Schlagwort: Suchttherapie

  • RehaCentrum Alt-Osterholz

    RehaCentrum Alt-Osterholz

    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz
    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz

    Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.

    Eine Substanz – viele Lebenswelten

    Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.

    Aufhebung der Parallelsysteme

    Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.

    Standort und Architektur

    Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.

    So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:

    Bedarfsgruppe I:

    • weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
    • psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
    • relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit

    Bedarfsgruppe II:

    • beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
    • Arbeitslosigkeit
    • mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
    • somatische Sucht-Folgeerkrankungen

    Bedarfsgruppe III:

    • langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
    • langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
    • eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
    • junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung

    Zuordnung zu den Bedarfsgruppen

    Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).

    Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.

    Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).

    Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis

    Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:

    In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.

    Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.

    Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.

    Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.

    Zufriedenheit der Rehabilitanden

    Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.

    Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.

    Evaluation und Weiterentwicklung

    Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.

    Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Sarah Pachulicz
    Therapeutische Leitung
    RehaCentrum Alt-Osterholz
    Osterholzer Landstraße 49a
    28325 Bremen
    sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
    http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html

    Angaben zu den Autoren:

    Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
    Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen

  • Fachklinik Hase-Ems

    Fachklinik Hase-Ems

    Claudia Westermann
    Claudia Westermann
    Conrad Tönsing
    Conrad Tönsing

    Mit der Eröffnung der Fachklinik Hase-Ems in Haselünne im April 2015 konnte eine neue und sehr modern ausgestattete Fachklinik zur medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ans Netz gehen. Mit insgesamt 69 Behandlungsplätzen hält sie ganz unterschiedliche Behandlungssettings vor. Dazu gehören die klassische vollstationäre Entwöhnungsbehandlung, die Kombi-Behandlung, die ganztägig ambulante Rehabilitation und die integrierte Adaption. Die aus den Fachkliniken Holte-Lastrup und Emsland hervorgegangene moderne Fachklinik Hase-Ems behandelt verschiedene Abhängigkeitserkrankungen bei erwachsenen Männern und Frauen.

    Das mit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover abgestimmte neue und am aktuellen Forschungsstand orientierte Konzept ermöglicht die Rehabilitation von Menschen mit Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, pathologischem Glücksspiel und der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Durch die verbesserte regionale Vernetzung mit den akutmedizinischen ambulanten und stationären Einrichtungen vor Ort ist auch eine Behandlung psychiatrisch erkrankter Patientinnen und Patienten* möglich geworden. Zudem wird die medizinische Rehabilitation von substituierten und opiatabhängigen Patientinnen und Patienten angeboten.

    Funktionale Problemlage bestimmt den Behandlungsansatz

    Die aktuellen Erkenntnisse der Suchtforschung und der zunehmende polyvalente Konsum haben dazu geführt, dass bei der Neuausrichtung der Fachklinik Hase-Ems ein Konzept entwickelt wurde, das dem veränderten Konsumverhalten ebenso Rechnung trägt wie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Behandlungsansatz hängt nicht streng von der ICD-Diagnose, sondern von der mit der Erkrankung einhergehenden funktionalen Problemlage (ICF) ab. Diese ergibt sich aus Beeinträchtigung zum Beispiel in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung im häuslichen Umfeld, Interaktion mit anderen Menschen und vor allem auch im Erwerbsleben. Unter Berücksichtigung der individuellen biographischen, sozialen, kulturellen und materialen Lebensbedingungen stellt die Teilhabe (Partizipation) in diesen Bereichen die zentrale Zielkomponente für die Rehabilitation dar (SGB IX).

    Überschneidungen der unterschiedlichen Konsumgruppen

    Da es nach Erfahrungen aus der klinischen Praxis keine homogene Personengruppe mit generalisierten Problembereichen und einheitlichen Zielen mehr gibt, ist die Rehabilitation in der Fachklinik Hase-Ems zwar an spezifischen Themen von Abhängigkeitserkrankungen orientiert, richtet sich aber individuell nach der Situation des Einzelnen. Zwischen den unterschiedlichen Konsumgruppen finden sich vielfache Überschneidungen im Verhalten, in der Entwicklung weiterer Krankheitsbilder (komorbide Störungen) oder auch in der Vergleichbarkeit der sozialen Situation. Diese Erkenntnisse werden in der Fachklinik Hase-Ems in einem suchtstoffübergreifenden Konzept konkret umgesetzt: In den Bezugsgruppen finden sich Patienten mit unterschiedlichen Abhängigkeitserkrankungen. Bei der Zuordnung der neu aufgenommenen Patienten zu ihrer Bezugs- bzw. Wohngruppe wird jedoch darauf geachtet, dass sich jeder Rehabilitand  im Kontext „seiner“ Gruppe aufgehoben fühlt. Jeder soll die Erfahrung machen, dass es Mitpatienten gibt, die ähnliche Erfahrungshintergründe aufweisen und mit denen eine Identifikation möglich ist. Dies kann über die Art der Abhängigkeitserkrankung, über medizinische Problemlagen, die soziale Situation, das Alter oder auch berufliche Erfahrungen geschehen.

    Erfahrungsraum suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe

    Die suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe findet als thematisch offen geführte Gruppe zweimal in der Woche statt, zusätzlich gibt es jeden Tag eine Morgenrunde zur Klärung aktueller Fragen und Anliegen. Gleichheit und Unterschiedlichkeit der Teilnehmer bilden eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und individuellen Anliegen: Die Rehabilitanden können ihre persönliche Entwicklung an den Erfahrungswelten der Mitpatienten abgleichen und ihre Sicht auf sich selbst und die Welt neu definieren. Um diesen Erfahrungsraum zu schaffen, hat der Bezugstherapeut eine wichtige integrierende Funktion. Unterstützt wird dies dadurch, dass sein Büro im Wohnbereich der Gruppe liegt.

    Das suchtstoffübergreifende Konzept wird gestützt durch das biopsychosoziale Modell, dessen Bedeutung für die Rehabilitation heutzutage nahezu unbestritten ist (Schliehe 2006). Darüber hinaus ist die Verwendung der beiden Konstrukte Leistung und Leistungsfähigkeit für die medizinische teilhabeorientierte Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Besteht zwischen den realen Umweltanforderungen und der aktuellen Leistungsfähigkeit eine Diskrepanz, müssen in der Reha Maßnahmen ergriffen werden, um diese Diskrepanz abzubauen. Neben den jeweiligen Umweltbedingungen und der Funktionsfähigkeit sind auch noch die weiteren Lebensumstände und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen.

    Weitere wesentliche Handlungselemente

    In der Phase des Aufnahmeverfahrens wird ein medizinischer Befund des Abhängigkeitssyndroms erhoben. Ein multiprofessionelles Team bewertet die psychische Verfassung und die berufliche Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden. Hinzu kommen die Motivationsklärung zur Abstinenz und die Festlegung der Behandlungsziele gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin.

    Die individuell ausgerichtete Rehabilitation setzt eine klinikinterne Prozesssteuerung voraus, die alle therapeutischen Maßnahmen miteinander vernetzt und immer wieder auf das übergeordnete Ziel der Wiederherstellung des Erwerbsbezugs ausrichtet. Berücksichtigt werden Fragestellungen zum körperlichen und psychischem Wohlbefinden oder der sozialen Integrationsfähigkeit. Neben Gruppensitzungen erfolgen regelmäßige einzeltherapeutische Sitzungen, deren Frequenz sich am individuellen Bedarf orientiert. Zum therapeutischen Angebot gehören außerdem verschiedenste psychoedukative und indikative Gruppen, u.a. finden die speziellen Anforderungen und Fragestellungen zu den Abhängigkeitsformen „Glücksspielsucht“ und „Illegale Drogen“ Berücksichtigung in zwei indikativen Gruppen.

    Der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen kommt eine wichtige Funktion zu. Die vorbehandelnden ambulanten Stellen liefern maßgebliche Informationen für die Behandlungsplanung. Die nachbehandelnden ambulanten Stellen unterstützen den Rehabilitanden dabei, seine erreichten Ziele zu festigen, fortzusetzen und auszubauen.

    Die EDV-gestützte Patientendokumentation (patfak Plan) ermöglicht eine gesteuerte Einsichtnahme mit Zugriffsrechten, die selbstverständlich den Datenschutzbestimmungen entsprechen. Dieses Vorgehen gewährleistet einen hohen Informationsstand aller am Prozess Beteiligten. Der Austausch und das Controlling über den Behandlungsfortschritt im multiprofessionellen Team sorgen für eine hohe Ergebnisqualität.

    Erfahrungen aus dem ersten Jahr

    Die Fachklinik Hase-Ems verfügt jetzt über ein Jahr Erfahrung mit dem suchtstoffübergreifenden Konzept. Von den Rehabilitanden und Mitarbeitern wird es als durchweg positiv und bereichernd erlebt. Die Patienten erkennen Ähnlichkeiten in der Dynamik, die zwischen der Abhängigkeitserkrankung und ihren Auswirkungen im Alltagsleben entsteht. Unterschiede werden benannt und als Lernfeld für den Einzelnen wahrgenommen. So dient die Bezugsgruppe als Ort der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen, und die Patienten fühlen sich angesprochen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Setting der Gruppe motiviert jeden Einzelnen, seine Stärken und Ressourcen für das Gelingen der Arbeitsfähigkeit einzubringen. Zusätzlich werden von Patienten zeitweise selbst organisierte Freizeitaktivitäten durchgeführt. Der Bezugstherapeut unterstützt die Integration der Patienten und begleitet die individuelle Rehabilitation durch gezielte Aufgaben und die Zuordnung zu speziellen indikativen Angeboten. Das Regelwerk ist so wenig restriktiv wie möglich, bietet einerseits Struktur und Sicherheit für den Einzelnen, ruft aber auch zur Verantwortung für einen gelungenen Rehabilitationsprozess auf.

    Die Erfahrung hat gezeigt, dass Rehabilitanden mit sozialen Schwierigkeiten und/oder komorbiden Störungen besondere Unterstützung benötigen. Zur Sicherstellung der Rehabilitationsfähigkeit gibt es Einzelfalllösungen, z. B. Unterstützung zur Einhaltung der Zeiten und zur Umsetzung des Tagesablaufes. Dabei haben sich die Strukturen der Fachklinik Hase-Ems und die Ausrichtung auf die individuelle Situation des Einzelnen als hilfreich erwiesen und tragen zu einem positiven Verlauf und zum Gelingen der Rehabilitation bei.

    Literatur bei den Verfassern

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Conrad Tönsing
    Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Knappsbrink 58
    49080 Osnabrück
    Tel. 0541/34 978-140
    CToensing@caritas-os.de
    www.caritas-os.de

    Angaben zu den Autoren:

    Conrad Tönsing, Sozialtherapeut/Psychotherapeut (KJP) und Leiter des Geschäftsbereichs Suchtprävention und Rehabilitation beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Claudia Westermann, Sozialtherapeutin, Supervisorin (M.A.) und Leiterin der Fachklinik Hase-Ems

  • Ermutigung tut not!

    Ermutigung tut not!

    Dr. Wibke Voigt. Foto©Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel
    Dr. Wibke Voigt. Foto©Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel

    Um gleich mit den wichtigsten Fragen zu beginnen: Ist eine Weiterbildungsermächtigung empfehlenswert und sinnvoll? Ist eine Weiterbildungsermächtigung heutzutage notwendig? Die Antwort lautet zweimal: Ja! Und zwar deshalb, weil die Möglichkeit der Weiterbildung in einer Klinik ein wichtiges Argument ist, um qualifiziertes, gut ausgebildetes und junges Fachpersonal gewinnen zu können: Assistenzärztinnen und Assistenzärzte in Weiterbildung sowie Psychologinnen und Psychologen in Ausbildung.

    Dass eine Weiterbildungsermächtigung der Chefärztin/des Chefarztes vorhanden sein muss, um Assistenzärztinnen und Assistenzärzten eine fachärztliche Weiterbildung bieten zu können, ist offensichtlich. Dies gilt aber auch für die „praktische Zeit“ der Psychologinnen und Psychologen, der sog. PIA’s. Laut § 2 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung der Bundespsychotherapeutenkammer ist eine Weiterbildungsermächtigung der ärztlichen Leitung im Fach „Psychiatrie und Psychotherapie“ oder „Psychosomatische Medizin“ für zwölf Monate Voraussetzung, damit die geforderten 1.200 Stunden im klinischen Bereich von der jeweiligen Psychotherapeutenkammer anerkannt werden. Dieses klinische Jahr ist eine Voraussetzung für die Erlangung der Approbation als Psychologische Psychotherapeutin bzw. als Psychologischer Psychotherapeut.

    Aufgrund dieser Tatsache ist im Deutschen Bundesverband der Chefärztinnen und Chefärzte der Fachkliniken für Suchtkranke e. V. (DBCS) die Idee entstanden, durch eine Umfrage den Stand der Weiterbildungsermächtigungen in Suchtfachkliniken zu erheben. Die Fragebögen wurden 2013 verschickt, und 2014 wurde die Auswertung auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) vorgestellt.

    Die Stichprobe

    Es wurden 273 Fragebögen verschickt, davon vom buss 152 Fragebögen an die chefärztliche Leitung, und vom Fachverband Sucht 121 Fragebögen an ärztliche und therapeutische Leitungen. Der Rücklauf betrug 105 vollständig beantwortete Fragebögen, was einer Rücklaufquote von 38,46 Prozent entspricht. Das ist eine mäßig gute Quote. Warum haben nicht mehr Chefärztinnen und Chefärzte geantwortet?

    Gründe dafür, dass das Thema Weiterbildungsermächtigung in den Kliniken auf einen geringen Widerhall stieß, könnten sein, dass die Chancen für einen erfolgreichen Antrag (irrtümlicherweise) als gering eingeschätzt werden wegen evtl. fehlender Voraussetzungen oder dass der Nutzen einer Weiterbildungsermächtigung nicht bekannt ist. Dem soll dieser Themenschwerpunkt von KONTUREN online entgegenwirken. Er soll zur Informationsvermittlung, zur Ermutigung und als Entscheidungshilfe dienen.

    74 Chefärztinnen und Chefärzte gaben an, in ihrer aktuellen Position einen Antrag auf die Erteilung einer Weiterbildungsermächtigung gestellt zu haben, 50 Chefärztinnen und Chefärzte hatten keinen Antrag gestellt. Von den 74 Anträgen waren 60 bewilligt worden, was einer Bewilligungsquote von 81 Prozent entspricht. Vier Anträge wurden von der jeweiligen Ärztekammer noch bearbeitet, zehn Anträge (14 Prozent) waren abgelehnt worden.

    Schwierigkeiten bei der Beantragung

    Bei der Beantragung der Weiterbildungsermächtigung gab es bei vielen Kliniken (21 Kliniken = 38,18 Prozent) Schwierigkeiten, 13 Kliniken (23,64 Prozent) hatten teilweise Schwierigkeiten. Nur 20 Kliniken (36,36 Prozent) hatten die Weiterbildungsermächtigung problemlos erhalten (vgl. Abbildung 1). An Schwierigkeiten wurde am häufigsten genannt, dass die bewilligte Weiterbildungszeit geringer war als beantragt (18 Kliniken = 46,15 Prozent), 16 Kliniken mussten zusätzliche Nachweise erbringen (41 Prozent), jeweils eine Klinik beklagte eine lange Bearbeitungszeit oder keine Beantwortung des Antrages, drei Kliniken benannten andere Schwierigkeiten.

    Als Ablehnungsgründe seitens der Ärztekammer wurde Folgendes benannt:

    • Suchtmedizin sei ein zu enges Indikationsgebiet (drei Kliniken).
    • Zwei Kliniken fehle die 100-Prozent-Tätigkeit des Weiterbilders.
    • Eine Klinik habe eine zu geringe ärztliche Stellenbesetzung.
    • Ein Antrag wurde abgelehnt, da die Diagnosen inadäquat für die psychosomatische Medizin seien.
    • Drei Kliniken machten keine Angaben.
    Abb. 1: Schwierigkeiten bei der Beantragung
    Abb. 1: Schwierigkeiten bei der Beantragung

    Suchtmedizin ein „zu enges Indikationsgebiet“?

    Auch wenn eine Suchtfachklinik alleine keine volle Weiterbildungsermächtigung erreichen kann, ist das Argument eines zu engen Indikationsgebietes falsch. Internationale Studie zeigen, dass es „bemerkenswert hohe Lebenszeitprävalenzen von weiteren psychischen oder substanzbedingten Störungen bei Personen mit der Lebenszeitdiagnose eines Alkoholmissbrauchs oder einer Alkoholabhängigkeit“ gibt (Moggi 2007). Drei Viertel der Betroffenen mit einer Alkoholabhängigkeit (Männer: 78 Prozent, Frauen: 86 Prozent) berichten über mindestens eine weitere komorbide psychiatrische Störung, über 30 Prozent (Männer: 34 Prozent, Frauen: 47 Prozent) weisen in der Regel mehr als drei psychiatrische Störungen auf (Kessler et al. 1994).

    Studien bzgl. der Komorbidität zwischen einer Major Depression und einer substanzbezogenen Störung zeigen Werte zwischen zwölf und 80 Prozent, abhängig von verschiedenen Studienbedingungen (Compton et al. 2007; Conner et al. 2008a; Torrens et al. 2011a). Depressive Suchtpatienten weisen hDie Prävalenz depressiver Störungen bei Alkoholabhängigkeit ist ähnlich hoch. Depressive alkoholabhängige Menschen haben zudem häufigere stationäre Behandlungen, längere und schlechtere Verläufe, mehr Eheprobleme, mehr Beschäftigungslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit sowie mehr vollendete Suizide auf. Das Lebenszeit-Suizidrisiko für depressive Alkoholabhängige ist erschreckend hoch: 60- bis 120-fach höher als in der Normalbevölkerung. 25 Prozent aller Suizide werden von dieser Gruppe verübt. Die Kriterien einer Major Depression erfüllten in einer Studie 68 Prozent von 50 suizidierten Alkoholikern (Murphy & Wetzel 1990). Cornelius, Salloum et al. (1996) beschäftigten sich mit dem suizidalen Verhalten von Alkoholabhängigen mit einer Major Depression, die in eine psychiatrische Klinik aufgenommen worden waren: 40 Prozent hatten in der Woche vor der Aufnahme einen Suizidversuch unternommen, 70 Prozent hatten schon mindestens einmal versucht sich umzubringen.

    Die Komorbiditätsraten von bipolaren affektiven Störungen und Alkoholabhängigkeit liegen zwischen sechs und 69 Prozent, meistens bei 30 Prozent und mehr. Bei Patienten mit einer substanzbezogenen Störung können bei 34 bis 73 Prozent komorbide Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden (Verheul 2011). Am häufigsten sind es Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen, vor allem die Borderline-PS (Walter et al. 2009). Umgekehrt weisen Borderline-Patienten zur Hälfte eine substanzbezogene Störung auf (McGlashan et al. 2000).

    Die Lebenszeitprävalenz für eine Posttraumatische Belastungsstörung bei Suchtpatienten im klinischen Setting beträgt bis zu 50 Prozent (26 bis 52 Prozent) und für eine aktuelle PTSD 15 bis 41 Prozent (Schäfer & Najavits 2007). Dabei leiden Frauen deutlich häufiger unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, nämlich ca. doppelt so viele wie Männer (Dom et al. 2007; Driessen et al. 2008). In der Regel leiden drogenabhängige Menschen unter mehr komorbiden Störungen als Personen mit einer Alkoholabhängigkeit.

    Eine Studie von Miller (1993) ergibt, dass 44 Prozent der alkoholabhängigen Frauen sexuell missbraucht wurden versus 27 Prozent der psychiatrisch behandelten Frauen versus neun Prozent der Frauen in der Normalbevölkerung. Nach dem Review von Simpson und Miller (2002) hatten bei Alkoholabhängigkeit 50 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer mindestens eine Form früher (körperlicher oder sexueller) Gewalt erlitten, bei Drogenabhängigkeit waren es 80 Prozent der Frauen sowie 50 Prozent der Männer (Simpson und Miller 2002, Auswertung von 53 Studien [32 Studien mit nur Frauen, 16 Studien mit Frauen und Männern, fünf Studien mit nur Männern]: 27 Prozent bis 67 Prozent der abhängigen Frauen wurden sexuell missbraucht, 33 Prozent körperlich misshandelt, neun bis 29 Prozent der abhängigen Männer wurden sexuell missbraucht, 24 bis 53 Prozent körperlich misshandelt).

    Die genannten Studien können gerne als Argumentationshilfe gegen das „zu enge Indikationsgebiet“ verwendet werden. Empfehlenswert ist auch das neu herausgekommene Buch von Dom und Moggi: „Co-occurring Addictive and Psychiatric Disorders“, Springer 2015. Studienergebnisse entheben die Antragstellerin/den Antragsteller aber nicht der Notwendigkeit, in ihrer/seiner Institution zwölf Monate vor dem Antrag auf Weiterbildungsermächtigung alle Diagnosen zu erheben, also die vorhandenen komorbiden psychiatrischen Störungen zu diagnostizieren, zu verschlüsseln und dann prozentual auszuwerten, um die ganze psychiatrische Bandbreite in der Suchtfachklinik aufzuzeigen – und um damit eine möglichst lange Weiterbildungszeit zu erlangen. (Die Verfasserin unterzieht sich diesem Verfahren gerade in ihrer neuen Klinik. In der Suchtfachklinik, in der sie vorher lange als Chefärztin tätig war, wurden von der Ärztekammer Niedersachsen problemlos 18 Monate Weiterbildungszeit anerkannt aufgrund der hohen Anzahl an komorbiden psychiatrischen Störungen.) Daneben gibt es auch immer die Möglichkeit, an einem Weiterbildungsverbund teilzunehmen (vgl. den Artikel „Weiterbildungsermächtigungen in Fachkliniken in Westfalen-Lippe“ von Dr. Markus Wenning auf KONTUREN online).

