Schlagwort: Teilhabe

  • Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

    Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

    Mathias Speich

    Public Health gilt in vielen Bereichen der modernen Arbeit im Gesundheitswesen als „der“ Lösungsansatz. Doch woher kommt dieser Gedanke und warum ist er auch für die Suchthilfe entscheidend? Ist dieser Ansatz wirklich neu? Um es vorwegzunehmen: nicht neu, aber interessant. Und er erklärt, warum aktuelle Entwicklungen die Qualität der Suchthilfe und Suchtprävention gefährden könnten. Natürlich kann in einem relativ kurzen Artikel wie diesem kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen. Aber vielleicht macht er ein wenig neugierig und lädt zum Diskutieren ein: über das Thema öffentliches Gesundheitswesen, die Sichtweise der Weltgesundheitsorganisation, bestehende Strukturen und die sich daraus ergebenden Chancen.

    Perspektivwechsel

    Die Suchthilfe und Suchtprävention in Deutschland ist in vielen Bereichen, vermutlich ohne ihr Wissen, ein schönes Beispiel dafür, wie der Grundgedanke von Public Health in den Praxisalltag des Sozial- und Gesundheitssystems Einzug gehalten hat. Die Suchthilfe mit all ihren Facetten ist ein Tätigkeitsfeld, welches seit Jahren die „öffentliche Gesundheit“ prägt. Viele Faktoren, die Public Health ausmachen, werden hier gelebt. Vereinfacht dargestellt versucht der Public Health-Ansatz, den Erhalt der Gesundheit in den Vordergrund zu rücken, wohingegen die Medizin das Erkennen und die Behandlung einer Krankheit in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt.

    Dies ist ein relativ einfacher Perspektivwechsel, der aber einige Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Public Health bezieht sich dabei auf die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese hat bereits im Jahr 1948 ihre Sichtweise auf das Thema Gesundheit deutlich erweitert. Damals und auch mit Blick auf die verheerende Geschichte musste man anerkennen, dass es neben den medizinischen und biologischen Faktoren deutlich mehr Einflüsse gibt, die zum Erhalt der Gesundheit und zum Entstehen von Erkrankungen beitragen. Umweltbedingungen, die soziale Lebenswelt, der Lebensstil und die Zugänge zu einem funktionierenden Gesundheitssystem gehören beispielsweise primär dazu.

    Es blieb nicht bei der Definition der WHO, denn die daraus gefolgerten Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und Gesundheit führten im Jahr 1986 zur Ottawa-Charta. Darin wird Gesundheitsförderung als Prozess definiert, der Menschen befähigt, ihre Gesundheit zu verbessern und mehr Kontrolle darüber zu erlangen. In der Charta wird deutlich, dass Gesundheit ganzheitlich zu betrachten ist. Sie entsteht in einem partizipativen Prozess zwischen den Menschen und dem Sozial- und Gesundheitssystem. Politik hat den Auftrag, diesen Raum zu gestalten, wozu viele professionelle und interdisziplinäre Ansätze benötigt werden. Dabei werden individuelle, aber auch soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt. Deutschland hat sich den Zielen der Ottawa-Charta angeschlossen (vgl. Kaba-Schönstein, 2018), und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) versuchte, diese bis Ende 2023 auch umzusetzen (vgl. Deutscher Bundestag, 2021). Die Formulierung von Gesundheitszielen, eine interdisziplinäre Gesundheitsförderung, Aktionspläne der Länder und Kommunen sowie Forschung und die Evaluation von Maßnahmen beruhen auf dieser Charta und ließen Hoffnung aufkommen. Viele Professionen konnten seitdem aus ihrer Perspektive das Thema Gesundheit erforschen, Erkenntnisse gewinnen und das Gesundheitssystem stetig weiterentwickeln.

    Ein Baustein von vielen

    Die WHO setzte mit ihrem erweiterten Blickwinkel deutlich früher an, als eine einzelne Profession das gekonnt hätte. Sie „beschränkte“ sich dabei nicht mehr auf die Behandlung einzelner Erkrankungen und ihrer Symptome. Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Das Erkennen und Behandeln von Erkrankungen ist eine große Wissenschaft und genießt zu Recht höchste Anerkennung. Im gesamten Gesundheitswesen ist die Medizin aber ein Baustein von vielen. Es zeigte sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz deutlich effektiver war. Wenn im Fachbereich Public Health von Gesundheit gesprochen wird, geht es um die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen und Professionen auf Augenhöhe. Die Suchthilfe praktiziert dies in vielen Bereichen schon seit Jahrzehnten. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Fachbereiche Soziale Arbeit, Pflege, Pädagogik, Therapie, Medizin, aber auch Pharmakologie erwähnt, die gut ineinandergreifen. Über viele Jahre hinweg wurde unter Beteiligung einer Reihe von Professionen (und vor allem durch die Partizipation der Betroffenen) ein vielseitiges professionelles und ehrenamtliches Hilfesystem aufgebaut und stetig weiterentwickelt. Natürlich ist dies weiterhin deutlich ausbaufähig, und allein der Blick auf die aktuelle Zahl der Drogentoten und die sich stark verändernden Konsumgewohnheiten zeigt, dass sich dieses System in einem dauerhaften Wandel befindet und befinden muss. Ohne dieses interdisziplinäre Hilfesystem würden viele Veränderungen viel zu spät erkannt.

    Erhalt von Lebensqualität

    Der Perspektivwechsel stellt nicht nur die Gesundheit in den Vordergrund, sondern definiert auch neue Ziele. Eines davon ist der Erhalt und im besten Falle auch die Steigerung der Lebensqualität trotz bzw. mit einer bestehenden Erkrankung. Der Suchthilfe ist dieser „akzeptierende“ Gedanke durchaus bekannt. Trotz einer Diagnose geht das Leben in den meisten Fällen glücklicherweise weiter, aber wie geht man mit dieser Einschränkung um? Ab wann gilt ein Mensch als „krank“, ab wann als „gesund“? Circa 40 Prozent (vgl. Stiftung Gesundheitswissen, 2022) aller Deutschen leben mit einer chronischen Erkrankung, die wenigsten von ihnen werden sich im Alltag als dauerhaft „krank“ bezeichnen. Vor allem Leser:innen mit „mehr Lebenserfahrung“ werden dies gut nachvollziehen können. Das subjektive Empfinden bei vielen Erkrankungen ist, dass diese zwar als störend und unangenehm wahrgenommen werden, viele Menschen es aber schaffen, dies im Alltag zu kompensieren. Vor allem die Stärkung der positiven Faktoren reduziert die Wahrnehmung der Beeinträchtigung deutlich. Dies ist selbstverständlich immer abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung. Aber auch bei schwerstkranken Menschen trägt jede einzelne Minute, in der die Erkrankung ihre Dominanz verliert, positiv zur subjektiven Lebensqualität bei. Deutlich sollte werden: Es gibt einen gestaltbaren Raum zwischen „krank“ oder „gesund“. Wie ein Mensch seine gesundheitliche Situation erlebt, ist sehr individuell und temporär bedingt.

    Da die Lebensqualität subjektiv wahrgenommen wird, liegt es an den betroffenen Menschen selbst, diese auch zu definieren. Selbst wenn eine Person sehr schwer erkrankt ist, bestimmt sie das Ziel, die Geschwindigkeit und die damit verbundenen Hilfen. Der Ansatz von Public Health besteht darin, die vielen Einflussfaktoren zu identifizieren und mit den Betroffenen selbst Strategien zu entwickeln, das Positive zu stärken und die negativen Auswirkungen zu reduzieren. In der Suchthilfe wird dies seit Jahren unter dem Begriff Akzeptanzorientierung und Harm Reduction praktiziert, gleichzeitig bleibt die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung bestehen. Das entlastet die betroffenen Menschen und eröffnet neue Möglichkeiten. Denn gleichzeitig können nun auch die Beratungs- und therapeutischen Angebote der Suchthilfe versuchen, mit den Betroffenen gemeinsam die Konsumanlässe zu reduzieren. Drohender Wohnungsverlust, Schulden, bestehende Strafverfahren, Konflikte in der Familie – es gibt viele Auslöser für einen unkontrollierten Konsum. Vom Erkennen eines Problems bis zur Lösung und deren Aufrechterhaltung (vgl. Transtheoretisches Modell der Veränderung, TTM) ist es ein weiter Weg. Hier zeigt sich, wie wichtig dieser interdisziplinäre Gedanke ist.

    Prävention und Salutogenese

    Betrachtet man Public Health allgemein in Bezug auf die Gesellschaft, so steht natürlich die Vermeidung von Erkrankungen, die Förderung und letztendlich der Erhalt der Gesundheit im Fokus. Das gilt besonders für Suchterkrankungen. Sie haben eine enorm hohe Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Alkohol, Nikotin und andere psychoaktive Substanzen lösen nachweislich schwere Erkrankungen aus. Dazu gehören beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Krebs, psychische Störungen u.v.a. Die Liste ist lang, die Fallzahlen sind hoch, und für die Suchthilfe ist es keine neue Erkenntnis.

    Für die Prävention stellt sich die Frage, wie die vielen Formen potenzieller Schädigungen vermieden werden können. Ein einfacher Hinweis auf den Verzicht ist in einer Konsumgesellschaft bei Weitem nicht ausreichend. Dem Konzept der Salutogenese (vgl. Faltermaier, 2023) entsprechend richtet der Public Health-Ansatz auch hier den Fokus auf den Erhalt der Gesundheit und nicht auf eine der vielen potenziell möglichen schweren Erkrankung, die in einen Zeitraum von vielen Jahren auftreten können. Aus der Perspektive vieler Kinder und Jugendlicher ist eine Gefahr in ferner Zukunft kaum greifbar. Neue Präventionsansätze gehen deshalb gezielt auf Zielgruppen zu und versuchen, mit ihnen gemeinsam Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um beispielweise mit Stressoren besser umgehen zu können. Anstatt sich auf zukünftige Risiken zu konzentrieren, werden Ressourcen und Stärken von Individuen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt gestellt. Das Ziel ist u. a., das Kohärenzgefühl und die Selbstwirksamkeit junger Menschen zu stärken, damit eine Suchterkrankung und die sich daraus ergebenden sozialen und gesundheitlichen Folgeschäden nach Möglichkeit vermieden werden. Moderne Präventionsprojekte wie beispielweise MOVE, FreD und HaLT basieren fast alle auf diesem Ansatz.

    Unterschiedliche Präventionsansätze für unterschiedliche Zielgruppen

    Neben der Verschiebung der Perspektive wurden auch die Zielgruppen präziser gefasst. Klaus Hurrelmann unterteilte schon vor vielen Jahren in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Heute wird bevorzugt von universeller, selektiver und indizierter Prävention gesprochen. Wie werden Zielgruppen angesprochen, in welchem Alter, mit welchen Hintergrund, wann und wo? Wir wissen, dass schlecht gemachte Informationskampagnen auch Schaden anrichten können. Vor allem bei der Primärprävention besteht ein schmaler Grat zwischen Informationskampagne und Neugierig-Machen. Nicht ohne Grund gibt es mittlerweile Suchtpräventionsfachkräfte, die mit pädagogischen Interventionen und Sozialer Arbeit Zielgruppen und Risikofaktoren identifizieren und geeignete Maßnahmen bereitstellen. Dabei ist bei vielen erfolgreichen Projekten ein Methodenmix z. B. aus den Bereichen der Pädagogik, Sozialen Arbeit und der Psychologie entstanden.

    Nicht nur die Verhaltensprävention wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich präzisiert, auch wurde der Bereich der Verhältnisprävention gestärkt. Die soziale Umwelt hat einen massiven Effekt auf die Entstehung einer Suchterkrankung. Die Steuererhöhung bei den Alkopops und der erschwerte Zugang zu Nikotin zeigten deutliche Effekte, auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Möglichkeiten, hier mit wenigen Veränderungen viel zu bewegen, sind enorm. Dabei geht es nicht um Prohibition, was gerne unterstellt wird, sondern um den gezielten Schutz von vulnerablen Gruppen. Die sinkenden Fallzahlen bei Alkohol- und Nikotinkonsum bei Kindern und Jugendlichen machen Hoffnung (vgl. Alkoholsurvey der BZgA 2022 und Drogenaffinitätsstudie der BZgA 2023). Gleiche Effekte über gezielte Verhaltensprävention zu erreichen, wäre mit den bestehenden Ressourcen praktisch unmöglich.

    Aktuelle Entwicklungen führen in die Vergangenheit

    Umso spannender wurde es Ende 2023, als aus dem BMG ein erster Arbeitsentwurf zur Errichtung eines Bundesinstituts mit Schwerpunkt Prävention auftauchte. Durch den Koalitionsvertrag war bekannt, dass Veränderungen kommen würden. Hier wurde das neue Institut als „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ bezeichnet, mit direktem Bezug zu Aktivitäten im Public Health-Bereich (vgl. „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 65). Dieser Prozess war im Vorfeld relativ still verlaufen, und grundsätzlich gab es gegen mehr Prävention und Public Health in Deutschland keine Einwände. Die durch das BMG schließlich erfolgte Namensgebung „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) überraschte jedoch und ließ Zweifel aufkommen, denn der Schwerpunkt wurde nun auf eine einzige Profession gelegt. Der Widerspruch zum oben beschriebenen Gesundheitsbegriff und Präventionsansatz liegt schon im Titel. Dennoch sparte man bei der öffentlichen Ankündigung nicht mit Schlagwörtern wie „Public Health“, „interdisziplinär“ und „Primärprävention“. Dem Beauftragten für die Errichtung des „Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ wurde zudem die Leitung der BZgA übertragen (vgl. Interview mit Dr. Johannes Nießen auf KONTUREN online). Es ist anzunehmen, dass dies deutliche Auswirkungen auf die bisherige mehrdimensionale Sichtweise von Gesundheit haben wird.

    Die Fachöffentlichkeit reagierte darauf mit einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Lauterbach, den fachübergreifend über 150 Organisationen und Professionen aus Praxis, Wissenschaft und Forschung unterzeichneten. Darin begrüßen sie die Gründung eines zentralen Instituts für öffentliche Gesundheit ausdrücklich, fordern aber eine andere Strategie, „eine ganzheitliche, krankheitsübergreifende, an einem dynamischen Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden ausgerichtete Strategie, die […] eine Institution befähigt, in dynamischen, komplexen Systemen zu denken und zu handeln und die sich daher nicht auf medizinische Sachverhalte beschränkten darf.“ (Götz & Rosenbrock, 2023, S. 3) Die bisherige Reaktion des BMG ist überschaubar.

    Eigentlich könnte man mit guten Gewissen auf die Suchthilfe als Vorbild verweisen. Das bio-psycho-soziale Modell wird in der Praxis seit vielen Jahren professionsübergreifend gelebt. Als problematisch stellt sich aber die Vielzahl der Kostenträger im deutschen Gesundheitssystem und der Suchthilfe mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten und Qualitätskriterien heraus. Dazu gehört auch die zunehmende Fokussierung auf evidenzbasierte Medizin (EbM). Während EbM in der medizinischen Behandlung und Forschung als Gold-Standard gehandelt wird, greift sie bei der Bewertung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Gesundheit zu kurz, da pädagogische und therapeutische Interventionen nur sehr aufwendig quantitativ zu messen sind. Statistisch ist dies zwar möglich, aber um wirklich (hoch) signifikante Aussagen treffen zu können, ist der Forschungsaufwand um ein Vielfaches höher. Das beinhaltet die Gefahr, dass Projekte oder neue Arbeitsansätze allein aufgrund des deutlich höheren Aufwandes bei der Evaluation bei der notwendigen Förderung oder anschließenden Refinanzierung weniger Beachtung finden. In Erinnerung sollte aber auch gebracht werden, dass die sehr gute Methode der evidenzbasierten Medizin in der Form vermutlich nie für diesen breiten professionsübergreifenden Einsatz vorgesehen war.

    Die Suchthilfe hat aber mit dem Deutschen Kerndatensatz (KDS) ein interessantes Evaluationstool als Ass im Ärmel. Dieser wird aktuell angepasst und könnte vor allem aus dem Blickwinkel von Public Health viele Potenziale beinhalten. Optimierungsbedarf besteht aktuell noch in der Unterscheidung der einzelnen Arbeitsgebiete. So wird im KDS primär von Behandlung und Betreuung gesprochen, obwohl die ambulante Suchthilfe mit großem Abstand die meisten Fallzahlen in der Beratung (vgl. Schwarzkopf et al., 2023, Abbildung 1., S. 9) vorweist (ca. 68 Prozent; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18). Diagnosen, die in der stationären Suchthilfe und Therapie eine zentrale Rolle spielen, sind in der ambulanten Beratung weniger relevant (ca. 5 Prozent aller Mitarbeitenden der ambulanten Suchthilfe verfügen über eine entsprechende Qualifikation; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18) und in der Suchtprävention kaum von Bedeutung. Zurzeit wird noch wenig deutlich, dass je nach Setting der Kontakt zu den Klient:innen zwischen Tagen und Jahren beträgt. Auch ist der KDS bisher wenig dynamisch in der Erfassung von Beratungs- und Behandlungsverläufen. Die zunehmende Digitalisierung der Suchthilfe und auch die Möglichkeiten der Verarbeitung beinhaltet große Potenziale. Mit dem KDS steht ein flächendeckendes gutes Instrument zur Verfügung, welches nur an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden muss.

