Kohorte

    Microsoft PowerPoint - Pfeiffer-GerschelAuf die Grußworte folgte der erste Themenblock mit einführenden Übersichtsreferaten. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), präsentierte aktuelle Zahlen zum Thema „Epidemiologie der Opiat- und Drogenabhängigkeit in Deutschland“. Die Prävalenz riskanten Opioidkonsums ist schwer zu schätzen. Laut DBDD-Jahresbericht 2014 führen Berechnungen auf der Basis von Zahlen aus Behandlung, Polizeikontakten und Drogentoten zu einer Schätzung der Zahl riskanter Konsumenten von Heroin in Deutschland auf 57.000 bis 182.000. Dies entspricht einer Rate von 1,05 bis 3,4 Personen pro 1.000 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren. Legt man der Schätzung nur Behandlungsdaten zugrunde, ist die Prävalenz seit 2005 ansteigend, nach Polizeikontakten und Todesfällen geschätzt ist die Prävalenz sinkend. Die europäischen Daten zeigen Anzeichen eines rückläufigen Heroingebrauchs: weniger neue Klienten, eine alternde Kohorte und ein Rückgang des iv-Konsums.

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik 2014 weisen 15 Prozent der Zugänge in den Beratungsstellen und den Fach-/Institutsambulanzen die Hauptdiagnose Opioidkonsum auf. Damit liegt eine Stabilisierung bzw. ein leichter Rückgang vor. Stark angestiegen sind dagegen Neuzugänge wegen Stimulanziengebrauchs. In der Rehabilitation (stationär und teilstationär) und der Adaption trifft auf sieben Prozent der Patienten die Hauptdiagnose Opioidabhängigkeit zu, was ebenfalls einer Stabilisierung entspricht. Rund ein Drittel der Klienten mit der Hauptdiagnose Opioide im ambulanten Bereich weist zusätzlich die Einzeldiagnose Cannabinoide auf, rund ein Viertel Alkohol und rund ein Fünftel Kokain (DSHS 2013).

    Das Durchschnittsalter der Opioidkonsumenten hat sich in den letzten Jahren deutlich nach hinten verschoben. Ein Großteil ist älter als 40 Jahre, das Durchschnittsalter bei den Todesfällen liegt bei 38 Jahren. Weniger junge Menschen unter 25 kommen nach. Aufgrund ihrer soziodemografischen Voraussetzungen sind Opioidkonsumenten sehr schwer in die Arbeitswelt zu integrieren. Über 60 Prozent (im ambulanten Bereich) sind arbeitslos (DSHS 2013). Die Straftaten im Zusammenhang mit Heroin (Besitz und Handel) sind zurückgegangen (BMI 2014). Heroin wird zunehmend ersetzt durch Stimulanzien, ‚neue‘ Drogen, andere Opiate und v. a. Medikamente (Fentanyl, Lyrica). Hepatitis C ist nach wie vor eine große Gefahr für i.v.-Dogenkonsumenten, ca. 80 Prozent sind infiziert.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Anschließend präsentierte Pfeiffer-Gerschel Daten zur Substitution. Diese ist zunehmend verfügbar, gut 50 Prozent der problematischen Opiatkonsumenten werden EU-weit erreicht. Das sind ca. 700.000 Personen (Europäischer Drogenbericht 2015). Fast 70 Prozent werden mit Methadon substituiert. Seit 2010 bewegt sich die Zahl der Substituierten in Deutschland zwischen 75.000 und 77.000 Personen, dabei bestehen zwischen den einzelnen Bundesländern sehr große Unterschiede. Die meisten Substituierten verzeichnet Bremen mit 264 Patienten pro 100.000 Einwohner. Baden-Württemberg liegt mit 96 Patienten pro 100.000 Einwohner im Mittelfeld. Versuche, das Substitutionsmittel abzusetzen, werden in den meisten Fällen nicht unternommen.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Die psychische Morbidität ist unter Substitution weiterhin stark ausgeprägt. Zu den häufigsten komorbiden Störungen gehören Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Stress- und psychotische Störungen. Über Substitutionsbehandlung in Haft sind so gut wie keine Daten bekannt.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Prävalenz der Opioidhängigkeit seit den 80er Jahren nicht verändert hat. Die Inzidenz geht zurück, aber die Prävalenz bleibt aufgrund besserer Überlebenschancen durch Harm-Reduction-Maßnahmen und Substitution konstant. Als offene Fragen stellte Pfeiffer-Gerschel abschließend in den Raum: Wie kann die Qualität der Drogentherapie optimiert werden, z. B. durch definierte Behandlungspfade? Wie verbessert man den Übergang zwischen Substitution und Entwöhnung? Und wie kann die Versorgungssituation reguliert werden, wenn die substituierenden Ärzte in Rente gehen?

    Versorgungssystem: Wie gut sind die aktuellen Angebote für Opioidabhängige?