    Gebiete der vorliegenden Weiterbildungsermächtigungen

    Nach den Ergebnissen der Umfrage wurden in folgenden Fächern/Gebieten Weiterbildungsermächtigungen erteilt (vgl. Abbildung 2):

    • 35 in Psychiatrie und Psychotherapie (58,33 Prozent)
    • neun in Sozialmedizin (15 Prozent)
    • fünf in Psychosomatische Medizin (8,33 Prozent)
    • fünf in Innere Medizin (8,33 Prozent)
    • drei in Rehabilitationswesen (fünf Prozent)
    • jeweils eine in Allgemeinmedizin, Psychoanalyse sowie Psychotherapie (jeweils 1,67 Prozent)

    Drei Weiterbildungsermächtigungen mussten nicht beantragt werden, da sie durch die Klinikstruktur bereits in vollem Umfang vorhanden waren (jeweils eine für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin sowie Neurologie). Insgesamt ergab die Umfrage also 63 gültige Weiterbildungsermächtigungen.

    Abb. 2: Vorliegende Weiterbildungsermächtigungen
    Abb. 2: Vorliegende Weiterbildungsermächtigungen

    Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen

    Wie oben erwähnt, ist ein Zeitraum von zwölf Monaten für die Weiterbildungsermächtigung notwendig, um attraktiv sowohl für die ärztlichen als auch für die psychologischen Weiterbildungskandidaten zu sein. Für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie ergab sich in der Umfrage in Bezug auf die Zeiträume folgendes Bild (vgl. Abbildung 3):

    • Vier Suchtfachkliniken erhielten einen Zeitraum von sechs Monaten.
    • 14 Kliniken waren zwölf Monate zuerkannt worden.
    • Neun Kliniken konnten 18 Monate Weiterbildungszeitraum erreichen.
    • Vier Kliniken bekamen 24 Monate
    • Bei vier Kliniken war entweder durch die Kombination mit einer benachbarten Psychiatrie oder durch die bereits vorhandene Klinikstruktur die volle Weiterbildungszeit von 48 Monaten gegeben.
    • Ein Bogen war für den Zeitraum der Weiterbildungsberechtigung nicht auswertbar.
    Abb. 3: Bewilligter Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie
    Abb. 3: Bewilligter Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie

    Für den Bereich Sozialmedizin ergaben sich folgende Zeiträume der Weiterbildungsberechtigung:

    • Zwei Kliniken erhielten sechs Monate.
    • Vier Kliniken erhielten zwölf Monate.
    • Eine Klinik erhielt 48 Monate.

    In der Psychosomatischen Medizin erhielten

    • zwei Fachkliniken 24 Monate,
    • drei Fachkliniken 36 Monate,
    • und eine Klinik hatte durch die Klinikstruktur eine bereits vorliegende 48-monatige Weiterbildungsberechtigung.

    Im Fach Innere Medizin erhielten

    • zwei Kliniken sechs Monate,
    • eine Klinik zwölf Monate und
    • eine Klinik 18 Monate.

    Im Gebiet Rehabilitationswesen erhielt

    • eine Fachklinik sechs Monate und
    • eine Klinik zwölf Monate.

    In Psychoanalyse sowie Psychotherapie wurden jeweils einer Klinik 48 Monate Weiterbildungszeitraum bewilligt. In Allgemeinmedizin erhielt eine Klinik zwölf Monate.

    Fazit

    Der DBCS ist mit dieser Situation nicht zufrieden. Aus diesem Grund ist für 2016 geplant, Wege zu finden, die Kolleginnen und Kollegen zu informieren und zur Antragstellung zu ermutigen. Die Verfasserin unterstützt diese Haltung ausdrücklich, da die Suchtmedizin und die Suchtbehandlung einen wichtigen Teil der medizinischen und therapeutischen Behandlungslandschaft darstellen. Um dies sichtbar zu machen, wäre es begrüßenswert, wenn mehr Anträge gestellt würden. Im Workshop der buss-Managementtagung 2014 wurde deutlich, dass es wichtig ist, sich bei Schwierigkeiten nicht entmutigen zu lassen! Im Zweifelsfall ist es hilfreich, den Justiziar der jeweiligen Ärztekammer einzuschalten oder sich an andere übergeordnete Abteilungen oder politische Institutionen zu wenden.

    Kontakt:

    Dr. Wibke Voigt
    Fachklinik Kamillushaus
    Heidhauser Straße 273
    45359 Essen
    w.voigt@kkrh.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. Wibke Voigt ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und zertifizierte Traumatherapeutin. Sie ist seit 2006 als Chefärztin tätig, seit Oktober 2015 an der Fachklinik Kamillushaus, Essen. Dr. Wibke Voigt ist Vorstandsmitglied des DBCS und Vorsitzende des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss).

    Literatur:
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  • Vom Aussterben der Sozialmediziner und der Bedeutung von Weiterbildung

    Vom Aussterben der Sozialmediziner und der Bedeutung von Weiterbildung

    Dr. Ursula Fennen
    Dr. Ursula Fennen

    Die Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation erlegen den Leistungserbringern hohe Anforderungen an Struktur, Konzept und fachlicher Kompetenz auf. Deren Implementierung ist belegungs- und vergütungsrelevant und wird durch etablierte Qualitätssicherungsprogramme regelmäßig überprüft. Zu Recht, ist doch die qualitativ hochwertige Rehabilitation spätestens volkswirtschaftlich von immenser Bedeutung! Zu diesen Anforderungen von Seiten der Leistungsträger gehört, dass der leitende Arzt/die leitende Ärztin über eine Gebietsbezeichnung und bestenfalls und wünschenswerterweise über die Zusatzbezeichnung Rehabilitationswesen oder Sozialmedizin verfüge, da die Aufgabe fundierte medizinische und rehabilitative Kenntnisse sowie die umfassende Berücksichtigung aller Reha-relevanten Erkrankungen erfordere.

    Nach Ansicht der Leistungsträger stellen Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation ein wertvolles Potential für die ärztliche Weiterbildung dar, weil hier Kenntnisse über Prävention und die Vermittlung von Strategien zum langfristigen Erhalt erreichter Lebensstiländerungen sowie Kenntnisse in der sektorübergreifenden Versorgung und sozialmedizinischen Behandlung und Begutachtung erworben werden. Die Weiterbildung in einer Klinik ermöglicht in kollegialer Lernatmosphäre den umfassenden Blick auf die erwerbs- und arbeitsplatzrelevanten Fähigkeiten des Patienten unter Verknüpfung akutmedizinischer und rehabilitationsbezogener Belange.

    Seit einigen Jahren scheiden nun zunehmend klinische Sozialmediziner – im Sinne einer besseren Lesbarkeit des Textes wird durchgängig die männliche Form verwendet, wobei stets beide Geschlechter gemeint sind – ohne Nachfolger aus dem Berufsleben aus. Vom leitenden Arzt einer Fachklinik zur Rehabilitation Abhängigkeitskranker erwartet der Leistungsträger neben der Gebietsbezeichnung heute (deswegen?) nur noch, dass er die sozialmedizinischen Blockseminare an einem Weiterbildungsinstitut besucht hat. An deren formalem Besuch wird nun die belegungs- und vergütungsrelevante Qualität einer Reha-Einrichtung gemessen. Die aktuelle Beschränkung der Leistungsträger auf den schieren Besuch der Kurse scheint also vernünftig und pragmatisch, birgt aber Gefahren für die dauerhafte Belegung einer Klinik, verhindert für den leitenden Arzt Rechtssicherheit und vernachlässigt das Potential der Reha-Einrichtungen als hoch differenzierte Weiterbildungsstätten. Darüber hinaus ist bundesweit die Weiterbildungsordnung zum Erwerb des Zusatztitels Sozialmedizin inhomogen und die Handhabung zur Erteilung der Weiterbildungsermächtigung in einigen Ländern sehr starr. Weiterbildungsordnung, Bedarf der Leistungsträger und Interesse der Ärzte (und Rehabilitanden?) sind nicht harmonisiert. Aus der kammerseitig restriktiven Handhabung der Erteilung von Weiterbildungsermächtigungen resultiert u. a. der heute fehlende sozialmedizinische Nachwuchs.

    In einigen Bundesländern ist das Curriculum der Blockseminare inhaltlich auf die Erwartungen der Leistungsträger an die im eigenen Haus tätigen Ärzte eingeengt. Diese Ärzte besuchen die Seminare und hospitieren bei unterschiedlichen Sozialversicherungsträgern. Danach werden sie höher eingruppiert, führen aber keinen Zusatztitel. Der Besuch dieser Seminare ist die Grundlage, um dann in der Geschäftsstelle sozialmedizinisch vor allem gutachterlich im weitesten Sinne tätig zu sein. Klinisch tätige Ärzte absolvieren diese Seminare ebenso, da sie Bestandteil der Weiterbildung sind, brauchen aber, sofern sie den Zusatztitel erlangen wollen, wie in jeder Weiterbildung praktische Anleitung und Supervision im klinischen Alltag bei einem zur Weiterbildung ermächtigten Arzt. Sie lernen, Reha-Diagnosen zu stellen, ihre gesamte Behandlungsstrategie sozialmedizinisch auszurichten und das Behandlungsergebnis in gutachterliche Stellungnahme und Empfehlung zu gießen. Jedoch ist es schwierig, die Weiterbildungsermächtigung zu erlangen, da die Kammer, wie oben genannt, auch vom klinisch tätigen Arzt ein eher verwaltungsbezogenes Curriculum sowie das ständige Beisammensein von Weiterbilder und Assistent im Unterstellungsverhältnis erwartet.

    Die Autorin erwarb im Jahr 2000 u. a. den Zusatztitel Sozialmedizin im Bundesland Sachsen nach einjähriger Weiterbildungszeit bei einem zur Weiterbildung ermächtigten Arzt in einer Fachklinik. Als sie für sich 2010 die Weiterbildungsermächtigung im Bundesland Baden-Württemberg beantragen wollte, war sie Ärztliche Direktorin von fünf Fachkliniken. Die Weiterbildungsermächtigung wurde nach langem Briefwechsel mit der Kammer letztendlich nicht erteilt, da die Ärztliche Direktorin weder fünf Tage in der Woche acht Stunden am Tag mit dem Weiterbildungsassistenten verbringen noch für ihren Urlaub eine qualifizierte Vertretung bereitstellen konnte (weil sie im gesamten Klinikverbund die einzige Ärztin mit Zusatztitel war). Dagegen klagte sie.

    Nun sind Weiterbildungsassistenten im Fach Sozialmedizin zumeist bereits leitende Ärzte mit einer Gebietsbezeichnung und langjähriger Erfahrung in der Rehabilitation. Sie leiten Fachkliniken, betreiben sozialmedizinische Diagnostik, Behandlung und Begutachtung, haben die Seminare besucht, sollen aber dennoch, so die Erwartung zur Erfüllung der Weiterbildungsordnung, ständig vom Weiterbilder soufflierend umgeben sein.

    In einigen Bundesländern gibt es realitätsbezogenere Regelungen: Zum Beispiel lässt sich dort der Zusatztitel Sozialmedizin zwar nicht in einem Jahr, wie in Baden-Württemberg vorgeschrieben, sondern innerhalb von drei Jahren erwerben, und Weiterbilder und Assistent sind nicht zwangsläufig jeden Tag zusammen an einem Ort, jedoch erfolgt regelmäßig eine nachgewiesene Besprechung und Supervision mit und durch den Weiterbilder. Und gerade das macht ja Weiterbildung aus und unterscheidet diese von theoretischer Wissensvermittlung: die Überführung der beruflichen Erfahrung von Weiterbilder und Assistent in sozialmedizinische Erkenntnisse und Sprache, die Ausbildung einer eigenen inneren Haltung durch die dialogische Qualität der Weiterbildung, die Reibung im kollegialen Diskurs sowie die gemeinsam erlebten und befundeten klinischen Zwangsläufigkeiten, Absonderlichkeiten, Möglichkeiten und Erfahrungen. Wenn die sozialmedizinische Legitimation zur Leitung einer Rehaklinik auf den Besuch der theoretischen Seminare und die Hospitation bei Sozialversicherungsträgern beschränkt würde, dann ließe sie die gesamte berufliche Erfahrung eines klinisch tätigen Arztes außer Acht.

    Nach Ablehnung des Antrags auf Weiterbildungsermächtigung scheiterte der Versuch der Autorin, die Leistungsträger, die sozialmedizinisch qualifizierte Ärzte in den Kliniken brauchen und wünschen, und die Kammer, die die Weiterbildungsordnung verantwortet, zusammenzubringen und über eine praktikable und verantwortungsvolle Regelung der Weiterbildung im Sinne der klinisch tätigen Ärzte zu diskutieren.

    Aktuell ist die Lage also so, dass Ärzte ohne Zusatztitel vom Leistungsträger in ihrer Funktion geduldet sind, die Deutungshoheit über das, was sie tun, obliegt somit aber auch dem Leistungsträger. Wie frei ist dann ein solcher Arzt? Wenn ein Arzt zu Diagnosen kommt, Behandlung plant und durchführt und den Nutzen dieser Behandlung am Ende durch den Entlassungsbericht überprüft und Empfehlungen abgibt, dann tut er das auf der Grundlage seiner Erfahrung, nach vielfältigem kollegialen Austausch und nach intensivem Befassen mit dem Patienten. Er leistet seine Unterschrift in der vollständigen und ernst gemeinten Verantwortung für das Behandlungsergebnis, verbindlich und zuverlässig für den Patienten, aber auch genauso justiziabel. Und das ist in den vielen Kliniken, in denen die leitenden Ärzte nicht den Zusatztitel Sozialmedizin erwerben können, die sich auf das Wort des Leistungsträgers verlassen, dass der Besuch der Seminare reiche, nicht mehr der Fall.

    Die Autorin hatte 2010 für sich erfolglos die Weiterbildungsermächtigung für die Zusatzbezeichnung Sozialmedizin beantragt, um die leitenden Ärzte der genannten fünf Kliniken zu Sozialmedizinern ausbilden zu können. Letztendlich hat sie mit einer Klage beim Verwaltungsgericht in Mannheim in zweiter Instanz im Juni 2014 erstritten, dass die Weiterbildungsbefugnis zu erteilen sei, wenn ein Kammermitglied fachlich und persönlich geeignet und an einer zugelassenen oder zulassungsfähigen Weiterbildungseinrichtung tätig sei. Die Entscheidung über die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis sei, so das Urteil, keine Ermessensentscheidung der Landesärztekammer. Ausschlaggebend sei die fachliche und persönliche Eignung des Weiterbilders, die nicht in den Ermessensspielraum der Ärztekammer falle, sondern durch Kriterien wie z. B. umfassende Sachkunde, Erfahrung und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Weiterbildung belegt werde. An dieser fachlichen und persönlichen Eignung der Autorin sowie an der Zulassungsfähigkeit der Weiterbildungseinrichtung hatte die Ärztekammer zu keinem Zeitpunkt Zweifel. Das Gericht urteilte ferner, dass weder die zeitliche Komponente (ganztägige Durchführung unter persönlicher Leitung) zur persönlichen Eignung gehöre, noch seien an die Eignung unverhältnismäßig hohe Anforderungen betreffend Einweisung und Überwachung des Weiterbildungsassistenten zu stellen.

    Mit diesem Urteil ist die Bedeutsamkeit der Weiterbildung für die Qualität und den Bestand von Reha-Einrichtungen, für ganzheitliche sozialmedizinische Behandlung und Rehabilitation und für die Heranbildung ärztlicher Kollegen in der Sozialmedizin gewürdigt. Es stützt die notwendige Unabhängigkeit im ärztlichen Handeln. Die Weiterbildung basiert auf der qualifizierten Weitergabe von sozialmedizinischem Wissen und Denken, gewährleistet die Belegbarkeit einer Klinik und damit deren Existenz, sichert den sozialmedizinisch behandelnden und begutachtenden Arzt juristisch ab und steigert die Behandlungsqualität für die Patienten.

    Der Autorin wurde nach dem Urteil von der Kammer in Aussicht gestellt, dass bei erneuter Beantragung die Weiterbildungsermächtigung selbstverständlich erteilt werde.

    Kontakt:

    über die Redaktion: redaktion@konturen.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. med. Ursula Fennen, MBA
    Fachärztin für Psychiatrie
    -Psychotherapie/Sozialmedizin/Rehabilitationswesen-
    Suchtmedizinische Grundversorgung
    Verkehrsmedizinische Qualifikation

    Dr. Ursula Fennen ist ab 1. März 2016 als Chefärztin in der Fachklinik Hirtenstein, Bolsterlang, tätig.

  • Schematherapie in der Suchtbehandlung?

    Schematherapie in der Suchtbehandlung?

    Dr. Eckhard Roediger
    Dr. Eckhard Roediger

    Das deutsche Suchtbehandlungssystem ist das mutmaßlich weltweit am besten ausgebaute, und die Abstinenzquoten gelten als durchaus befriedigend. Was kann eine Psychotherapiemethode wie die Schematherapie da noch zu einer Verbesserung beitragen? Die Frage ist durchaus berechtigt, denn es gibt mehrere Untersuchungen von Samuel Ball aus den USA, in denen eine von ihm entwickelte Kombination aus suchtspezifischen Behandlungselementen und einem Schematherapieansatz (Ball 1998) zu keinen besseren, und in der letzten Studie (Ball et al. 2011) bei einer allerdings recht schwierigen Klientel sogar zu schlechteren Ergebnissen führte als eine suchtspezifische Behandlung allein. Vielleicht sind diese Ergebnisse ein Grund, warum bisher kaum jemand in der deutschen ‚Suchtbehandlungsszene‘ diesen Ansatz aufgegriffen hat.

    Die bisherigen Forschungsergebnisse sind zwiespältig

    Kurz zusammengefasst haben die Studien von Ball auf das deutsche Suchtbehandlungssystem übertragen aber nur eine begrenzte Aussagekraft, denn es wurde vergleichsweise kurz (sechs bis 14 Sitzungen über max. ein halbes Jahr), mit einer recht belasteten Klientel (z. B. teilweise wohnsitzlose Drogenabhängige oder zwangseingewiesene Patienten mit einem Anteil von ca. 50 Prozent paranoider oder antisozialer Persönlichkeitsstörung) und vor allem mit einem älteren Schemaansatz gearbeitet. Dagegen wurde in den erfolgreichen Studien der Forschergruppe um Arnoud Arntz in den Niederlanden der neuere Modusansatz angewendet. Damit konnten nämlich sowohl bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Giessen-Bloo et al. 2006) als auch mit verschiedenen anderen Persönlichkeitsstörungen (Bamelis et al. 2014) sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Allerdings bei einer zweijährigen Behandlung, wenn auch in der letztgenannten Studie mit nur 50 Sitzungen (40 wöchentliche Sitzungen im ersten und monatliche Sitzungen im zweiten Jahr). In den Niederlanden wurde gerade eine Studie mit ca. 150 forensischen Patienten (die fast alle schwere Persönlichkeitsstörungen hatten) abgeschlossen, und die ersten Ergebnisse sind auch hier positiv (Bernstein et al. 2012), allerdings wurde über mehrere Jahre behandelt. Die endgültigen Ergebnisse werden für diesen Sommer erwartet. Bei ausreichend langer Behandlung sind also auch diese schwierigen Patienten zu erreichen.

    Diese Mischung aus unterschiedlich ermutigenden Ergebnissen gilt es genauer zu betrachten, um das Potenzial der Schematherapie für die Suchtbehandlung differenziert einzuschätzen. Dazu sollen nun die wichtigsten Elemente einer Schematherapie kurz umrissen werden.

    Die Bedeutung der Basisemotionen

    Das Modell der Schematherapie orientiert sich stark an dem Modell der Bindungsforschung (Bowlby 1976). Demzufolge haben Kinder Grundbedürfnisse, die im Kern das Bedürfnis nach wohlwollenden Bindungen einerseits und den Aufbau von Selbstbehauptungsfähigkeit und Kontrolle andererseits umfassen. Bei Frustrationen dieser Bedürfnisse in den frühen Beziehungserfahrungen werden als Signal sog. Basisemotionen (Ekman 1993) aktiviert. Das sind zunächst einmal Angst, Trauer, Ekel und Wut. Sie zeigen an, dass dem Kind emotional etwas fehlt. Vielen Lesern werden diese Basisemotionen aus dem Film „Alles steht Kopf“ vertraut sein, bei dessen Entstehung Paul Ekman beratend mitwirkte. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass Frustration des Bindungsbedürfnisses primär Angst oder Trauer auslöst und die Bedrohung der Selbstbehauptung Ekel (was sich im Seelischen eher als ‚Genervt-Sein‘ zeigt) bzw. Wut. Eine Bindungsfrustration kann aber sekundär auch Ärger auslösen, was häufig bei Narzissten zu beobachten ist. Hinter der sekundären Wut steckt dann eine primäre Trauer oder Angst, die aber nicht wahrgenommen wird (Greenberg et al. 2003). Dann gibt es noch die Basisemotionen „Überraschung“, die aber emotional neutral ist, und „Freude“, die auftritt, wenn alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt sind. In dem oben genannten Film kann man jedoch sehen, dass die Freude gegenüber den anderen Basisemotionen eine eher aktive bzw. organisierende Rolle einnimmt.