    Im Sinne von Public Health und der Ottawa-Charta sollte zukünftig aber ein sehr großes Interesse darin bestehen, die geleistete Arbeit professionsübergreifend zu begleiten und zu bewerten. Immerhin geht es hier um die Entwicklung von passenden kurz-, mittel- und langfristigen bio-psycho-sozialen Angeboten für die betroffenen Menschen. Die Datengrundlage dient an entscheidenden Stellen als Argument in Verhandlungen zu Förderung und Forschung, und natürlich werden hier Impulse für die Verwaltung und Politik gesetzt (siehe Ottawa-Charta). Ganz direkt geht es auch um Definitionshoheiten und um die Verteilung von knappen Ressourcen (vgl. Notruf Suchtberatung, 2019).

    Doch bei aller – konstruktiv gemeinter – Kritik: Es sind Feinheiten, die es zukünftig zu optimieren gilt. Die Suchthilfe ist mit der Deutschen Suchthilfestatistik und vielen evaluierten Projekten in der Lage, schon jetzt die Betroffenen und die Wirksamkeit der Hilfen wissenschaftlich evaluiert sichtbar zu machen (vgl. Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS)). Damit sind die Suchthilfe und Suchtprävention vielen anderen Bereichen im Sozial- und Gesundheitswesen weit voraus.

    Fazit

    Abschließend: Der Public Health-Ansatz hatte sich in den letzten Jahrzenten bewusst oder unbewusst als gute, konstruktive Perspektive im Gesundheitssystem, der Suchthilfe und Suchtprävention herausgestellt. Die interdisziplinäre Sichtweise und der Perspektivwechsel eröffneten im Praxisalltag neue Ideen, die unterschiedlichen Positionen und Professionen ergänzen sich gegenseitig. Dass das in der Suchthilfe und Suchtprävention nicht immer nur ein „harmonieorientierter“ Diskurs war und ist, weiß jeder/jede, der/die schon länger in dem Bereich tätig ist. Veränderung ist auch hier ein Prozess. Dennoch, es zählt das Ergebnis: Die Lebensqualität von vielen betroffenen Menschen hat sich verbessert, die Suchtprävention hat sich deutlich weiterentwickelt und erreicht in höherem Maße und präziser ihre Zielgruppen. Das gute Netzwerk der ehrenamtlichen und professionellen Suchthilfe ist in der Lage, schnell auf Veränderungen in der Suchtmittelszene zu reagieren. Das BMG kann man nur ermutigen, nicht nur über Public Health zu reden, sondern es vor dem Hintergrund der vielen nationalen und internationalen positiven Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im Sinne der WHO konsequenter umzusetzen.

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung des Verfassers wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

    Kontakt:

    Mathias Speich
    Der Paritätische NRW
    Marienstraße 12
    33332 Gütersloh
    Speich(at)paritaet-nrw.org

    Angaben zum Autor:

    Mathias Speich: Master of Public Health, Dipl.-Sozial- und Umweltpädagoge. Seit über 20 Jahren aktiv in der Suchthilfe und Suchtprävention. Fachreferent der Suchthilfe und der Hilfen nach § 67 SGB XII des Paritätischen NRW. Mitglied im Arbeitsausschuss Drogen und Sucht NRW, im Beirat der Suchtkooperation NRW, im Fachausschuss Gefährdetenhilfe und aktiv in vielen weiteren kleinen und großen engagierten Gremien der Suchthilfe, landes- und bundesweit.

    Literatur:
  • Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

    Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

    Einleitung

    Im Zuge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) sind die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe (EGH) aktuell mit der Umstellung auf das neue Leistungssystem beschäftigt. Dies umfasst die Neujustierung der Fachkonzepte, die Schulung der Mitarbeitenden und die Prozessorganisation in den Angeboten. Diese Umstellung beinhaltet zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit den reformierten behinderungspolitischen Leitideen.

    Für die Suchthilfe bietet dieser Prozess verschiedene fachliche Gestaltungsoptionen. Es besteht die Chance, arbeitsfeldspezifische Paradigmen wie die Abstinenzorientierung neu zu bewerten und die Praxis der Suchthilfe durch die systematische Implementierung von fachlichen Konzepten und Verfahren weiter zu professionalisieren. Hierbei kann der Fokus um zeitgemäße partizipative und sozialräumliche Ansätze erweitert werden. Die Entwicklungen lassen sich für die gezielte Vernetzung mit relevanten Akteuren nutzen und auf andere Segmente der Suchthilfe jenseits der EGH und weitere Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens übertragen.

    Grundsatz Selbstbestimmung

    Ein zentraler Grundsatz des BTHG bezieht sich auf das Recht auf Selbstbestimmung. Gemäß § 8 SGB IX lassen Leistungen, Dienste und Einrichtungen „den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung“. Laut Beyerlein (2021) bedeutet Selbstbestimmung als gesetzliches Ziel, „die Betroffenen bei der Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in ihrer Persönlichkeit zu achten und dementsprechend zu handeln und sie darüber hinaus zu aktivieren und in die Lage zu versetzen, autonom darüber zu entscheiden, in welcher Weise die gleichberechtigt Teilhabe stattfinden soll“ (S. 21). In der Suchthilfe ist der Umgang mit Selbstbestimmung elementar im Hinblick auf das Abstinenzpostulat, das trotz vorliegender alternativer Therapieansätze wie die Trinkmengenreduktion vielfach noch vorherrscht. Die Kritik, dass Abstinenz als vorgegebenes Behandlungsziel nicht dem Willen vieler Betroffener entspreche und zudem autonomieverletzend sei (vgl. Körkel 2002; Körkel und Nanz 2016), trifft ins Mark des Selbstbestimmungsgrundsatzes im BTHG. Dies erfordert insbesondere von hochschwellig ausgerichteten Anbietern bei der Erarbeitung der Fachkonzepte eine intensive Auseinandersetzung mit der fachlich-therapeutischen Haltung des Trägers und seiner Mitarbeitenden. Nur auf konzeptionell geklärter Grundlage ist der Rechtsanspruch auf selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Substanzkonsumstörungen umsetzbar.

    Grundsatz Partizipation

    Zu den wesentlichen Prinzipien des BTHG zählt die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, die sich aus dem Partizipationsbegriff ableitet und soziales Einbezogensein, politische Beteiligung und Einflussnahme auf zentrale Entscheidungen in diesen Lebensbereichen beinhaltet (vgl. Rambausek-Haß und Beyerlein 2018). Hieraus ergeben sich Aufgaben für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen, die sich auf ressourcenorientierte Befähigungsleistungen und die partizipative Weiterentwicklung der Angebote beziehen und eng mit den fachlichen Grundlagen, wie z. B. einer Ausrichtung am Recovery-Ansatz, verbunden sind.

    Partizipation bezieht sich auf die aktive Einbeziehung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse, die sie selbst betreffen (wie Bedarfsermittlung, Vereinbarung von Zielen und Teilhabeplanung), und ihre Beteiligung an der Entwicklung der Strukturen, in die sie eingebunden sind (z. B. Angebote der Suchthilfe sowie sozialräumliche, kommunale und weitere Entwicklungen und Entscheidungen). Sowohl in der EGH als auch in der Suchthilfe gilt Partizipation als ein Prozess, der an vorhandene Ressourcen und bisherige Erfahrungen gebunden ist. Damit Beteiligung als sinnvoll und attraktiv bewertet werden kann, müssen Befähigungsleistungen ggf. vorgeschaltet werden (vgl. Mattern et al. 2023). Zentrale Grundlage zur Umsetzung von Partizipation sind eine Empowerment-geleitete fachliche Haltung der Mitarbeitenden und eine beteiligungsorientierte Ausrichtung der Organisation. Beides kann z. B. durch methodische Anleihen bei dem Projekt „Hier bestimme ich mit – Ein Index für Partizipation“ (vgl. BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe 2020; 2021) weiterentwickelt werden.

    Leitkriterium Sozialraumorientierung

    Eng mit Partizipationsprozessen ist die Sozialraumorientierung (SRO) verbunden, die als neues Leitkriterium in das SGB IX eingeführt worden ist. Sie lässt sich mit Hilfe des sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzepts SRO operationalisieren. Das Konzept ist ein mehrdimensionaler Theorie- und Handlungsansatz und fußt auf den drei Handlungsebenen der fallspezifischen, fallübergreifenden und fallunspezifischen (personenunabhängigen) Ebene (vgl. Hinte 2019; 2020). Es lässt sich um die organisatorische Ebene der Leistungserbringer erweitern und stellt eine umfassende Sammlung an Methoden und Techniken zur Verfügung (vgl. Früchtel et al. 2007a; 2007b), die auch in der Suchthilfe einsetzbar sind.

    Zu den wesentlichen Handlungsprinzipien der Sozialraumorientierung zählen:

    • die Ausrichtung am Willen und den Interessen der Betroffenen,
    • die Stärkung von Eigeninitiative und Selbsthilfe,
    • die Fokussierung der personellen und sozialräumlichen Ressourcen,
    • zielgruppen- und bereichsübergreifende Aktivitäten und
    • die Kooperation und Vernetzung mit Fachdiensten, umgebenden Einrichtungen und weiteren Akteur:innen etc. im Quartier.

    Die Ausrichtung am Willen der Betroffen und der Sozialraum- und Lebensweltbezug im sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzept decken sich mit den Kriterien des Gesamtplanverfahrens inkl. der Bedarfsermittlung nach § 117 SGB IX. Diese Passung bezieht sich auch auf die Haltung. Zur Umsetzung der Sozialraumorientierung ist eine ressourcenorientierte Haltung jenseits paternalistischer Fürsorge erforderlich, die der im BTHG formulierten Erwartung des Gesetzgebers an die professionelle Beziehungsgestaltung und Rollenklarheit bei den Mitarbeitenden entspricht: „Der Begriff der Assistenz bringt in Abgrenzung von förderzentrierten Ansätzen der Betreuung, die ein Über-/ Unterordnungsverhältnis zwischen Leistungserbringern und Leistungsberechtigten bergen, auch ein verändertes Verständnis von professioneller Hilfe zum Ausdruck“ (BT-Drucks. 18/9522, S. 261). Durch die zielorientierte Vernetzung und Kooperation zur wirksamen Leistungserbringung kann das Konzept einen wesentlichen Beitrag zur Entsäulung innerhalb der Suchthilfe leisten.

    Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der EGH im Vertragsrecht

    Das Vertragsrecht der EGH sieht vor, dass bei der Umstellung auf das neue Leistungssystem für alle Angebote Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen abgeschlossen werden, die Inhalt, Umfang, Qualität, Wirksamkeit und Vergütung der Leistungen regeln. Referenzrahmen der Vereinbarungen sind die neuen Fachkonzepte, die gemäß Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS 2021) die fachliche Ausrichtung der Suchthilfe-Angebote beschreiben und Wirkannahmen für die angebotenen Leistungen sowie Qualitätsstandards enthalten sollen, um die „qualitative Leistungserbringung, Fachlichkeit und Sinnhaftigkeit der Maßnahme“ (BAGüS 2021, S. 12) zu gewährleisten.

    Die wirksamkeits- und qualitätsfokussierte Ausrichtung der EGH ermöglicht nun die finanzielle Berücksichtigung von Ansätzen und Verfahren der Suchthilfe, die früher in der Regel als im weitesten Sinne therapeutisch und daher nicht EGH-konform abgelehnt worden sind. Die verbindliche Umsetzung der Fachkonzepte ist im Kontext der sanktionsbewehrten Prüfungen nach § 128 SGB IX von den Leistungserbringern sicherzustellen. Das erforderliche regelmäßige Qualitätsmonitoring wird professionalitätssteigernde Effekte mit sich bringen. Dazu trägt auch die Vorgabe bei, dass sich sämtliche Merkmale des fachlichen Handelns in der Dokumentation der Leistungserbringung und in der reflektierten Ergebnisqualität zeigen müssen (vgl. BAGüS, S. 13). Dies wiederum setzt geschulte Mitarbeitende voraus, die sich mit den fachlichen Grundlagen auseinandergesetzt haben.

    Exkurs: Potenziale des Vertragsrechts für die Psychosoziale Begleitung von substituierten Opioidabhängigen (PSB)

    Mit Herauslösung der EGH aus dem Sozialhilferecht werden die Leistungen auf Antrag gewährt und sind mit neuen Verwaltungsverfahren und Zugangswegen ins System verbunden. Diese können für Teilgruppen der Anspruchsberechtigten zu hochschwellig sein und de facto den Ausschluss von der Leistung bedeuten. Diese Situation trifft für substituierte Opioidabhängige und das spezifische Angebot PSB in den Fällen zu, in denen es über die EGH finanziert wird. Die besonderen Bedarfe des Personenkreises und die organisatorischen Anforderungen an die Leistungserbringer lassen sich unter den administrativen und ökonomischen Rahmenbedingungen des neuen Leistungsrechts für das Gros der Betroffenen nicht abbilden. Das Vertragsrecht enthält jedoch Optionsrechte gemäß § 125 Abs. 3 Satz 4 SGB IX und § 132 SGB IX, auf deren Grundlage die PSB als personenorientierte und wirksame Leistung der EGH konfigurierbar wird (vgl. Gellert-Beckmann 2022). Da die Anwendung der Optionsrechte als Kann-Regelung im Ermessen der Leistungsträger liegt, besteht für die Leistungserbringer kein Anspruch auf ihre Nutzung. Dieser lässt sich aus der Perspektive der Leistungsberechtigten jedoch aus deren Recht auf diskriminierungsfreie Angebote und Zugänge aus den Artikeln 3, 4, 19, 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ableiten.

    Fachliche Grundlagen für die Umsetzung des BTHG

    Für die Leistungskonzeptionierung und -erbringung in der geforderten Qualität ist der Rückgriff auf fachlich bzw. wissenschaftlich anerkannte Verfahren und Konzepte notwendig, die insbesondere in S3-Leitlinien dargestellt werden. Geeignete psychosoziale Interventionen, die mit den Rehabilitationszielen der EGH kompatibel sind, finden sich in der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen (DGPPN 2018). Sie sind auf die psychiatrische Teilgruppe der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen übertragbar (vgl. Gellert-Beckmann 2023a). Aus den suchtspezifischen Leitlinien lassen sich im Vergleich dazu weniger geeignete evidenzbasierte Ansätze in Bezug auf die Reha-Leistungen der EGH entnehmen, deren Umsetzungsmöglichkeit im Rahmen des BTHG analysiert und bestätigt worden ist (Gühne und Konrad 2019).

    Die psychosozialen Interventionen aus der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen zielen auf psychische und physische Stabilisierung, die Aktivierung von Motivation und Ressourcen und die Entwicklung von Fähigkeiten für eine weitestgehend selbstständige und eigenverantwortliche Lebensführung. Für die Erstellung der Fachkonzepte und die Festlegung auf fachliche Grundlagen bieten sie eine Vielzahl konkreter Verfahren, die sich mit weiteren suchthilfespezifischen Ansätzen verbinden lassen.

    Zentrale Ansätze der Leitlinie sind Recovery und Empowerment, die für das praktische Handeln operationalisiert und in der Arbeitsorganisation verankert werden müssen. Recovery-Elemente umfassen z. B. eine partnerschaftlich-professionelle und autonomiefördernde Arbeitsbeziehung und einen stärkenorientierten Ansatz, der die Klient:innen bei der (Wieder-)Entdeckung ihrer Ressourcen unterstützt. Angestrebt wird die Förderung von Selbstbestimmung, sozialer und beruflicher Teilhabe sowie der (Bürger:innen-)Rechte (DGPPN 2018, S. 52). Die Recovery-Prinzipien sind in die Angebotsstrukturen und Ablauforganisation einzubetten. Sie müssen für die Klient:innen erfahrbar und auch für die Mitarbeitenden greifbar werden in Form von Leistungen, die systematisch die Partizipation der Klient:innen integrieren und somit einen Bogen zu den Zielen des BTHG spannen.

    Die S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen enthält Schnittstellen zu den evidenzbasierten suchthilfespezifischen Verfahren Motivational Interviewing und Community Reinforcement Approach sowie zu allen suchthilfespezifischen Verfahren, die mit dem Empowerment-Ansatz assoziiert sind. Empowerment zielt als wichtiger Bestandteil von Recovery auf die Förderung von Selbstbefähigung, Eigeninitiative und Selbsthilfe – Kompetenzen, die in der Suchthilfe in Form von Selbsthilfegruppen, Lotsenkonzepten und Peer-Support unterstützt werden. Gemäß Leitlinien-Empfehlung ist Selbstmanagement „ein bedeutender Teil der Krankheitsbewältigung und sollte im gesamten Behandlungsprozess unterstützt werden“ (DGPPN 2018, S. 65). Selbstmanagement in der Suchthilfe umfasst Trainingsprogramme wie Psychoedukation, Konsumreduktionsprogramme wie Kontrolliertes Trinken und Kontrolle im selbstbestimmten Konsum, Rückfallprophylaxe und Training sozialer Fertigkeiten.

    Eine wesentliche Grundlage sowohl der Leitlinie als auch der Suchthilfe und der EGH stellt die professionelle Beziehungsgestaltung dar. Deren Qualität ist Bestandteil anderer Ansätze, z. B. des Wirkfaktorenmodells nach Grawe (vgl. DGPPN 2018, S. 58). Dieses Konzept fokussiert darüber hinaus Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und Befähigung zur Problembewältigung, die wiederum an den Befähigungsaspekt des neuen Leistungstatbestands der qualifizierten Assistenzleistung im SGB IX anschließt.

    Mit der partizipativen Entscheidungsfindung sollen die Rechte auf Autonomie und Selbstbestimmung respektiert und die aktive Beteiligung an der Behandlungsgestaltung im Recovery-Prozess sichergestellt werden (vgl. DGPPN 2018). Ein Anknüpfungspunkt zu dieser Recovery-Orientierung besteht u. a. für das Konzept der Zieloffenen Suchtarbeit nach Körkel.