    02_Leune_rIm zweiten Übersichtsreferat behandelte Jost Leune, Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V., das Thema „Das Versorgungssystem für Opioidabhängige: Wer behandelt wen mit welcher Zielsetzung?“. Er bezog sich dabei auf die Strukturanalyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“, die die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) im Februar 2014 veröffentlicht und auf ihrer Homepage bereitgestellt hat. Als Grundlage seines Vortrags diente ihm das Kapitel „4.4. Matrix 2 – Versorgungsrealität“. Diese Matrix kombiniert sämtliche Interventionen in der Suchthilfe (von Prävention über Rehabilitation bis Selbsthilfe) mit exemplarischen Zielgruppen und bewertet, wie gut im jeweiligen Bereich für die jeweilige Zielgruppe die Versorgungsrealität ist.

    Die einzelnen Daten und Fakten, die der jeweiligen Bewertung zugrunde liegen, können hier nicht für jede Intervention wiedergegeben werden. Dazu sei auf die PDF-Version der Strukturanalyse verwiesen. Diese steht auf der Homepage der DHS zur Verfügung (www.dhs.de > DHS Stellungsnahmen).

    Für die Zielgruppe „Erwachsene mit Drogenabhängigkeit“ ergibt sich aus der Strukturanalyse, dass eine gute Funktion und eine gute Integration in das Hilfesystem für folgende Angebote gegeben sind: Stationäre psychiatrische Behandlung, Niedrigschwellige Hilfen und Sucht- und Drogenberatung (inkl. Schuldnerberatung). Ebenfalls erfolgreich sind Entgiftung und Qualifizierter Entzug, Stationäre medizinische Rehabilitation, Adaption und (Reha-)Nachsorge, aber auch Ambulant betreutes Wohnen, Stationäres sozialtherapeutisches Wohnen, Übergangswohnen und (soweit vorhanden) Tagesstrukturierende Maßnahmen – obwohl es insbesondere in der medizinischen Rehabilitation für Substituierte noch einige Probleme gibt. Außen vor in der Bewertung bleibt der Bereich der Justiz, weil die Suchthilfe keinen Einfluss darauf hat.

    Eine eingeschränkte Funktion im Hilfesystem und Schnittstellenprobleme zeigen – vor allem bei substituierten Opioidabhängigen – die Bereiche Stationäre somatische Akutbehandlung (im Allgemeinkrankenhaus), Sozialpsychiatrische Betreuung, Ambulante psychiatrische Behandlung (in psychiatrischen Institutsambulanzen) sowie – aufgrund mangelnder finanzieller Förderung – Psychosoziale Begleitung Substituierter.

    Hilfen zur Erziehung, Angebote für die Teilhabe an Arbeit sowie Ambulante Substitution, Ambulante medizinische Rehabilitation und Ganztägig ambulante Rehabilitation können aufgrund der problematischen Situation in der psychosozialen Betreuung nicht im notwendigen Umfang angeboten werden. Bezogen auf die Suchtberatung im Betrieb sind kaum Aussagen möglich. Selbsthilfe ist zwar bei JES (Junkies, Ex-User, Substituierte) organisiert, aber gemessen an der hohen Zahl Substituierter nur in geringem Umfang.

    Es bestehen Defizite durch fehlende Versorgung in den Bereichen Ambulante psychotherapeutische Behandlung, Berufliche Rehabilitation, Beschäftigung für behinderte Menschen (in Werkstatt) sowie Hilfen für Pflegebedürftige. Ambulante somatische Akutbehandlung inkl. Frühintervention, Qualifizierung sowie Arbeitsförderung bzw. Maßnahmen von Arbeitsagentur/Jobcenter sind zwar möglich, aber so abgegrenzt vom Hilfesystem, dass fast kein Übergang dorthin möglich ist.

    Leune schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass das Versorgungssystem für Opioidabhängige noch besser werden würde, wenn das gegliederte System der sozialen Sicherung durchlässiger wäre, wenn Einrichtungsgrenzen überwunden werden und eine gemeinsame (Fach-)Sprache gefunden werden könnte und das System auskömmlich finanziert wäre.

    Zielgruppen: Substitution ist nicht gleich Substitution

    03_Heinz_rIm Vortrag von Werner Heinz, Leiter der AG Substitution der Caritas Suchthilfe (CaSu), ging es um die Frage „Mit welchen Zielgruppen und Methoden ist Suchtbehandlung bei Opiatabhängigen möglich?“. Als Ausgangslage stellte er fest, dass Substitution in der heutigen Behandlung von Opiatabhängigkeit der Normalfall sei und dass die Behandlung nur auf der Grundlage der Substitutionstherapie weiterentwickelt werden könne. Zwei Hürden müssten überwunden werden, die er in seiner Präsentation so formuliert: „Substitution verhindert medizinische Rehabilitation – Medizinische Rehabilitation sperrt Substituierte aus“. Wenn hier ein Brückenschlag gelingt, dann können die Defizite der aktuellen Substitutionspraxis aufgefangen und mehr Drogenabhängige zur Chance (nicht dem Zwang) der Abstinenzorientierung hingeführt werden. Als Defizit der Substitution nannte Heinz, dass keine Suchttherapie stattfinde. Die psychosoziale Betreuung, die außerdem nur wenig Substituierte erreiche, sei Suchtsozialarbeit und motivationale Suchtberatung, mit der jedoch das hohe Ausmaß an psychischen Störungen und psychosozialen Entwicklungsdefiziten nicht bewältigt werden könne – eine Feststellung, die die Ergebnisse der PREMOS-Studie bestätigen.