    Das Schematherapiemodell

    Starke bzw. häufige Frustrationen der Grundbedürfnisse in der Kindheit und Jugend führen dem Schematherapiemodell zufolge dazu, dass in der neuronalen Matrix des Gehirns  sog. Schemata angelegt werden. Werden diese im Erwachsenenalter in ähnlicher Weise aktiviert (z. B. durch Beschämung, Zurücksetzung und Verlassen-Werden), kommen die Patienten in einen komplexen Aktivierungszustand (einen  sog. Modus), der dem damaligen Erleben entspricht. Sie fühlen dann einerseits emotional wieder wie als Kind (sog. Kindmodus), andererseits werden auch Bewertungen und Lernerfahrungen von damals aktiviert, die als innere Instanz eine heute angemessene Bewertung verzerren (sog. innere Bewerter, oft auch innere Elternmodi genannt – siehe Abbildung 1). Die aktuelle Situation versuchen die Patienten dann durch die Strategien zu bewältigen, die sie in diesen Situationen in der Kindheit erlernt haben (sog. Bewältigungsmodi). Sie betrachten die Welt in Schemaaktivierungssituationen sozusagen aus Kinderaugen und setzen automatisch die alten Lösungen ein. Die innere Beweglichkeit ist deutlich eingeschränkt, und die Patienten haben keinen Zugriff auf die Möglichkeiten bzw. Ressourcen, die sie inzwischen als Erwachsene entwickelt bzw. erworben haben. Dadurch wirkt das Bewältigungs- oder Problemlöseverhalten maladaptiv oder sogar ‚kindisch‘. Sie sitzen mit einem ‚Tunnelblick‘ bzw. ‚Scheuklappen‘ in einer Lebensfalle fest (Young et al. 2005).

    Ziel der Therapie ist, die Schemata und die typischen Auslösesituationen (oft zwischenmenschliche Konfliktsituationen) kennenzulernen, die aktuellen Modusaktivierungen auf die mutmaßlichen biographischen Entstehungssituationen zu beziehen, sich emotional zu distanzieren und eine wohlwollende, neue Perspektive des sog. gesunden Erwachsenenmodus einzunehmen. Aus dieser Haltung heraus soll anstatt der automatischen, maladaptiven Bewältigung eine funktionale Lösung gefunden und umgesetzt werden. Die Therapeuten übernehmen dabei eine Rolle, die der von Eltern oder einem Trainer ähnelt.

    Abb. 1: Modusmodell
    Abb. 1: Modusmodell

    Suchtverhalten im Schematherapiemodell

    In der Regel wird die Einnahme psychotroper Substanzen oder das Ausführen selbstberuhigender bzw. selbststimulierender Aktivitäten als „Modus des distanzierten Selbstberuhigers“ eingeordnet. Das trifft in der Regel auch zu, denn das Verhalten dient dazu, eine unangenehme innere Spannung, die aus einer Grundbedürfnisfrustration entsteht, aktiv oder passiv abzubauen. In einer Schematherapie wird man aber immer gemeinsam die Auslösesituation im Einzelfall analysieren, um die Funktion des Suchtverhaltens vor dem Hintergrund der emotionalen Aktivierungen (Kindmodi) und der aktivierten Bewertungen (Elternmodi) individuell zu verstehen. Dabei sind folgende Grundtypen beispielhaft beobachtbar (siehe Abbildung 1):

    1. Ein Arzt nimmt Aufputschmittel, um einen Nachtdienst durchzustehen und seine Aufgaben zu schaffen. Dann erhält das Suchtmittel einen Aufopferungs– bzw. Unterordnungsmodus aufrecht.
    2. Eine Prostituierte nimmt Heroin, um passiv ihr Elend nicht mehr zu spüren. Das wäre ein sog. distanzierter Selbstschutzmodus.
    3. Ein arbeitsloser junger Mann spielt mehrere Stunden am Tag Online-Spiele, um sich aktiv abzulenken. Dann hätte das Spielen die Funktion eines distanzierten Selbstberuhigers. Auch z. B. Entspannungstrinken, exzessives Einkaufen, Cannabiskonsum oder Selbstverletzungen können in dieser Weise eingesetzt werden.
    4. Menschen setzen Psychostimulanzien ein, um ihr Selbstwertgefühl, ihre Erlebensintensität oder ihre sexuelle Leistungsfähigkeit zu steigern. Das wäre ein Selbststimulierer.
    5. Manche Menschen gehen aus Frustration in einen anklagend-vorwurfsvollen Selbsterhöhungsmodus und rechtfertigen damit ihr Suchtverhalten. Sie fühlen sich als Opfer, und die anderen sind schuld. Dann unterstützen die Suchtmittel einen überkompensierenden Selbsterhöhungsmodus.

    Das übergeordnete Therapieziel

    Die wesentliche Erweiterung des therapeutischen Blickwinkels besteht darin, von den vordergründigen Bewältigungsmodi zu den hintergründigen emotionalen Kindmodi und aktivierten Bewertern (innere Elternmodi) zu kommen. Man kann von einem Schritt von der ‚vorderen‘, symptomatischen Ebene zu einer persönlichkeitsbedingten, motivationalen Ebene sprechen. Diese Einteilung in zwei Ebenen erweitert das klassische Modusmodell von Young. Die störungsspezifischen Interventionen setzen an der Symptom- bzw. unmittelbaren Verhaltensebene an, die schematherapiespezifischen Interventionen haben das Ziel, die Bewerter zu identifizieren und zu ‚entmachten‘ und das emotionale Erleben des Kindmodus mit Selbstmitgefühl zu betrachten und die Grundbedürfnisse so gut wie möglich zu befriedigen. Das ist die Aufgabe des gesunden Erwachsenenmodus, der im Laufe der Therapie mehr und mehr aufgebaut wird. Dieser Modus entspricht der ‚Regiefunktion‘, die die Freude in dem oben genannten Film in den Augen des Autors fälschlicherweise einnimmt. Die Basisemotion Freude ist nämlich das Ergebnis, wenn der Erwachsenenmodus seine Aufgabe gut erfüllt.

    Der Erwachsenenmodus wird in den erlebnisaktivierenden Übungen (s. u.) durch inneren Perspektivwechsel darin unterstützt, die Schemaaktivierungssituation wie von außen mit den Augen einer wohlwollenden anderen Person anzuschauen. Durch die emotionale Distanz sinkt das Erregungsniveau, der mentale Blickwinkel weitet sich, und die Patienten können wieder auf vorhandene Ressourcen zurückgreifen. Aus diesem Abstand heraus ist eine ausbalancierte Grundbedürfnisbefriedigung leichter möglich. Wo das nicht möglich ist, bauen Therapeut und Patient schrittweise diese Ressourcen auf. Abhängig von dem Ausmaß, in dem das notwendig ist, dauern die Therapien dann entsprechend länger.

    Die innere Balance in der Suchtbehandlung

    Der Konsum von Suchtmitteln als Bewältigungsmodus dient generell dazu, die sich im Hintergrund andeutenden Basisemotionen ‚aufzulösen‘. Dadurch wird aber deren Signalcharakter zugedeckt und eine nachhaltige Befriedigung verhindert. Schaut man auf die oben genannten fünf Grundtypen von Suchtverhalten vor dem Hintergrund der aktivierten Kind- und Elternmodi, zeigen diese jeweils eine andere Form des Ungleichgewichts bei der Grundbedürfnisbefriedigung:

    Typ 1 tut für Bindung und Anerkennung (fast) alles und vernachlässigt darüber sein Selbstbehauptungsbedürfnis, was langfristig zu Ärgergefühlen führt, in denen sich diese Frustration zeigt. Er müsste sein ‚Selbstbehauptungs-Bein‘ stärken, um in eine innere Balance zu finden.

    Typ 4 und 5 als Gegenpol leben ihr Selbstbehauptungsbedürfnis übertrieben aus und ignorieren, dass sie auch Bindung brauchen, was sich später in Einsamkeitsgefühlen oder auch Panik zeigen kann. Sie müssten in Kontakt mit ihrer verletzbaren Seite kommen, um motiviert zu sein, sich einzuordnen und zu kooperieren, damit sie nicht nur durch Vorwürfe oder Kontrolltendenzen, sondern auch in vertrauensvollen Beziehungen Sicherheit (und Annahme bzw. Liebe) finden.

    Typ 2 und 3 nehmen eine Mittelstellung ein und zeigen ein mehr passives (Typ 2) bzw. aktives (Typ 3) Vermeidungsverhalten. Sie gehen weder enge Bindungen ein noch zeigen sie erfolgreiches  Selbstbehauptungsverhalten. Sie ziehen sich gewissermaßen zu stark in sich selbst zurück. Dadurch bleiben beide Grundbedürfnisse weitgehend unbefriedigt, was die Suchtdynamik verstärkt. Diese Situation trifft für die meisten Menschen mit Abhängigkeiten zu. Sie müssten in einer Therapie sowohl modellhaft Vertrauen in Bindungen zu anderen Menschen aufbauen als auch in den Therapiebeziehungen Selbstbehauptung üben. Zudem sind für sie funktionale Wege zur inneren Distanzierung und Selbstberuhigung hilfreich, um das Suchtverhalten zu ersetzen.

    Die schematherapeutische Beziehung

    Wie aus den oben genannten Studien hervorgeht, ist die Schematherapie keine Kurzzeittherapie, denn das ‚erste Bein‘, auf dem sie steht, ist eine recht intensive therapeutische Beziehung, die von dem Begründer, Jeffrey Young (Young et al. 2005), „begrenzte Nachbeelterung“ (engl.: limited reparenting) genannt wurde. Der Name deutet an, was die Schematherapie-Beziehung erreichen will, nämlich eine Beziehungsdichte, die für eine begrenzte Zeit und im therapeutisch möglichen Rahmen die Intensität einer Eltern-Kind-Beziehung besitzt, um in der Kindheit ‚eingebrannte‘ negative Beziehungserfahrungen (die Schemata) zu ‚heilen‘. Um diese Beziehungsintensität in der Stunde zu erreichen, aber die Patienten dennoch ausreichend stabil aus der Therapiestunde entlassen zu können, setzt sie sog. erlebnisaktivierende Techniken ein, die überwiegend dem Psychodrama und der Gestalttherapie entlehnt sind. Diese stellen das ‚zweite Bein‘ einer Schematherapie dar.

    Die erlebnisaktivierenden Techniken

    Dabei handelt es sich zum einen um die sog. Imaginationstechniken, zum anderen um sog. Modusdialoge auf mehreren Stühlen. Beide Techniken folgen einem relativ klar vorgezeichneten Ablauf, der natürlich an die einzelnen Patienten und den jeweiligen Verlauf der Übung angepasst wird, der aber den Therapeuten eine klare Orientierung gibt, ‚wohin die Reise geht‘. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu weniger direktiven Ansätzen, die mehr mit einem ‚geleiteten Entdecken‘ arbeiten. Unter http://www.schematherapie-roediger.de/blatt/index_blatt.htm können Abläufe für die wichtigsten Therapiesituationen im Detail angeschaut werden. Zur Anwendung dieser Techniken bei einem alkoholabhängigen Patienten siehe Roediger (2016a). Die Therapeuten nehmen bei den erlebnisaktivierenden Techniken mitunter anfangs eine sehr aktive Rolle ein und haben dadurch eine gute Kontrolle über den Verlauf der Stunde. Sie können entsprechend der Fähigkeiten der Patienten zunächst die Auflösung einer von den Patienten eingebrachten schwierigen Situation modellhaft vormachen, und die Patienten übernehmen schrittweise eine aktivere Rolle. Eben ganz ähnlich, wie es in alltäglichen Lernsituationen auch geschieht. Damit ist die Schematherapie deutlich ‚pädagogischer‘ als die meisten anderen Therapien.

    Die Fallkonzeption

    Die erlebnisaktivierenden Techniken und die Therapiebeziehung werden immer bezogen auf eine zu Beginn der Therapie von Therapeut und Patient gemeinsam erarbeitete Fallkonzeption eingesetzt. Zum besseren Verständnis der eigenen Situation bezogen auf das Schematherapiemodell gibt es mehrere Bücher für Patienten (Jacob et al. 2011; Roediger 2014, 2015). Die Fallkonzeption stellt das ‚dritte Bein‘ einer Schematherapie dar. Dadurch haben Patienten und Therapeuten jederzeit im aktuellen Prozess in der Stunde einen gemeinsamen Bezugspunkt, der Orientierung und einen Überblick gibt. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn wenn die emotionale Aktivierung zu stark zu werden droht oder um die aktuellen Schemaaktivierungen in die Fallkonzeption einzuordnen, können Therapeut und Patient ganz konkret aufstehen und nebeneinander stehend in die Rolle eines ‚Beraterteams‘ wechseln. Folgende Fragen klären dann die Situation: „In welchem Bewältigungsmodus sind Sie jetzt?“, „Was sagen die Stimmen der inneren Bewerter dazu?“, „Welche Gefühle löst das in Ihrem Inneren aus (Kindmodus)?“, „Wie würde ein gesunder Erwachsener in dieser Situation reagieren?“. Das reguliert die Emotionen herunter und stabilisiert die therapeutische Arbeitsbeziehung. Näheres dazu bei Roediger (2016b).

    Auf diesen drei Beinen stehend, verbindet die Schematherapie die Beziehungsintensität und das biographische Verständnis einer psychodynamischen Therapie mit der Transparenz und zielgerichteten Lösungsorientierung von Verhaltenstherapien. Sie liefert einen übergeordneten Rahmen dafür, die Persönlichkeitsmuster der Patienten biographisch zu verstehen und das Suchtverhalten als maladaptiven Bewältigungsversuch einzuordnen, und sie gibt den Patienten einen Kompass für eine ausbalancierte und nachhaltige Grundbedürfnisbefriedigung.

    Anwendung des Schemamodells in der Suchtbehandlung: Schematherapie und „SchemaBeratung“

    Die oben umrissene Schematherapie ist als Langzeittherapie konzipiert und evaluiert, könnte aber an unser Suchtbehandlungssystem in verschiedener Weise angepasst werden:

    1. Die hohe Therapieintensität in einer stationären Suchtbehandlung erlaubt den Einsatz einer speziellen Gruppenschematherapie (Farrell & Shaw 2013), die in einer geschlossenen Gruppe über zwölf Wochen eine familienartige ‚Zweitsozialisation‘ mit tiefgehenden korrigierenden Beziehungserfahrungen ermöglicht. Bei Patientinnen mit Borderline-Störungen führte dies zu sehr starken Therapieeffekten (Farrell et al. 2009). Kombiniert mit Einzelgesprächen ist so ein intensiver Einstieg in eine schematherapeutisch-fundierte Suchtbehandlung auch für Patienten mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen möglich. Ein solches Modell befindet sich in der Fachklinik Wilhelmsheim in der Implementierung. Die schematherapeutische Behandlung sollte idealerweise ambulant fortgesetzt werden.
    2. In Kliniken, die eine solche Gruppe (noch) nicht anbieten können, kann im Rahmen der Einzelgespräche das Schematherapiemodell als Erklärungsmodell für die Suchtentstehung und -behandlung dienen, und in einzelnen erlebnisaktivierenden Übungen kann eine Motivation zur ambulanten Weiterbehandlung aufgebaut werden. In vielen Gegenden Deutschlands sind schematherapeutisch qualifizierte niedergelassene Therapeuten verfügbar, um die Therapie in der notwendigen Länge und Intensität weiterzuführen.
    3. Für Patienten ohne komorbide Persönlichkeitsstörung erscheint die beschriebene Beziehungsdichte nicht unbedingt notwendig. Sie könnten im Sinne des oben genannten Balancemodells dennoch von der Schematherapie und den erlebnisaktivierenden Techniken in einem eher ressourcenorientierten Behandlungssetting, z. B. in der ambulanten Rehabilitation, profitieren. Ein entsprechender Ansatz kann als „SchemaBeratung“ auch von Therapeuten ohne ärztliche oder psychologische Approbation erlernt werden (Handrock et al. 2016; Infos unter http://www.eroediger.de/coach/index_coach.htm). Damit wäre eine Kombination aus stationärer Behandlungseinleitung und ambulanter Fortführung im Rahmen einer Rehabilitationsbehandlung möglich.
    4. Menschen, die mit Suchtproblemen erstmalig in Beratungsstellen kommen, bietet die SchemaBeratung einen allgemeinpsychologisch verständlichen Zugang, ihr Suchtproblem zu verstehen und sich vor diesem Hintergrund auf eine Beratung einzulassen. Das Schemamodell ist vollständig mit dem Ansatz der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 2009) kompatibel und kann diesen um eine biographische Dimension erweitern.

    Zusammenfassung

    Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse aus den Studien von Samuel Ball erscheint ein differenzierter Einsatz schemabasierter Ansätze in Therapie und Beratung sinnvoll, um die positiven Erfahrungen aus den von Arnoud Arntz geleiteten Studien auch für Patienten im Suchtbehandlungssystem in verschiedenen Settings nutzbar zu machen. Im Gegensatz zu den Studien von Ball sollte dabei auf eine ausreichend lange Gesamtbehandlungszeit und den systematischen Einsatz erlebnisaktivierender Techniken im Rahmen einer modusbasierten Fallkonzeption geachtet werden. Auch der Einsatz des Modells und der Techniken im Rahmen einer ressourcenorientierten Beratungsarbeit erscheint möglich. Entsprechende Ansätze sollten evaluiert werden, um den Ergebnissen Balls hoffentlich bessere Ergebnisse entgegensetzen zu können.

    Kontakt:

    Dr. Eckhard Roediger
    Institut für Schematherapie-Frankfurt
    Alt Niederursel 53
    60439 Frankfurt
    kontakt@eroediger.de
    http://www.eroediger.de/

    Angaben zum Autor:

    Dr. Eckhard Roediger ist in freier Praxis als Ärztlicher Psychotherapeut tätig. Er ist Leiter des Instituts für Schematherapie-Frankfurt (IST-F) und Präsident der internationalen Schematherapiegesellschaft (ISST).

    Literatur:
    • Ball SA (1998). Manualized treatment for substance abusers with personality disorders: Dual focus schema therapy. Addict Behav. 23: 883–891.
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    • Farrell J, Shaw I (2013). Schematherapie in Gruppen. Therapiemanual für die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Weinheim: Beltz.
    • Giessen-Bloo J, van Dyck R, Spinhoven P, van Tilburg W, Dirksen C, van Asselt T, Kremers I, Nadort M, Arntz A (2006). Outpatient psychotherapy for borderline personality disorder: a randomized trial for schema-focused-therapy versus transference focused psychotherapy. Arch Gen Psychiatry 63: 649–58.
    • Greenberg LS, Rice LN, Elliot R (2003). Emotionale Veränderung fördern. Grundlagen einer prozess- und erlebensorientierten Therapie. Paderborn: Junfermann.
    • Handrock A, Zahn C, Baumann M (2016). Schemaberatung, Schemacoaching, Schemakurzzeittherapie. Weinheim: Beltz.
    • Jacob G, van Genderen H, Seebauer L (2011). Andere Wege gehen. Lebensmuster verstehen und verändern – ein schematherapeutisches Selbsthilfebuch. Weinheim: Beltz.
    • Miller WR, Rollnick S (2009). Motivierende Gesprächsführung (3. Aufl.). Freiburg: Lambertus.
    • Roediger E (2014a). Wer A sagt … muss noch lange nicht B sagen. Lebensfallen und lästige Gewohnheiten hinter sich lassen. München: Kösel.
    • Roediger E (2015a). Raus aus den Lebensfallen. Das Schematherapie-Patientenbuch. Paderborn: Junfermann.
    • Roediger E (2016a). Was kann die Schematherapie zur Suchtbehandlung beitragen? Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie 20 (1) (im Druck).
    • Roediger E (2016b). Ressourcenaktivierung durch Perspektivwechsel. Stehen Sie doch einfach einmal auf! Ein Plädoyer für mehr Bewegung(en) in der Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie 26 (2)  (im Druck).
    • Young JE, Klosko JS, Weishaar ME (2005). Schematherapie – ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn: Junfermann.
  • Mensch und Milligramm

    Mensch und Milligramm

    Flyer Drogentagung 150518.pubSubstitution ist in Deutschland die mit Abstand häufigste Behandlungsform bei Opiatabhängigkeit: Etwa 77.000 Personen mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit werden derzeit substituiert. Demgegenüber befinden sich ca. 5.000 Personen in einer Reha-Maßnahme, und nur weniger als fünf Prozent wechseln aus der Substitution in eine abstinenzorientierte Therapie. Ein Übergang zwischen den Behandlungsformen ist also selten, und die ‚Unverbundenheit‘ der beiden ‚Systeme‘ erschwert eine optimale, passgenaue Behandlung.

    Deshalb haben sich die fünf Suchtverbände zum Ziel gesetzt, die Brückenbildung zwischen Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu fördern und Opiatabhängigen den Zugang zur Entwöhnungsbehandlung zu erleichtern. Dazu veranstalteten sie am 18. Mai 2015 in Berlin den Workshop „Wie geht es weiter … mit der Behandlung Opiatabhängiger?“, in dessen Rahmen die Ausgangslage analysiert und darüber diskutiert wurde, wie eine integrierte und systemübergreifende Behandlungsplanung erreicht werden kann. Eingeladen waren Experten/-innen und Fachleute aus Forschung und Praxis und Vertreter/-innen der Leistungsträger, die einladenden Verbände waren der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), die Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), der Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS), der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und der Fachverband Sucht e. V. (FVS).