    Für Suchthilfe-Angebote bietet sich an, die konzeptionelle Berücksichtigung von Case Management im Kontext der Assistenz zur persönlichen Lebensplanung gemäß § 78 Abs. 1 SGB IX zu prüfen und zielgruppenspezifisch auszuformen. Hierfür steht exemplarisch das Modellprojekt „Alters-CM3“ für die Arbeit mit älteren Drogenkonsument:innen (Schmid 2018). Das Modell verknüpft „Motivational Case Management“ (Case Management, das Motivational Interviewing methodisch integriert) mit Elementen eines stärkenorientierten Ansatzes und der „Problem Solving Therapy“. Somit lassen sich Verbindungen zu Recovery und zum Graw’schen Wirkfaktorenmodell herstellen.

    Als Basisleistung für die Bereiche „Navigation zur Strukturierung der Lebensgestaltung, Erschließung weiterer notwendiger Sozialleistungen, Krisenplanung“ (Konrad 2020, S. 29) kann Case Management von der Suchthilfe genutzt werden, um sozialarbeiterische Expertise im Bedarfskontext der Zielgruppe zu begründen.

    Aufgrund der hohen Prävalenz somatischer und psychiatrischer Komorbiditäten bei Substanzkonsumstörungen sollten auch Leistungen zum Lebensbereich Gesundheit im Hinblick auf die Bewältigung der zusätzlichen Erkrankungen regelhaft angeboten werden. Ein Mindestmaß an Gesundheit ist Voraussetzung für Teilhabe und unabdingbar für Lebensqualität und das Vermeiden vorzeitiger Mortalität. Gesundheitsbezogene Interventionen und Angebotsstrukturen und -prozesse auf System- und Einzelfallebene lassen sich in der EGH mit dem von der Dt. Vereinigung für Rehabilitation erarbeiteten Konzept der Gesundheitssorge (vgl. DVfR 2021) für die Suchthilfe entwickeln (vgl. Gellert-Beckmann 2023b). Das Konzept ist hilfreich für die Bedarfsermittlung, die individuelle Maßnahmenplanung und die organisationsstrukturelle Implementierung entsprechender Angebote. Hierzu zählen psychoedukative Trainings, das Schaffen von Zugängen zu Informationen und Angeboten, spezifische Fortbildung der Mitarbeitenden, Gruppenangebote zur Förderung der Gesundheitskompetenz und personenunabhängige Sozialraumarbeit zur Etablierung einer gesundheitskompetenzförderlichen Umgebung (vgl. AOK 2021).

    Ein Großteil der Verfahren ist über die EGH hinaus auch in anderen Settings der Sucht- und Drogenhilfe wie Beratungs- und Kontaktstellen einsetzbar.

    Neue Verfahrensregelungen im SGB IX

    Chancen für eine bessere Zusammenarbeit liegen auch in den neuen Verfahrensregelungen im Teil 1 des SGB IX für die Reha-Träger. Letztere sollen durch koordiniertes Handeln schnelle und wirkungsvolle Rehabilitationsleistungen ermöglichen. Die optimierte Kooperation der Leistungsträger soll unter Einbezug der weiteren Prozessbeteiligten erfolgen, da die übergreifende Zusammenarbeit als erfolgskritische Voraussetzung der Rehabilitation gilt. In der „Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess“ (BAR 2019) sind in § 3 die beteiligten Akteure aufgelistet, die Einrichtungen und Dienste der Suchthilfe umfassen. Zu entwickeln sind mit den relevanten Beteiligten „verbindliche Strukturen, die ein regelhaftes und verlässliches System zum Informationsaustausch und zur Zusammenarbeit sicher stellen, das der möglichst frühzeitigen Erkennung eines Teilhabebedarfs und Einleitung von Leistungen zur Teilhabe dient“ (§ 16 Abs. 3 GE Reha-Prozess).

    Werden die in der Gemeinsamen Empfehlung formulierten Vorgehensweisen realisiert, profitieren einerseits Menschen mit Substanzkonsumstörungen von den vom Gesetzgeber angestrebten Verbesserungen, da sämtliche Leistungsgruppen gemäß § 5 SGB IX für sie relevant sein können. Andererseits lassen sich für die Suchthilfe und die angrenzenden Arbeitsfelder systematisch Vernetzungspotenziale heben, die zusammen mit den oben dargestellten Konzeptansätzen eine neue konstruktive Grundlage schaffen für die Überwindung von Schnittstellenproblemen (vgl. DHS 2019, S. 5).

    Kinder von suchtkranken Eltern

    Die Assistenzleistungen gemäß § 78 SGB IX umfassen auch Leistungen an Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder. Mittels pädagogischer Anleitung, Beratung und Begleitung sollen Eltern mit Abhängigkeitserkrankungen unterstützt werden, um ihrer Elternrolle gerecht zu werden und z. B. die Grundbedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen nachkommen zu können (vgl. BMAS 2018, S. 44). Es lassen sich Angebote der begleiteten Elternschaft entwickeln, die in Modellprojekten erprobt worden sind (vgl. AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. 2019; Dachverband Gemeindepsychiatrie 2019).

    Ausblick

    Die Potenziale des BTHG und der reformierten EGH lassen sich für weitere Bereiche der Suchthilfe nutzen. Der systematische fachliche Fokus als Folge der Qualitäts- und Wirksamkeitsanforderungen in der EGH erfordert finanzielle Ressourcen, die zunächst zu verhandeln und in Umsetzung zu bringen sind. Als Professionalisierungstreiber kann er für die Weiterentwicklung anderer sozialarbeiterischer Tätigkeitsfelder und Angebote in der Suchthilfe genutzt werden, die sich der Kritik häufig fehlender fachlicher Standards der Leistungserbringung stellen müssen (vgl. Arendt 2019). Auch die Auseinandersetzung mit den Prämissen der UN-BRK und des BTHG und die Übersetzung der menschenrechtsbasierten und behinderungspolitischen Grundlagen in fachliches Handeln kann den Fachdiskurs über die EGH hinaus bereichern, zumal die UN-BRK als mächtiger Hebel für die Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Diskriminierungskontext Chancen für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen enthält, die noch lange nicht aufgegriffen sind.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Stefanie Gellert-Beckmann ist Geschäftsführerin der Suchthilfe Wuppertal gGmbH,
    Hünefeldstr. 10a, 42285 Wuppertal.
    www.sucht-hilfe.org
    stefanie.gellert-beckmann(at)sucht-hilfe.org

    Literatur
    • Arendt I. Case Management in der Sucht- und Drogenhilfe. Soziale Arbeit 2018; 9/10: 360-366 
    • AOK-Bundesverband GbR. Forschungsprojekt QualiPEP/ Qualitätsorientierte Prävention- und Gesundheitsförderung in Einrichtungen der Pflege und Eingliederungshilfe. 2021. Im Internet: www.aok-qualipep.de; Stand: 07.04.2023
    • AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (Hg.). Abschlussbericht Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern. 2019: 14ff.
    • BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe. Mitbestimmen! Fragensammlung zur Partizipation. 2. Auflage, Berlin 2021.
    • BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe. Mitbestimmen! Informationen für mehr Mitbestimmung. Berlin 2020.
    • Beyerlein M. Kurzgutachten zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Bundesländern. Analyse von Regelungen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Landesrahmenverträgen nach § 131 SGB IX (2021: 21).
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. (BAR). Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess. Frankfurt 2019.
    • Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS). Orientierungshilfe zur Durchführung von Prüfungen der Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit nach § 128 SGB IX. 2021
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG). 25. Oktober 2018. Im Internet: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Rehabilitation-und-Teilhabe/Fragen-und-Antworten-Bundesteilhabegesetz/faq-bundesteilhabegesetz.html; letzter Zugriff: 03.05.2024
    • Bundestags-Drucksache 18/9522. Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). 05.09.2016
    • Dachverband Gemeindepsychiatrie e. V. (Hg.). Unterstützung für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Leuchtturmprojekte. Köln: Psychiatrie-Verlag 2019.
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland – Analyse der Hilfen und Angebote und Zukunftsperspektiven. Update 2019
    • Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR). Gesundheitssorge – Erhalt und Förderung von Gesundheit für Menschen mit Behinderungen unter besonderer Berücksichtigung der Eingliederungshilfe. Positionspapier der DVfR, 2021.
    • DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. 2. Auflage, Berlin: Springer 2018: 65. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-58284-8
    • Früchtel F, Budde W, Cyprian G. (2007a). Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
    • Früchtel F, Budde W, Cyprian G. (2007b): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Fieldbook: Methoden und Techniken, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
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    • Hinte W. Das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“ – Grundlage und Herausforderung für professionelles Handeln, ln: Fürst R, Hinte W (Hg.). Sozialraumorientierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten, 3. Auflage., Stuttgart: UTB; 2019: 13–32.
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    • Körkel J. Kontrolliertes Trinken. Eine Übersicht. Suchttherapie 2002; 3: 87–96.
    • Konrad M. Assistenzleistungen zur Sozialen Teilhabe als Rechtsanspruch nach dem Bundesteilhabegesetz (BTGH). Webinar der Umsetzungsbegleitung BTHG 05.06.2020. Im Internet: https://www.lag-avmb-bw.de/Teilhaberecht/Assistenzleistung_BTHG-2006.pdf
    • Mattern, L, Peters, U, Rambausek-Haß, T (2023). Zur Umsetzung der Partizipation in der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung – Forschungsstand; Beitrag D5-2023 unter www.reha-recht.de; 25.04.2023.
    • Rambausek-Haß, T, Beyerlein, M. Partizipation in der Bedarfsermittlung – Was ändert sich durch das Bundesteilhabegesetz? – Teil II; Beitrag D28-2018 unter www.reha-recht.de; 31.07.2018.
    • Reker M. Zur Implementation eines evidenzbasierten Therapieverfahrens in die deutsche Suchtkrankenversorgung: Der Community Reinforcement Approach. Suchttherapie 2013; DOI 10.1055/s-0033-1341430
    • Schmid M. Case Management für ältere Drogenabhängige – Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt. In: Schmid M, Arendt I. „Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe …“ – Ältere Drogenabhängige, Hilfesysteme und Lebenswelten: Dokumentation zur Fachtagung des Verbundprojekts Alters-CM³ – Case Management für ältere „Drogenabhängige“. Koblenz: Institut für Forschung und Weiterbildung (IFW), Hochschule Koblenz 2018: 5-14.
  • Wirkungsorientierung in der Sozialen Arbeit

    Wirkungsorientierung in der Sozialen Arbeit

    Sandra Schneider
    David Schneider
    Konstantin Loukas
    Frank Löbler

    Der Fachdiskurs der Sozialen Arbeit beschäftigt sich zunehmend mit dem Einsatz wirkungsorientierter Instrumente. Im folgenden Text plädieren wir dafür – trotz mitunter vorgetragener methodischer Bedenken –, mittels praktikabler Verfahren in die wirkungsorientierte Praxisforschung einzusteigen. Dabei wird auf den Vorzug teilhabe- und lebensqualitätsorientierter Instrumente im Kontext der Wirkungs­analyse verwiesen. Am Beispiel der Suchthilfe wird deutlich: Es geht um Beeinträchtigungen und Ressourcen in der gesamten Lebenswelt, in der auch die Soziale Arbeit mehrdimensional ansetzt.

    Auf Basis der Erfahrungen mit der Personal Outcomes Scale, einem teilhabeorientierten Interviewverfahren, wird deutlich, dass Wirkungsorientierung realistisch ist und das Interview als Instrument sich besonders dazu eignet, klienten- und organisationsbezogene Informationen zu erheben und auszuwerten. Die Träger Jugendberatung und Jugendhilfe e.V. in Frankfurt und das Sozialwerk St. Georg in Gelsenkirchen haben in den vergangenen Jahren mehrere Tausend Menschen in unterschiedlichen Betreuungssettings – wie der Eingliederungshilfe oder dem stationären Wohnen – zu ihrer Lebensqualität interviewt. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.

    Wirkungsorientierung als Chance

    Spätestens seit der Einführung des BTHG wird in der Eingliederungshilfe verstärkt über die Wirkung von Hilfeleistungen gesprochen. Aber nicht nur dort, sondern in der gesamten Sozialen Arbeit ist die Wirkungsorientierung seit Jahren ein mitunter kontrovers diskutiertes Thema. In der Praxis geht es allerdings oft schleppend voran. Die Gründe für eine stärkere Orientierung an der Wirkung sind bei alledem evident: Zunächst geht es um die Verpflichtung gegenüber interessierten Parteien wie den Leistungsträgern oder der öffentlichen Hand. Die Qualität der Angebote hat sich daran zu messen, ob die Angebote nachweislich die gesellschaftliche Teilhabe der Klientinnen und Klienten erhalten bzw. fördern. Eine evidenzbasierte Evaluation der Maßnahmen und Betreuungsformen dient aber auch der eigenen Positions­bestimmung und liefert Hinweise auf Veränderungs- und Verbesserungs­potentiale der angebotenen Leistungen (Sozial.de, 2020). Ebenso sollte die Erfassung und Interpretation von Veränderungen seitens der Klientel hinsichtlich ihrer Lebenswelt und Lebensqualität als Gradmesser für die Wirkung Sozialer Arbeit fungieren.

    Neben dem professionseigenen Anspruch der Sozialen Arbeit, wirksame Arbeit zu leisten, wird Wirkungsorientierung auch im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz und den Landesrahmenverträgen gefordert. Dennoch erfolgte bislang keine abschließende Definition der Begriffe Wirkung und Wirksamkeit und auch keine Benennung von Verfahren und Instrumenten, mit denen die Wirkungsanalyse bzw. Wirksamkeitsmessung seitens der Leistungserbringer durchgeführt werden könnte. Vielmehr finden sich bei der Durchsicht der Landesrahmenverträge unterschiedliche Begriffsinterpretationen und Ansätze (Deutscher Verein 2022, S. 6 ff.). Dass sich hier noch keine routinierte oder gar einheitliche Handhabung durchgesetzt hat, dürfte auch damit zusammenhängen, dass in der Eingliederungshilfe Erfahrungen mit dem Nachweis von Wirkung fehlen. Die Bunderegierung stellte im Dezember 2022 fest: „(…) knapp sechs Jahre nach der Verabschiedung des BTHG ist die angestrebte Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe (…) noch nicht vollständig in der Praxis umgesetzt.“ (Deutscher Bundestag 2022, S. 18) Diese Unschärfe verschafft den Leistungserbringern allerdings auch Gestal­tungs­spielräume, um eigene Positionen zur Wirkungsorientierung erfahrungs- und evidenzbasiert zu entwickeln.

    Wie lässt sich „Wirkung“ in der Eingliederungshilfe feststellen und beurteilen?

    Heute zweifelt niemand mehr daran, dass die Ergebnisse der Sozialen Arbeit messbar und die Prozesse steuerbar sind. Gestritten wird lediglich darüber, welche Verfahren angewandt werden und wie wissenschaftlich anerkannt diese sind. Es gibt gute Gründe für experimentelle Designs zum Nachweis kausaler Effekte: Randomisierte kontrollierte Studien und Metaanalysen gelten als Goldstandard der evidenzbasierten Forschung. Sie gelten als die sicherste Methode, Nutzen und Risiken von Therapien zu bewerten. Hier kann von „Wirkungsmessung“ gesprochen werden.

    Studien, die ohne Theoriebildung, Formulierung von Hypothesen, experimentelle Variation von Bedingungen, Kontrollgruppe und Randomisierung durchgeführt werden, sollten indes nicht von „Wirkungsmessung“ sprechen, denn dies suggeriert, dass bestimmte Effekte unmittelbar auf diese oder jene Intervention zurückzuführen sind. „Wirkungen in der sozialen Arbeit sind allerdings komplexer und lassen sich oft nicht im Sinne der korrelativen Rückführbarkeit auf einzelne Interventionen ‚messen‘“, heißt es im „Kursbuch Wirkung“ (Kurz & Kubek, 2013, S. 49 f.). Deshalb wird dort der Begriff „Wirkungsanalyse“ als der passendere vorgeschlagen.

    In diese Richtung argumentieren auch Ottmann, König und Gander (2021). Sie schlagen eine theoriebasierte „Wirkungsplausibilisierung“ vor. „Die Realisierung von klassisch experimentellen Studien erscheint innerhalb der Sozialen Arbeit und der Eingliederungshilfe meist als schwierig und ethisch bedenklich, da bei diesen nur der Zufall entscheiden kann, ob einer bestimmten Person eine bestimmte Maßnahme, also Hilfe, zugeteilt wird oder nicht.“

    Mit teilhabeorientierten Instrumenten Veränderungen darlegen

    Wirkungsorientiert, wirkungsanalytisch oder mit dem Ziel der Wirkungsplau­sibilisierung in der Eingliederungshilfe der Suchthilfe zu arbeiten, heißt, auf der Basis von Fall-, Text- und Dokumentanalysen sowie von klientenbezogenen Verlaufsbetrachtungen eine Einschätzung zu gewinnen, „ob und in welchem Umfang gefundene Effekte, also beobachtbare Veränderungen oder Stabilisierungen, auf die Angebotsformen oder Formen der Leistungserbringung (Art, Inhalt, Umfang) auch tatsächlich zurückgehen“ (Ottmann et al., 2021).