    Wie können die ‚Systeme‘ Substitution und Reha also sinnvoll zusammengebracht werden? Heinz näherte sich dieser Frage systematisch, indem er die Substituierten zunächst in verschiedene Zielgruppen einteilte und dann jeder Gruppe passende Maßnahmen aus dem Hilfesystem zuordnete. Er unterschied folgende Zielgruppen:

    1. Opiatabhängige mit Abstinenzorientierung: Diese Personen haben positive Reha-Erfahrungen gemacht und verfügen über gute soziale Ressourcen. Sie haben bereits Abstinenzfähigkeit erlebt und wollen diese wieder herstellen.
    2. Substitution als Ausstiegsmedikation: Diese Personen sind motiviert und abstinenzorientiert mit vorausgehender Abstinenzerfahrung, haben aber zu wenig Zuversicht und Selbstvertrauen, dauerhaft abstinent bleiben zu können, und lehnen deshalb eine (erneute) Reha ab. Sie verfügen über gute soziale Ressourcen und oft über einen Arbeitsplatz, beides soll durch die Substitution gesichert werden.
    3. Maintenance-Substitution bei fortschreitender sozialer Integration: Diese Personen erleben sich als ‚clean‘. Durch Take-home-Verschreibungen verfügen Sie über die Autonomie, ihr Leben relativ frei zu gestalten. Gute soziale Ressourcen und oftmals ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz sind vorhanden. Diese Zielgruppe hat keinen Anlass abzudosieren. Das Therapieziel heißt hier Arbeit und Teilhabe.
    4. Auf Dauer gestellte Ambivalenz: Diese Personen ändern häufig das Substitutionsmittel und die Dosierung, sie leiden häufig unter psychischen Beeinträchtigungen und Belastungen, es fehlen psychische Bewältigungskompetenzen. Als Betreuungsziele sind hier zu nennen: Beikonsumfreiheit und psychosoziale Stabilisierung unter Substitution, Therapiemotivation und -Vermittlung.
    5. Stagnierende Langzeitsubstitution bei verfestigter sozialer Randständigkeit: Diese Personen leben im ‚Substitutionsmilieu‘ als sozialem Umfeld. Sie haben ein reduziertes Aktivitätsniveau, sind langzeitarbeitslos mit geringer Tagesstruktur, überwiegend mit Methadon substituiert und haben einen sedierenden Cannabis- oder Alkoholkonsum.
    6. Ersatzdrogenvergabe bei chronifizierter Polytoxikomanie: Diese schwerstabhängigen Klienten weisen eine desolate Lebenssituation mit hoher Szenebindung auf. Sie konsumieren eine Reihe von Drogen und Alkohol. Das Substitutionsmittel dient als ‚Grundversorgung‘ und wird häufig in hoher Dosierung eingenommen mit spürbarer Sedierung. Dies ist die Zielgruppe für eine Diamorphinvergabe.

    Was kann die Behandlungslandschaft nun für die genannten Zielgruppen tun? Für die Zielgruppen 1, 2 und 3 kommt eine substitutionsgestützte ambulante Rehabilitation in Frage, denn Psychotherapie unter Substitution ist möglich. Auch eine ambulante Reha ohne Substitution kann geeignet sein. Für die Zielgruppen 4 und 5 sind eine dauerhaft gestützte ambulante Rehabilitation, eine Intervalltherapie oder eine Tagesreha geeignet oder auch eine stationäre Rehabilitation. Für die Zielgruppe 6 kommen Angebote wie stationäre Krisenintervention, Übergangseinrichtungen, substitutionsgestützte stationäre Rehabilitation oder soziotherapeutische Einrichtungen in Frage.

    Eine weitere Zielgruppe sind Substituierte mit schweren psychiatrischen Komorbiditäten. Für diese Gruppe sind besondere Behandlungsangebote nötig. Als positives Beispiel führte Heinz das Asklepios-Krankenhaus Göttingen an, das eine eigene Abteilung für Substituierte mit Traumata oder Borderline-Störung hat und sehr erfolgreich eine ambulant-stationäre Intervalltherapie durchführt.