    LogoLeiste

    In der folgenden Darstellung werden die Beiträge und Aussagen der Referenten/-innen und Teilnehmer/-innen wiedergegeben. Diese repräsentieren die teilweise gegensätzlichen Positionen unterschiedlicher Expertengruppen und Institutionen und entsprechen nicht immer der Sichtweise der Veranstalter. Es war den Suchtverbänden aber ein wichtiges Anliegen, mit der Veranstaltung ein offenes Forum zu schaffen, bei dem jede relevante Meinung zur Behandlung Opiatabhängiger dargestellt und diskutiert werden konnte.

    Einführung und Grußwort: Auf dem Weg zur optimalen Behandlungsform

    Dr. Theo Wessel, Geschäftsführer des GVS, begrüßte die Teilnehmer und betonte das Ziel, jedem Abhängigen die optimale Behandlungsform anbieten zu können. Bei dem Workshop gehe es darum, einen offenen Dialog über Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu führen und sich insbesondere über die substitutionsgestützte Entwöhnungsbehandlung zu verständigen. Es folgte ein Grußwort von Dr. Ingo Ilja Michels, Leiter der Geschäftsstelle der Bundesdrogenbeauftragten. Michels berichtete über die Vorzüge und Verdienste der Substitutionsbehandlung: Sie sichert Leben, verhindert die Übertragung von Krankheiten, die Betroffenen agieren nicht mehr in der Illegalität, eine soziale Integration ist möglich, und die Abhängigen, für die Abstinenz kein Ziel ist, können durch die Substitution dennoch erreicht werden. Michels sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen Substitutionsärzten und Reha-Einrichtungen aus. Die Abstinenzorientierung in der Substitution solle unterstützt werden, gleichzeitig sollten mehr Reha-Einrichtungen substituierte Patienten aufnehmen. Zum Abschluss stellte er die geplante Änderung der Betäubungsmittelgesetz-Verordnung dar, die vorsieht, den substituierenden Ärzten mehr Handlungs- und Therapiefreiheit zu geben und den Druck von Seiten des Strafrechts zu mindern.

    Epidemiologie: Weniger neue Klienten und eine alternde Kohorte

    Microsoft PowerPoint - Pfeiffer-GerschelAuf die Grußworte folgte der erste Themenblock mit einführenden Übersichtsreferaten. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), präsentierte aktuelle Zahlen zum Thema „Epidemiologie der Opiat- und Drogenabhängigkeit in Deutschland“. Die Prävalenz riskanten Opioidkonsums ist schwer zu schätzen. Laut DBDD-Jahresbericht 2014 führen Berechnungen auf der Basis von Zahlen aus Behandlung, Polizeikontakten und Drogentoten zu einer Schätzung der Zahl riskanter Konsumenten von Heroin in Deutschland auf 57.000 bis 182.000. Dies entspricht einer Rate von 1,05 bis 3,4 Personen pro 1.000 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren. Legt man der Schätzung nur Behandlungsdaten zugrunde, ist die Prävalenz seit 2005 ansteigend, nach Polizeikontakten und Todesfällen geschätzt ist die Prävalenz sinkend. Die europäischen Daten zeigen Anzeichen eines rückläufigen Heroingebrauchs: weniger neue Klienten, eine alternde Kohorte und ein Rückgang des iv-Konsums.

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik 2014 weisen 15 Prozent der Zugänge in den Beratungsstellen und den Fach-/Institutsambulanzen die Hauptdiagnose Opioidkonsum auf. Damit liegt eine Stabilisierung bzw. ein leichter Rückgang vor. Stark angestiegen sind dagegen Neuzugänge wegen Stimulanziengebrauchs. In der Rehabilitation (stationär und teilstationär) und der Adaption trifft auf sieben Prozent der Patienten die Hauptdiagnose Opioidabhängigkeit zu, was ebenfalls einer Stabilisierung entspricht. Rund ein Drittel der Klienten mit der Hauptdiagnose Opioide im ambulanten Bereich weist zusätzlich die Einzeldiagnose Cannabinoide auf, rund ein Viertel Alkohol und rund ein Fünftel Kokain (DSHS 2013).

    Das Durchschnittsalter der Opioidkonsumenten hat sich in den letzten Jahren deutlich nach hinten verschoben. Ein Großteil ist älter als 40 Jahre, das Durchschnittsalter bei den Todesfällen liegt bei 38 Jahren. Weniger junge Menschen unter 25 kommen nach. Aufgrund ihrer soziodemografischen Voraussetzungen sind Opioidkonsumenten sehr schwer in die Arbeitswelt zu integrieren. Über 60 Prozent (im ambulanten Bereich) sind arbeitslos (DSHS 2013). Die Straftaten im Zusammenhang mit Heroin (Besitz und Handel) sind zurückgegangen (BMI 2014). Heroin wird zunehmend ersetzt durch Stimulanzien, ‚neue‘ Drogen, andere Opiate und v. a. Medikamente (Fentanyl, Lyrica). Hepatitis C ist nach wie vor eine große Gefahr für i.v.-Dogenkonsumenten, ca. 80 Prozent sind infiziert.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Anschließend präsentierte Pfeiffer-Gerschel Daten zur Substitution. Diese ist zunehmend verfügbar, gut 50 Prozent der problematischen Opiatkonsumenten werden EU-weit erreicht. Das sind ca. 700.000 Personen (Europäischer Drogenbericht 2015). Fast 70 Prozent werden mit Methadon substituiert. Seit 2010 bewegt sich die Zahl der Substituierten in Deutschland zwischen 75.000 und 77.000 Personen, dabei bestehen zwischen den einzelnen Bundesländern sehr große Unterschiede. Die meisten Substituierten verzeichnet Bremen mit 264 Patienten pro 100.000 Einwohner. Baden-Württemberg liegt mit 96 Patienten pro 100.000 Einwohner im Mittelfeld. Versuche, das Substitutionsmittel abzusetzen, werden in den meisten Fällen nicht unternommen.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Die psychische Morbidität ist unter Substitution weiterhin stark ausgeprägt. Zu den häufigsten komorbiden Störungen gehören Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Stress- und psychotische Störungen. Über Substitutionsbehandlung in Haft sind so gut wie keine Daten bekannt.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Prävalenz der Opioidhängigkeit seit den 80er Jahren nicht verändert hat. Die Inzidenz geht zurück, aber die Prävalenz bleibt aufgrund besserer Überlebenschancen durch Harm-Reduction-Maßnahmen und Substitution konstant. Als offene Fragen stellte Pfeiffer-Gerschel abschließend in den Raum: Wie kann die Qualität der Drogentherapie optimiert werden, z. B. durch definierte Behandlungspfade? Wie verbessert man den Übergang zwischen Substitution und Entwöhnung? Und wie kann die Versorgungssituation reguliert werden, wenn die substituierenden Ärzte in Rente gehen?

    Versorgungssystem: Wie gut sind die aktuellen Angebote für Opioidabhängige?

    02_Leune_rIm zweiten Übersichtsreferat behandelte Jost Leune, Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V., das Thema „Das Versorgungssystem für Opioidabhängige: Wer behandelt wen mit welcher Zielsetzung?“. Er bezog sich dabei auf die Strukturanalyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“, die die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) im Februar 2014 veröffentlicht und auf ihrer Homepage bereitgestellt hat. Als Grundlage seines Vortrags diente ihm das Kapitel „4.4. Matrix 2 – Versorgungsrealität“. Diese Matrix kombiniert sämtliche Interventionen in der Suchthilfe (von Prävention über Rehabilitation bis Selbsthilfe) mit exemplarischen Zielgruppen und bewertet, wie gut im jeweiligen Bereich für die jeweilige Zielgruppe die Versorgungsrealität ist.

    Die einzelnen Daten und Fakten, die der jeweiligen Bewertung zugrunde liegen, können hier nicht für jede Intervention wiedergegeben werden. Dazu sei auf die PDF-Version der Strukturanalyse verwiesen. Diese steht auf der Homepage der DHS zur Verfügung (www.dhs.de > DHS Stellungsnahmen).

    Für die Zielgruppe „Erwachsene mit Drogenabhängigkeit“ ergibt sich aus der Strukturanalyse, dass eine gute Funktion und eine gute Integration in das Hilfesystem für folgende Angebote gegeben sind: Stationäre psychiatrische Behandlung, Niedrigschwellige Hilfen und Sucht- und Drogenberatung (inkl. Schuldnerberatung). Ebenfalls erfolgreich sind Entgiftung und Qualifizierter Entzug, Stationäre medizinische Rehabilitation, Adaption und (Reha-)Nachsorge, aber auch Ambulant betreutes Wohnen, Stationäres sozialtherapeutisches Wohnen, Übergangswohnen und (soweit vorhanden) Tagesstrukturierende Maßnahmen – obwohl es insbesondere in der medizinischen Rehabilitation für Substituierte noch einige Probleme gibt. Außen vor in der Bewertung bleibt der Bereich der Justiz, weil die Suchthilfe keinen Einfluss darauf hat.

    Eine eingeschränkte Funktion im Hilfesystem und Schnittstellenprobleme zeigen – vor allem bei substituierten Opioidabhängigen – die Bereiche Stationäre somatische Akutbehandlung (im Allgemeinkrankenhaus), Sozialpsychiatrische Betreuung, Ambulante psychiatrische Behandlung (in psychiatrischen Institutsambulanzen) sowie – aufgrund mangelnder finanzieller Förderung – Psychosoziale Begleitung Substituierter.

    Hilfen zur Erziehung, Angebote für die Teilhabe an Arbeit sowie Ambulante Substitution, Ambulante medizinische Rehabilitation und Ganztägig ambulante Rehabilitation können aufgrund der problematischen Situation in der psychosozialen Betreuung nicht im notwendigen Umfang angeboten werden. Bezogen auf die Suchtberatung im Betrieb sind kaum Aussagen möglich. Selbsthilfe ist zwar bei JES (Junkies, Ex-User, Substituierte) organisiert, aber gemessen an der hohen Zahl Substituierter nur in geringem Umfang.

    Es bestehen Defizite durch fehlende Versorgung in den Bereichen Ambulante psychotherapeutische Behandlung, Berufliche Rehabilitation, Beschäftigung für behinderte Menschen (in Werkstatt) sowie Hilfen für Pflegebedürftige. Ambulante somatische Akutbehandlung inkl. Frühintervention, Qualifizierung sowie Arbeitsförderung bzw. Maßnahmen von Arbeitsagentur/Jobcenter sind zwar möglich, aber so abgegrenzt vom Hilfesystem, dass fast kein Übergang dorthin möglich ist.

    Leune schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass das Versorgungssystem für Opioidabhängige noch besser werden würde, wenn das gegliederte System der sozialen Sicherung durchlässiger wäre, wenn Einrichtungsgrenzen überwunden werden und eine gemeinsame (Fach-)Sprache gefunden werden könnte und das System auskömmlich finanziert wäre.

    Zielgruppen: Substitution ist nicht gleich Substitution

    03_Heinz_rIm Vortrag von Werner Heinz, Leiter der AG Substitution der Caritas Suchthilfe (CaSu), ging es um die Frage „Mit welchen Zielgruppen und Methoden ist Suchtbehandlung bei Opiatabhängigen möglich?“. Als Ausgangslage stellte er fest, dass Substitution in der heutigen Behandlung von Opiatabhängigkeit der Normalfall sei und dass die Behandlung nur auf der Grundlage der Substitutionstherapie weiterentwickelt werden könne. Zwei Hürden müssten überwunden werden, die er in seiner Präsentation so formuliert: „Substitution verhindert medizinische Rehabilitation – Medizinische Rehabilitation sperrt Substituierte aus“. Wenn hier ein Brückenschlag gelingt, dann können die Defizite der aktuellen Substitutionspraxis aufgefangen und mehr Drogenabhängige zur Chance (nicht dem Zwang) der Abstinenzorientierung hingeführt werden. Als Defizit der Substitution nannte Heinz, dass keine Suchttherapie stattfinde. Die psychosoziale Betreuung, die außerdem nur wenig Substituierte erreiche, sei Suchtsozialarbeit und motivationale Suchtberatung, mit der jedoch das hohe Ausmaß an psychischen Störungen und psychosozialen Entwicklungsdefiziten nicht bewältigt werden könne – eine Feststellung, die die Ergebnisse der PREMOS-Studie bestätigen.

    Wie können die ‚Systeme‘ Substitution und Reha also sinnvoll zusammengebracht werden? Heinz näherte sich dieser Frage systematisch, indem er die Substituierten zunächst in verschiedene Zielgruppen einteilte und dann jeder Gruppe passende Maßnahmen aus dem Hilfesystem zuordnete. Er unterschied folgende Zielgruppen:

    1. Opiatabhängige mit Abstinenzorientierung: Diese Personen haben positive Reha-Erfahrungen gemacht und verfügen über gute soziale Ressourcen. Sie haben bereits Abstinenzfähigkeit erlebt und wollen diese wieder herstellen.
    2. Substitution als Ausstiegsmedikation: Diese Personen sind motiviert und abstinenzorientiert mit vorausgehender Abstinenzerfahrung, haben aber zu wenig Zuversicht und Selbstvertrauen, dauerhaft abstinent bleiben zu können, und lehnen deshalb eine (erneute) Reha ab. Sie verfügen über gute soziale Ressourcen und oft über einen Arbeitsplatz, beides soll durch die Substitution gesichert werden.
    3. Maintenance-Substitution bei fortschreitender sozialer Integration: Diese Personen erleben sich als ‚clean‘. Durch Take-home-Verschreibungen verfügen Sie über die Autonomie, ihr Leben relativ frei zu gestalten. Gute soziale Ressourcen und oftmals ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz sind vorhanden. Diese Zielgruppe hat keinen Anlass abzudosieren. Das Therapieziel heißt hier Arbeit und Teilhabe.
    4. Auf Dauer gestellte Ambivalenz: Diese Personen ändern häufig das Substitutionsmittel und die Dosierung, sie leiden häufig unter psychischen Beeinträchtigungen und Belastungen, es fehlen psychische Bewältigungskompetenzen. Als Betreuungsziele sind hier zu nennen: Beikonsumfreiheit und psychosoziale Stabilisierung unter Substitution, Therapiemotivation und -Vermittlung.
    5. Stagnierende Langzeitsubstitution bei verfestigter sozialer Randständigkeit: Diese Personen leben im ‚Substitutionsmilieu‘ als sozialem Umfeld. Sie haben ein reduziertes Aktivitätsniveau, sind langzeitarbeitslos mit geringer Tagesstruktur, überwiegend mit Methadon substituiert und haben einen sedierenden Cannabis- oder Alkoholkonsum.
    6. Ersatzdrogenvergabe bei chronifizierter Polytoxikomanie: Diese schwerstabhängigen Klienten weisen eine desolate Lebenssituation mit hoher Szenebindung auf. Sie konsumieren eine Reihe von Drogen und Alkohol. Das Substitutionsmittel dient als ‚Grundversorgung‘ und wird häufig in hoher Dosierung eingenommen mit spürbarer Sedierung. Dies ist die Zielgruppe für eine Diamorphinvergabe.

    Was kann die Behandlungslandschaft nun für die genannten Zielgruppen tun? Für die Zielgruppen 1, 2 und 3 kommt eine substitutionsgestützte ambulante Rehabilitation in Frage, denn Psychotherapie unter Substitution ist möglich. Auch eine ambulante Reha ohne Substitution kann geeignet sein. Für die Zielgruppen 4 und 5 sind eine dauerhaft gestützte ambulante Rehabilitation, eine Intervalltherapie oder eine Tagesreha geeignet oder auch eine stationäre Rehabilitation. Für die Zielgruppe 6 kommen Angebote wie stationäre Krisenintervention, Übergangseinrichtungen, substitutionsgestützte stationäre Rehabilitation oder soziotherapeutische Einrichtungen in Frage.

    Eine weitere Zielgruppe sind Substituierte mit schweren psychiatrischen Komorbiditäten. Für diese Gruppe sind besondere Behandlungsangebote nötig. Als positives Beispiel führte Heinz das Asklepios-Krankenhaus Göttingen an, das eine eigene Abteilung für Substituierte mit Traumata oder Borderline-Störung hat und sehr erfolgreich eine ambulant-stationäre Intervalltherapie durchführt.

    Heinz appellierte an die Leistungsträger, an das Rehabilitationssystem und die Drogenpolitik, dass sie sich im Hinblick auf Finanzierungswillen und Behandlungskonzepte mehr öffnen für die Integration von Substitution und Rehabilitation und das Therapieziel Arbeit statt Abstinenz. Er regte die Durchführung von Bundesmodellprojekten an, um die Behandlung der Opiatabhängigkeit zu verbessern.

    Suchtberatung und PSB: Case Management und Kooperationsarbeit

    04_Zehr_rIm Anschluss an die Übersichtsreferate folgten mehrere Vorträge, die sich mit den Behandlungsmodulen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschäftigten. Zu Beginn dieses neuen Themenblocks stellte Uwe Zehr vom Verein für Jugendhilfe e. V. in Sindelfingen „Die Rolle der Suchtberatung und der psychosozialen Betreuung“ vor. Als Erstes steckte er die Rahmenbedingungen ab: Suchtberatung wird von den Kommunen finanziert. Daraus ergibt sich, dass die Kommunen auch überwiegend die Aufgaben der psychosozialen Betreuung (PSB), die durch die Suchtberatungen wahrgenommen werden, definieren. Laut BtMVV § 5, Abs. 2, Nr. 2 muss jeder substituierte Patient eine PSB erhalten, oder anders herum: Jeder substituierende Arzt hat einen rechtlichen Anspruch auf PSB für seine Klienten, den die Kommune in dieser Region erfüllen muss. Selten wird PBS im Rahmen individueller Eingliederungshilfe geleistet, selten ist sie ein verbindlicher Teil des medizinischen Versorgungssystems.

    Suchtberatungen führen PSB im Auftrag der Kommunen durch. Sie bringen beste Voraussetzungen mit, um als ‚proaktive‘ Case Manager zu agieren: Sie bieten ein multiprofessionelles Team, eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, eine zeitnahe Krisenintervention und Netzwerkkenntnis. Die Leistungen des Suchthilfesystems haben sich in den letzten Jahren weiter differenziert. Diese Leistungen werden von den substituierenden Ärzten gar nicht vollständig abgerufen. Hierbei könnten die Suchtberatungen als Case Manager ihr Knowhow erfolgreich einbringen.

    Zehr analysierte im Einzelnen die Kooperationsbeziehungen, die bei der Durchführung der PSB entstehen. Die Beziehungen zu den substituierenden Ärzten können sehr unterschiedlich sein, je nach Schwerpunktsetzung der medizinischen Behandlung. Zehr rief die Suchtberatungen dazu auf, auf die Ärzte zuzugehen. Sie hätten eine bessere Ausgangsposition, um eine gute Zusammenarbeit anzustoßen. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist das Jugendamt. Hier fehlen einheitliche Standards. Bei substituierten Eltern sollten Jugendamt und Suchtberatung eng zusammenarbeiten, dies kann sehr positive Auswirkungen haben: Der ‚Faktor Elternschaft‘ kann sogar zum Übergang in eine Reha motivieren. Manche Jugendhilfemaßnahmen müssten erst gar nicht durchgeführt werden (was auch Kosteneinsparungen bedeutet). Kooperationen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem wären angesichts der stark vertretenen komorbiden Störungen bei Substituierten wichtig, sind aber in der Praxis schwierig. Substituierte (und Suchtpatienten generell) sind häufig unzuverlässig, es stellt sich das Problem der Verträglichkeit von Substitutionsmittel und Psychopharmaka, und manche Therapeuten halten eine Psychotherapie unter Substitution nicht für durchführbar. Eine Kooperation zwischen Suchtberatung und dem sozialpsychiatrischen Dienst wird zu wenig genutzt. Eine Vermittlung von Substituierten in die Suchtreha findet nur selten statt, obwohl viele Substituierte die Reha bereits kennen und die Substitution irgendwann auch beenden möchten. An einer Reha unter Erhaltungsdosis hätten Substituierte einer Umfrage in Schleswig-Holstein zufolge jedoch ein deutlich höheres Interesse, v. a. im ambulanten Setting. Als weitere Kooperationspartner kämen die Jobcenter in Frage, da über 50 Prozent der Substituierten in PSB ALG II beziehen. Aber von Seiten der Jobcenter gibt es keine besonderen Maßnahmen oder Kooperationen mit der Suchtberatung.

    Als Entwicklungschancen fasste Zehr zum Abschluss folgende Aspekte zusammen: Der ‚Motivationsfaktor Elternschaft‘ sollte genutzt werden, für die Kooperation zwischen Jugend- und Suchthilfe müssen und können einheitliche Standards geschaffen werden. Die Suchtberatung sollte den Ärzten proaktiv ihr Case Management anbieten und sich um einen ‚Quasi-Versorgungsauftrag‘ durch die Kommune bemühen. Die Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Versorgung sollte verbessert und Modelle der Suchtreha unter Erhaltungsdosis sollten genutzt und ausgeweitet werden.