    Eine so verstandene Wirkungsorientierung wird dann ein erfolgreiches und nachhaltiges Projekt, wenn es gelingt, ein realistisches, sinnhaftes und vor allem auch praxiskompatibles Verfahren einzusetzen, um die Entwicklung der Lebensqualität der Klientinnen und Klienten zu dokumentieren und zu evaluieren. In diesem Sinn plädieren wir für eine im Dienst der Qualitätsentwicklung stehende Praxisforschung, die Veränderungen erfasst und plausibel macht, in welchem Verhältnis diese zu bestimmten Angeboten oder Settings stehen.

    Experimentelle Studien und qualitativ ausgerichtete Praxisforschung sollten nicht als Gegensätze verstanden werden. Im Gegenteil: Den Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft gilt es zu intensivieren, wozu beispielsweise auch seitens der Politik nachdrücklich aufgerufen wurde (Deutscher Suchtkongress, 2022). Zwingende Voraussetzung für die Praxisforschung in der Sozialen Arbeit sind Instrumente und Methoden, die darauf zielen, die psychosoziale Komplexität eines Falles sowie seine soziale bzw. gesellschaftliche Dimension zu erfassen. Teilhabeorientierte Instrumente bieten sich hierbei als Klammer für die Zusammenarbeit verschiedener Einrichtungen und Systeme in der Sozialen Arbeit an. Sie ermöglichen zudem Datenvergleiche zwischen Ländern, Disziplinen im Gesundheitswesen, Gesundheitsdiensten sowie im Zeitverlauf.

    Eine pragmatische wirkungsorientierte Arbeit muss in der Lage sein, Veränderungen plausibel und nachvollziehbar darzulegen. Dafür braucht es gut begründete theoretische Annahmen darüber, welche Wirkungen die jeweiligen Angebote in den Einrichtungen zur Folge haben sollten. Diese Annahmen können dann mit empirischem Material, das aus Verlaufsmessungen resultiert, abgeglichen werden.

    Wie werden diese Verlaufsmessungen durchgeführt? Ein geeignetes Instrument ist das Interview. Es ermöglicht die Erhebung und Auswertung subjektiver Deutungen und orientiert sich an individuellen und lebensweltlichen Besonderheiten. So kann qualitative Sozialforschung Lebensrealitäten erfassen, Problemlagen erkennen und Veränderungen anregen. Sie ermöglicht ferner Flexibilität ihren Gegenständen und Aufgaben gegenüber (Flick, 2012). Im Vergleich zu klassischen Fragebogen-Befragungen bieten Interviews den Vorteil, dass facettenreichere Aussagen gemacht werden. Die interviewende Person kann zudem flexibel nachhaken. Das Interview bietet die Möglichkeit, subjektive Deutungsmuster spezifisch zu thematisieren. Es existieren Vorannahmen und thematische Eingrenzungen, die aber gleichwohl die Möglichkeit offenlassen, im Interview Relevantes zu vertiefen. „Eigentliches Ziel des Interviews sind die subjektiven Erfahrungen der Personen, die sich in der vorweg analysierten Situation befinden.“ (Merton, 1979)

    Lebensqualität als Maßstab von Veränderung – die Personal Outcomes Scale (POS)

    In der Eingliederungshilfe werden die Kosten der Betreuung an die Ziele und Maßnahmen von Hilfeplänen geknüpft. Diese strikte Ableitung der Kosten von den Maßnahmen zur Zielerreichung führt in einem prospektiven System zwangsläufig zu Unschärfen, da sich die Bedarfe oft im Lauf der Unterstützung ändern. Das Erfahren von Teilhabe als Ausdruck von Wirkung ist nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit der Erreichung von Zielen in einem Hilfeplan. Daher müssen sich Instrumente zur Messung von Teilhabequalität auch nicht ausschließlich mit der Frage auseinandersetzen, wie der Grad der Zielerreichung gewesen ist. Vielmehr gilt hier das subjektive Teilhabeempfinden als Indikator für eine wirksame Eingliederungshilfe. Aber wie kann Teilhabe gemessen werden, wenn diese doch eine grundlegende subjektive Komponente hat? Dies funktioniert auf der Basis evidenzbasierter Interviewverfahren.

    Im Rahmen der Sozialen Arbeit spricht vieles für einen personen- und teilhabezentrierten Ansatz, bei dem die individuelle Verbesserung der Qualität des Lebens derjenigen Person, bei der Assistenz geleistet wird, das übergeordnete und primäre Wirkziel ist. Die Messung der individuellen Qualität des Lebens erfolgt mit dem Instrument der Personal Outcomes Scale (POS), einem wissenschaftlich fundierten, validen und reliablen und gleichzeitig praxistauglichen Messinstrument, welches im Rahmen eines iterativen Prozesses unter der Einbeziehung von Menschen mit Assistenzbedarf im Forschungskontext der belgischen Universität Gent entwickelt wurde (Claes et al., 2010).

    Qualität des Lebens ist dabei im Sinne von Robert L. Schalock und Miguel A. Verdugo als mehrdimensionales Phänomen zu verstehen, das sich aus Kernbereichen zusammensetzt, die von persönlichen Merkmalen, Werten und Umweltfaktoren beeinflusst werden. Im Rahmen von internationalen Forschungsarbeiten wurden acht Lebensbereiche, die sogenannten Domänen, identifiziert, welche die individuelle Qualität des Lebens einer Person ausmachen. Die acht Domänen (Schalock & Verdugo, 2019) sind in Tabelle 1 dargestellt.

    Tab. 1: Die acht Domänen der Qualität des Lebens. Quelle: Sozialwerk St. Georg (2021-2023)

    Die POS basiert auf den acht Domänen der Qualität des Lebens und beinhaltet insgesamt 48 Fragen, jeweils sechs pro Domäne. Seit der Veröffentlichung der POS im Jahr 2008 wurde das Instrument in zwölf Sprachen übersetzt – darunter auch ins Deutsche (vgl. DGQ, 2019, S. 15) – und findet international aktuell in elf Ländern Anwendung (van Loon et al., 2012).

    Die Qualität des Lebens wird im Rahmen eines von qualifizierten Interviewerinnen und Interviewern geführten Gesprächs mit der Person mit Assistenzbedarf erhoben. Hierfür stehen zur Unterstützung auch Piktogramme sowie eine Version des Fragebogens in Leichter Sprache zur Verfügung. Neben der subjektiven Selbsteinschätzung, der eine zentrale Bedeutung beigemessen wird, ist auch eine ergänzende fachliche Erhebung im Rahmen eines Interviews mit einer Person aus dem Unterstützungsnetzwerk möglich. Sollte ein POS-Interview nicht mit der Person selbst durchgeführt werden können, kann alternativ ein sogenanntes Report-by-Others-Interview durchgeführt werden. Hierbei handelt es sich um ein moderiertes Konsensgespräch zweier Vertrauenspersonen, die die eigentlich zu interviewende Person gut kennen, z. B. eine mitarbeitende Person (professionelles Netzwerk) und ein Familienmitglied (soziales Netzwerk).

    Wichtig für die Erhebung der Qualität des Lebens mittels der POS ist die Qualifizierung der Interviewerinnen und Interviewer. Dazu wurde ein Schulungskonzept entwickelt, welches zu einem international gültigen Zertifikat führt. Im Rahmen einer Grundlagenschulung wird den Interviewerinnen und Interviewern das Konzept der Qualität des Lebens vermittelt sowie der Einsatz und der Aufbau des Fragebogens mit den Indikatoren und den Antwortmöglichkeiten verdeutlicht. Darüber hinaus werden die Themen Interviewführung, Gesprächsablauf und Haltung besprochen. Die Interviewer:innen sollen befähigt werden, die Fragen methodisch so zu kommunizieren, dass sie von den Befragten inhaltlich verstanden werden und die Antworten den zur Verfügung stehenden Antwortmöglichkeiten zutreffend zugeordnet werden können. Ergänzt wird die Schulung durch begleitete Erst-Interviews.

    Voraussetzung dafür, dass die Qualität des Lebens erfolgreich erhoben und ausgewertet werden kann, ist, den gesamten Prozess der Einführung und Durchführung der POS in das Qualitätsmanagement zu integrieren. Der Einsatz der POS muss systematisch und kontinuierlich verfolgt werden. Darin eingebunden sind neben den Interviewerinnen und Interviewern die Prozessverantwortlichen ebenso wie das Analysenetzwerk, in dem die Ergebnisse aufbereitet und ausgewertet werden.

    Die Antworten zu den 48 Indikatoren werden mit Punktwerten von 1 bis 3 (3er Likert-Skala) hinterlegt. Aufsummiert ergeben sie einen POS-Wert zwischen 48 und 144 Punkten, der die individuelle Qualität des Lebens auf der Personal Outcomes Scale angibt. Tabelle 2 zeigt POS-Ergebnisse für zwei verschiedene Angebote des Sozialwerks St. Georg aus dem Jahr 2022. Um festzustellen, ob den vorhandenen Unterschieden eine Bedeutung beigemessen werden kann oder ob sie zufällig entstanden sind, wurden mittels des Statistikprogramms SPSS t-tests für unabhängige Stichproben bzw. bei gleichen Personen t-tests für verbundene Stichproben durchgeführt. Das Signifikanzniveau ist auf p < 0.05 festgelegt. Dies entspricht einer maximalen Irrtumswahrscheinlichkeit von fünf Prozent.

    Tab. 2: POS-Ergebnisse zweier Angebote im Vergleich; *=signifikant. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Darüber hinaus besteht im Rahmen der POS-Interviews die Möglichkeit, über qualitative Kommentare herauszustellen, welche Themen den Befragten besonders wichtig sind, welche Ziele und Wünsche (vgl. Tabelle 3) sie im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Qualität des Lebens haben und welche Unterstützung sie dahingehend noch benötigen.

    Tab. 3: Themenfelder der am häufigsten genannten Wünsche der Klientinnen und Klienten im Jahr 2022. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, über den Vergleich der POS-Interviews der gleichen Befragten über mehrere Jahre hinweg Entwicklungsverläufe und Veränderungen in der Qualität des Lebens zwischen verschiedenen Zeitpunkten nachzuweisen, sowohl für die einzelne befragte Person als auch aggregiert für ganze Einrichtungen oder Organisationen. Tabelle 4 zeigt die Zeitverlaufsanalyse 2020/2022 mit 298 Klientinnen und Klienten im Sozialwerk St. Georg.

    Tab. 4: Zeitverlaufsanalyse 2020/2022 mit 298 Klientinnen und Klienten; MW = Mittelwert; *=signifikant. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Den Einzelfall in den Blick nehmen

    In soziologischen Schriften zur Enttraditionalisierung und Flexibilisierung von gesellschaftlichen Lebensverhältnissen wird überzeugend argumentiert, dass Veränderungen der Lebensbedingungen auch Veränderungen der individuellen Wahrnehmung zur Folge haben (vgl. Menke, 2010; Honneth et al., 2005; Rosa, H., 2005; Busch, 2001; Beck 1986).

    Die immer individuelleren Lebensentwürfe der modernen Gesellschaft führen dazu, dass die Sozialforscher mit klassischen Kategorienbildungen die Dimensionen des Einzelfalls nicht mehr hinreichend erfassen. Daraus haben Vertreter der qualitativen Sozialforschung die Konsequenz gezogen, die lokalen und lebensweltlichen Besonderheiten des einzelnen „Falls“ verstärkt in den Blick zu nehmen, anstatt mittels standardisierter Verfahren davon zu abstrahieren. Dort, wo es um die realistische Unterstützung von Menschen geht, ist die Fokussierung auf konkrete subjektiv erlebte Teilhabebeeinträchtigungen besonders wichtig, sonst entstehen schnell Überforderung und Belastung.

    Die im Sozialwerk St. Georg durchgeführte Studie mit den POS-Interviews ist nicht als randomisierte kontrollierte Studie nach „Goldstandard“ konzipiert. Das POS-Verfahren begreifen wir als wirkungsorientierte Evaluation der Lebensqualität von Menschen mit Assistenzbedarf in der Eingliederungshilfe. Eine randomisierte Verteilung auf Interventions- und Kontrollgruppe ist hier praktisch ebenso wenig durchführbar wie eine Kontrollbedingung, bei der Abhängige nicht oder später behandelt werden (Warte-Kontroll-Bedingung). Die Aussagekraft der Studie wird dadurch begrenzt. Die Ergebnisse sind nicht generalisierbar, ebenso wenig behaupten wir kausale Nachweise im Sinne eines Ursache-Wirkungszusammenhangs (Treischl & Wolbring, 2020).

    Von der Veränderungsfeststellung zur Plausibilisierung

    Wirkung muss nachvollziehbar beschrieben werden (Weiland, 2019). Die systematische Messung der individuellen Qualität des Lebens gibt Aufschluss darüber, ob gewünschte Veränderungen erreicht werden konnten oder ob negative Entwicklungen eingetreten sind, die nicht intendiert waren. Zudem kann beurteilt werden, ob ein stabiler Zustand positiv, wie geplant, gehalten wurde oder ob sich die Lebensqualität verschlechtert hat. Die systematische Auseinandersetzung mit den erhobenen Daten ist Bedingung für eine Plausibilisierung von Veränderungen.

    Die plausibilisierte Beschreibung des Zustandekommens des Outputs – und seiner Bedeutung für die Person (persönliches Outcome) – ist wesentlich für die Messung der individuellen Qualität des Lebens. Dieses Wissen führt, sofern es reflektiert und genutzt wird, auch zur Erweiterung der Handlungskompetenz und stärkt die Selbstwirksamkeit. Der/die Betreffende lernt aus dem Prozess und ist für die Zukunft besser gewappnet. Somit entsteht ein langfristiger Nutzen.

    Auch für Einrichtungen und die Prozessbeteiligten ist es sinnvoll, Wirkungsorientierung zu etablieren. Es ist zu definieren, aufgrund welcher Faktoren sich Effekte manifestieren. Hier sind die Organisationen aufgefordert, herauszuarbeiten und zu gewichten, in welchen Kontexten sich Wirkung darstellt. Wirkung kann in drei Dimensionen festgestellt werden: auf der individuellen Ebene (Deutscher Verein, 2022, S. 9 u. 12), im Bereich des Sozialraums sowie innerhalb der Organisationskultur. Welchen Einfluss haben z. B. Fachkräftemangel und ÖPNV-Situation? Ferner wären Klientenbeiräte zu bilden, die sich an Fokusgruppen zur Auswertung beteiligen. Schließlich sind Managementteams gefragt, die die Ergebnisse der betrieblichen Planungsprozesse im Hinblick auf ökonomische, rechtliche, inhaltliche, aber auch organisationskulturelle Wirkfaktoren auswerten. Wie ist der Stand beim Thema „gelebtes Leitbild“, gibt es eine Organisationskultur, die Mitarbeitende einbezieht?

    Der Königsweg könnte also ein innerbetrieblicher Reflexionsprozess sein, der die wichtigsten und dringendsten Wirkannahmen herausarbeitet. Diese Annahmen sollten mit denjenigen empirischen Informationen abgeglichen werden, die man aus den POS-Interviews ziehen kann. Wo taucht z. B. Corona, Sozialraum, ÖPNV auf, welche Auswirkung hat dies individuell? Und auch mit 100 Interviews pro Jahr lässt sich eine Querschnittsanalyse erstellen, mit der die Organisation arbeiten kann, um einen Wirksamkeitsnachweis zu erhalten. (Die drei deutschen POS-Anwenderorganisation haben 2022 insgesamt 1.049 POS-Interviews durchgeführt.)

    Mut zur Wirkungsanalyse

    In der Praxis wird deutlich, dass die POS auf drei Ebenen ihre Wirkung entfaltet. Auf der Mikroebene liefert sie Ergebnisse über die individuelle Qualität des Lebens einer Person und ermöglicht es somit, konkrete Rückschlüsse auf die direkte Klientelarbeit zu ziehen. Aus den Einschätzungen und Aussagen der Klientel können Impulse für die Unterstützung, die Angebote und das Setting gewonnen werden. Diese Ebene betrifft die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen Klient:innen und Assistenz und dient dazu, die gewonnenen Informationen in die Klientelarbeit im Sinne eines individuellen Unterstützungsplans zu überführen und Veränderungen im Laufe der Jahre zu verstehen. Dabei sind insbesondere auch die qualitativen Anmerkungen von Bedeutung, die während des POS-Interviews zusätzlich zur Eintragung in die Skalen festgehalten werden.

    Im Hinblick auf die Organisationsentwicklung sollen die gewonnenen POS-Ergebnisse in Kombination mit anderen Evaluationsergebnissen zur Weiterentwicklung und Verbesserung der Angebote beitragen. Diesen Prozess gilt es konzeptionell zu planen und zu steuern. Er ermöglicht die passgenaue Ausrichtung von Strukturen und Prozessen auf die Teilhabewünsche und Teilhabeerfordernisse der Klientinnen und Klienten. Dabei verfolgen wir das Ziel, mithilfe von Fach- und Analyseteams Wirkfaktoren zu ermitteln, mit denen Veränderungen hinsichtlich der Lebensqualität der Klientel – empiriegestützt (vgl. z. B. die Corona-Studie von Sozialwerk St. Georg/XIT, 2021) und theoretisch plausibel – erklärt werden können. Zu diesen Wirkfaktoren gehören beispielweise Personalprobleme, die zu mehr Fremdarbeitseinsatz führen, oder die Kontinuität von Leitungen und Teams, die zu mehr oder weniger stabiler Teilhabearbeit führt, oder die Organisation der BTHG-Umsetzung, die Einfluss auf Ziele und Wirkungen hat.

    Im nächsten Entwicklungsschritt werden aggregierte Interviewergebnisse über mehrere Jahre hinweg erfasst, evaluiert und zur operativen und strategischen Entwicklung nutzbar gemacht.