    Heinz appellierte an die Leistungsträger, an das Rehabilitationssystem und die Drogenpolitik, dass sie sich im Hinblick auf Finanzierungswillen und Behandlungskonzepte mehr öffnen für die Integration von Substitution und Rehabilitation und das Therapieziel Arbeit statt Abstinenz. Er regte die Durchführung von Bundesmodellprojekten an, um die Behandlung der Opiatabhängigkeit zu verbessern.

    Suchtberatung und PSB: Case Management und Kooperationsarbeit

    04_Zehr_rIm Anschluss an die Übersichtsreferate folgten mehrere Vorträge, die sich mit den Behandlungsmodulen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschäftigten. Zu Beginn dieses neuen Themenblocks stellte Uwe Zehr vom Verein für Jugendhilfe e. V. in Sindelfingen „Die Rolle der Suchtberatung und der psychosozialen Betreuung“ vor. Als Erstes steckte er die Rahmenbedingungen ab: Suchtberatung wird von den Kommunen finanziert. Daraus ergibt sich, dass die Kommunen auch überwiegend die Aufgaben der psychosozialen Betreuung (PSB), die durch die Suchtberatungen wahrgenommen werden, definieren. Laut BtMVV § 5, Abs. 2, Nr. 2 muss jeder substituierte Patient eine PSB erhalten, oder anders herum: Jeder substituierende Arzt hat einen rechtlichen Anspruch auf PSB für seine Klienten, den die Kommune in dieser Region erfüllen muss. Selten wird PBS im Rahmen individueller Eingliederungshilfe geleistet, selten ist sie ein verbindlicher Teil des medizinischen Versorgungssystems.

    Suchtberatungen führen PSB im Auftrag der Kommunen durch. Sie bringen beste Voraussetzungen mit, um als ‚proaktive‘ Case Manager zu agieren: Sie bieten ein multiprofessionelles Team, eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, eine zeitnahe Krisenintervention und Netzwerkkenntnis. Die Leistungen des Suchthilfesystems haben sich in den letzten Jahren weiter differenziert. Diese Leistungen werden von den substituierenden Ärzten gar nicht vollständig abgerufen. Hierbei könnten die Suchtberatungen als Case Manager ihr Knowhow erfolgreich einbringen.

    Zehr analysierte im Einzelnen die Kooperationsbeziehungen, die bei der Durchführung der PSB entstehen. Die Beziehungen zu den substituierenden Ärzten können sehr unterschiedlich sein, je nach Schwerpunktsetzung der medizinischen Behandlung. Zehr rief die Suchtberatungen dazu auf, auf die Ärzte zuzugehen. Sie hätten eine bessere Ausgangsposition, um eine gute Zusammenarbeit anzustoßen. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist das Jugendamt. Hier fehlen einheitliche Standards. Bei substituierten Eltern sollten Jugendamt und Suchtberatung eng zusammenarbeiten, dies kann sehr positive Auswirkungen haben: Der ‚Faktor Elternschaft‘ kann sogar zum Übergang in eine Reha motivieren. Manche Jugendhilfemaßnahmen müssten erst gar nicht durchgeführt werden (was auch Kosteneinsparungen bedeutet). Kooperationen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem wären angesichts der stark vertretenen komorbiden Störungen bei Substituierten wichtig, sind aber in der Praxis schwierig. Substituierte (und Suchtpatienten generell) sind häufig unzuverlässig, es stellt sich das Problem der Verträglichkeit von Substitutionsmittel und Psychopharmaka, und manche Therapeuten halten eine Psychotherapie unter Substitution nicht für durchführbar. Eine Kooperation zwischen Suchtberatung und dem sozialpsychiatrischen Dienst wird zu wenig genutzt. Eine Vermittlung von Substituierten in die Suchtreha findet nur selten statt, obwohl viele Substituierte die Reha bereits kennen und die Substitution irgendwann auch beenden möchten. An einer Reha unter Erhaltungsdosis hätten Substituierte einer Umfrage in Schleswig-Holstein zufolge jedoch ein deutlich höheres Interesse, v. a. im ambulanten Setting. Als weitere Kooperationspartner kämen die Jobcenter in Frage, da über 50 Prozent der Substituierten in PSB ALG II beziehen. Aber von Seiten der Jobcenter gibt es keine besonderen Maßnahmen oder Kooperationen mit der Suchtberatung.

    Als Entwicklungschancen fasste Zehr zum Abschluss folgende Aspekte zusammen: Der ‚Motivationsfaktor Elternschaft‘ sollte genutzt werden, für die Kooperation zwischen Jugend- und Suchthilfe müssen und können einheitliche Standards geschaffen werden. Die Suchtberatung sollte den Ärzten proaktiv ihr Case Management anbieten und sich um einen ‚Quasi-Versorgungsauftrag‘ durch die Kommune bemühen. Die Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Versorgung sollte verbessert und Modelle der Suchtreha unter Erhaltungsdosis sollten genutzt und ausgeweitet werden.