    Suchtmedizin: Zielhierarchie und Substitutionsrecht

    05_Meyer-ThompsonHans-Günter Meyer-Thompson, bis August 2015 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), stellte in seinem Vortrag die „Substitutionsbehandlung aus Sicht der Suchtmedizin“ dar und setzte sich kritisch mit dem von FVS und fdr gemeinsam veröffentlichten „Positionspapier zur stärkeren Vernetzung von Substitution und Entwöhnungsbehandlung“ (SuchtAktuell 2-2014) auseinander. Er hob die Vorteile der Substitution hervor: Sie sichert Überleben, stillt den Opiathunger und ermöglicht es den Klienten, stabile Lebensverhältnisse aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie hat die Ausbreitung von AIDS und die Zahl der Drogentoten reduziert. Meyer-Thompson stellte dar, inwiefern die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen zur Substitution die Patienten/-innen diskriminieren – zwangsweise PSB, keine Abgabe des Substitutionsmittels in der Apotheke, tägliche Termine in der Arztpraxis, dadurch keine Urlaubsmöglichkeit, Unterdosierung in Reha-Einrichtungen – und die Ärzte von vornherein „mit einem Bein im Gefängnis“ stehen lassen.

    Deshalb fordert die DGS zum einen eine neue Zielhierarchie in der Behandlung. Abstinenzorientierung soll gleichrangig mit Zielen sein, die durch Substitution erreicht werden, wie Hilfe zum Überleben, Behandlung von Begleiterkrankungen, Reduktion des Gebrauchs psychotroper Substanzen sowie Verringerung der Risiken einer Opiat-/Opioidabhängigkeit während Schwangerschaft und Geburt. Außerdem wird eine bessere Versorgung bestimmter Patientengruppen gefordert. Dazu gehören opioidabhängige Strafgefangene, substituierte Eltern, Einwanderer und Flüchtlinge sowie Patienten mit Beikonsum. Für Substituierte mit schweren psychischen Störungen soll der Zugang zur ambulanten Psychotherapie verbessert werden. Zum anderen fordert die DGS eine Änderung des Substitutionsrechts. Die unmittelbare ärztliche Tätigkeit gehört in Richt- und Leitlinien geregelt, Behandlungsfehler sind demzufolge durch das Berufsrecht und nicht durch das Strafrecht zu sanktionieren.

    Abschließend plädierte Meyer-Thompson dafür, dass ambulante Substitutionsbehandlung und stationäre Therapie aufeinander zugehen sollten, um die jeweiligen Stärken, Schwächen und Erfahrungen zu analysieren. Auf dieser Grundlage sollten gemeinsam die Kriterien für die im Einzelfall beste Behandlung weiterentwickelt werden.

    Entzug: Motivationsförderung und Anschlussperspektiven

    06_Kuhlmann_rÜber „Opioidabhängige im Entzug“ referierte Dr. Thomas Kuhlmann von der Psychosomatischen Klinik Bergisch Gladbach. Er stellte zunächst die wesentlichen Inhalte des qualifizierten Entzugs dar. Dazu gehören Motivationsförderung, Teilhabeorientierung und das Erarbeiten einer Anschlussperspektive. Anschließend berichtete Kuhlmann detailliert über verschiedene Aspekte des medikamentengestützten Entzugs. Dieser ist bei Entzugserscheinungen die Methode der ersten Wahl. Hierbei werden die eingesetzten Medikamente entweder homolog abdosiert, als ‚Krücke‘ für den Entzug, oder bis zur Erhaltungsdosis aufdosiert, wenn eine Substitutionsbehandlung durchgeführt werden soll. Neben der Reduzierung der Entzugserscheinungen können die verabreichten Opiatanaloga eine Reihe weiterer Wirkungen hervorrufen: Sie wirken sedierend oder nicht sedierend, können zu Verstopfung, Schweißneigung und Atemdepression führen und die Libido dämpfen. Um Letzteres auszugleichen, konsumieren Substituierte häufig Kokain. Die Ausprägung der Nebenwirkungen fallen individuell sehr unterschiedlich aus.

    Eine besonders wichtige Rolle beim Entzug spielt die Motivationsförderung. Dabei soll der Behandler dem Patienten Perspektiven aufzeigen können, da die Patienten sich meist selbst gar keine Perspektiven vorstellen können. Diese Perspektiven sollen nach der Entzugsbehandlung nahtlos weiterverfolgt werden können. Gleichzeitig soll als Ziel der Behandlung ein „Menu of options“ in Frage kommen, von der diamorphingestützten Behandlung bis hin zur medizinischen Reha. Um eine kurzfristige und mittelfristige Anschlussperspektive herzustellen, müssen z. B. folgende Punkte geklärt werden: Bestehen Probleme mit der Justiz oder dem Ausländeramt? Wie ist die Wohn- und Arbeitssituation? Wie geht es in der Behandlung weiter?

    Als Fazit fasste Kuhlmann zusammen, dass eine sozialpsychiatrische Haltung entscheidend für eine gute (Entzugs-)Behandlung Opiatabhängiger ist. Dafür stellt die Spaltung des Hilfesystems in niederschwellig, überlebenssichernd und ausstiegsorientiert ein großes Problem dar. Diese Spaltung muss überwunden werden, um Überleben und Teilhabe zu sichern. Substitution darf kein Ausschlusskriterium für medizinische Reha sein, und auch Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnangebote (z. B. Clean-WGs) müssen weiterentwickelt werden.

    Entwöhnung: Abstinenzquoten und Prädiktoren für den Behandlungserfolg

    07_Fischer_rMartina Fischer von der AHG Klinik Daun-Altburg stellte in ihrem Vortrag anhand von Katamnesedaten den Erfolg der stationären Entwöhnungsbehandlung bei Opioid- und Drogenabhängigkeit dar. Sie berichtete über den Entlassjahrgang 2012 in sieben Drogenkliniken des FVS (mit einem Rücklauf von mindesten 25 Prozent). Die Gesamtstichprobe umfasste insgesamt 1.275 Patienten. Diese zeichneten sich durch eine hohe Haltequote aus (planmäßige Behandlungsdauer 59 Prozent). Der Anteil der opioidabhängigen Patienten sinkt gegenüber den Vorjahren, er machte nur noch 16,8 Prozent aus. Am stärksten vertreten (30,8 Prozent) waren Patienten mit multiplem Substanzgebrauch.

    Fischer berichtete über die katamnestischen Erfolgsquoten, die den Anteil abstinent lebender ehemaliger Patienten erfassen. Die katamnestischen Erfolgsquoten werden üblicherweise mit den Berechnungsformen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DGSS) ermittelt. Für die oben genannte Stichprobe betrug die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS 3 66,0 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf die in der Katamneseuntersuchung erreichten Patienten (Antworter) bezogen. Nach DGSS 4 betrug die katamnestische Erfolgsquote 21,2 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf alle entlassenen Patienten bezogen. Die Quote der Antworter (Ausschöpfungsquote) lag in dieser Untersuchung bei 32,1 Prozent. Von den planmäßig entlassenen Patienten wurden 43,2 Prozent innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung rückfällig.

    Bezogen auf den Entlassjahrgang 2011 wurde untersucht, welche Prädiktoren auf das Behandlungsergebnis und die katamnestische Erfolgsquote schließen lassen. Im Hinblick auf die Entlassform wirken sich Auflagen vom Gericht und sonstige Auflagen, F 12- und F 14-Diagnosen (Störungen durch Cannabinoide bzw. Störungen durch Kokain, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10) und eine längere Therapiezeit positiv aus. Frauen schließen häufiger regulär ab als Männer. Männer antworten seltener als Frauen bei der Katamnesebefragung, weitere ungünstige Faktoren hierfür sind keine Ausbildung, Auflagen vom Gericht, Arbeitslosigkeit und eine F 11-Diagnose (Störungen durch Opioide, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10). Eine reguläre Entlassung und eine längere Therapie begünstigen Abstinenz, wohingegen gerichtliche Auflagen häufig in Zusammenhang mit einer schlechteren Abstinenzquote vorkommen.

    Als besonders nützliche Intervention in der stationären Reha hob Fischer die Entwicklung der Ausstiegsmotivation hervor, d. h. Ausstieg aus der schlechten Gesamtsituation. Voraussetzungen dafür sind Drogenfreiheit sowie eine realistische und subjektiv wertvolle Zukunftsperspektive. Den Patienten/-innen soll bewusst werden, dass es eine Ausstiegsmöglichkeit gibt, dazu brauchen sie auch die Kenntnis des Hilfesystems.

    Die stationäre Reha weist eine Reihe an Wirkfaktoren auf. Dazu gehören insbesondere das Herauslösen des Patienten/der Patientin aus dem gewohnten Umfeld, die individuelle Anpassung von Behandlungsangeboten aus Medizin, Psychotherapie, Ergo-/Arbeitstherapie und sozialer Arbeit sowie die Möglichkeit, innerhalb einer Gemeinschaft neue Beziehungserfahrungen zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die stationäre Reha mit stabilen Abstinenzquoten sehr erfolgreich ist.

    Reha mit Substitution: Patienten mit höherer Problembelastung

    08_Claussen_rDen Abschluss in der Reihe der Vorträge machte Ulrich Claussen von der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ mit seinem Beitrag „Substitutionsgestützte Rehabilitation als zusätzliche Angebotsform“. Die Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ nimmt seit 2012 substituierte Patienten/-innen auf. Ziele der Behandlung sind die Abstinenz und die Abdosierung des Substitutionsmittels. Letztere wird über die Jahre gesehen bisher von einem Viertel die Patienten/-innen erreicht. Vor Beginn der Reha soll der Beikonsum eingestellt und die Eingangsdosis von 60 Milligramm Methadon erreicht sein. Der Zugang über eine Übergangseinrichtung sichert diese Voraussetzungen.

    Die Rehabilitationsbehandlung selbst ist in drei Phasen eingeteilt. Nachdem in Phase I, der Klärungsphase, Diagnostik und Motivationsarbeit durchgeführt und Ziele vereinbart wurden, soll in Phase II, der Veränderungsphase, abdosiert und Symptome behandelt werden. Phase III dient der Stabilisierung der Abstinenz, hier soll eine Orientierung nach außen erfolgen, ebenso Rückfallprävention und die Planung der Nachsorge. Zu den Herausforderungen, die im Verlauf der Behandlung gemeistert werden müssen, gehört es, Krisen beim Ausdosieren und Rückfälle nach dem Ausdosieren zu vermeiden bzw. Krisen schnell zu erkennen und zu bewältigen. Die Patienten/-innen erhalten jeweils einen individuellen Behandlungsplan zur Ausdosierung, es finden unterstützende und motivierende Gespräche in der Gruppe und psychotherapeutische Einzelsitzungen statt.

    Die substituierten Patienten/-innen sind gegenüber nicht substituierten Drogenpatienten durch eine erhöhte Problembelastung gekennzeichnet: Sie haben seltener einen Ausbildungsabschluss, beziehen häufiger Transferleistungen, weisen vermehrt körperliche und psychische Erkrankungen auf, hatten häufiger Vorbehandlungen, waren aber seltener vorher in Reha. In der Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ waren unter den Substituierten bisher vergleichsweise viele Frauen: Von den 57 Personen, die ihre Behandlung abgeschlossenen haben, waren 30 Prozent Frauen. Der Frauenanteil unter den nicht substituierten Opiatpatienten beträgt durchschnittlich zehn Prozent. Weiterhin zeigten die substituierten Patienten/-innen schlechtere Leistungen in Konzentration, Sorgfalt und Tempo beim Erledigen von Aufgaben.

    Rund 25 Prozent der Klientel haben die Ausdosierung erreicht, 30 Prozent haben die Ausdosierung begonnen, und 47 Prozent haben nicht ausdosiert. Dies kann daran liegen, dass sich komorbide Störungen wie Psychosen dadurch verschlimmern würden oder die Patienten körperlich dazu nicht in der Lage sind und das Rückfallrisiko zu sehr steigen würde. Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist die Nachsorge im Netzwerk des Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. Allen Patienten/-innen wird eine Weitervermittlung angeboten, bei irregulären Beendigungen der Behandlung hält der Träger verschiedene Auffangangebote bereit.

    Zur Weiterentwicklung und Verbesserung der substitutionsgestützten Reha wünscht sich Claussen eine breitere Datenbasis und Untersuchungen zu Prädiktoren eines erfolgreichen Reha-Verlaufs. Substitutionsgestützte Reha soll getrennt beforscht werden.

    Kommentare: Was wollen DRV, GKV, Bundesärztekammer und Suchtverbände?

    Im dritten Block der Veranstaltung waren Vertreter/-innen von DRV und GKV, der Bundesärztekammer und der Suchtverbände dazu aufgerufen, aus ihrer Sicht Kommentare zum Entwicklungsbedarf bei der Behandlung Opiatabhängiger abzugeben. Marie-Luise Delsa von der Deutschen Rentenversicherung Bund äußerte sich aufgrund des Inputs aus den vorangegangenen Vorträgen spontan. Ihrer Ansicht nach sollten die Patienten/-innen vor Beginn der Substitution besser über alle Möglichkeiten, die das Suchthilfesystem bietet, informiert werden, die Zahl der Personen in Substitution sei zu hoch. Wichtig seien nahtlose Übergänge in die Reha für Drogenpatienten und schnelle Bewilligungen der Anträge.

    10_Tolzin_rDr. Christoph Jonas Tolzin äußerte sich aus Sicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Er verwies auf die für die GKV verbindlichen rechtlichen Grundlagen der Behandlung Opiatabhängiger. Dazu zählen das Betäubungsmittelgesetzt, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV), die Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger und das SGB V. Aus den Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger zitierte er wesentliche Bestimmungen und die letzten Änderungen der Richtlinie Methadon aus dem Jahr 2013. Hier wurden die räumlichen und personellen Anforderungen an diamorphinsubstituierende Einrichtungen den realistischen Möglichkeiten angepasst. Eine Evaluation der Substitution mit Diamorphin sei abzuwarten.

    11_von_Ascheraden_rDr. Christoph von Ascheraden stellte dar, wie sich aus Sicht der Bundesärztekammer die BtMVV zur substitutionsgestützten Behandlung weiterentwickeln solle. Demnach solle die Zielhierarchisierung geändert und das absolute Diktum der Abstinenzorientierung entfernt werden. Substituierenden Ärzten dürften keine strafrechtlichen Sanktionen drohen. Etwaige Behandlungsfehler sollten ausschließlich berufsrechtlich geahndet werden. Beikonsum solle als „Beigebrauch“ oder „komorbider Substanzgebrauch“ bezeichnet und nicht ‚bestraft‘, sondern therapiert werden. Den Ärzten solle mehr Therapiefreiheit gegeben werden und eine Verschreibung des Substitutionsmittels auch für mehr als sieben Tage möglich sein. Eine enge Kontrolle und Sichtbezug zu Beginn der Behandlung seien absolut angemessen, aber bei stabilen Verhältnissen solle den Ärzten mehr Flexibilität möglich sein. von Ascheraden forderte, sich sehr um eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Substitution zu bemühen, damit sich mehr junge Ärzte für diesen Bereich entscheiden.

    12_Weissinger_rDas Abschlussstatement aus Sicht der Suchtverbände hielt Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. Er fasste zusammen, dass ein sehr vielfältiges und spezialisiertes Behandlungsangebot zur Verfügung steht, in dem jedoch die Übergänge zwischen den Behandlungsformen besser organisiert werden müssten. Insbesondere müsse die Brückenbildung zwischen Substitution und Reha ausgebaut werden, 200 bis 300 Übergänge pro Jahr aus der Substitution bei insgesamt 4.000 bis 5.000 Drogenpatienten in einer Reha-Maßnahme sei zu wenig. Grundlage der Behandlung ist ein ganzheitliches Bild des Patienten/der Patientin, für den/die je nach individuellem Bedarf ein passendes Behandlungsangebot gefunden werden muss. Um das sektorierte Behandlungssystem in Bewegung zu bringen, schlug Weissinger drei Maßnahmen vor:

    1. die Fortführung der Substitution in regelmäßigen Abständen kritisch zu hinterfragen. In Abstimmung mit der psychosozialen Betreuung sollen geeignete Patienten/-innen für die Reha motiviert werden.
    2. die nahtlose Überleitung in den Entzug bzw. in die Entwöhnungsbehandlung durch ein Überleitungs- bzw. Fallmanagement zu unterstützen. Ebenso soll bei Abbruch der Entwöhnungsbehandlung ein Fallmanagement unterstützend eingreifen und zeitnah die erforderlichen Hilfen einleiten.
    3. die Kriterien und Ziele der substitutionsgestützten Reha, wie sie in Anlage 4 der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen beschrieben sind, zu überprüfen, damit diese Behandlungsform vermehrt genutzt wird und sie ihre Funktion der Brückenbildung ausüben kann.

    Diskussion: Patienten und Kommunen einbinden

    An die Vorträge und Statements schloss sich eine sehr angeregt Diskussion an. Gefordert wurde, dass auch die Betroffenen und die Selbsthilfe am Diskurs beteiligt werden sollten. Auch im Rahmen der Behandlung selbst sollten die Patienten/-innen bei der Frage der Abdosierung ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht erhalten. In einem Teilnehmerstatement wurde angeregt, dass man von der Fokussierung auf Milligramm-Mengen des verabreichten Substitutionsmittels abrücken und die Gesamtsituation des Patienten betrachten müsse. Für ein zufriedenes Leben sind v. a. Tagesstruktur und Arbeit äußerst wichtig. Diese müssten für Substituierte geschaffen werden und könnten ggf. eine gute Grundlage für eine Abdosierung bieten.

    Neben einer Beteiligung der Betroffenen wurde auch die Einbindung von Kommunen und Ländern in den Diskurs gefordert – denn die bezahlen ‚Fallmanagement‘ und psychosoziale Betreuung, also diejenigen Interventionen, denen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Substituierten in die Reha zukommt. Kritisch wurde angemerkt, ob niedergelassene Psychotherapeuten tatsächlich eine Ressource für die ambulante Betreuung Substituierter darstellen, da sie meist keine Zusatzqualifikation Sucht aufweisen und Suchtkranke für sie oftmals ‚unattraktive‘ Patienten sind. Auch die Frage nach der Zuständigkeit wurde aufgeworfen. Da für Substituierte die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht immer möglich ist, sei für ihre Entwöhnung und den Entzug vom Substitutionsmittel die Krankenkasse zuständig.

    Die Hauptaufgabe zur Verbesserung der Behandlung Opiatabhängiger besteht darin, die Grenzen innerhalb des sektorierten Behandlungssystems zu überwinden. Dafür gehen die Mitarbeiter/-innen in den Einrichtungen bereits weit über ihren Auftrag hinaus. Weitere Brücken sollen gebaut werden! Gewünscht wurde ein offener Dialog mit allen Beteiligten: DRV, GKV, Ärztekammer, niedergelassene Ärzte, Suchtverbände und Betroffene. Ein Anfang wurde mit dieser Veranstaltung gemacht!

    Kontakt:

    Simone Schwarzer
    Redaktion KONTUREN online
    redaktion@konturen.de

  • TaKeTiNa-Rhythmustherapie

    TaKeTiNa-Rhythmustherapie

    Frank Rihm
    Frank Rihm

    Suchtpatienten und Patienten in psychosomatischen Kliniken zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie in ihrem Leben zu selten die Erfahrung von Sicherheit und Vertrauen gemacht haben. Sie haben in der Regel nicht das Gefühl, dass sie im Leben und in der Gesellschaft einen Platz haben, dass der Boden unter den Füßen trägt und sie das eigene Leben in die Hand nehmen und gestalten können. Jahrelange therapeutische Erfahrung hat gezeigt, dass für Menschen, die das Grundgefühl des Nicht-Dazu-Gehörens in sich tragen, die so genannte TaKeTiNa-Rhythmustherapie sehr hilfreich sein kann und zur Genesung beiträgt.

    Die Grundidee: Sich vom Rhythmus tragen lassen

    TaKeTiNa ist der Name einer Methode, die es Menschen ermöglicht, Rhythmus mit dem Körper ganzheitlich zu erleben. Der Lehrer bedient sich dabei einer ausgefeilten Rhythmussprache bestehend aus Rhythmussilben. Er spricht dem Kursteilnehmer vor, was dieser auf dem Instrument spielen soll. Die Silben „ta“, „ke“, „ti“ und „na“ haben sich dazu als besonders geeignet erwiesen.

    Der TaKeTiNa-Prozess vermittelt Rhythmus so, wie ihn der Mensch von Natur aus am besten erfassen und lernen kann. Er führt den Teilnehmer direkt zur körperlichen Erfahrung rhythmischer Urbewegungen und damit zu jenen Grundbausteinen, aus denen sich die Rhythmik jeder Musik zusammensetzt. Der Körper selbst wird zum Musikinstrument, die Begegnung mit Rhythmus ist daher entsprechend direkt und intensiv. Mit Stimme, Klatschen und Schrittbewegungen werden gleichzeitig drei unterschiedliche Rhythmusebenen aufgebaut. Das damit verbundene „Aus dem Rhythmus fallen“ und wieder „In den Rhythmus zurückfinden“ ist das Prinzip, mit dem die Teilnehmer lernen, sich immer tiefer vom Rhythmus tragen zu lassen. Intention und Hingabe, Machen und Geschehen-Lassen, Aktiv- und Passivsein verbinden sich spielerisch miteinander, sodass die Teilnehmer immer mehr den Zustand im „Hier und Jetzt“ erleben können. Die Heiligenfeld Kliniken in Bad Kissingen setzen TaKeTiNa als Rhythmustherapie seit 25 Jahren erfolgreich ein. „Die Erfahrung, von den Grundstrukturen des Rhythmus in der Gruppe getragen zu sein, sich zu verlieren, sich wiederzufinden und sich sicherer in sich selbst zu verankern, sind fundamentale und enorm bereichernde Komponenten im Rahmen einer psychosomatischen stationären Behandlung“, erklärt Dr. Joachim Galuska, leitender ärztlicher Direktor, Geschäftsführer und Mitbegründer der Heiligenfeld Kliniken.