    Ferner können auch die aggregierten, visualisierten qualitativen Kommentare zur Rückkopplung der Ergebnisse genutzt werden. Die Trends aus den Interviews können gemeinsam mit der Klientel (in Gruppensitzungen oder in Arbeitskreisen) konkretisiert und für die Assistenz fruchtbar gemacht werden.

    Auf der Makroebene geht es um das Benchmarking von gleichen oder unterschiedlichen Einrichtungstypen, um Erkenntnisse darüber, wie Einrichtungstypen sich auf die Teilhabequalität der Klientel auswirken und welchen Einfluss bestimmte (auch externe) Faktoren haben. Diese Informationen sind zunächst losgelöst von der praktischen Einrichtungsebene und können nach Auswertung wieder in die Einrichtungen zurückgeführt werden. Zudem können die gewonnenen Erkenntnisse Eingang in den sozialpolitischen Diskurs finden (Kurz & Kubek, 2013).

    Letztlich geht es darum, die gewonnenen Erkenntnisse für die Betreuungssituation nutzbar zu machen. Wenn keine kausalen Wirkungsnachweise erbracht werden können, ist die Darstellung von Wirkungsplausibilität das Mittel der Wahl. Ein teilhabeorientiertes Interview weist in diesem Kontext im Vergleich zu Fremdratings oder anderen Verfahren deutliche Vorteile auf, vor allem ist die Durchführung der POS-Interviews im Arbeitsalltag wesentlich unaufwändiger als eine andere im wissenschaftlichen Setting durchgeführte Untersuchung. Interviews liefern außerdem zusätzlich Anamnesedaten und Erkenntnisse über Bedarfe.

    Mit der POS steht ein Instrument zur Verfügung, welches Aussagen zur Teilhabe und Wirkungsorientierung liefert. Dieses Instrument gilt es nun in der Kombination von Wissenschaft und Praxis zum Wohle der Klientel nutzbar zu machen, damit wir uns endlich über Ergebnisse austauschen, nicht bloß über Annahmen.

    Kontakt und Angaben zu denAutor:innen

    Frank Löbler
    Sozialwerk St. Georg e.V.
    Ressortleiter Qualität/Qualitätsmanagementbeauftragter
    Master Trainer POS-Deutschland
    Uechtingstraße 87, 45881 Gelsenkirchen
    Telefon: 0209 7004 320
    f.loebler@sozialwerk-st-georg.de

    Sandra Schneider
    Sozialwerk St. Georg e.V.
    Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    Ressort Qualität
    Telefon: 0209 7004 322
    S.Schneider@sozialwerk-st-georg.de

    David Schneider, Dipl.-Soziologe
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Evaluation & Bildungskoordination
    Gutleutstraße 160-164, 60327 Frankfurt
    Telefon: 069 743480 13
    david.schneider@jj-ev.de

    Konstantin Loukas, Dipl.-Soziologe
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Fachbereichsleitung Eingliederungshilfe
    Telefon: 069 743480-49
    konstantin.loukas@jj-ev.de

    Literatur:
    • Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt am Main.
    • Bernshausen, G., Löbler, F. (2019): Innovation personenbezogener Dienstleistungen als Prozess.
    • Busch, Hans-Joachim (2001): Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Weilerswist
    • Claes, C., Van Hove, G., van Loon, J., Vandevelde, S., & Schalock, R. L. (2010): Quality of life measurement in the field of intellectual disabilities: eight principles for assessing quality of life-related personal outcomes. SOCIAL INDICATORS RESEARCH, 98(1), 61–72. https://doi.org/10.1007/s11205-009-9517-7
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  • Die Kinder mitnehmen

    Die Kinder mitnehmen

    Nathalie Susdorf
    Gotthard Lehner

    In Hutschdorf bei Thurnau (Landkreis Kulmbach – Oberfranken – Bayern) gibt es zukünftig zwei Einrichtungen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: suchtmittelabhängige Frauen und deren Kinder auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft nachhaltig zu unterstützen. Das ist zum einen die DGD Fachklinik Haus Immanuel, eine Rehabilitationseinrichtung zur Behandlung suchtmittelabhängiger Frauen, sowie das derzeit noch im Bau befindliche DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“, das voraussichtlich Ende des Jahres fertiggestellt wird. Den beiden Institutionen angeschlossen ist die Kindertagesstätte „Kindernest“, die sich ebenfalls auf dem Gelände in Hutschdorf befindet.

    Die DGD Fachklinik Haus Immanuel – Mit dem Aufhören anfangen

    DGD Fachklinik Haus Immanuel

    In idyllischer Lage nahe der oberfränkischen Städte Kulmbach, Bayreuth und Bamberg liegt innerhalb eines parkähnlichen Areals die DGD Fachklinik Haus Immanuel. Das Haus behandelt seit 1907 alkoholabhängige Menschen, seit 1961 ausschließlich suchtmittelabhängige Frauen. Heute zählt die Klinik zu den modernsten Suchtkliniken Bayerns. In den letzten Jahren rückten die Mitbetreuung und Förderung von Kindern immer stärker in den Fokus. So wurde 2012 eine heilpädagogische Kindertagesstätte, das Kindernest, eröffnet. Die DGD Fachklinik Haus Immanuel gehört ebenso wie das neue Mutter-Kind-Zentrum zur DGD-Stiftung (DGD steht für Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband) in Marburg. Pro Jahr werden etwa 250 suchtkranke Frauen und ca. 50 Kinder aufgenommen, die ihre Mütter während der Therapie begleiten. Für viele Rehabilitandinnen ist dies ein wichtiger Schritt für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern.

    Wohnen im Haus Immanuel

    Der familiäre Charakter der Klinik ist eine ideale Grundlage, um Rehabilitandinnen auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft zu unterstützen und nachhaltige Therapieerfolge bei alkohol- und medikamentenabhängigen Frauen zu erreichen.

    Der Klinikkomplex verfügt über 60 Therapieplätze für Frauen zwischen 18 und 75 Jahren. Zudem bietet die DGD Fachklinik Haus Immanuel eine gemeinsame Mutter-Kind-Therapie an. Bis zu 12 Kinder können ihre Mütter zur Behandlung nach Hutschdorf begleiten und werden im klinikeigenen Kindernest betreut. Jeder Mensch hat Anspruch auf Privatsphäre, deshalb bewohnen die Rehabilitandinnen moderne Einzelzimmer, die zu Wohngruppen mit max. zwölf Personen gehören. Die Mütter wohnen mit ihren Kindern jeweils in zwei zusammenhängenden Zimmern.

    Gemeinsame Mahlzeiten, kreatives Arbeiten, Begegnungen mit anderen, aktive oder stille Entspannung sind wichtige Komponenten einer erfolgreichen Therapie. Für Entspannung und therapeutische Anwendungen stehen zudem ein hauseigenes Schwimmbad, eine Sporthalle mit Kletterwand, ein Beachvolleyballfeld sowie eine Minigolfanlage zur Verfügung. Auch Spaziergänge und Ausflüge gehören zum Programm. Der soziale Gedanke, sich gegenseitig zu helfen und zu stärken, unterstützt nicht nur den Therapieerfolg, sondern hilft auch dabei, wieder auf Menschen zugehen zu können.

    Während ihrer Therapie werden die Rehabilitandinnen von einem multiprofessionellen Team aus etwa 70 Kolleg:innen aus verschiedenen Fachbereichen betreut. Die Mitarbeitenden aus den Bereichen Medizin, Sucht- und Psychotherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sporttherapie sowie Pädagogik, Sozialarbeit und Seelsorge begleiten die Frauen während ihres 15-wöchigen Aufenthalts im Haus Immanuel. Dabei werden die suchtkranken Frauen nach einem ganzheitlichen Ansatz behandelt. Neben medizinischen und therapeutischen Maßnahmen wird besonderer Wert auf ein Umfeld gelegt, das Körper und Seele guttut.

    Die Behandlung gliedert sich in drei Phasen:

    • Besinnungsphase
    • Intensivphase
    • Belastungsphase

    In allen Phasen wird auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen eingegangen. Jede Rehabilitandin wird bereits ab der ersten Woche einem/einer Bezugstherapeut:in zugeordnet. Neben Einzel- und Gruppentherapie werden verschiedene indikative Gruppen sowie eine integrierte Traumatherapie angeboten.

    Behandlungsangebot der DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Medizinische Versorgung

    Die medizinische Versorgung der Rehabilitandinnen wird durch erfahrene Ärzt:innen gewährleistet. Zu Beginn der Behandlung wird ein individuelles Behandlungskonzept festgelegt. In diesem Rahmen wird auch der Umfang der begleitenden Maßnahmen wie Schwimmen im Hallenbad, Kneippen, Waldlauf und Gymnastik bestimmt. Zur Linderung des Suchtdrucks wird auch Akupunktur angeboten.

    Psycho-/Sozialtherapie

    Der/die Bezugstherapeut:in ist Ansprechpartner: in für alle Belange, Fragen und Krisen der Rehabilitandinnen. Eine wesentliche Hilfe bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Vorgeschichte ist die wöchentliche psychotherapeutische Einzeltherapie. In der Gruppentherapie, die dreimal wöchentlich stattfindet, erarbeiten die Rehabilitandinnen gemeinsam ein Verständnis für ihre Abhängigkeitserkrankung und suchen nach Lösungsmöglichkeiten für einen Ausstieg aus der Sucht.

    Arbeits- und Ergotherapie

    Ein Aufenthalt im Haus Immanuel soll Rehabilitandinnen wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Ziel ist die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Hierfür stehen die arbeitstherapeutischen Bereiche Büro, Handwerk, Garten, Hauswirtschaft und Küche zur Verfügung. Bei Bedarf erhalten arbeitssuchende Rehabilitandinnen auch PC- und Bewerbungstraining. Bei der Ergotherapie sollen kreative Fähigkeiten (wieder)entdeckt und gefördert werden. Dies vermittelt Erfolgserlebnisse und stärkt das Selbstwertgefühl.

    Physiotherapie

    Bewegung und Entspannung sind wichtig, um ein Gefühl für den eigenen Körper und seine Leistungsfähigkeit zu bekommen. Angeboten werden z. B. Lauftraining, Nordic Walking, Rückenschule, Fahrrad fahren, Massagen und Wassergymnastik. Die Physiotherapeut:innen der Klinik entwickeln für jede Frau einen passenden Therapieplan. Darüber hinaus wurde die Behandlung der Rehabilitandinnen um das Angebot des therapeutischen Kletterns erweitert.

    Mutter-Kind-Therapie

    Es wird oft vergessen, dass Kinder besonders unter der Suchterkrankung eines Elternteils leiden. Die Mutter-Kind-Einrichtung in der DGD Fachklinik Haus Immanuel kümmert sich darum, die oftmals gestörte Mutter-Kind-Beziehung zu verbessern und den Kindern wieder eine tragfähige Beziehung zur Mutter zu ermöglichen. Die Mütter bilden eine eigene Therapiegruppe im Haus, das Programm ist auf ihre spezielle Situation abgestimmt.

    Traumatherapie

    Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt bei alkohol- oder medikamentenabhängigen Frauen etwa dreimal häufiger auf als bei männlichen Rehabilitanden. Die PTBS-Therapie ist deshalb ein wesentlicher Baustein einer ganzheitlichen und nachhaltigen Behandlung suchtkranker Frauen und damit fester Bestandteil des Therapieangebots. Ziel ist es, dass die Frauen lernen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, um so die Heilungschancen für die Suchterkrankung langfristig zu verbessern.

    Seelsorge

    Auch die Seelsorge wird im Haus Immanuel großgeschrieben. Unabhängig davon, wie die Rehabilitandinnen zur Kirche stehen, nimmt sich eine Seelsorgerin gerne Zeit für sie. Für die persönliche Ruhe steht ein „Raum der Stille“ zur Verfügung, der jederzeit genutzt werden kann. Die Rehabilitandinnen sind auch herzlich zur wöchentlichen Andacht eingeladen. Hier wird gemeinsam gesungen, gebetet oder sich zu einem biblischen Thema ausgetauscht.

    Mütter und Kinder profitieren gemeinsam

    Die neue Kita „Kindernest“, die im Zuge des Neubaus des Mutter-Kind-Zentrums erweitert wird

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder mit abhängigkeitskranken Müttern und/oder Vätern zusammen. Dadurch laufen sie ganz besonders Gefahr, in ihrem späteren Leben ebenfalls von Alkoholmissbrauch und psychischen Folgeerkrankungen betroffen zu sein. In der DGD Fachklinik Haus Immanuel können bis zu zwölf Begleitkinder betreut werden, während die Mütter ihre Therapie absolvieren: Säuglinge und Kleinkinder im klinikeigenen Kindernest, die Schulkinder besuchen Bildungseinrichtungen in der Region. Auch schwangere Frauen sind in der DGD Fachklinik Haus Immanuel herzlich willkommen.

    Die freundlich und kindgerecht gestalteten Wohn- und Spielbereiche werden Kindern aller Altersgruppen gerecht. Auch die Außenbereiche bieten ideale Bedingungen für eine abwechslungsreiche Gestaltung des Tages. Trampolin, Minigolf, Spielplätze und Kletteranlagen stehen zur Verfügung. Vor allem der neu angelegte Waldspielplatz bietet hervorragende Möglichkeiten für die Kinder, die (häufig wenig bekannte) Natur zu erkunden. Die Kinder spielen vorwiegend mit den Dingen, die sie im Wald oder auf dem Feld vorfinden. Daneben können sie ihren eigenen Garten bepflanzen und bewirtschaften. Und bei schlechtem Wetter bietet der liebevoll gestaltete Bauwagen Unterschlupf zum Geschichten erzählen, Malen, Basteln und Essen.

    Wenn Tiere der Seele guttun – tiergestützte Therapie

    Neu hinzukommen wird ein Therapieangebot mit Ponys und Alpakas. Dies soll die individuelle Entwicklung der Frauen und Kinder fördern. Durch die tiergestützte Therapie wird z. B. die Sinneswahrnehmung geschärft, das Selbstbewusstsein und die (soziale) Verantwortung werden gestärkt. Gerade Kindern fällt es leichter, über die Betreuung eines Tieres in die Therapie einzusteigen (das Tier als Eisbrecher) oder auch mögliche Einsamkeit zu überwinden (das Tier als Freund). Darüber hinaus werden auf dem weitläufigen Gelände der DGD Fachklinik Haus Immanuel mehrere Bienenvölker angesiedelt. Die Therapeut:innen pflegen gemeinsam mit den Müttern und Kindern die Bienenstöcke, schleudern Honig und ziehen Kerzen, die in der Region vermarktet werden sollen.

    Trotzt aller Bemühungen und Therapiemöglichkeiten kann nicht in jedem Behandlungsfall eine positive Prognose gestellt werden. Die Rückfallrate von suchtkranken, rehabilitierten Frauen liegt immerhin bei 50 Prozent. Immer wieder sucht das Haus Immanuel nach Nachsorgeeinrichtungen für Mütter mit ihren Kindern, die es aber leider in der Form nicht gibt. Um den Rehabilitandinnen und ihren Kindern gerecht zu werden, reifte der Entschluss, selbst ein neues Mutter-Kind-Zentrum zu bauen, das derzeit in direkter Nachbarschaft zur DGD Fachklinik Haus Immanuel fertiggestellt wird.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ – Zurück in ein eigenverantwortliches Leben

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder in einem Haushalt mit alkoholmissbrauchenden oder -abhängigen Eltern. Das bedeutet, ca. jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf. Über das Thema Abhängigkeit wird im Allgemeinen nur selten gesprochen, und wenn doch, zumeist nur sehr abwertend. Die Frauen, die in der Fachklinik Haus Immanuel behandelt werden, kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Traumatische Erlebnisse, gestörte Beziehungen oder auch finanzielle Probleme führten in ihre Abhängigkeitserkrankung. Darunter leiden nicht nur die Frauen selbst. Auch Freunde und Familie tragen die Last mit. Besonders schwer haben es die Kinder.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Die ständige Sorge und Ungewissheit beeinflussen ihre Entwicklung oft negativ und haben langfristige Auswirkungen. So ist das Risiko dieser Kinder, selbst suchtkrank zu werden, im Vergleich zu Kindern aus nicht suchtbelasteten Familien bis zu sechsmal höher. Mit dem Bau des neuen DGD Mutter-Kind-Zentrums „Rückenwind“, an das auch die Kita Kindernest angeschlossen sein wird, sollen vor allem die Kinder unterstützt werden. Sie werden gemeinsam mit ihren meist noch jungen Müttern betreut und begleitet. An oberster Stelle steht dabei das Kindeswohl.

    Die neue Einrichtung bietet Platz für zwölf Mütter, die eine Entwöhnungsbehandlung in einer Suchtrehabilitationseinrichtung abgeschlossen haben, und bis zu 16 Kinder. Es sind insgesamt zwölf Wohnungen mit zwei bis vier Zimmern geplant. Durch vielfältige Vernetzungen zu anderen professionellen Hilfswerken (z. B. zur Sprachförderung, Spezialisten für FASD, Sonderschulpädagogik) soll die Rückkehr zur Teilhabe an der Gesellschaft vereinfacht werden. Grundlegend ist hier die Gewöhnung an realitätsnahe und gelingende Alltagsstrukturen, sowohl für die Mütter als auch für die Kinder. Mütter und Kinder sollen auf dem Weg in ein eigenverantwortliches Leben unterstützt werden. Auch die soziale Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft wird gefördert. Mütter und auch Kinder finden wieder ihren Platz im sozialen Umfeld. Im Idealfall gehen Mütter (wieder) einer beruflichen Tätigkeit nach, Kinder können ihre schulischen Leistungen verbessern und weiterführende Schulen besuchen.