    Suchtmedizin: Zielhierarchie und Substitutionsrecht

    05_Meyer-ThompsonHans-Günter Meyer-Thompson, bis August 2015 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), stellte in seinem Vortrag die „Substitutionsbehandlung aus Sicht der Suchtmedizin“ dar und setzte sich kritisch mit dem von FVS und fdr gemeinsam veröffentlichten „Positionspapier zur stärkeren Vernetzung von Substitution und Entwöhnungsbehandlung“ (SuchtAktuell 2-2014) auseinander. Er hob die Vorteile der Substitution hervor: Sie sichert Überleben, stillt den Opiathunger und ermöglicht es den Klienten, stabile Lebensverhältnisse aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie hat die Ausbreitung von AIDS und die Zahl der Drogentoten reduziert. Meyer-Thompson stellte dar, inwiefern die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen zur Substitution die Patienten/-innen diskriminieren – zwangsweise PSB, keine Abgabe des Substitutionsmittels in der Apotheke, tägliche Termine in der Arztpraxis, dadurch keine Urlaubsmöglichkeit, Unterdosierung in Reha-Einrichtungen – und die Ärzte von vornherein „mit einem Bein im Gefängnis“ stehen lassen.

    Deshalb fordert die DGS zum einen eine neue Zielhierarchie in der Behandlung. Abstinenzorientierung soll gleichrangig mit Zielen sein, die durch Substitution erreicht werden, wie Hilfe zum Überleben, Behandlung von Begleiterkrankungen, Reduktion des Gebrauchs psychotroper Substanzen sowie Verringerung der Risiken einer Opiat-/Opioidabhängigkeit während Schwangerschaft und Geburt. Außerdem wird eine bessere Versorgung bestimmter Patientengruppen gefordert. Dazu gehören opioidabhängige Strafgefangene, substituierte Eltern, Einwanderer und Flüchtlinge sowie Patienten mit Beikonsum. Für Substituierte mit schweren psychischen Störungen soll der Zugang zur ambulanten Psychotherapie verbessert werden. Zum anderen fordert die DGS eine Änderung des Substitutionsrechts. Die unmittelbare ärztliche Tätigkeit gehört in Richt- und Leitlinien geregelt, Behandlungsfehler sind demzufolge durch das Berufsrecht und nicht durch das Strafrecht zu sanktionieren.

    Abschließend plädierte Meyer-Thompson dafür, dass ambulante Substitutionsbehandlung und stationäre Therapie aufeinander zugehen sollten, um die jeweiligen Stärken, Schwächen und Erfahrungen zu analysieren. Auf dieser Grundlage sollten gemeinsam die Kriterien für die im Einzelfall beste Behandlung weiterentwickelt werden.

    Entzug: Motivationsförderung und Anschlussperspektiven

    06_Kuhlmann_rÜber „Opioidabhängige im Entzug“ referierte Dr. Thomas Kuhlmann von der Psychosomatischen Klinik Bergisch Gladbach. Er stellte zunächst die wesentlichen Inhalte des qualifizierten Entzugs dar. Dazu gehören Motivationsförderung, Teilhabeorientierung und das Erarbeiten einer Anschlussperspektive. Anschließend berichtete Kuhlmann detailliert über verschiedene Aspekte des medikamentengestützten Entzugs. Dieser ist bei Entzugserscheinungen die Methode der ersten Wahl. Hierbei werden die eingesetzten Medikamente entweder homolog abdosiert, als ‚Krücke‘ für den Entzug, oder bis zur Erhaltungsdosis aufdosiert, wenn eine Substitutionsbehandlung durchgeführt werden soll. Neben der Reduzierung der Entzugserscheinungen können die verabreichten Opiatanaloga eine Reihe weiterer Wirkungen hervorrufen: Sie wirken sedierend oder nicht sedierend, können zu Verstopfung, Schweißneigung und Atemdepression führen und die Libido dämpfen. Um Letzteres auszugleichen, konsumieren Substituierte häufig Kokain. Die Ausprägung der Nebenwirkungen fallen individuell sehr unterschiedlich aus.

    Eine besonders wichtige Rolle beim Entzug spielt die Motivationsförderung. Dabei soll der Behandler dem Patienten Perspektiven aufzeigen können, da die Patienten sich meist selbst gar keine Perspektiven vorstellen können. Diese Perspektiven sollen nach der Entzugsbehandlung nahtlos weiterverfolgt werden können. Gleichzeitig soll als Ziel der Behandlung ein „Menu of options“ in Frage kommen, von der diamorphingestützten Behandlung bis hin zur medizinischen Reha. Um eine kurzfristige und mittelfristige Anschlussperspektive herzustellen, müssen z. B. folgende Punkte geklärt werden: Bestehen Probleme mit der Justiz oder dem Ausländeramt? Wie ist die Wohn- und Arbeitssituation? Wie geht es in der Behandlung weiter?