    TaKeTiNa in der Psychotherapie

    Viele Patienten fühlen sich in Folge von Traumatisierung oder Bindungsstörungen immer wieder oder ständig bedroht. Wenn sie die Augen schließen, fühlen sie sich, als würden sie in eine dunkle, unendliche Tiefe fallen, ohne jeglichen Halt und ohne die Chance einer Stabilisierung. Häufig leiden diese Patienten unter Depersonalisation oder Derealisation und nehmen sich selbst, ihre Umwelt und andere Menschen als unwirklich wahr. Für diese Patienten kann der TaKeTiNa-Prozess sehr hilfreich sein, indem er zu einer verbesserten Körperwahrnehmung führt und zwanghaft kreisende Gedanken unterbricht. Viele Patienten fühlen sich durch die körperliche Erfahrung des Rhythmus seit langer Zeit zum ersten Mal wieder sicher und geborgen, und die sonst so belastende Trennung zwischen ihnen und ihrer Umwelt weicht für Momente dem Gefühl der Verbundenheit. TaKeTiNa arbeitet mit der elementarsten Kraft des Lebens – mit Rhythmus. Dieser ist in TaKeTiNa Spiegel und zugleich die Kraft, mit der behindernde Verhaltensweisen aufgelöst und Qualitäten entwickelt werden können, die die Essenz menschlichen Lebens ausmachen: Intuition und Kreativität, innere Stille und mentale Stärke, Angstlosigkeit und das Vertrauen, in komplexen Situationen die Übersicht zu behalten.

    Frank Rihm mit TaKeTiNa-Schülern
    Frank Rihm mit TaKeTiNa-Schülern

    TaKeTiNa wurde von dem Wiener Musiker, Komponist, Autor und weltweit agierenden Seminarleiter Reinhard Flatischler begründet und gilt als einer der effektivsten Lernprozesse unserer Zeit. In den Heiligenfeld Kliniken wurde TaKeTiNa so modifiziert, dass auch Patienten mit Persönlichkeitsstörungen oder mit neurotischen Problemen das Verfahren sehr erfolgreich nutzen können. TaKeTiNa wird ganz besonders dazu genutzt, Menschen, die schwerwiegende und durch verbale Interventionen nur bedingt erreichbare Probleme haben, in eine positive Entwicklung zu bringen. Die Patienten verstehen das Verfahren intuitiv sehr schnell und nehmen das Angebot deshalb auch sehr gerne wahr. Sie erfahren, dass TaKeTiNa ein effektiver Weg sein kann, ihnen tiefe Entwicklungs- und Veränderungsprozesse zu ermöglichen. Ein Weg, der sie einerseits mit Episoden aus ihrer Vergangenheit in Berührung bringt, der sie andererseits aber auch in die Gegenwart und zu einer besseren Selbsteinschätzung führt. Sie können die im Rhythmus innewohnende Kraft und das Zusammenspiel in der Gruppe nutzen, um vermisste Qualitäten und Fähigkeiten nachreifen zu lassen. Gleichzeitig konfrontiert sie die Arbeit mit dem Rhythmus mit den ihr Leben behindernden Mustern und Verhaltensweisen. Mit TaKeTiNa erfahren die Patienten, wie sie inmitten von persönlichen Krisen wieder Lebensfreude, Humor, Hoffnung und Lust am Leben verspüren.

    Wissenschaftliche Evaluation

    Ein Team von Ärzten und Wissenschaftlern untersucht und bestätigt diese positiven klinischen Resultate seit mehr als zehn Jahren. Herzratenvariabilitätsmessungen belegen beispielsweise, dass TaKeTiNa vorhersehbar und wiederholbar ideale Bedingungen für die Regeneration des Nervensystems herstellt und daher die Grundlage dafür schafft, die Gesundheit auf psychischer Ebene zu fördern. Im Forschungsrahmen gemachte EEG-Messungen zeigen, dass die regelmäßige Anwendung von TaKeTiNa das Gehirn effektiver arbeiten lässt. Laut Dr. Gerhard Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, wirke TaKeTiNa heilend, gerade bei chronisch kranken Menschen. Im Göppinger Projekt mit Hochschmerzpatienten sei TaKeTiNa für die Patienten eine essentielle Hilfe gewesen, die ihnen ermöglichte, ihre Medikation zu reduzieren und den Umgang mit Schmerz zu verbessern. Derzeit läuft in den Heiligenfeld Kliniken eine Untersuchung zur Therapie mit komplex-traumatisierten Patienten. Die ersten Ergebnisse dieser gerade angelaufenen Untersuchung sind vielversprechend und zeigen schon jetzt, dass diese Patienten ihre Heilungserfolge während der stationären Therapie besonders auch auf die in der Rhythmustherapie gemachten Erfahrungen zurückführen.

    Ausbildung zum TaKeTiNa-Rhythmustherapeuten

    Heiligenfeld Kliniken TaKeTiNa wird mittlerweile als begleitende Maßnahme in unterschiedlichen Therapiebereichen in Kliniken und Praxen erfolgreich eingesetzt. Die Arbeit, die in den Heiligenfeld Kliniken mit der TaKeTiNa-Rhythmustherapie seit mehr als zwei Jahrzehnten geleistet wird, zählt zu den langjährigsten Projekten. Die psychotherapeutischen Resultate sind so überzeugend, dass über die Akademie Heiligenfeld nun erstmals eine eigenständige Ausbildung zum TaKeTiNa-Rhythmustherapeuten angeboten wird. Diese soll die Teilnehmer dazu befähigen, Rhythmus im therapeutischen Kontext kompetent und effektiv einzusetzen. Geleitet wird diese Ausbildung von Frank Rihm (leitender Kreativtherapeut der Fachklinik Heiligenfeld), Reinhard Flatischler (Begründer von TaKeTiNa) und Bettina Berger (HAKOMI-Lehrtherapeutin und Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie). Die Dozenten verfügen über große praktische Erfahrung in der Integration von Rhythmus in die Psychotherapie und werden den Teilnehmern zeigen, wie effektiv dieser Weg sein kann. Voraussetzung zur Teilnahme ist die Ausübung eines Grundberufes, der dazu berechtigt und befähigt, mit Menschen heilend bzw. therapeutisch zu arbeiten.

    Ein Einführungsworkshop mit Reinhard Flatischler und Frank Rihm findet vom 24. bis 26. April 2015 in Bad Kissingen statt. Weitere Informationen und eine Anmeldemöglichkeit finden Sie im Internet unter www.akademie-heiligenfeld.de.

    Kontakt und Informationen:

    Akademie Heiligenfeld
    Altenbergweg 6
    97688 Bad Kissingen
    Tel. 0971/84-4600
    www.akademie-heiligenfeld.de
    info@akademie-heiligenfeld.de

    Angaben zum Autor:

    Frank Rihm ist leitender Kreativtherapeut in der Fachklinik Heiligenfeld. Der Dipl.-Musiktherapeut, TaKeTiNa-Rhythmuspädagoge (Advanced Level) und Gestalttherapeut hat darüber hinaus Weiterbildungen in Somatic Experiencing (Traumatherapie nach Peter Levine) und verschiedenen Verfahren der Humanistischen Psychotherapie absolviert.

  • Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bei Substanzmittelabhängigkeit

    Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bei Substanzmittelabhängigkeit

    Rainer Baudis
    Rainer Baudis

    Neuropsychologische Beeinträchtigungen von Suchtkranken wurden in einer Reihe von Untersuchungen aufgezeigt. Ihre „Dosisabhängigkeit“ (je mehr Suchtmittel konsumiert wird, desto größer sind die Schäden) wurde von Bolla et al. (1999; 2002) nachgewiesen. Die Beeinträchtigungen betreffen Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Aufmerksamkeit/Vigilanz, Konzentration, die exekutiven Funktionen und Entscheidungsverhalten/Decision Making. Dabei erwies sich das Entscheidungsverhalten zur Prognose erfolgreicher Teilhabe und Alltagsbewältigung als besonders relevant (Bechara 2002; Passetti et al. 2007). Becharas Studie untersucht die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung, um mittelfristig die Lebensqualität von Abhängigen zu verbessern.

    Damasio und Bechara (2002) wiesen nach, dass abhängige Probanden im Vergleich zu gesunden in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Schon 1994 hatten sie ein Testverfahren entwickelt, das Probanden die Aufgabe stellt, herauszufinden, welche von vier Stapeln eines Kartenspiels ertragreich und welche verlustbringend sind, um möglichst viele Punkte zu sammeln. Dabei kann man sich nur langsam herantasten und muss sich von Ahnungen leiten lassen. Solche zielführenden vagen Empfindungen nennt Damasio „somatische Marker“. Stehen diese nicht zur Verfügung aufgrund einer Hirnläsion oder weil sie impulsiv übertönt werden, ist ein erfolgreiches Entscheidungsverhalten nicht möglich. Bechara (2005) entwickelte diese Theorie weiter und beschrieb Abhängigkeit in der Dynamik eines „reflexiven“ und eines „impulsiven“ Systems. Danach werden Suchtkranke durch eine Übererregung des impulsiven Systems (Hypersensibilität für Belohnung) oder durch eine geschwächte „Top-Down-Steuerung“ (exekutive Funktionen) verleitet, mittelfristige Ziele zugunsten der Erfüllung kurzfristiger Ziele zu vernachlässigen und Misserfolge (bezogen auf die mittelfristigen Ziele) nicht zu beachten.

    1. Entstehung des Trainingsmanuals HALT!

    Abb. 1: Logo des HALT!- Programmes

    Das „Trainingsmanual HALT!“ ist im Rahmen eines Forschungsprojekts (2009 bis 2013) entstanden, das der Verein für Jugendhilfe Böblingen e. V. mit seinen Rehabilitationseinrichtungen in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut (IAO) Stuttgart im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg durchgeführt hat. Ziel war es, die Alltagsbewältigung und Selbststeuerung von Suchtkranken zu verbessern. Zunächst wurden 249 empirische Studien zur neuropsychologischen Beeinträchtigung ausgewertet unter besonderer Berücksichtigung des Entscheidungsverhaltens. Die Auswertung führte zu einem Modell, welches das Entscheidungsverhalten, exekutive Funktionen, emotionale Selbstkontrolle und Impulsivität miteinander verknüpft: das Faktorenmodell der Entscheidungsfähigkeit (vgl. Abb. 2). Impulsivität wird als ein grundlegendes Phänomen bei Abhängigkeit angesehen: (a) als Folge beeinträchtiger Top-Down-Steuerung sowohl der kalten wie der heißen Kognition (Zelaszo et al. 2007) oder (b) als Aktivierung bzw. Hypersensibilisierung des impulsiven Systems.

    Abb. 2: Faktorenmodell der Entscheidungsfähigkeit: Kalte und heiße Kognition bilden als Top-Down-Kontrollsysteme ein Gegengewicht zur Impulsivität. Von der „Kräfteverteilung“ zwischen Kontrolle und Impulsivität hängen die Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung ab.

    Um eine rehabilitative Anwendung zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens, der emotionalen Selbststeuerung und der Alltagsbewältigung zu entwickeln, wurden als nächster Schritt 414 empirische Studien ausgewertet, die Verbesserungen der neuropsychologischen Beeinträchtigung bzw. Impulsivität behandeln. Klingberg (2010) wies beispielsweise die Trainierbarkeit des Arbeitsgedächtnisses und Verbesserungen bei ADHS nach. Eine beträchtliche Zahl an Studien belegt die Möglichkeit, exekutive Funktionen zu verbessern, z. B. durch bestimmte Aufgaben. Die adressierten Gehirnareale reagieren mit neuroplastischen Veränderungen („gelenkter Reorganisation“, Robertson & Murre 1999). Das Programm HALT! folgt diesem Paradigma und beschreibt Module, die geeignet sind:

    • die Überansprechbarkeit des impulsiven Systems herunterzufahren,
    • die Steuerung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis zu trainieren,
    • die Entwicklung eines Störungsbewusstseins zu fördern und
    • emotionale Selbststeuerung fokussiert anzusprechen (Baudis 2014 a).

    Die Literaturrecherche ergab, dass es zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bisher keine ausgearbeiteten Tools wie etwa zum „Problemlösen“ gibt. Deshalb wurde das Trainingsmanual HALT! entwickelt, zu dem ein Handbuch („Abhängigkeit und Entscheiden“) und ein psychoedukatives Modul („Die Kunst des Entscheidens“) erschienen ist. Die Grundidee besteht darin, den Rehabilitanden ein einfaches Modell von Entscheidungsverhalten einzuprägen, um dysfunktionale Entscheidungsprozesse mit guten Entscheidungsprozessen zu überschreiben und alltagsbezogen zu trainieren. „HALT!“ repräsentiert den Entscheidungsprozess aus den Schritten Halt an!, Aktualisiere!, Lenke!, Tu! (s. Abb. 3; Baudis 2014b).

    2. Ziele und Aufbau des Trainingsmanuals HALT!

    Abb. 3: Signalkarte HALT!
    Abb. 3: Signalkarte HALT!

    Das neuropsychologisch basierte Trainingsmanual HALT! ist als ein ganzheitlicher Therapieansatz konzipiert, der die Entscheidungsfähigkeit und die sie begleitenden kognitiven und affektiven Fähigkeiten ansprechen soll. Zielsetzung ist eine allgemeine Verbesserung von Alltagsbewältigung und Teilhabe. Das Programm HALT! stützt sich auf Methoden, die sich in Studien als wirksam erwiesen haben, und entwickelt eigene Ansätze zu Impulsivität und Entscheidungsverhalten. Es ist modular aufgebaut und schließt zur Verbesserung der Therapiefähigkeit und der kognitiven Erholung folgende Elemente ein:

    • neuropsychologisches Basistraining (fünfwöchiges Ausdauertraining wie Joggen/Walken oder fünfwöchige Suchtakupunktur),
    • Training zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis (Achtsamkeitstraining oder PC-gestütztes Training) und
    • Vertiefung des Störungsbewusstseins.

    Zur Verbesserung von Impulsivität und Entscheidungsverhalten beinhaltet HALT! fokussierte Gruppenpsychotherapie, die Hand in Hand geht mit dem psychoedukativen Modul „Die Kunst des Entscheidens“. Dieses ist zur Umsetzung in angeleiteten Gruppen konzipiert, kann aber auch als eigenständig zu erarbeitendes Curriculum dienen.

    „Die Kunst des Entscheidens“ orientiert sich an neuropsychologischen Erkenntnissen zum Verlauf der Abstinenz und bearbeitet systematisch die Impulsivität. Die einzelnen Schritte sind:

    • Hypersensibilität herunterfahren,
    • impulsives Entscheidungsverhalten erforschen und hinterfragen (Urteilsheuristik) und
    • den Entscheidungsprozess mit dem unmittelbar zugänglichen Modell HALT! (s. Abb. 3) reorganisieren.

    Von der ersten Einheit an wird anti-impulsive Kognition gefördert, d. h.:

    • Förderung einer längerfristigen Orientierung und eines zielorientierten Verhaltens,
    • Finden eines Zugangs zu unmittelbarer zielkonfliktfreier Befriedigung und
    • Auseinandersetzung mit impulsivem Verhalten und dem Treffen von Entscheidungen (z. B. mit Hilfe der Signalkarte HALT!, s. Abb. 3).

    Gezielte Aufgaben und Anforderungen stärken die exekutiven Funktionen und die emotionale Selbststeuerung wie das Bewältigen von starken Gefühlen, Impulsen und Hochrisikosituationen sowie die Entwicklung eines mittelfristigen persönlichen Selbstmonitorings. „Die Kunst des Entscheidens“ eröffnet neue Sichtweisen auf gängige Suchtthemen wie „Rückfallrisiko als Präferenzkonflikt“, woraus sich wiederum neue praktische Ansätze ergeben (z. B. das „Bündeln“ von Entscheidungen u. a.). Methodisch bereichernd ist der Einsatz neuer Verfahren wie z. B. die Aktivierung des prospektiven Gedächtnisses („implementation intention therapy“ oder „future thinking“).

    Durchgängig wird der innere Prozess des Entscheidens (re-)organisiert, von der Phase der Ambivalenz bis hin zu handlungsleitenden Emotionen. Ziel ist, dass sich ein innerer Dialog entwickelt, an dem alle „Entscheider“ beteiligt sind („Inneres Team“) – auch das „suchtbezogene Ich“ mit seiner spontanen Entscheidungsmacht. Denn nicht in seiner Beteiligung liegt das Risiko, sondern in der mangelnden Beteiligung aller anderen Entscheidungsagenten.

    Abb. 4: App mit dem „persönlichen Erinnerer“
    Abb. 4: App mit dem „persönlichen Erinnerer“

    Ein besonderer Ansatz des HALT!-Programms liegt darin, Erfahrungen der Teilnehmer so aufzuarbeiten, dass persönliche „Erinnerer“ erschlossen werden, die an eigene Lebenserfahrungen anknüpfen und damit in besonderer Weise der Steuerungs- und Entscheidungsfähigkeit dienen. Sie sorgen dafür, dass die wichtigen „Entscheider“ identifiziert und emotional besetzt im Entscheidungsprozess rasch zugänglich sind. Damit die persönlichen Erinnerer im Alltag jederzeit zur Verfügung stehen, können sie in eine Internetapplikation (www.Programm-halt.de, s. Abb. 4) eingefügt und für Smartphones bereitgestellt werden.

    Das Manual „Die Kunst des Entscheidens“ besteht aus zwanzig Einheiten. Jede Einheit stellt ihr Thema informativ auf dem Stand des aktuellen Wissens vor und gibt dann Anleitung dazu, das Thema persönlich zu erkunden. Zu jeder Einheit werden in einem Begleitband Arbeitsblätter bereitgestellt. Jede Einheit mündet in ein „Training im Alltag“.

    3. Wissenschaftliche Evaluation des HALT!-Programms

    Das HALT!-Programm wurde zwischen März 2011 und April 2012 parallel in fünf Reha-Einrichtungen für Suchtkranke durchgeführt und evaluiert. Die Stichprobe umfasste 101 abhängige Probanden im Alter zwischen 19 und 48 Jahren. Sie verteilten sich auf die Referenzdrogen Alkohol (12 Prozent), polytox mit Opiaten (44 Prozent) und THC-Mischkonsum (44 Prozent). Rehabilitanden mit komorbiden Störungen, die Psychopharmaka erhielten, wurden aus der Studie ausgeschlossen, ebenfalls Rehabilitanden mit Hinweis auf Demenz.

    3.1 Diagnostische Verfahren

    Zur Diagnostik des Entscheidungsverhaltens wurde die Stuttgarter Gambling Task (STGT), eine deutsche Version der Iowa gambling task (IGT) von Damasio und Bechara, programmiert und in eine Testbatterie aus bewährten Verfahren zum Testen exekutiver Funktionen integriert. Weiterhin wurde ein Messinstrument für Alltagsverhalten in Form von Ratingskalen zur Selbst- und Fremdeinschätzung entwickelt. Die diagnostischen Verfahren wurden in einer Vorstudie mit 30 abhängigen Probanden geprüft und selektiert. Eingesetzt wurden am Ende die Verfahren, die in der Tabelle (Abb. 5) aufgelistet sind.

    Abb. 5: Tabelle der eingesetzten diagnostischen Verfahren

    Die neuropsychologische Untersuchung und die Messung des Alltagsverhaltens (Selbst- und Fremdeinschätzung) fanden nach Abklingen aller Entzugssymptome in den ersten vier Wochen und zum Ende in der 16. Woche statt. Alle untersuchten Probanden nahmen am Programm HALT! mit dem Trainingsmanual „Die Kunst des Entscheidens“ teil. Das Forschungsprojekt wurde von der Ethikkommission der Ärztekammer Stuttgart bewilligt und von der DRV Baden-Württemberg und dem Spendenfond des Diakonischen Werkes Württemberg finanziert.

    3.2 Datenerhebung

    Die Tests wurden durch das Fraunhofer Institut durchgeführt. Parallel zur Stuttgarter Gambling Task wurden Hautleitwerte gemessen. Die technischen Geräte und die nötige Software stellte das Fraunhofer Institut in Zusammenarbeit mit der Universität Karlsruhe zur Verfügung. Für alle Tests lagen deutschsprachige Instruktionen vor. Die Untersuchungen wurden innerhalb von zwei Stunden mit einer Pause in festgelegter Reihenfolge durchgeführt. Die Fremdeinschätzung anhand der Ratingskalen nahm der Bezugstherapeut zeitgleich vor.

    Alle Rehabilitanden wurden bei der Aufnahme über das Programm HALT! und über die Studie informiert. Sie nahmen an einer 90-minütigen Einführung teil und erhielten dann für ihre Aktivitäten einen „Trainingsbogen“, der alle Trainingseinheiten übersichtlich dokumentierte und kleine Anreize vorsah. Zur Teilnahme an der Studie konnten die Rehabilitanden sich freiwillig melden. Für die vollständige Teilnahme an den Untersuchungen wurden 50 Euro angeboten.