    Wer wird im Mutter-Kind-Zentrum aufgenommen?

    Das Angebot der Mutter-Kind Einrichtung richtet sich an ehemals abhängigkeitskranke Frauen mit Kindern, die nach § 19 SGB VIII einen Hilfebedarf haben. Eine Altersbegrenzung der Mutter ist nicht gegeben. Die Mutter sollte im Regelfall eine Entwöhnungsbehandlung erfolgreich abgeschlossen haben, und die Kinder sollten sie als sog. Begleitkinder in der Therapie begleitet haben. Es sollen auch Mütter aufgenommen werden, die aufgrund einer richterlichen Anordnung die Weisung haben, eine Mutter-Kind-Einrichtung aufzusuchen, da ihnen ansonsten die elterliche Sorge entzogen wird. Nach §§ 113 ff. und 123 ff. SGB IX wird Eingliederungshilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen geleistet. Durch das Hilfsangebot für ehemals abhängigkeitskranke Mütter und Schwangere sollen aktuelle Krisen- und Notfallsituationen im Schutze einer stationären Unterbringung überwunden werden. Bei den Kindern wird der Förderbedarf durch das Jugendamt festgestellt.

    Die Problematik FASD

    Man kann davon ausgehen, dass mindestens 1/3 der Kinder, die zukünftig im DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ aufgenommen werden, unter dem Syndrom FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) leiden. Nach Schätzungen der ehemaligen Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler werden jedes Jahr in Deutschland ca. 10.000 Kinder mit dieser Behinderung geboren (Mortler, 2018). Diese Beeinträchtigung entsteht, wenn Frauen während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren und damit das Kind schädigen.

    Kinder mit FASD weisen erhebliche Störungen auf. So kann mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu Wachstumsauffälligkeiten des Kindes führen. Typischerweise sind die Kinder mit FASD bereits bei der Geburt klein und leicht. Sie bleiben dystroph bis mindestens im Grundschulalter. Darüber hinaus führt eine Alkoholschädigung im Mutterleib zu schwerwiegenden und lebenslang andauernden Defiziten im kognitiven Bereich. Kinder mit FASD können eine globale Intelligenzminderung (IQ < 70) haben. Viele Betroffene weisen ein sehr heterogenes Profil mit Stärken in den sprachgebundenen Intelligenzleistungen und deutlichen Schwächen im logischen Denken, in der Arbeitsgeschwindigkeit, der Konzentration und in zahlengebundenen Aufgaben auf.

    Viele Kinder mit FASD haben eine auditive und/oder visuelle Gedächtnisstörung. Dadurch müssen Lerninhalte sehr häufig wiederholt werden – unabhängig davon, ob es sich um Alltags- oder Schulaufgaben handelt. Die Geduld und die Resilienz der Bezugsperson werden sehr stark beansprucht.

    Die häufigste Begleitstörung bei Kindern mit FASD ist jedoch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Davon betroffene Kinder benötigen eine ständige Begleitung und/oder Unterstützung.

    Zu den psychosozialen Entwicklungsrisiken von Kindern mit FASD zählen langfristig frustrierende Lebenserfahrungen wie Schulabbrüche, soziale Isolation, Stigmatisierung, Obdachlosigkeit und ein fehlendes soziales Netz. Laut einer Studie von Spohr & Steinhausen (2008) hatten nur 13 Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen wenigstens einmal einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. 27 Prozent der von FASD betroffenen Erwachsenen lebten in Institutionen, 35 Prozent im betreuten Wohnen, 8 Prozent bei den Eltern, 14 Prozent unabhängig, 8 Prozent mit einem Partner und 8 Prozent mit einer eigenen Familie.

    Das Hilfsangebot im Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Das individuelle Hilfsangebot richtet sich nach den Stärken bzw. Schwächen der Frau sowie dem Förderbedarf des Kindes. Im interdisziplinären Team werden die verschiedenen Aspekte der Behandlung besprochen, und es wird eine zeitliche Perspektive der Förderung von Mutter und Kind festgelegt.

    Beziehungsarbeit

    Eine tragfähige und vertrauensvolle professionelle Beziehung zwischen der Mutter und der Bezugstherapeutin bildet die Basis, auf der alle sozialpädagogischen und therapeutischen Interventionen aufbauen.

    Soziale Einzelfallhilfe

    In der Einzelfallhilfe wird die geplante Maßnahme mit der Mutter besprochen. Dabei werden ihre Vorstellungen berücksichtigt, und es erfolgt die konkrete Umsetzung. Die Einzelfallhilfe beinhaltet:

    • Krisenintervention
    • Beratungs- und Informationsgespräche
    • Planungs-, Organisations- und Strukturierungshilfen (Wochenplan, Haushaltsplan)
    • Abstinenzsicherung
    • Motivationsarbeit
    • Anleitung (bei Bedarf für Versorgung des Kindes, hauswirtschaftliche Tätigkeiten …)
    • Erweiterung der Erfahrungen und des Lebensraums (Freizeitaktivitäten …)
    • Reflexion des Erziehungsverhaltens – ggfs. zusammen mit dem Kind/den Kindern
    Pädagogische Arbeit mit dem Kind

    Die pädagogische Arbeit mit dem Kind findet zu einem großen Teil in der hauseigenen Kita Kindernest mit zwei heilpädagogischen Gruppen statt. Dabei sollen je nach Alter der Kinder folgende Programme durchgeführt werden:

    • Papilio U3
    • Papilio (3.–6. Lebensjahr)
    • Trampolin (6.–12. Lebensjahr)

    Papilio ist ein Programm zur Förderung der psychosozialen Gesundheit und zur Prävention von Verhaltensproblemen für Kinder in Kindertagesstätten und Kindergärten. Die Arbeit der Erzieherinnen/Heilpädagoginnen beinhaltet dabei u. a. die Entwicklungsbeobachtung und -förderung, die Sicherstellung der materiellen und der emotionalen Bedürfnisse des Kindes, die Freizeitgestaltung sowie das Netzwerken mit Frühfördereinrichtungen.

    Sozialpädagogische Arbeit mit den Müttern

    Um die Erziehungskompetenz der Mutter zu fördern, werden folgende Maßnahmen angeboten:

    • Mutter-Kind-Gruppe
    • Elterncoaching
    • Anleitung im Umgang mit dem Kind
    • Einbeziehung der Kinder in den Alltag
    • Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung
    Soziale Gruppenarbeit

    Die Gruppe bildet ein lebensnahes Umfeld, in dem sich die Mütter in schwierigen Situationen gegenseitig Hilfestellung geben können, sich in der Kinderbetreuung unterstützen und auch soziale Fähigkeiten ausbauen können. Folgende Gruppenaktivitäten werden in neuen DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ angeboten:

    • Freizeitgestaltung, Ausflüge
    • Organisation und Feiern von Festen (private und religiöse)
    • Gemeinsame Projekte
    • Sport
    • Kochen
    • Entspannungsübungen (Jacobson, Autogenes Training, Akupunktur …)
    • Jahresfeste
    • Kreative Beschäftigungen für Mütter und Kinder wie Malen, Basteln, Töpfern
    Sozialpädagogische Arbeit mit dem Umfeld

    Das soziale Umfeld der Frauen kann Ressourcen und Unterstützung bereithalten. Dies gilt es zu nutzen. Ebenso können aber auch Konflikte durch die Partner, die Kindsväter oder die Herkunftsfamilie bestehen. Die eigene Biografie zu verstehen, in eine Unabhängigkeit hineinzuwachsen und Beziehungen zu klären, sind Ziele in diesem Bereich. Hierfür besteht folgendes Angebot:

    • Einbeziehung der Väter und/oder der Partner: Paargespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit der Herkunftsfamilie: Angehörigengespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit dem Freundeskreis: Klärung von Beziehungen, Abbau von Gefährdungen, Stärkung von Ressourcen, Aufbau von stabilisierenden Sozialkontakten
    • Psychoedukation: Wie kann ich meine Krankheit besser verstehen und bewältigen?
    • Umgang mit Depressionen
    • Vermeidung von Rückfällen
    Kooperation mit externen Stellen

    Die Zusammenarbeit mit externen Einrichtungen ist wichtig, um den Frauen eine umfassende Nutzung des medizinischen und sozialen Hilfespektrums zu ermöglichen. Mit folgenden Einrichtungen kooperiert das Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“:

    • Jugendamt
    • Kinderärzt:innen
    • Ärzt:innen aller Fachrichtungen, Kliniken
    • Frühfördereinrichtungen
    • Schulen, Beratungs- und Förderzentrum (BFZ), Ausbildungs- und Arbeitsstellen
    • Psychotherapeut:innen
    • Beratungsstellen
    • Ämter, Behörden, Polizei, Opferhilfe Oberfranken (Weißer Ring)
    • Mutter-Kind-Gruppen
    • Arbeitskreise
    • DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Darüber hinaus findet Vernetzungsarbeit mit anderen Mutter-Kind-Einrichtungen und den verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe statt.

    Insgesamt steht den Müttern und ihren Kindern ein breit gefächertes Angebot pädagogischer, medizinischer, therapeutischer und psychologischer Hilfen zur Verfügung. Das DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ wird an 365 Tagen im Jahr geöffnet sein. Die Präsenz einer pädagogischen Fachkraft ist rund um die Uhr gewährleistet. Die Kita Kindernest mit ihren zwei heilpädagogischen Gruppen für Kinder und Jugendliche im Alter von 0–18 Jahren hat an allen Werktagen im Jahr geöffnet. Die offizielle Eröffnung der neuen Einrichtung ist für Anfang 2023 geplant.

    Literatur bei den Autor:innen

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Gotthard Lehner, Klinikleiter
    Nathalie Susdorf, Öffentlichkeitsarbeit

    DGD Fachklinik Haus Immanuel
    Hutschdorf 46
    95349 Thurnau-Hutschdorf
    Tel. 09228 / 99 68-0
    E-Mail: info(at)haus-immanuel.de

    www.dgd-haus-immanuel.de
    www.dgd-rueckenwind.de
    www.dgd-kliniken.de

  • rehapro-Projekte in der Suchtreha

    rehapro-Projekte in der Suchtreha

    Im Rahmen des ersten Förderaufrufs des Bundesprogramms „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ werden seit Herbst 2019 55 Modellprojekte gefördert. Darunter befinden sich auch rund ein Dutzend Projekte, die in der Suchtreha verankert sind. Drei dieser Projekte, die in Mitgliedseinrichtungen des buss durchgeführt werden, sollen hier näher vorgestellt werden. Die zuständigen Mitarbeiter*innen berichten, welche Ziele die Projekte verfolgen und welche Maßnahmen umgesetzt werden.


    Ein rehapro-Projekt im Nordwesten: SEMRES – Mit Lotsen und dem Rehakompass aus rauer See in den richtigen Hafen!

    Projektname: SEMRES – Steuern mit dem Rehakompass: Alle in einem Boot. Schnittstellenmanagement zur frühzeitigen Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs und rechtzeitigen Vermittlung in die Rehabilitation von Menschen mit Suchterkrankungen

    Dr. Natalie Schüz
    Martina Jährmann-Rittner
    Dr. Ulrich Böhm

    Seit Jahren gehen die Anträge für Suchtrehabilitation zurück. Zudem wissen wir, dass es durchschnittlich mehr als zehn Jahre dauert, bis Suchtkranke in der medizinischen Rehabilitation für Abhängigkeitserkrankte ankommen. Die Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen hat in Kooperation mit der Fachklinik Weser-Ems, dem RehaCentrum Alt-Osterholz sowie der Fachstelle Sucht Oldenburg und der Ambulanten Suchthilfe Bremen über den Fördertopf rehapro einen Antrag beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingereicht, um neue Zugangswege in die Rehabilitation zu kreieren. Die Projektidee wurde bewilligt, das Projekt ist angelaufen und soll zunächst bis Ende 2024 evaluiert und, wenn erfolgreich, verstetigt werden. Die wissenschaftliche Begleitforschung wird über die Hochschule Emden/Leer unter Leitung von Prof. Knut Tielking durchgeführt.

    Was bedeutet SEMRES und was soll konkret erfolgen?

    SEMRES bedeutet: Schnittstellenmanagement zur frühzeitigen Ermittlung des Rehabedarfs und rechtzeitigen Vermittlung in die Reha bei Suchterkrankungen.

    Die so genannten Lotsen sind angestellte Psycholog*innen und Gesundheitswissenschaftler*innen der DRV Oldenburg-Bremen. In einem ersten Schritt schulen sie Netzwerkpartner darin, Menschen mit psychischen Belastungen und/oder problematischem Konsum in ihren Lebenswelten anzusprechen und in das Projekt zu vermitteln. Zu den Netzwerkpartnern gehören:

    • Sozialleistungsträger (z. B. Jobcenter, Arbeitsagenturen, Krankenkassen),
    • betriebliche Strukturen (z. B. IHK, Arbeitgeberverband),
    • medizinische Strukturen (Hausärztenetz, Psychotherapeutenkammer, Verband der Betriebs- und Werksärzte) und
    • soziale Strukturen (z. B. Sportvereine, Familienberatungsstellen).

    Die Zielgruppe sind Menschen mit zu erwartenden oder beginnenden Rehabilitationsbedarfen. Die identifizierten Problemfelder weisen dabei auf eine Abhängigkeitserkrankung oder psychische Beeinträchtigungen hin.

    In einem zweiten Schritt weisen die geschulten Netzwerkpartner Menschen aus der Zielgruppe den Lotsen zu. In einem strukturierten Anamnesebogen werden gezielt Symptome erfragt, die psychische Beeinträchtigungen erfassen, aber auch suchtbedingte Störungen. Bei ausreichenden Hinweisen für eine substanzbedingte Störung vermitteln die Lotsinnen und Lotsen schließlich die betreffenden Personen in den Rehakompass.

    Was findet im „Rehakompass“ statt?

    Die von den Lotsinnen und Lotsen akquirierten Teilnehmer*innen erhalten im Sucht-Rehakompass über zwei Tage im Rahmen von neun Modulen einen Einblick in die Behandlungsangebote und Räumlichkeiten einer Rehabilitationsklinik für Abhängigkeitserkrankte, und sie bekommen Informationen und Empfehlungen bezüglich ihres persönlichen Rehabilitationsbedarfs. Sie begegnen Mitarbeitenden der Fachklinik, der kooperierenden Suchtberatungsstelle und aktuellen Rehabilitanden. Über Psychoedukation erweitern sie ihr Wissen über Suchterkrankungen und werden sensibilisiert, kritisch ihren Umgang mit Suchtmitteln zu betrachten.

    An Tag 1 beginnt die Maßnahme mit einer Vorstellung der verantwortlichen Mitarbeitenden, der Fachklinik sowie der Ziele des Rehakompasses. Die Teilnehmer*innen lernen sich kennen, und ihre Erwartungen werden erfragt (Modul 1). Im Anschluss erfolgt ein Gesundheitscheck, der die Ermittlung von Laborwerten, eine Anamnese und eine fachärztlich orientierende Untersuchung umfasst. Parallel wird eine Psychodiagnostik durchgeführt, die auf die Bereiche berufliche Teilhabe und aktuelle psychische Beschwerden ausgerichtet ist (Modul 2). Am Nachmittag findet je nach aktueller Corona-Situation entweder ein analoger oder ein virtueller Rundgang durch die Einrichtung statt. Idealerweise stellen Mitarbeitende einzelner Berufsgruppen ihr Angebot vor (Modul 3). Im anschließenden Modul 4 wird es durch eine Psychoedukation zum Thema Stress und Belastungen persönlicher. Inhaltlich geht es um die Identifikation des individuellen Stressgeschehens, die Reflexion individueller Stresserfahrungen sowie den individuellen Suchtmittelkonsum als dysfunktionalem Stressbewältigungsmechanismus. Nach kurzer Pause steht das psychische Wohlbefinden im Mittelpunkt. Die Teilnehmer*innen lernen verschiedene Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen kennen (Modul 5). Der erste Tag endet mit einem Rückblick und einem Ausblick auf Tag 2.

    Der zweite Tag startet mit einer Psychoedukation zu den Themen Abhängigkeit, Suchtmittelmissbrauch und deren Folgen. Die Vermittlung allgemeinen Wissens dazu und ein Fragebogen zum individuellen Suchtmittelkonsum sollen zu einer kritischen Reflexion des eigenen Konsumverhaltens anregen (Modul 6). Die verbleibende Zeit am Vormittag ist der Vorstellung des lokalen Hilfesystems sowie der Inhalte und des Ablaufs einer Rehabilitations-/Präventionsmaßnahme vorbehalten (Modul 7). In Modul 8 besteht die Möglichkeit, sich mit aktuellen Rehabilitanden auszutauschen. Am Nachmittag des zweiten Tages führen ein Arzt oder eine Ärztin und ein*e die Maßnahme umfänglich begleitende Sozialarbeiter*in oder Psycholog*in Einzelgespräche mit den Teilnehmenden. Gemeinsam wird die Maßnahme rekapituliert, und die Teilnehmenden erfahren die Ergebnisse des Gesundheitschecks und der Psychodiagnostik. Abschließend wird eine konkrete Empfehlung für eine Weiterbehandlung ausgesprochen. Dies soll in ein organisiertes Übergabeverfahren an die Lotsinnen und Lotsen münden und das Ausfüllen von benötigten Formularen beinhalten.