    Als Fazit fasste Kuhlmann zusammen, dass eine sozialpsychiatrische Haltung entscheidend für eine gute (Entzugs-)Behandlung Opiatabhängiger ist. Dafür stellt die Spaltung des Hilfesystems in niederschwellig, überlebenssichernd und ausstiegsorientiert ein großes Problem dar. Diese Spaltung muss überwunden werden, um Überleben und Teilhabe zu sichern. Substitution darf kein Ausschlusskriterium für medizinische Reha sein, und auch Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnangebote (z. B. Clean-WGs) müssen weiterentwickelt werden.

    Entwöhnung: Abstinenzquoten und Prädiktoren für den Behandlungserfolg

    07_Fischer_rMartina Fischer von der AHG Klinik Daun-Altburg stellte in ihrem Vortrag anhand von Katamnesedaten den Erfolg der stationären Entwöhnungsbehandlung bei Opioid- und Drogenabhängigkeit dar. Sie berichtete über den Entlassjahrgang 2012 in sieben Drogenkliniken des FVS (mit einem Rücklauf von mindesten 25 Prozent). Die Gesamtstichprobe umfasste insgesamt 1.275 Patienten. Diese zeichneten sich durch eine hohe Haltequote aus (planmäßige Behandlungsdauer 59 Prozent). Der Anteil der opioidabhängigen Patienten sinkt gegenüber den Vorjahren, er machte nur noch 16,8 Prozent aus. Am stärksten vertreten (30,8 Prozent) waren Patienten mit multiplem Substanzgebrauch.

    Fischer berichtete über die katamnestischen Erfolgsquoten, die den Anteil abstinent lebender ehemaliger Patienten erfassen. Die katamnestischen Erfolgsquoten werden üblicherweise mit den Berechnungsformen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DGSS) ermittelt. Für die oben genannte Stichprobe betrug die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS 3 66,0 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf die in der Katamneseuntersuchung erreichten Patienten (Antworter) bezogen. Nach DGSS 4 betrug die katamnestische Erfolgsquote 21,2 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf alle entlassenen Patienten bezogen. Die Quote der Antworter (Ausschöpfungsquote) lag in dieser Untersuchung bei 32,1 Prozent. Von den planmäßig entlassenen Patienten wurden 43,2 Prozent innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung rückfällig.

    Bezogen auf den Entlassjahrgang 2011 wurde untersucht, welche Prädiktoren auf das Behandlungsergebnis und die katamnestische Erfolgsquote schließen lassen. Im Hinblick auf die Entlassform wirken sich Auflagen vom Gericht und sonstige Auflagen, F 12- und F 14-Diagnosen (Störungen durch Cannabinoide bzw. Störungen durch Kokain, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10) und eine längere Therapiezeit positiv aus. Frauen schließen häufiger regulär ab als Männer. Männer antworten seltener als Frauen bei der Katamnesebefragung, weitere ungünstige Faktoren hierfür sind keine Ausbildung, Auflagen vom Gericht, Arbeitslosigkeit und eine F 11-Diagnose (Störungen durch Opioide, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10). Eine reguläre Entlassung und eine längere Therapie begünstigen Abstinenz, wohingegen gerichtliche Auflagen häufig in Zusammenhang mit einer schlechteren Abstinenzquote vorkommen.

    Als besonders nützliche Intervention in der stationären Reha hob Fischer die Entwicklung der Ausstiegsmotivation hervor, d. h. Ausstieg aus der schlechten Gesamtsituation. Voraussetzungen dafür sind Drogenfreiheit sowie eine realistische und subjektiv wertvolle Zukunftsperspektive. Den Patienten/-innen soll bewusst werden, dass es eine Ausstiegsmöglichkeit gibt, dazu brauchen sie auch die Kenntnis des Hilfesystems.

    Die stationäre Reha weist eine Reihe an Wirkfaktoren auf. Dazu gehören insbesondere das Herauslösen des Patienten/der Patientin aus dem gewohnten Umfeld, die individuelle Anpassung von Behandlungsangeboten aus Medizin, Psychotherapie, Ergo-/Arbeitstherapie und sozialer Arbeit sowie die Möglichkeit, innerhalb einer Gemeinschaft neue Beziehungserfahrungen zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die stationäre Reha mit stabilen Abstinenzquoten sehr erfolgreich ist.

    Reha mit Substitution: Patienten mit höherer Problembelastung

    08_Claussen_rDen Abschluss in der Reihe der Vorträge machte Ulrich Claussen von der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ mit seinem Beitrag „Substitutionsgestützte Rehabilitation als zusätzliche Angebotsform“. Die Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ nimmt seit 2012 substituierte Patienten/-innen auf. Ziele der Behandlung sind die Abstinenz und die Abdosierung des Substitutionsmittels. Letztere wird über die Jahre gesehen bisher von einem Viertel die Patienten/-innen erreicht. Vor Beginn der Reha soll der Beikonsum eingestellt und die Eingangsdosis von 60 Milligramm Methadon erreicht sein. Der Zugang über eine Übergangseinrichtung sichert diese Voraussetzungen.