    3.3 Ergebnisse der Stuttgarter Gambling Task (STGT) – Entscheidungsverhalten der abhängigen Probanden

    Nach der Stuttgarter Gambling Task (STGT) sind mehr als die Hälfte der Probanden aufgrund der hohen Spielgeldverluste oder der geringen Spielgeldgewinne als beeinträchtigt zu bezeichnen. Es zeigt sich ein Spielverlauf, der nahezu identisch ist mit dem, den Damasio und Bechara 2002 zur Iowa gambling task (IGT) veröffentlichten (s. Abb. 6): Die abhängigen Probanden fanden bis zum Schluss keine erfolgreiche Strategie bzw. ließen sich von ihr ablenken. Bei gesunden Vergleichsprobanden steigerte sich der Erfolg stetig bis hin zum letzten Block.

    Abb. 6: Profile der STGT-Performance von Substanzabhängigen (große rote Kreisflächen) über der IGT-Performance von Gesunden (Normal Control), Substanzabhängigen (SDI) und ventro-medial Lädierten (VM Lesions) bei Damasio und Bechara (2002)
    Abb. 6: Profile der STGT-Performance von Substanzabhängigen (große rote Kreisflächen) über der IGT-Performance von Gesunden (Normal Control), Substanzabhängigen (SDI) und ventro-medial Lädierten (VM Lesions) bei Damasio und Bechara (2002)

    Eine Erklärung dafür, dass abhängige Probanden unter ihren Möglichkeiten bleiben, ist mangelnde Kontrolle von Impulsivität, die dazu führt, dass zielführende Empfindungen übertönt werden. Tatsächlich zeigen sich signifikante Korrelationen der STGT mit der Go/NoGo-Task (gestörte Impulskontrolle) auf dem 1,1-Niveau.

    Analog zu den obigen Ergebnissen zeigt die STGT einen signifikanten Zusammenhang von 0,015* mit dem Category Test (flexibles Erkennen von Regeln/Shifting; hier: Wechsel zu den erfolgreichen Stapeln) und einen hochsignifikanten Zusammenhang mit dem Arbeitsgedächtnistest (Updating; hier: Präsent-Halten der Ahnungen, bis eine Regel gefunden wurde).

    Mit viel Aufwand wurden mit jedem STGT-Spielzug drei verschiedene Hautleitwerte gemessen, um die Impulsivität während des Entscheidungsprozesses zu erfassen. Auf eine Auswertung musste verzichtet werden, da die unterschiedlichen Messwerte technisch nicht hinreichend zu trennen waren.

    3.4 Profil neuropsychologischer Funktionsfähigkeit bei Abhängigkeit

    Von der STGT gibt es, da sie ja gerade erst programmiert wurde, noch keine empirischen Normwerte. In Anlehnung an Bechara (2002) wurde unterhalb eines Gesamtwertes von 50 von Beeinträchtigung ausgegangen. Für die anderen hier folgenden Angaben gilt: Prozentwerte und Prozentrang ordnen die Ergebnisse in Bezug auf die jeweilige Eichstichprobe.

    Bezüglich neuropsychologischer Beeinträchtigung und Impulsivität ergab sich für die abhängigen Probanden folgendes Profil:

    • Decision Making: Die Werte der STGT lagen im Durchschnitt unter der Norm und teilten die Studienteilnehmer in beeinträchtigtes (54 Prozent) und unauffälliges Entscheidungsverhalten.
    • Inhibition: Bei der Go/NoGo-Task lag der Durchschnitt der Studienteilnehmer mit 23 Prozent unter dem Durchschnitt der Grundgesamtheit (→ gestörte Impulskontrolle).
    • Updating: Beim Arbeitsgedächtnistest hatte der Mittelwert der Studienteilnehmer einen Prozentrang von 24 (→ Unaufmerksamkeit, mangelhaftes Kurzzeitgedächtnis).
    • Shifting: Im Category Test zeigte sich eine hohe Fehlerquote mit durchschnittlich 23,6 Total Errors (bei einer Streuung von 2 bis 69; → Neigung zu Perseveration).
    • Aufmerksamkeit und Konzentration: Bei dem d2 wurde einen Prozentrang von 31,7 ermittelt (→ mangelhafte Konzentration).
    • Vigilanz und Verarbeitungsgeschwindigkeit: Der Color Trail Test blieb im Durchschnittswert unauffällig mit Subgruppen von unauffälligen und beeinträchtigten Probanden. Es gibt aber hochsignifikante Zusammenhänge zwischen niedrigen CTT-Werten und Impulsivität (UPPS „Urgency“) und erhöhtem Risiko für Rückfall.
    • Impulsivität: Bezüglich der UPPS „Urgency“ (Impulssteuerung) und der Dimension „Verhaltensstörung und impulsives Verhalten“ der Ratingskalen zeigten sich signifikante Korrelationen mit der STGT sowie mit einem erhöhten Risiko für Rückfall bzw. vorzeitige Beendigung der Behandlung. Der durchschnittliche BIS-Wert lag mit 82 Punkten deutlich über dem Durchschnitt einer deutschen Kontrollgruppe (Preuss et al. 2007).
    • Reasoning: Der LPS Subtest 3 wurde eingesetzt, um die nonverbale Intelligenz als Einflussfaktor zu kontrollieren. Es ergab sich eine mittlere Intelligenz von 106 Punkten.

    3.5 Welche biographischen Daten beeinflussen Decision Making und neuropsychologische Funktionsfähigkeit?

    Als belastende Einflussfaktoren für die neuropsychologische Funktionsfähigkeit haben sich in der Studie herausgestellt:

    • ein früher Zeitpunkt des ersten Konsums von Tabak (Durchschnitt 13,27 Jahre), von Alkohol (Durchschnitt 13,88 Jahre) oder von THC (Durchschnitt 15,19 Jahre) sowie
    • lange Haftzeiten.

    Ein frühes Einstiegsalter ging einher mit signifikanter bis hochsignifikanter Beeinträchtigung von Arbeitsgedächtnis, Entscheidungsverhalten, Impulskontrolle, seriellem Denken und Vigilanz. Ein besseres Abschneiden in den Tests ging einher mit den Merkmalen „Monate der Abstinenz“, „Abschluss einer Ausbildung“ und „Beschäftigung in Monaten“. „Beschäftigung“ zeitigte positive Folgen für Decision Making, Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses, der Konzentration und Impulsivität.

    3.6 Welcher Zusammenhang besteht zwischen Entscheidungsfähigkeit und Alltagsverhalten?

    Zur Beantwortung werden die Ratingskalen zum Alltagsverhalten herangezogen. Mit Entscheidungsfähigkeit (STGT) korreliert hochsignifikant (0,005**) die Skala „Planen, Strukturieren und Selbstmanagement“ in der Fremdeinschätzung durch die Bezugstherapeuten. Außerdem korreliert mit der STGT signifikant (0,016*) die Skala „Umgang mit anderen Menschen“, ebenfalls in der Fremdeinschätzung durch die Bezugstherapeuten. Beide Skalen beinhalten typische Aufgaben, die den exekutiven Funktionen zugeordnet werden.

    In der Selbsteinschätzung korrelieren die Skala „Freizeitverhalten“ und die Dimension „Verhaltensstörung und impulsives Verhalten“ hochsignifikant mit der STGT. Auch Category Test (CAT), TAP Arbeitsgedächtnis und TAP Go/NoGo-Task ergeben signifikante und hochsignifikante Zusammenhänge mit den Ratingskalen. Die Aussagekraft der STGT zur Entscheidungsfähigkeit wird durch ein interessantes Detail unterstrichen: Werden die Probanden nach ihren STGT-Werten in die Gruppen „beeinträchtigt“ und „nicht beeinträchtigt“ eingeteilt, so zeigt die Gruppe mit guten STGT-Werten bei ihrer Selbsteinschätzung eine hohe Übereinstimmung mit der Fremdeinschätzung der Bezugstherapeuten und sieht sich teilweise sogar kritischer. Die „Beeinträchtigten“ dagegen schätzen sich deutlich und durchweg positiver ein als die Fremdeinschätzer.

    3.7 Worin unterscheiden sich Rehabilitanden mit guten Chancen auf Teilhabe von solchen mit hohem Rückfallrisiko?

    Wenn wir unsere Daten daraufhin auswerteten, wie sich Rehabilitanden mit einem Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz bei Therapieabschluss von denjenigen unterscheiden, die während der Therapie rückfällig wurden und vorzeitig ausschieden, so erwiesen sich folgende Merkmale als prognostisch signifikant (*) und hochsignifikant (**):

    • Biographische Daten zur Sucht: Tagesdosis in den letzten 30 Tagen*, Abstinenzmonate*, Konsumjahre*, Einstiegsalter*, Anzahl von Entgiftungen*, Monate im Strafvollzug*, Anzahl der Therapien*
    • Biographische Daten zu Ausbildung und Arbeit: Schulabschluss/vollendete Ausbildung**, Monate in Beschäftigung*, Einkommen*
    • Neuropsychologische Tests: hochsignifikante Korrelationen von CAT**/CTT**/AG-Fehler** sowie STGT*/GNG*/AG-korrekte Antwort*
    • Items der Ratingskalen und der UPPS „Urgency“:
      1. Selbststeuerung vs. impulsives Verhalten/Überansprechbarkeit auf Drogenreize:
        Respekt vor Rückfallsituationen**, Suchtruck abschütteln* können, „Ich habe meine Gefühle so unter Kontrolle, dass sie mich nicht zu erneutem Konsum bewegen können“*; dem Verlangen widerstehen können** vs. schwer dem Drang widerstehen können**, „Manchmal tue ich impulsiv Dinge, die ich später bereue“*; ohne Überlegung handeln*, Verhaltensweisen nicht abstellen können*
      2. Depressive Emotionen vs. Fähigkeiten zur unmittelbaren Befriedigung ohne impulsive Zielkonflikte:
        „Weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll*, „Mir ist oft langweilig*, „Mich reizen riskante Sportarten* vs. „Meine Zeit verbringe ich gern mit anderen*, „Ich gehe in Vereine, Gruppen*
      3. Wahrnehmen von negativen Konsequenzen und Kritik:
        „Negative Erlebnisse bekümmern mich lange“**, Wahrnehmen harter Konsequenzen*, Fehlzeiten*, Mängel erkennen*
      4. Längerfristige Orientierung:
        auf Gesundheit achten*, auf gute Ernährung achten*

    Die Items mit Vorhersagewert zeigen meist Zusammenhänge mit den Testergebnissen, z. B. korreliert das hochsignifikante Item „Nicht Widerstehen Können“ mit CAT-Error**, GNG-falsche-Reaktion**, GNG-Auslassungen*, AG-Error* und AG-Auslassungen*.

    Zusammengefasst gehen folgende Verhaltensaspekte verstärkt mit Rückfall einher:

    • Überhöhte Selbstkontrollerwartung bei geringen Selbstkontrollfähigkeiten
    • Erhöhte Anregung des impulsiven Systems (Tagesdosis in den letzten 30 Tagen etc.)
    • Mangelndes Widerstehen-Können bzw. Unterdrücken von Impulsen im Alltag (z. B. Rauchen)
    • Probleme, den Kontext eines Impulses oder Gefühls zu wechseln (Perseveration von Konsumphantasien)
    • Emotionale Dysregulation unmittelbarer Belohnung zum Nachteil von Langfristigkeit
    • Mangelhafte Konzentration, Aufmerksamkeitssteuerung und mangelnde Fähigkeit zu linearem Denken

    Aus den Studienergebnissen ergibt sich, dass folgende empirische Daten als Entscheidungsgrundlage für eine fundierte Risikoeinschätzung dienen können:

    • Biographische Daten zu Konsum und Teilhabe am Arbeitsleben
    • Neuropsychologische Tests zur Einschätzung der kognitiv-exekutiven und affektiv-exekutiven Fähigkeiten
    • Selbst- und ggf. Fremdeinschätzung anhand der Ratingskalen zum Alltagsverhalten und der UPPS „Urgency“
    • Ergänzend können Einstellungen erkundet werden, die zur Bewältigungskompetenz beitragen: Störungsbewusstsein und die Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung.

    3.8 Die Wirksamkeit des Programmes HALT!

    Die Ratingskalen zum Alltagsverhalten beschreiben acht Bereiche der Alltagsbewältigung und enthalten als neunte Skala („Steuerung des eigenen Verhaltens“) die Items der UPPS „Urgency“. Die Ratingskalen erwiesen sich als zuverlässiges und valides Messinstrument für Entscheidungsverhalten und Impulsivität im Alltag. Ein Vergleich der jeweils individuellen Messungen in der vierten und 16. Behandlungswoche zeigte, dass sich die Werte für Alltagsverhalten und Impulsivität in der Selbsteinschätzung der Probanden durchgehend verbessert haben. Die durchgehende Verbesserung des Alltagsverhaltens kann als Beleg für die Wirksamkeit der Therapie interpretiert werden.

    Abb. 7: Konsistente durchschnittliche Verbesserungen in neun Aspekten des Alltagsverhaltens der Probanden in ihrer Selbsteinschätzung (N=17 bis 19 Probanden, je nach Item); die Hervorhebungen markieren signifikante bzw. hoch signifikante Veränderungen.
    Abb. 7: Konsistente durchschnittliche Verbesserungen in neun Aspekten des Alltagsverhaltens der Probanden in ihrer Selbsteinschätzung (N=17 bis 19 Probanden, je nach Item); die Hervorhebungen markieren signifikante bzw. hoch signifikante Veränderungen.

    4. Diskussion

    Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen eine Beeinträchtigung neuropsychologischer Fähigkeiten bei abhängigen Rehabilitanden in einer großen individuellen Bandbreite. Diese Beeinträchtigungen spielen eine bedeutsame Rolle für das Rückfallrisiko, für die Chance, eine Therapie zu nutzen, und die Chance auf Teilhabe. Das Entscheidungsverhalten spielt bei den untersuchten abhängigen Rehabilitanden eine hervorgehobene, aber keine alleinige Rolle. Die STGT erwies sich als valides Instrument, die Fähigkeiten zu langfristig orientiertem Alltagsverhalten und die dazu erforderlichen selbstregulierenden und orientierend suchenden Fähigkeiten zu erkennen (Baudis & Wilke 2014).

    Die Untersuchung lenkt die Aufmerksamkeit auf ein vernachlässigtes Thema: auf Impulsivität als maßgeblichen Grund für neuropsychologische Beeinträchtigung. Bisher gibt es keine Therapieprogramme, die der Beeinträchtigung von Decision Making Rechnung tragen, und kaum Versuche, exekutive Funktionen und Impulsivität zu bearbeiten. Wegen ihrer Alltags- und Behandlungsrelevanz sollten aber Impulsivität und die Stärkung neuropsychologischer Fähigkeiten schon in den ersten Wochen einer Suchttherapie fokussiert werden.

    Das Programm HALT! und das Manual „Die Kunst des Entscheidens“ können daher nicht mit anderen Ansätzen verglichen werden. Das psychoedukative Manual „Die Kunst des Entscheidens“ greift die hier gefundenen Ergebnisse und Anregungen auf, um die Aufmerksamkeit von Therapeuten und Rehabilitanden auf die Bewältigung von Überansprechbarkeit und auf eine langfristige Orientierung zu lenken. Um das Training in den Alltag hineinzutragen, wurde eine Smartphone-App entwickelt. Einen direkten Nachweis, dass ein Training von Entscheidungsfähigkeit die Alltagsbewältigung verbessert, konnte die Untersuchung von ihrer Anlage her nicht leisten, wenn sie auch Veränderungen in die gewünschte Richtung aufzeigt.

    Unsere Untersuchungen legen nahe, die bisherige Leistungsplanung in der Rehabilitation zu überdenken. Eine empirisch fundierte Risikoeinschätzung ermöglicht die Wahl geeigneter individueller Rehastrategien: Diejenigen Suchtkranken, die neuropsychologisch erheblich beeinträchtigt sind, benötigen eine stabilisierende langfristige Rehastrategie, die den Bedarf an emotionaler und sozialer Stabilisierung mit langfristigen Maßnahmen zur sozialen und beruflichen Teilhabe und Suchtbewältigung angeht, begleitet durch einen persönlichen Reha-Coach. Dagegen können Rehabilitanden mit guten Teilhabechancen von einer konsequent lebensfeldbezogenen Rehastrategie profitieren, die die Alltagsfähigkeiten fördert und ambulant (Tagesreha und ambulante Reha) orientiert ist. Eine stützende sozialintegrative Rehastrategie in Form einer Kombination aus stationärer Reha, tagesklinischer oder ambulanter Reha und integrierten Maßnahmen zur beruflichen Teilhabe könnte ein mittlerer Weg sein.

    Medizinische Substitution sollte sich im Hinblick darauf evaluieren, ob sie die neuropsychologischen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung und Teilhabe gefährdet (Baudis 2014a) oder ob sie sich ihren Erhalt zum Ziel gesetzt hat. Dazu ist ein niedrig dosiertes Substitutionsregime als Behandlungsoption erforderlich.

    Hinweis: Im Juni 2015 bietet der Autor einen Intensivkurs zum Arbeiten mit dem HALT!-Programm und dem Therapiemanual „Die Kunst des Entscheidens“ an. Der Kurs richtet sich an therapeutische, pflegerische und ärztliche Mitarbeiter/-innen in der Suchthilfe. Die Teilnahme am Kurs wird durch ein Zertifikat bestätigt. Mehr Informationen dazu finden Sie hier.

    Wissenschaftliche Begleitung der Studie:
    Jürgen Wilke (Dipl.-Psychologe), Fraunhofer Institut IAO, Nobelstraße 12, 70569 Stuttgart

    Angaben zum Autor:

    Rainer Baudis, Jahrgang 1949, ist Dipl.-Psychologe/Psychotherapeut und war lange Jahre Gesamtleiter der Reha-Einrichtungen Four Steps. Aktuell ist er in eigener psychotherapeutischen Praxis tätig. Er ist Autor von Fachbüchern zur Behandlung von Abhängigkeit.

    Kontakt:

    Rainer Baudis
    Mittelfeldstraße 8
    73635 Rudersberg
    baudis@mac.com

    Literatur:
    • Baudis & Wilke: Entwicklung und Evaluation eines Verfahrens zur Verbesserung der mittelfristigen Verhaltenssteuerung bei Substanzmittelabhängigkeit – Abschlussbericht Teil I und II, 2014
    • Baudis: Abhängigkeit und Entscheiden – Handbuch, Verlag für Psychologie, Sozialarbeit und Sucht, 2014a
    • Baudis: Die Kunst des Entscheidens, Verlag für Psychologie, Sozialarbeit und Sucht, 2014b
    • Bechara, Damasio: Decision-making and addiction (part I): impaired activation of somatic states in substance dependent individuals when pondering decisions with negative future consequences, Neuropsychologia, 40, 2002, 1675-89
    • Bechara et al.: Decision-making and addiction (part II): myopia for the future or hypersensitivity to reward?, Neuropsychologia, 40, 2002:1690-1705
    • Bechara: Decision-making, impulsive control and loss of willpower to resist drugs: a neurocognitive perspective, Nature Neuroscience, 2005, 8, 11, 1458-1463
    • Bolla et al.: Dose-related neurobehavioral effects of chronic cocaine use, J of neuropsychiatry and clinical neurosciences, 1999, 11: 261-369
    • Bolla et al.: Dose-related neurocognitive effects of marijuana use, Neurology, 59, 9, 2002, 137-143
    • Klingberg: Training and plasticity of working memory, Trends in Congitive Science 14, 2010, 317-324
    • Passetti, Clark et al.: Neuropsychological predictors of clinical outcome in opiate addiction, Drug and Alcohol Dependence, 2007, Elsevier
    • Paulus et al.: Neural activation patterns of methamphetamine-dependent subjects during decision making predicts relapse, Arch Gen Psychiatry, 62, 2005, 761 ff
    • Preuss et al.: Psychometrische Evaluation der deutschsprachigen Version der Barratt-Impulsiveness-Skala, Der Nervenarzt, 2007
    • Robertson, Murre: Rehabilitation of brain damage: Brain plasticity and principles of guided recovery, Psychological Bulletin, 125, 5, 1999, 544-575
    • Verdejo-Garcia, Perez-Garcia, Bechara: Emotion, decision-making and substance dependence: A somativ-marker model of addiction, Current Neuropharmacology, 2006, 4, 17-31
    • Zelaszo, Cunningham: Executive Function: mechanism underlying emotion regulation. Handbook of Emotion Regulation, Guilford Press, New York, 2007, S. 135-158
  • Psychotherapie bei Internetsucht

    Psychotherapie bei Internetsucht

    Michael Dreier
    Michael Dreier
    Dr. Klaus Wölfling
    Prof. Manfred Beutel
    Kai W. Müller

     

     

     

     

    Seit 2013 findet sich die so genannte Internet Gaming Disorder (zu Deutsch: Internetspielsucht, auch: Computerspielsucht), eine häufige Variante internetsüchtigen Verhaltens, als vorläufige Diagnose im Anhang der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5; APA, 2013). Die American Psychiatric Association (APA) reagierte damit auf die stetig anwachsende Zahl wissenschaftlicher Literatur, welche Internetsucht im Allgemeinen und Computerspielsucht im Speziellen als ernstzunehmendes Gesundheitsproblem darstellt. Auf der Grundlage aktueller Prävalenzschätzungen ist davon auszugehen, dass in Deutschland zwischen ein und zwei Prozent der Allgemeinbevölkerung unter Internetsucht leiden, wobei die Prävalenzraten unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit bis zu vier Prozent nochmals höher zu beziffern sind (vgl. z. B. Müller et al., 2014a,b; Rumpf et al., 2013).