    Ziel des Projektes SEMRES

    Ziel des Projektes SEMRES ist damit eine konkrete Empfehlung für die Teilnehmer*innen. Im Rehakompass wird die Richtung festgelegt: zum Beispiel die direkte Vermittlung in die Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) oder in eine alternative Unterstützungsmaßnahme, z. B. in einer Suchtberatungsstelle. Das Verfahren ist ergebnisoffen.

    Kontakt:

    rehakompass@drv-oldenburg-bremen.de
    Tel. 0421/34 07-230

    Angaben zu den Autor*innen:

    Dr. Ulrich Böhm, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Ärztliche Leitung, Therapiehilfe gGmbH, RehaCentrum Alt-Osterholz, Fachklinik für Suchterkrankungen, Bremen
    Martina Jährmann-Rittner, Psychologische Psychotherapeutin, Therapeutische Leitung, Fachklinik Weser-Ems, Diakonisches Werk Oldenburg
    Dr. Natalie Schüz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Umsetzungsberaterin rehapro, Koordinationsmanagement Sozialmedizin, Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen


    Begleiteter Wiedereinstieg in Arbeit – mit dem rehapro-Projekt „BEAS“ neue Wege finden

    Projektname: BEAS – Begleiteter Einstieg in das Arbeitsleben mit Starthilfe

    Stephan Peter-Höner
    Erwin Seiser

    Menschen, die aufgrund von Sucht- und/oder psychischer Erkrankung aus dem Arbeitsleben gefallen sind, haben bei der Reintegration ins Arbeitsleben erfahrungsgemäß erhebliche Schwierigkeiten. Die Praxis zeigt, dass sie aufgrund der regional zuletzt sehr guten Arbeitsmarktlage oftmals zwar einen Arbeitsplatz finden, diesen aber schon bei geringer Störung im Ablauf wieder verlieren, sei es aufgrund mangelnder Belastbarkeit oder eines Rückfalls in alte Gewohnheiten. Das führt in der Regel zu weiteren, längeren Arbeitslosenzeiten und zu einer Misserfolgsprägung.

    Eine anspruchsvolle Phase: der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben

    So hören wir in der Fachklinik Fischer-Haus in Gaggenau oftmals in der Entlassphase aus der Reha: „Was erwartet mich, wenn ich nach der Rehabehandlung an meinen alten Arbeitsplatz zurückkehre?“, „Wie geht mein Chef mit mir um, wie geben sich die Kolleginnen und Kollegen?“, „Das wird sicherlich kritisch, gab es doch zuletzt mehrere schwierige Situationen aufgrund meines Suchtproblems bei der Arbeit.“ Aber auch der Neuantritt eines Arbeitsplatzes bringt Verunsicherung: „Schaffe ich es dieses Mal, Fuß zu fassen?“, „Wie meistere ich kritische Situationen am Arbeitsplatz?“ Dies alles sind zentrale Themen bei der Planung der Zeit nach der Rehabehandlung. Viele gute Vorschläge und  erarbeitete Strategien im Gepäck, verlassen die Rehabilitand*innen die Klinik und gehen hinein ins echte Leben. Aber was ist, wenn es anders kommt, wenn die Planungen sich nicht umsetzen lassen? Wenn das Erlernte nicht ausreicht? In der Regel – so die Rückmeldungen vieler Betroffener – kommt es zum (erneuten) Arbeitsplatzverlust, oft auch begleitend zum Rückfall, eine Abwärtsspirale beginnt oder setzt sich fort.

    Die Projektidee: Unterstützung und Begleitung

    Wie lässt sich das vermeiden oder besser machen? Welche Möglichkeiten gibt es, Übergänge und schwierige Situationen nach einer erfolgreichen Stabilisierungsmaßnahme so zu gestalten, dass Erfolge verstetigt werden? Hier hat unser stark fraktioniertes Sozialsystem sicherlich noch Einiges an Verbesserungspotenzial – aber auch die Sozialverantwortung von Unternehmen bietet Ansatzpunkte, wünschenswert wäre z. B.eine wohlwollendere Herangehensweise mit der Aussicht auf einen langfristigen Erfolg einer (Re-) Integrationsstrategie.

    Erfolgversprechende Ansätze für Projekte gab es schon einige, allerdings fehlte bis dato eine stabile Finanzierung und auch die Gesamtsicht über die unterschiedlichen Beschwerdeebenen. Mit dem Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales steht ein Förderprogramm zur Verfügung, das die Durchführung solcher Projeke zur Überwindung von Schnittstellen ermöglicht.

    Im Frühsommer 2017 erreichte uns der 1. Aufruf der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg zur Einreichung von Projektideen für das Bundesprogramm rehapro. Ausgelobt – so war die damalige Information – hatte die Bundesregierung einen Fördertopf für innovative Projekte, die Übergänge an den Schnittstellen zwischen den SGB-Bereichen gestalten sollten. Die Fördersumme wurde mit einer Milliarde Euro festgesetzt.

    Auf Basis der noch ziemlich spärlichen Vorgaben und Informationen setzten wir uns umgehend an eine Projektskizze. Idee war, ein differenziertes neues Unterstützungssystem für Menschen zu entwickeln, die aufgrund von Sucht- und/oder psychischer Erkrankung aus dem Arbeitsleben gefallen sind und damit bei der Reintegration ins Arbeitsleben erhebliche Schwierigkeiten haben. Leitend war dabei auch unsere Erfahrung, dass aufgrund der regional sehr guten Arbeitsmarktlage oftmals zwar ein Arbeitsplatz gefunden werden konnte, dieser aber schon bei geringer Störung im Ablauf wieder verloren ging, was in der Regel zu weiteren, längeren Arbeitslosenzeiten und zu einer Misserfolgsprägung führt. Des Weiteren leitete uns der schon lang vorhandene Wunsch, Suchtrehabilitation konsequent zu Ende zu denken, also die Integration in Arbeit und Gesellschaft in jeder Phase der Rehabilitation als handlungsleitend zu begreifen und somit Interventionen und Strategien aus medizinischer, beruflicher und sozialer Rehabilitation zu verknüpfen.

    Als Projektziel wurde definiert, zunächst im Landkreis Rastatt und im Stadtkreis Baden-Baden eine strukturierte Hilfe für Menschen mit Suchterkrankung bei der Einstellung und (mindestens) im ersten Beschäftigungsjahr zur Verfügung zu stellen. Bei der Definition des Projektzieles wurde uns klar, dass es hierfür eines mehrdimensionalen Hilfeansatzes bedarf. Die Hilfe sollte durch eine sozialtherapeutische Fachkraft erfolgen, die regelmäßige Gespräche mit den Teilnehmenden führt und gegenüber dem Arbeitgeber der betroffenen Person eine Moderatorenfunktion übernimmt.

    Abb. 1: Aktivitäten der Einrichtung bezogen auf die Rehabilitand*innen

    In das Konzept von „BEAS – Begleiteter Einstieg in das Arbeitsleben mit Starthilfe“ flossen unsere Erfahrungen aus den Projekten „Step by Step“ (ein Arbeitsintegrationsprojekt für langzeitarbeitslose Menschen mit Sucht und/oder psychischen Problemen) und „Starthilfe“ (ein unternehmensbezogener Unterstützungsansatz) ein sowie aus dem Förderverein zur Wiedereingliederung für Suchtkranke (in dem konkrete Arbeitsplätze vermittelt und begleitet werden).

    Neu an BEAS sind:

    • die aktiv gesuchten und strukturierten Kontakte und Kooperationen mit Arbeitgebern,
    • die Aufrechterhaltung dieser Kontakte im Hinblick auf Unterstützung in Krisensituation für Mitarbeitende und Unternehmen,
    • weiterhin die verbindliche Begleitung am Arbeitsplatz und
    • die Netzwerkarbeit in arbeitsbezogenen Kontexten.

    Zentrales Ziel ist neben dem Finden eines angemessenen Arbeitsplatzes die nachhaltige Stabilisierung des Arbeitsverhältnisses.

    Abb. 2: Aktivitäten der Einrichtung bezogen auf die Unternehmen
    Abb. 3: BEAS Projektregionen

    In BEAS werden neben den erwerbsbezogenen Integrationsschritten (incl. der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) unterstützende Impulse und Leistungen im Bereich der weiteren sozialen Teilhabe  berücksichtigt und verfolgt.

    Als weiteres Projektziel wurde die Übertragung des Ansatzes auf die angrenzenden Landkreise Ortenau, Karlsruhe Stadt und Landkreis sowie Pforzheim Stadt und Enzkreis benannt, da hier schon gute Kontakte zu möglichen Kooperations- und Netzwerkpartnern bestanden.

    Von der Idee zum geförderten Projekt – beteiligte Institutionen

    Für die wissenschaftliche Evaluation wurde von der DRV Baden-Württemberg das Universitätsklinikum Freiburg, Sektion Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung (SEVERA), eingebracht, das sich unter Leitung von Prof. Dr. Erik Farin-Glattacker unmittelbar in die Entwicklung mit einschaltete.

    Als Projekttitel wählten wir das Akronym „BEAS“, das für Begleiteter Einstieg ins Arbeitsleben mit Starthilfe steht.

    In mehreren Konkretisierungs- und Verfeinerungsrunden wurde aus dieser Projektskizze gemeinsam mit Ulrich Hartschuh, dem Projektkoordinator bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg, ein detailliertes Projektkonzept entwickelt, das schließlich neben drei weiteren Projektvorhaben der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg von dieser bei der Fachstelle rehapro eingereicht wurde.

    In weiteren Prüf- und Rückkopplungsrunden mit der Fachstelle wurde die Projektidee durchleuchtet und das Umsetzungskonzept mit Klaus Marhoffer, dem Projektleiter bei der DRV Baden-Württemberg, verfeinert. Als Ergebnis wurde BEAS mit Förderbescheid vom 6.12.2019 als eines der bundesweit ca. 60 Umsetzungsprojekte des 1. Förderaufrufs für rehapro ausgewählt und konnte nach ungefähr zweieinhalbjähriger Vorlaufzeit zum 1.1.2020 starten. Die Projektlaufzeit ist auf fünf Jahre bis zum 31.12.2024 festgesetzt. Das Fördervolumen insgesamt beträgt knapp zwei Millionen Euro, davon entfallen auf den Fischer-Haus e.V. für die Durchführung der Projektmaßnahme ca. 1,5 Millionen Euro.

    Nach einer ersten Projektphase mit vorbereitenden Klärungen und Maßnahmen bezüglich der Evaluation und Details der Interventionen ist BEAS mittlerweile gut angelaufen und die ersten Teilnehmer*innen sind ins Projekt aufgenommen. Und schon steht der nächste Meilenstein an, nämlich die Gewinnung der zweiten Kooperationsregion Karlsruhe.

    Kontakt:

    Erwin Seiser
    Fachklinik Fischer-Haus
    Mönchkopfstraße 21
    76571 Gaggenau
    E.Seiser@Fischer-Haus.de

    Angaben zu den Autoren:

    Stephan Peter-Höner, Leiter der Fachklinik Fischer-Haus, BEAS-Projektleitung/Steuerung fachlich
    Erwin Seiser, Verwaltungsleiter und Kaufm. Vorstand der Fachklinik Fischer-Haus, BEAS-Projektleitung/Steuerung administrativ


    Berufliche Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen (BORA-TB) – ein rehapro-Projekt aus der Perspektive einer Suchtrehabilitationsklinik

    Projektname: BORA-TB – Berufsorientierte Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen

    Elena Herbach
    Ulrike Dickenhorst

    Aufgrund der riskanten Wechselwirkung zwischen einem abhängigen Suchtmittelkonsum und der Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, stellt die berufliche Integration einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen dar (Henkel & Zemmlin 2015). Somit ist erklärtes Ziel der Suchtreha, die berufliche Teilhabe im Sinne des SGB 6 und SGB 9 zu erhalten und/oder wiederherzustellen und eine Erwerbsminderung zu verhindern (Weinbrenner & Köhler 2013).

    Aus den Katamneseergebnissen des Entlassjahres 2018 (N=11.090) des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. wissen wir, dass die Arbeitslosenquote bei den alkoholabhängigen Rehabilitand*innen bei 41,6 Prozent und den drogenabhängigen Rehabilitand*innen bei 58,7 Prozent liegt. Für Rehabilitand*innen, die erwerbstätig sind, jedoch erwerbsbezogene Problemlagen aufweisen (BORA-Gruppe 2), würde eine weitergehende berufliche Stabilisierung auch positive Auswirkungen auf den gesundheitlichen Lebensstil, die intrapsychische Befindlichkeit und die soziale Gemeinschaft sowie das Familienleben haben (Zobel 2017).

    Die Untersuchungsergebnisse von Vollmer und Domma (2020) bestätigen, dass erwerbstätige Rehabilitierte eine höhere Lebenszufriedenheit, eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung und ein geringes Rückfallrisiko aufweisen und Rückfälle frühzeitiger stoppen konnten. Die sechsmonatige Abstinenz während der Therapie zeigte eine hohe Relevanz für den Status der Erwerbsfähigkeit, sowie das Alter: Jüngere Arbeitslose hatten eine dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit, ein Jahr nach Therapieende erwerbstätig zu sein. Dagegen hatten ältere Rehabilitand*innen eine höhere Wahrscheinlichkeit, durchgehend abstinent zu leben. Weitere relevante Faktoren, die den Erhalt des Arbeitsplatzes stabilisieren konnten, waren der Berufsabschluss, die Wohnregion, die Anzahl der Vorbehandlungen sowie die Höhe des Arbeitsentgeltes.

    Berufliche Orientierung in der Reha

    In der stationären Rehabilitation findet seit 2015 – seit die gemeinsamen „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter“ veröffentlicht wurden – eine bedarfsorientierte Förderung statt. Die Rehabilitand*innen werden hierzu in die BORA-Gruppen 1 bis 5 eingeteilt.

    Allerdings finden die in der Rehabilitation erreichten Teilziele im Wiedereingliederungsmanagement der Jobcenter oder in den Angeboten der Agentur für Arbeit zur Erhöhung der „Return to Work“-Quote keine passgenaue Entsprechung. Als besonders problematisch zeigen sich Übergänge und Schnittstellen in den Behandlungs- und Betreuungsphasen sowie unabgestimmte Förderkonzepte. So haben Koch et al. (2020) gezeigt, dass trotz Kontaktoptionen mit nachfolgenden Stellen, diese nur zu 30 Prozent wahrgenommen wurden, 20 Prozent keinen Termin verabredet haben und die Kontaktanbahnung aus der Rehabilitation zu 46 Prozent nicht fortgesetzt wurde.

    An dieser Stelle setzt das Modellvorhaben zur berufsorientierten Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen (BORA-TB) an. Es wurde federführend von der Deutschen Rentenversicherung Westfalen im Rahmen des Bundesprogramms „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ beantragt. Das rehapro-Förderprogramm ist verankert im §11 SGB 9 und wird gefördert mit einer Milliarde Euro des BMAS. Der erste Förderaufruf wurde am 04.05.2018 ausgesprochen, der zweite am 25.05.2020. Antragsberechtigt sind Leistungsträger nach dem SGB 6 und dem SGB 2, die Projektlaufzeit kann bis zu fünf Jahre betragen. Eine wissenschaftliche Begleitung des Projektes ist möglich, die Gesamtevaluation des Förderprogramms findet durch ein bundesweites Konsortium um das Institut für Arbeit (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen statt.

    Struktur und Inhalt von BORA-TB

    Das Modellvorhaben BORA-TB beinhaltet eine neue Leistung für abhängigkeitserkrankte Rehabilitand*innen: Teilhabebegleiter*innen fungieren als zentrale Ansprechpartner*innen für den gesamten Prozess der Rehabilitation und mindestens sechs Monate bis maximal zwölf Monate, mit dem Ziel, die berufliche Reintegration zu fördern und zu fordern. Das Innovative an diesem Ansatz ist die erstmalige Einführung einer Person in das System, die den Prozess der trägerübergreifenden beruflichen Integration unterstützt, moderiert, stabilisiert usw., besonders um die Nahtlosigkeit bei Systemübergängen zu gewährleisten.

    Das Modellvorhaben wird in zwei Modellregionen durchgeführt. Ein Standort ist die ländliche Region des östlichen Ostwestfalens: Rehabilitand*innen der Bernhard-Salzmann-Klinik des LWL-Klinikums Gütersloh aus den Postleitzahlbereichen 32… und 33… werden in die Studie eingeschlossen und von Teilhabebegleiter*innen des Caritasverbandes Gütersloh und des diakonischen Werkes in Herford begleitet. Der zweite Standort ist der großstädtische Raum Dortmund. Die im LWL-Klinikum Dortmund aufgenommenen Rehabilitand*innen werden von Teilhabebegleiter*innen des Klinikums begleitet.

    Das Modellvorhaben BORA-TB wird durch Prof. Dr. Thorsten Meyer von der Universität Bielefeld an der Stiftungsprofessur für Rehabilitationswissenschaften und Rehabilitative Versorgungsforschung der Fakultät Gesundheitswissenschaften begleitet, u. a. werden die Standortunterschiede zwischen ländlichen und städtischen Versorgungsstrukturen erfasst und bewertet. Des Weiteren werden die Arbeitsbedingungen der zentral oder dezentral eingesetzten Teilhabebegleiter*innen erhoben und Schlussfolgerungen auf die Ergebnisqualität gezogen. Die erfassten Daten werden zum einen summativ statistisch ausgewertet (Ergebnisevaluation) mit der Frage: Welche Effekte zeigen die Interventionen auf die Rehabilitand*innen und Versorgungsprozesse? Zum anderen erfolgt mit qualitativen Methoden eine formative Evaluation, um die Wirkmechanismen der Teilhabebegleitung in den verschiedenen Versorgungskontexten auf Prozess- und Rehabilitandenebene zu verstehen. Die Ergebnisse werden in entsprechende Empfehlungen für eine Projektimplementierung bei einer möglichen Verstetigung einfließen.