    Die Rehabilitationsbehandlung selbst ist in drei Phasen eingeteilt. Nachdem in Phase I, der Klärungsphase, Diagnostik und Motivationsarbeit durchgeführt und Ziele vereinbart wurden, soll in Phase II, der Veränderungsphase, abdosiert und Symptome behandelt werden. Phase III dient der Stabilisierung der Abstinenz, hier soll eine Orientierung nach außen erfolgen, ebenso Rückfallprävention und die Planung der Nachsorge. Zu den Herausforderungen, die im Verlauf der Behandlung gemeistert werden müssen, gehört es, Krisen beim Ausdosieren und Rückfälle nach dem Ausdosieren zu vermeiden bzw. Krisen schnell zu erkennen und zu bewältigen. Die Patienten/-innen erhalten jeweils einen individuellen Behandlungsplan zur Ausdosierung, es finden unterstützende und motivierende Gespräche in der Gruppe und psychotherapeutische Einzelsitzungen statt.

    Die substituierten Patienten/-innen sind gegenüber nicht substituierten Drogenpatienten durch eine erhöhte Problembelastung gekennzeichnet: Sie haben seltener einen Ausbildungsabschluss, beziehen häufiger Transferleistungen, weisen vermehrt körperliche und psychische Erkrankungen auf, hatten häufiger Vorbehandlungen, waren aber seltener vorher in Reha. In der Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ waren unter den Substituierten bisher vergleichsweise viele Frauen: Von den 57 Personen, die ihre Behandlung abgeschlossenen haben, waren 30 Prozent Frauen. Der Frauenanteil unter den nicht substituierten Opiatpatienten beträgt durchschnittlich zehn Prozent. Weiterhin zeigten die substituierten Patienten/-innen schlechtere Leistungen in Konzentration, Sorgfalt und Tempo beim Erledigen von Aufgaben.

    Rund 25 Prozent der Klientel haben die Ausdosierung erreicht, 30 Prozent haben die Ausdosierung begonnen, und 47 Prozent haben nicht ausdosiert. Dies kann daran liegen, dass sich komorbide Störungen wie Psychosen dadurch verschlimmern würden oder die Patienten körperlich dazu nicht in der Lage sind und das Rückfallrisiko zu sehr steigen würde. Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist die Nachsorge im Netzwerk des Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. Allen Patienten/-innen wird eine Weitervermittlung angeboten, bei irregulären Beendigungen der Behandlung hält der Träger verschiedene Auffangangebote bereit.

    Zur Weiterentwicklung und Verbesserung der substitutionsgestützten Reha wünscht sich Claussen eine breitere Datenbasis und Untersuchungen zu Prädiktoren eines erfolgreichen Reha-Verlaufs. Substitutionsgestützte Reha soll getrennt beforscht werden.

    Kommentare: Was wollen DRV, GKV, Bundesärztekammer und Suchtverbände?

    Im dritten Block der Veranstaltung waren Vertreter/-innen von DRV und GKV, der Bundesärztekammer und der Suchtverbände dazu aufgerufen, aus ihrer Sicht Kommentare zum Entwicklungsbedarf bei der Behandlung Opiatabhängiger abzugeben. Marie-Luise Delsa von der Deutschen Rentenversicherung Bund äußerte sich aufgrund des Inputs aus den vorangegangenen Vorträgen spontan. Ihrer Ansicht nach sollten die Patienten/-innen vor Beginn der Substitution besser über alle Möglichkeiten, die das Suchthilfesystem bietet, informiert werden, die Zahl der Personen in Substitution sei zu hoch. Wichtig seien nahtlose Übergänge in die Reha für Drogenpatienten und schnelle Bewilligungen der Anträge.

    10_Tolzin_rDr. Christoph Jonas Tolzin äußerte sich aus Sicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Er verwies auf die für die GKV verbindlichen rechtlichen Grundlagen der Behandlung Opiatabhängiger. Dazu zählen das Betäubungsmittelgesetzt, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV), die Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger und das SGB V. Aus den Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger zitierte er wesentliche Bestimmungen und die letzten Änderungen der Richtlinie Methadon aus dem Jahr 2013. Hier wurden die räumlichen und personellen Anforderungen an diamorphinsubstituierende Einrichtungen den realistischen Möglichkeiten angepasst. Eine Evaluation der Substitution mit Diamorphin sei abzuwarten.