    Internetsucht und Psychotherapieforschung

    Das Problemverhalten selbst ist aktuell nosologisch noch nicht endgültig klassifiziert. Jedoch deuten insbesondere neurowissenschaftliche Befunde darauf hin, dass ähnlich wie beim Pathologischen Glücksspiel von deutlichen Parallelen zu Substanzabhängigkeiten ausgegangen werden kann (Thalemann, Wölfling & Grüsser, 2007; Ko et al., 2013) und viele Kliniker und Forscher deshalb das Störungsbild als substanzungebundene Abhängigkeitserkrankung bzw. Verhaltenssucht auffassen. Auch auf diagnostischer Ebene wird die Ähnlichkeit zu anderen Abhängigkeitserkrankungen unterstrichen. Dies zeigen die von der APA definierten diagnostischen Kriterien für Computerspielsucht: Craving, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Fortführung des Konsums trotz negativer Konsequenzen, Interessensverlust, Täuschung von Angehörigen oder Therapeuten, die Gefährdung relevanter Lebensbereiche, Emotionsregulation und Erleben entzugsähnlicher Symptome bei Konsumverhinderung.

    Internationale Studien ebenso wie Erhebungen im deutschen Suchthilfesystem zeigen, dass Internet- und Computerspielsucht mit einer deutlich erhöhten psychosozialen Symptombelastung und komorbiden Erkrankungen einhergeht. Insbesondere depressive Verstimmungen, erhöhte Ängstlichkeit und Stressbelastung sowie ein schlechteres allgemeines psychosoziales Funktionsniveau treten in Verbindung mit Internetsucht auf (vgl. z. B. Wölfling et al., 2013; Yang et al., 2008).

    Aus der aktuell fehlenden Anerkennung der Internetsucht als Störungsbild ergibt sich, dass derzeit nur sehr wenige Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Wirkungsweise (psycho-)therapeutischer Verfahren vorliegen. In einer Evaluation bisher vorliegender Psychotherapiestudien zur Internetsucht stellen King und Kollegen (King, Delfabbro & Griffiths, 2011) entsprechend fest, dass keine der von der Autorengruppe analysierten acht Interventionsstudien den umfassenden Qualitätsstandards klinischer Studien entspricht. Identifizierte Mängel betreffen hier z. B.:

    • Fehlende Definition von Ein- und Ausschlusskriterien für den Einschluss in die Studien
    • Keine ausreichende inhaltliche Beschreibung des Interventionsprogramms
    • Unzureichende Qualität der statistischen Analysen zur Bestimmung der Therapieeffekte
    • Unangemessener methodischer Zugang zur Hypothesentestung (z. B. Fehlen von Kontrollgruppen)

    Trotz des Mangels an standardisierten Behandlungsmanualen ergibt sich aus verschiedenen publizierten Arbeiten jedoch eine Schnittmenge verschiedener Verhaltensdomänen, die in der Therapie aufgegriffen werden. Dazu gehören Maßnahmen wie eine Problemanalyse des Internetnutzungsverhaltens, Abstinenzfokussierung, die Aneignung von Strategien der Kontrolle des Konsums sowie von Motivationstechniken, das Erarbeiten von Tagesstruktur bzw. Online-Zeitmanagement und die Verbesserung sozialer Beziehungen bzw. die Verbesserung der Partnerschaftlichkeit (vgl. King et al., 2011).

    Als positiv ist zu bewerten ist zudem, dass mittlerweile eine erste Meta-Analyse bisheriger Psychotherapiestudien zur Internetsucht veröffentlicht wurde (Winkler et al., 2013). Natürlich sind die Ergebnisse dieser ersten wichtigen Analyse immer vor dem Hintergrund der von King und Kollegen (2011) dokumentierten Schwächen bisheriger Studien zu bewerten, jedoch erlaubt sie eine erste Abschätzung der Wirksamkeit verschiedener Therapiemethoden. In die Studie von Winkler und Kollegen (2013) flossen insgesamt 16 klinische Studien zur Internetsucht aus verschiedenen Kulturkreisen, hauptsächlich jedoch Asien, ein, welche eine Patientenzahl von insgesamt 670 Personen beinhalteten. Die angewandten Interventionsformen bestanden in der überwiegenden Anzahl aus multimodalen Therapieprogrammen mit einem Schwerpunkt auf kognitiv-behavioralen Ansätzen. Zusätzlich wurden drei psychopharmakologische Studien berücksichtigt. Die Autoren verzeichneten unterschiedliche Effektstärken je nach Art der angewandten Intervention. Kognitiv-behaviorale Ansätze waren in Bezug auf die Reduktion der Onlinezeiten und der Symptome der Internetsucht anderen psychotherapeutischen Verfahren überlegen. Die Effektstärken für die kognitive Verhaltenstherapie variierten hier auf einem hohen Niveau zwischen d=0.84 und 2.13, was auf eine gute bis sehr gute Wirksamkeit hindeutet.

    Im Vergleich zwischen der Verhaltenstherapie und der Psychopharmakotherapie ergaben sich keine signifikanten Wirkunterschiede. Die medikamentöse Behandlung der Internetsucht (insbesondere basierend auf selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und Methylphenidat) erwies sich mit Effektstärken zwischen d=0.28 und 2.23 ebenfalls als wirksam. Auch hinsichtlich der Wirkung auf assoziierte Problemlagen und psychosoziale Symptome (z. B. depressive Verstimmung) ging die kognitive Verhaltenstherapie mit den höchsten Effektstärken einher.

    Die Analyse der Drop-Out-Quoten ergab, dass fast 20 Prozent der Patienten die Behandlung vorzeitig beendeten. Zusätzlich wurde eine – jedoch auf Grund der geringen Datenmenge als vorläufig anzusehende – Analyse einzelner Wirkfaktoren vorgenommen. Hier erwies sich, dass von höheren Therapieeffekten bei weiblichen und älteren Patienten auszugehen ist. Ein therapeutisches Einzelsetting erwies sich der Gruppentherapie als moderat überlegen.

    Insgesamt deuten die Daten dieser ersten übergreifenden Analyse darauf hin, dass psychotherapeutische und psychopharmakologische Interventionen bei Internetsucht eine gute Wirksamkeit aufweisen, wobei nochmals der vorläufige Charakter der präsentierten Daten unterstrichen werden muss. Ungeklärt bleibt hingegen, inwieweit die erzielten Therapieeffekte über das unmittelbare Setting hinaus zeitliche Stabilität aufweisen. Daneben lassen sich auch noch keine Aussagen darüber treffen, inwieweit die gefundenen Effekte gleichermaßen auf unterschiedliche Formen internetsüchtigen Verhaltens (z. B. Computerspielsucht, Onlinesexsucht, suchtartige Nutzung von sozialen Netzwerken) generalisiert werden können.

    Studie zur Behandlungswirksamkeit im deutschen Sprachraum

    Pilotstudie der Ambulanz für Spielsucht

    Im Jahre 2014 wurde von Wölfling, Beutel, Dreier und Müller eine deutsche Studie zur Behandlungswirksamkeit unter Einschluss von 37 männlichen Patienten mit Internetsucht im ambulanten Setting veröffentlicht. Nach Beendigung des manualisierten und standardisierten Therapieprogramms der Arbeitsgruppe um Wölfling (2012) schlossen 26 Patienten die verhaltenstherapeutische Intervention mit positivem Ergebnis ab. 89 Prozent dieser Patienten, die die Therapie regulär beendet hatten, wiesen in der Abschlussmessung ein unauffälliges Internetnutzungsverhalten auf (d. h. die Symptome der Internetsucht waren nicht mehr vorhanden), was in den meisten Fällen eine Abstinenz von der zuvor suchtartig genutzten Internetanwendung beinhaltete. Zudem zeigte sich eine signifikante Verminderung der zuvor beobachteten zusätzlichen psychopathologischen Symptombelastung im SCL-90R. Es handelt sich hierbei um ein Inventar, welches psychische Symptome und Stressbelastungen abbilden kann. Insbesondere in den Bereichen Depressivität, Angstsymptome, Unsicherheit im Sozialkontakt und Zwanghaftigkeit waren hohe Effektstärken zu verzeichnen, d. h. die jeweiligen Symptome waren nach Beendigung der Therapie signifikant zurückgegangen. Insgesamt elf Patienten brachen die Therapie vorzeitig ab, was einer Drop-Out-Quote von 29 Prozent entspricht.

    Multicenter-Studie zur Behandlungswirksamkeit im deutschen Sprachraum

    Um für den deutschen Sprachraum eine erste Abschätzung der Wirksamkeit eines standardisierten verhaltenstherapeutischen Behandlungsmanuals zu dokumentieren und die im vorigen Abschnitt vorgestellten Daten aus der Pilotstudie in größerem Umfang zu erhärten, führt die Ambulanz für Spielsucht der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz derzeit im Zusammenschluss mit drei weiteren Zentren (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Universitätsmedizin Tübingen, Anton Proksch Institut Wien) eine klinische Studie durch.

    Bei dem von der DFG und dem BMBF geförderten Projekt STICA (Short-term Treatment of Internet and Computer game Addiction) handelt es sich um die Weiterführung der oben genannten Pilotstudie im Rahmen einer multizentrischen randomisierten klinischen Kontrollstudie (RCT). Mit dieser Studie sollen Wirksamkeit und Wirkmechanismen der an der Ambulanz für Spielsucht entwickelten verhaltenstherapeutischen Behandlung für Computerspiel- und Internetsucht überprüft werden (Wölfling et al., 2012). Insgesamt sollen 192 Patienten mit Internet- und Computerspielsucht behandelt werden. Zielgruppe für das Behandlungskonzept sind Männer im Alter von 17 bis 55 Jahren. Das Studiendesign für STICA orientiert sich am Verhaltenssuchtansatz von Computerspiel- und Internetsucht in ihren unterschiedlichen Manifestationen. So ist Internetsucht als Sammelbezeichnung zu verstehen und beinhaltet eine Vielzahl verschiedener Aktivitäten im Internet, die von Betroffenen unkontrolliert bzw. exzessiv ausgeübt werden. Ihre Haupterscheinungsformen beziehen sich auf Computer- bzw. Online-Spiele (z. B. Browsergames, Online-Rollenspiele), die Nutzung von sozialen Netzwerken und Chats, das Surfen auf Erotikseiten, die Teilnahme an Online-Glücksspielen (z. B. Poker, Online-Casinos), das Ansehen und Sammeln von Videos bzw. Filmen (z. B. Streaming-Angebote), ausuferndes Einkaufen (z. B. Online-Auktionen) oder das ziellose Recherchieren und Sammeln von Informationen (z. B. Online-Informationsplattformen oder Lexika).

    In den beteiligten Studienzentren werden die Patienten zufällig entweder der Therapiegruppe oder der Wartekontrollgruppe zugeordnet. Mit dem Vergleich dieser beiden Gruppen soll die Wirksamkeit der speziellen verhaltenstherapeutischen Kurzzeitintervention geprüft werden. Die Behandlung besteht aus 15 Gruppensitzungen (wöchentlich je 100 Minuten), welche unten näher beschrieben werden, und acht Einzelsitzungen (alle 14 Tage 50 Minuten). Acht Patienten stellen die Ideale Gruppengröße dar. Letztendlich erhalten alle in die Studie eingeschlossenen Patienten die Behandlung – für die Wartegruppe beginnt die Therapie jedoch erst nach einer Wartezeit von vier Monaten.  Das genaue Vorgehen bei der Studiendurchführung kann Abbildung 1 entnommen werden (Jäger et al., 2012).

    Abb. 1: STICA Studiendesign
    Abb. 1: STICA Studiendesign

    Ein störungsspezifisches Therapieprogramm bei Internetsucht

    Struktur der Gruppensitzungen

    Bevor die einzelnen Phasen der Therapie skizziert werden, soll vorab  die Struktur der Sitzungen an sich beschrieben werden: Die Gruppensitzungen beinhalten eine Begrüßung und einen Rückblick auf die Ereignisse der letzten Sitzung. Anschließend berichten die Patienten in einer Abstinenzrunde den Verlauf der letzten Woche. Während der Patientenberichte soll der Therapeut/die Therapeutin positive Veränderungen verstärken, Rückfälle und negative Ereignisse werden direkt in der Gruppe besprochen. Zur nachhaltigen Zielerreichung ist eine Ressourcenaktivierung notwendig, welche der Therapeut/die Therapeutin nach den Bedürfnissen der Patienten entwickeln und anwenden muss. Die jeweiligen sitzungsspezifischen Gruppenthemen werden mit ca. 50 Minuten veranschlagt. Sie bestehen aus einer Einführung sowie der Erarbeitung des Themas anhand von Diskussionen, Arbeitsblättern und Übungen. Offene Fragen werden jeweils in der gemeinsamen Zusammenfassung geklärt. Der Therapeut/die Therapeutin entlässt die Gruppenmitglieder, nachdem er/sie einen Ausblick auf die nächste Sitzung gegeben hat.

    Aufbau des Therapiemanuals

    Die folgende Beschreibung basiert auf dem Therapiemanual von Wölfling und Kollegen (2012). Die verhaltenstherapeutische Kurzzeitintervention ist in drei Phasen unterteilt: 1) Psychoedukation und Motivation, 2) Intervention und 3) Transfer und Stabilisierungsphase.

    Die erste Phase (Psychoedukation und Motivation) umfasst die ersten drei Sitzungen und thematisiert eine individuelle störungsspezifische Psychoedukation, vermittelt ein individuelles bio-psychosoziales Erklärungsmodell für die Entstehung von Internetsucht, klärt bzw. fördert die Motivation für eine dauerhafte Verhaltensveränderung (u. a. Abstinenz von der suchtartig genutzten Internetaktivität) und definiert zusammen mit den Patienten weiterführende Therapieziele.

    Die zweite Phase (Intervention) erstreckt sich von Sitzung 4 bis 11 und erarbeitet basierend auf Wochenprotokollen eine Problem- und Verhaltensanalyse nach dem Prinzip des SORCK-Schemas (Stimulus, Organismus, Reaktion, C/Konsequenz, Kontingenz). Es werden funktionale Bewältigungsstrategien im Bereich alternativer Freizeit- bzw. Lebensgestaltung vermittelt, und es soll ein alternativer Umgang mit Emotionen und Stress erlernt werden. Essenzieller Teil dieser Therapiephase ist die Steigerung des Selbstwertes. Diese erfolgt im ständigen Abgleich zur individuellen Biographie anhand spezifischer Problemsituationen mit Selbstwertrelevanz. Darüber hinaus wird mit den Patienten eine angeleitete Exposition mit Reaktionsverhinderung durchgeführt (s. u. bei Sitzung 8).

    Die dritte Phase (Transfer und Stabilisierung) vermittelt in Sitzung 12 bis 15 Maßnahmen für die Rückfallprophylaxe, erstellt einen Notfallplan, reflektiert den Therapieerfolg und durch die Abstinenz eingetretene Veränderungen.

    Inhalte ausgewählter Sitzungen

    In Ergänzung zum bereits dargestellten Ablauf der einzelnen Phasen werden nun ausgewählte Sitzungen näher erläutert.

    Sitzung 1 beinhaltet das Kennenlernen, das Unterzeichnen eines Therapievertrages und das schriftliche Fixieren von Therapiezielen. Nachdem ein Überblick über das Therapieprogramm gegeben wurde, kommt es zur Vereinbarung eines Abstinenzversuches und zur Festlegung einzelner Therapieziele. Unterstützend werden Arbeitsblätter für Wochenprotokolle ausgehändigt, anhand derer die Patienten Situationen aufzeichnen sollen, in denen es in jüngster Vergangenheit zu Spielverlangen gekommen ist. Hier wird vermerkt, welche Emotionen, Kognitionen, körperliche Empfindungen und konsequenten Handlungen bzw. Konsequenzen sich daraus für den Patienten ergaben. Einige Sitzungen, wie beispielsweise die erste Sitzung, bergen „Stolpersteine“ und methodische Schwierigkeiten, auf die es zu achten gilt. So ist es besonders wichtig, dass es nicht zu einer Ausgrenzung Einzelner (beispielsweise Patienten mit bereits initiierter Abstinenz vs. noch stark in der Nutzung verhafteter Patienten) oder einem Ungleichgewicht zwischen den Redeanteilen der Gruppenteilnehmer kommt.

    Aufgabe des Therapeuten/der Therapeutin ist es, auf Einwände und Bedenken der Teilnehmer hinsichtlich eines Abstinenzversuches würdigend einzugehen und diese dennoch gleichzeitig kritisch zu hinterfragen (Prinzip des geschmeidigen Widerstandes). Die zunächst mündlich formulierten und erörterten Ziele sollten realistisch und im konkreten individuellen Fall umsetzbar sein. Es zeigt sich bei der Einführung der Wochenprotokolle, dass es Patienten stellenweise schwer fällt, die Differenzierung zwischen Situationen, Gedanken und Gefühlen vorzunehmen. Hier können Elemente aus Emotionsdiskriminations-Trainings von Nutzen sein.

    Sitzung 6 hat die Entwicklung eines individuellen SORCK-Schemas (Stimulus, Organismus, Reaktion, C/Konsequenz, Kontingenz) zum Thema. Während der Abstinenzrunde werden wieder positive Veränderungen zur Vorwoche aufgegriffen. Es schließt sich die Erarbeitung des individuellen Störungsmodells an. Dabei werden Zusammenhänge zwischen internalen und/oder externalen Risikosituationen, suchtspezifischen Grundannahmen und automatischen Gedanken, die das Verlangen auslösen können, anhand eines Arbeitsblattes zur Mikroanalyse inhaltlich vertieft (individuelles SORCK-Modell).

    In Sitzung 8 werden die Patienten ohne Vorankündigung von Bildreizen bezüglich ihres jeweiligen Störungsbildes empfangen, die sie selbst gewählt und vorab zur Verfügung gestellt haben. Dies kann beispielsweise ein Avatar sein oder eine typische Situation, die Nutzungsverlangen auslöst (z. B. der eigene hochgerüstete PC). Es handelt sich hierbei um eine Exposition mit Reaktionsverhinderung. Die Gruppensitzung startet wieder mit einer Abstinenzrunde, welche positive Veränderungen zur Vorwoche aufgreift und verstärken soll. Der Therapeut/die Therapeutin hat die Aufgabe, mit den Patienten die Emotionen und Kognitionen zu verbalisieren und zu analysieren, die durch den Expositionsstimulus hervorgerufen wurden. Gleichzeitig ist es unerlässlich, den Grad des ausgelösten Nutzungsverlangens zu quantifizieren (auf einer Skala von 0/kein Verlangen bis 100/maximales Verlangen) und dieses im Verlauf der Stunde zu einem merklichen Absinken zu bringen. Positive Gefühle, Kompetenzerwartung und Lernerfahrungen, die auf der Erfahrung basieren, dem Spieldruck nicht nachgegangen zu sein, sind als wichtige Ergebnisse dieser Sitzung anzustreben. Das Expositionsrational wird durch den Einsatz von Notfallkärtchen und konkreten individuellen Handlungsanweisungen in Verführungssituationen abgerundet. Die Gruppe betrachtet gemeinsam den Verlauf des Expositionstrainings aus einer Meta-Perspektive. Hierbei sollte die biographische Einordnung als vertiefende Verarbeitung der Exposition (z. B. Verfassen eines Abschiedsbriefes an den Avatar) mit einbezogen werden. Das Aufgreifen der Erfahrungen in der Exposition und deren therapeutische Nachbearbeitung sollten in anschließenden Einzelsitzungen auf individueller Ebene erfolgen. Typische Schwierigkeiten dieser Sitzung sind das Verständnis des Konfrontationsrationals und v. a. die Gefahr eines gesteigerten Verlangens, welches zu einer erhöhten Rückfallgefährdung beitragen kann.

    In Sitzung 10 und 11 wird ein Modell zur Entwicklung der eigenen Medienaffinität erarbeitet. Die Abstinenzrunde verstärkt wieder positive Veränderungen und greift potenzielle Rückfälle auf. Zielstellung für die Patienten ist es, Zusammenhänge zwischen Lebensereignissen, Lebenszufriedenheit und ihrer Mediennutzung zu erarbeiten und die identifizierten Entwicklungsverläufe in der Gruppe zu besprechen.

    Nach Beendigung der letzten Gruppensitzung folgt eine Zeit von sechs Wochen, in welcher in der Regel kein therapeutischer Kontakt erfolgt. Nach Ablauf dieser Frist werden alle Gruppenteilnehmer zu einer sog. Booster-Session eingeladen, in welcher besprochen wird, inwiefern die Integration der in der Therapie erlernten Techniken in die Lebensumwelt des Patienten gelungen ist und wo unter Umständen Nachbesserungsbedarf besteht.

    Kontakt:

    Michael Dreier
    Ambulanz für Spielsucht
    Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    Michael.Dreier@uni-mainz.de
    www.unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Die Dipl.-Psychologen Dr. Klaus Wölfling, Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel​​​ und der Dipl.-Soziologe Michael Dreier forschen und arbeiten an der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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