    11_von_Ascheraden_rDr. Christoph von Ascheraden stellte dar, wie sich aus Sicht der Bundesärztekammer die BtMVV zur substitutionsgestützten Behandlung weiterentwickeln solle. Demnach solle die Zielhierarchisierung geändert und das absolute Diktum der Abstinenzorientierung entfernt werden. Substituierenden Ärzten dürften keine strafrechtlichen Sanktionen drohen. Etwaige Behandlungsfehler sollten ausschließlich berufsrechtlich geahndet werden. Beikonsum solle als „Beigebrauch“ oder „komorbider Substanzgebrauch“ bezeichnet und nicht ‚bestraft‘, sondern therapiert werden. Den Ärzten solle mehr Therapiefreiheit gegeben werden und eine Verschreibung des Substitutionsmittels auch für mehr als sieben Tage möglich sein. Eine enge Kontrolle und Sichtbezug zu Beginn der Behandlung seien absolut angemessen, aber bei stabilen Verhältnissen solle den Ärzten mehr Flexibilität möglich sein. von Ascheraden forderte, sich sehr um eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Substitution zu bemühen, damit sich mehr junge Ärzte für diesen Bereich entscheiden.

    12_Weissinger_rDas Abschlussstatement aus Sicht der Suchtverbände hielt Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. Er fasste zusammen, dass ein sehr vielfältiges und spezialisiertes Behandlungsangebot zur Verfügung steht, in dem jedoch die Übergänge zwischen den Behandlungsformen besser organisiert werden müssten. Insbesondere müsse die Brückenbildung zwischen Substitution und Reha ausgebaut werden, 200 bis 300 Übergänge pro Jahr aus der Substitution bei insgesamt 4.000 bis 5.000 Drogenpatienten in einer Reha-Maßnahme sei zu wenig. Grundlage der Behandlung ist ein ganzheitliches Bild des Patienten/der Patientin, für den/die je nach individuellem Bedarf ein passendes Behandlungsangebot gefunden werden muss. Um das sektorierte Behandlungssystem in Bewegung zu bringen, schlug Weissinger drei Maßnahmen vor:

    1. die Fortführung der Substitution in regelmäßigen Abständen kritisch zu hinterfragen. In Abstimmung mit der psychosozialen Betreuung sollen geeignete Patienten/-innen für die Reha motiviert werden.
    2. die nahtlose Überleitung in den Entzug bzw. in die Entwöhnungsbehandlung durch ein Überleitungs- bzw. Fallmanagement zu unterstützen. Ebenso soll bei Abbruch der Entwöhnungsbehandlung ein Fallmanagement unterstützend eingreifen und zeitnah die erforderlichen Hilfen einleiten.
    3. die Kriterien und Ziele der substitutionsgestützten Reha, wie sie in Anlage 4 der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen beschrieben sind, zu überprüfen, damit diese Behandlungsform vermehrt genutzt wird und sie ihre Funktion der Brückenbildung ausüben kann.

    Diskussion: Patienten und Kommunen einbinden

    An die Vorträge und Statements schloss sich eine sehr angeregt Diskussion an. Gefordert wurde, dass auch die Betroffenen und die Selbsthilfe am Diskurs beteiligt werden sollten. Auch im Rahmen der Behandlung selbst sollten die Patienten/-innen bei der Frage der Abdosierung ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht erhalten. In einem Teilnehmerstatement wurde angeregt, dass man von der Fokussierung auf Milligramm-Mengen des verabreichten Substitutionsmittels abrücken und die Gesamtsituation des Patienten betrachten müsse. Für ein zufriedenes Leben sind v. a. Tagesstruktur und Arbeit äußerst wichtig. Diese müssten für Substituierte geschaffen werden und könnten ggf. eine gute Grundlage für eine Abdosierung bieten.

    Neben einer Beteiligung der Betroffenen wurde auch die Einbindung von Kommunen und Ländern in den Diskurs gefordert – denn die bezahlen ‚Fallmanagement‘ und psychosoziale Betreuung, also diejenigen Interventionen, denen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Substituierten in die Reha zukommt. Kritisch wurde angemerkt, ob niedergelassene Psychotherapeuten tatsächlich eine Ressource für die ambulante Betreuung Substituierter darstellen, da sie meist keine Zusatzqualifikation Sucht aufweisen und Suchtkranke für sie oftmals ‚unattraktive‘ Patienten sind. Auch die Frage nach der Zuständigkeit wurde aufgeworfen. Da für Substituierte die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht immer möglich ist, sei für ihre Entwöhnung und den Entzug vom Substitutionsmittel die Krankenkasse zuständig.

    Die Hauptaufgabe zur Verbesserung der Behandlung Opiatabhängiger besteht darin, die Grenzen innerhalb des sektorierten Behandlungssystems zu überwinden. Dafür gehen die Mitarbeiter/-innen in den Einrichtungen bereits weit über ihren Auftrag hinaus. Weitere Brücken sollen gebaut werden! Gewünscht wurde ein offener Dialog mit allen Beteiligten: DRV, GKV, Ärztekammer, niedergelassene Ärzte, Suchtverbände und Betroffene. Ein Anfang wurde mit dieser Veranstaltung gemacht!

    Kontakt:

    Simone Schwarzer
    Redaktion KONTUREN online
    redaktion@konturen.de