    Projektziele

    Die Projektziele beinhalten die Förderung der Motivation der Rehabilitand*innen, eine weiterführende berufliche Teilhabeleistung in Anspruch zu nehmen und eine langfristig berufsorientierte Perspektive zu entwickeln und zu festigen. Die Rate der sich in einem Beschäftigungsverhältnis befindenden Rehabilitand*innen sollte sich erhöhen, und für den Forschungszeitraum sollte eine Beschäftigung von mindestens zwölf Monaten möglich sein. Die AU-Dauer (Arbeitsunfähigkeit) sollte in dem Zeitraum verringert werden. Das Betreuungsverhältnis von Teilhabegleiter*in zu Rehabilitand*in sollte 1:30 nicht überschreiten, um eine gute Betreuung zu gewährleisten. Falls sich das Projekt als zielführend erweist, könnte die zukünftige Finanzierung von Stellen der  Teilhabebegleiter*innen über eine höhere Integrationsquote und eine Reduktion der Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente erreicht werden. Natürlich ist jede Reintegration einer/s Versicherten als Erfolg zu bewerten.

    Im Projektverlauf werden neue Netzwerke dokumentiert, die Rehabilitand*innen werden zur Akzeptanz der Maßnahmen befragt, z. B. anhand von qualitativen Interviews. Besonderes Augenmerk liegt auf den bio-psycho-sozialen Teilhabehemmnissen. Sie werden sensibel erhoben, Hilfebedarfe erfasst und adäquate Maßnahmen eingeleitet. Auch die Gruppe der Rehabilitand*innen, die sich gegen eine Teilnahme entschieden hat, wird zu ihren Motiven befragt. Bei vorliegender Einverständniserklärung werden die soziodemographischen Daten mit in die Teilhabeplanung eingezogen sowie später die Ergebnisse der Ein-Jahres-Katamnese in der Datenbewertung berücksichtigt. In der Regel schließen die Rehabilitand*innen nach der Rehabilitation eine ambulante Weiterbehandlung/‌Fortführung/Nachsorge an, und die Kooperation zwischen Teilhabebegleiter*innen und weiterbehandelnden Suchtberatungsstellen ist regelhaft gewünscht.

    Der erste Kontakt zu den Teilhabebegleiter*innen wird nach drei bis vier Wochen in der Klinik verabredet. Bis zu dem Termin haben die Rehabilitand*innen eine differenzierte sozialmedizinische BORA-Diagnostik durchlaufen und es werden mit ihnen, orientiert am individuellen beruflichen Teilhabebedarf, Therapiepläne erstellt und -interventionen verordnet.

    Folgendes Flow Chart (Abb. 1) bildet den gesamten Prozess in der Bernhard-Salzmann-Klinik ab.

    Abb. 1: Prozess im Projekt BORA-TB

    Vielfach haben die Rehabilitand*innen während der Rehabilitation für die berufliche (Neu-) Orientierung und (Wieder-) Eingliederung eine wechselnde Motivationslage. Die Ambivalenz bzgl. des beruflichen Wiedereinstiegs zeigt sich z. B. in der Unvereinbarkeit von Wunschtätigkeit und realen Arbeitsmarktangeboten, in Ängsten, die beruflichen Erwartungen nicht erfüllen zu können, oder darin, die eigenen körperlichen, psychischen oder sozialen Vermittlungshemmnisse als unüberwindbar zu bewerten oder sich vor konflikthaften Auseinandersetzungen im Berufsalltag zu fürchten.

    Hinzu kommt, dass die Rehabilitand*innen zu Beginn ihrer Behandlung meist andere Themen priorisieren, wie z. B. die Einleitung von existenzsichernden Maßnahmen, Wohnraumsicherung, die Erarbeitung von Therapiezielen, die Behandlung komorbider Störungen, die Bewältigung des Suchtmittelverzichts oder familiäre Problemlagen. Neigt sich die Behandlung dem Ende zu, sind die Rehabilitand*innen motivierter, sich mit dem Thema der beruflichen Orientierung auseinanderzusetzen.

    Qualifizierung der Teilhabebegleiter*innen

    Für eine fachlich hochwertige Teilhabebegleitung ist eine Qualifizierung der Teilhabebegleiter*innen mit praxisrelevantem Wissen notwendig. Die Durchführung der Qualifizierungen obliegt der „Landeskoordinierungsstelle berufliche und soziale Integration Suchtkranker in NRW“ (LKI) in Paderborn. Vor der praktischen Umsetzung des Modellvorhabens wurden die Teilhabebegleiter*innen in folgenden sechs Basismodulen geschult:

    • Modul 1: Einführung in das neue Aufgabenfeld der BORA-Teilhabebegleitung: Auftrag, Rolle und Ziele
    • Modul 2: Aufgaben und Anforderungen an BORA-TB / Netzwerke aufbauen, gestalten, koordinieren
    • Modul 3: Leistungen und Möglichkeiten der Jobcenter und Agenturen für Arbeit
    • Modul 4: Auswirkungen und Möglichkeiten des Bundesteilhabegesetztes
    • Modul 5: Betriebliche Suchthilfe, Eingliederungsmanagement, juristische Aspekte
    • Modul 6: Aufgaben und Leistungen der Deutschen Rentenversicherung

    Zusätzlich organisiert die Landeskoordinierungsstelle fünf weitere Qualifizierungen zu fachspezifischen Themen:

    • motivierende Gesprächsführung
    • Sucht und Migration
    • Motivieren durch persönliche Präsenz
    • Persönlichkeitsstile/-störungen und die Herausforderungen in der Beratung
    • Genderbezug und Sucht

    In den ersten Qualifizierungen konnten neben den Teilhabebegleiter*innen auch die Kooperationspartner*innen des Modellvorhabens teilnehmen. Insgesamt wurde deutlich, dass die einzelnen Kolleg*innen bereits sehr umfangreiches Fachwissen durch ihre vorherigen Berufserfahrungen in folgenden Fachrichtungen mitbringen: Suchttherapie, rechtliche Betreuung, arbeitsmarkt­orientierte Hilfen, Agentur für Arbeit, Integrationsfachdienst usw. Die bereits vorhandenen Qualifikationen ermöglichten die Bildung eines internen Expertenpools für den fachlichen Austausch. Trotz der unterschiedlichen Standorte in Dortmund, Gütersloh, Herford und Bielefeld sind alle Kollegen und Kolleginnen in einem sehr guten, regelmäßigen und engen Austausch.

    Zur guten Vernetzung aller Mitarbeitenden des Modellvorhabens ist auch die Netzwerkarbeit mit Kostenträgern und anderen Versorgungsschnittstellen essentiell. Um diese Netzwerke aufzubauen und zu pflegen, werden mithilfe der Koordination der LKI pro Standort dreimal jährlich Netzwerktreffen stattfinden. Die Netzwerktreffen sollen dazu dienen, alle Akteur*innen untereinander bekannt zu machen, Raum für einen fachlichen Austausch zu schaffen und Referent*innen zu wichtigen Themen einzuladen. Die ersten Netzwerktreffen finden bereits dieses Jahr im November an allen drei Standorten statt.

    Für die Gewährleistung eines reibungslosen Übergangs in die BORA-Teilhabebegleitung sind Fallkonferenzen mit den Rehabilitand*innen und allen relevanten Akteur*innen aus der medizinischen Behandlung geplant.

    Akzeptanz der Maßnahme

    In den ersten Monaten hat sich gezeigt, dass ein Teil der Rehabilitand*innen auf das Projekt skeptisch reagiert, u. a. konnte die Datenevaluation der Universität Bielefeld nicht eingeschätzt werden. Grundsätzlich haben die Rehabilitand*innen auch die Möglichkeit, an dem Projekt teilzunehmen, ohne dass Daten zu wissenschaftlichen Zwecken weiter bearbeitet werden. Die Ergebnisse würden dann über die Katamneseerhebung ausgewertet, wenn das Einverständnis dazu vorliegt.

    Aktuell erfolgt die Kontaktaufnahme zu den Rehabilitand*innen durch den/die Teilhabebegleiter*in so früh wie möglich, um zu informieren und eine tragfähige Beziehung aufbauen zu können. In der ersten Phase der Rehabilitation willigen wenige Rehabilitanden direkt in die Teilhabebegleitung ein. Mit zunehmender Dringlichkeit zum Ende der Behandlung wird erneut Kontakt aufgenommen, um eine berufliche Perspektive zu erarbeiten.

    Durch den Projektstatus haben die Teilhabebegleiter*innen die Möglichkeit, unterschiedliche Formen und Zeitpunkte der Ansprache auszuprobieren. Letztendlich wird die Evaluation durch die Universität Bielefeld aufzeigen, welche Form von BORA-Teilhabebegleitung sich langfristig positiv auf die berufliche Orientierung und Reintegration auswirken wird.

    Kontakt:

    Ulrike Dickenhorst
    Bernhard-Salzmann-Klinik
    Buxelstraße 50
    33334 Gütersloh
    ulrike.dickenhorst@lwl.org

    Angaben zu den Autorinnen:

    Ulrike Dickenhorst, Therapeutische Leitung, Bernhard-Salzmann-Klinik, LWL-Rehabilitationszentrum Ostwestfalen, Gütersloh
    Elena Herbach, Sozialdienst, Bernhard-Salzmann-Klinik, LWL-Rehabilitationszentrum Ostwestfalen, Gütersloh

    Literatur:
    • Henkel, D. & Zemlin, U. (2015). Editorial, in: Themenheft „Arbeitslosigkeit und Suchtrehabilitation“. Suchttherapie 6(4), 153-154.
    • Koch, A. et. al (2020). Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur, Online Zeitschrift KONTUREN 15.06.2020; https://dev.konturen.de/fachbeitraege/erfassung-der-aktivitaeten-zur-verbesserung-der-beruflichen-teilhabe-in-der-suchtrehabilitation-an-der-schnittstelle-zu-jobcenter-und-arbeitsagentur/
    • Vollmer, H. C. & Domma, J., (2020). Erwerbsstatus Alkoholabhängiger nach Therapie, in: SUCHT 66 (3), 133-142.
    • Weinbrenner, S. & Köhler, J. (2013). Der Mensch im Mittelpunkt – Anforderungen und Perspektiven für die Suchtbehandlung aus Sicht der DRV Bund, in: SuchtAktuell 20 (2), 15-20.
    • Zobel, M. (2017). Kinder aus alkoholbelasteten Familien: Entwicklungsrisiken und Chancen. Göttingen: Hogrefe.
  • Sucht und Sexualität

    Sucht und Sexualität

    Joachim J. Jösch

    Sexualität ist ein Grundbedürfnis jedes Menschen. Sie ist für jeden mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen, Erwartungen und Erfahrungen verbunden. Sie ist geprägt von Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft und dem Lebensumfeld, in dem jemand aufwächst und lebt. Vater und Mutter sind die frühesten und wichtigsten Bindungspersonen eines Kindes. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind legt die Grundlagen für die Bindungsfähigkeit und beeinflusst das spätere (Beziehungs-)Leben. Kinder brauchen gute Vorbilder, um später selbst erfolgreich Bindungen eingehen zu können.

    Im Fachkrankenhaus Vielbach, einer Rehaklinik zur Behandlung alkohol- und medikamentenabhängiger Männer, wurde im Rahmen einer Klausur zur Weiterentwicklung der Behandlungskonzeption deutlich, dass dem wichtigen Lebensbereich der Sexualität bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es wurde beschlossen, die Rehabilitanden zu dem Thema zu befragen und die Behandlungsangebote entsprechend der Ergebnisse zu verändern. In diesem Artikel soll beschrieben werden, wie das Thema Liebe und Sexualität im Fachkrankenhaus Vielbach Einzug gehalten hat und welche Aktivitäten sich daraus entwickelt haben – ein Praxis- und Erfahrungsbericht, der eine neue Perspektive in der Behandlung von Suchtkranken aufzeigen möchte.

    Mehr als jeder zweite der Vielbacher Rehabilitanden ist nicht durchgehend mit seinen leiblichen Eltern aufgewachsen. Bald jeder zweite, der mit seinem Vater (zumindest zeitweise) aufgewachsen ist, glaubt nicht, dass er von ihm geachtet und geliebt wird oder wurde. Die durchgängige und zeitweilige Entbehrung des Vaters und das damit einhergehende Fehlen des männlichen Vorbildes haben im Hinblick auf Beziehungsfähigkeit bei vielen Patienten problematische männliche Rollenbilder entstehen lassen. Dies stellt eine Herausforderung für eine Rehabilitationsbehandlung dar, die Grundlagen für ein gelingendes Leben mit Liebe, Freundschaft und Emotionalität schaffen will.

    Gut 80 Prozent der Vielbacher Rehabilitanden erwartet beim Verlassen der Klinik zunächst ein Leben ohne Partnerin/Partner. Viele Patienten wünschen sich jedoch eine Partnerschaft. Dabei ist abzusehen, dass viele dieser Patienten erhebliche Probleme bei der Realisierung ihres Wunsches haben werden. (Das ist durch die Auswertung der regulären Behandlungsstatistik bekannt.) Dennoch wurde das Thema nur in wenigen Fällen therapeutisch bearbeitet.

    Für eine nachhaltige Stabilisierung der Abstinenz der Patienten spielen Liebe, Sexualität und Partnerschaft eine wichtige Rolle. Die gewünschte Partnerschaft, der Umstand, zu lieben und geliebt zu werden, sowie eine befriedigende Sexualität sind Quellen von Glück und Wohlbefinden, Anerkennung und Selbstwerterleben. Trotzdem waren diese elementaren zwischenmenschlichen Empfindungen und Interaktionen weder als Erfahrung noch als Zukunftskonzept der Rehabilitanden in dieser expliziten Form regelhaft Themen der Suchtbehandlung in Vielbach.

    Ergänzend zu den im Rahmen der Konzept-Klausur erarbeiteten Diskussionsergebnissen und Ideen beschäftigten sich Klinikleitung und therapeutisches Team mit zahlreichen Statements, die Patienten schon 1988 (!) zum Schwerpunktthema „Sexualität in der Suchttherapie“ in der Vielbacher Patientenzeitschrift SuchtGlocke geäußert hatten. Vielfältige Erfahrungen, Sorgen und Wünsche waren dort abgedruckt. Als Basis für konzeptionelle Neuerungen und die Einführung neuer Behandlungselemente waren sie jedoch nicht ausreichend, u. a. weil ihnen die Aktualität fehlte. Die Sichtung der Fachliteratur brachte Leitung und Team auch nicht weiter, da sich 90 Prozent der identifizierten Publikationen auf sexuelle Störungen und deren körperliche und psychische Ursachen beschränkten.

    Was wir unsere Patienten schon immer mal fragen wollten – Die Befragungswelle 2015

    2014 fassten Klinikleitung und therapeutisches Team den Entschluss, die Patienten zum Themenkomplex „Partnerschaft und Sexualität“ zu befragen. Zur Vorbereitung wurden alle Rehabilitanden zu einem Vortrag eingeladen, in dem der Ärztliche Leiter über die Relevanz dieser menschlichen Bedürfnisse für ein zufriedenes Leben informierte. Im zweiten Teil der Veranstaltung warb er bei den Zuhörern dafür, an einer nachfolgenden Befragung zum Thema teilzunehmen. Ziel der Befragung sei es, sowohl die somatische als auch die psychotherapeutische Behandlung stärker an den Bedürfnissen der Patienten im Bereich Liebe und Sexualität auszurichten. Anschließend diskutierten die Patienten ausgiebig über die angebotenen Informationen. Deutlich wurde hier eine große Zustimmung zu der Klinikinitiative, das Thema Sexualität angemessen in das ‚offizielle‘ Therapiegeschehen zu integrieren. Ein Patient formulierte treffend: „Wir haben das immer im Kopf, reden auch untereinander drüber – aber eher nicht mit den Therapeuten.“

    Dass die Patienten großes Interesse an der angekündigten Therapie-Innovation hatten, zeigte sich bei der Befragung. Nur wenige Patienten beteiligten sich nicht. Auf Anonymität, freiwillige Teilnahme und Durchführung außerhalb der Therapiezeiten wurde dabei strikt geachtet.

    Patienten berichten in der SuchtGlocke

    Noch bevor die Auswertung abgeschlossen war, startete die ausschließlich aus Patienten bestehende Redaktion der Klinikzeitung SuchtGlocke (SG) eine eigene Umfrage zu dem Schwerpunktthema „Sucht & Sexualität“. 84 sehr persönliche Beiträge wurden in der SG-Ausgabe Nr. 55 abgedruckt. Die Redaktion entschied sich, den Themenbereich zu vertieften. „Liebe und Geborgenheit“ war das Schwerpunktthema in der nachfolgenden SG-Ausgabe Nr. 56. Hier wurden 51 Beiträge von Mitpatienten und Ehemaligen, die auf die abgedruckten „Sucht & Sexualität“-Beiträge reagiert hatten, zusammengetragen. Folgende Aspekte spielen in den abgedruckten Beiträgen eine wichtige Rolle:

    Sexuelle Störungen

    In ihren Beiträgen zum Thema Sexualität in der SuchtGlocke thematisieren Patienten immer wieder sexuelle Störungen, die sie mit ihrem permanenten Konsum von Alkohol in Verbindung bringen. Einige sprechen sexuelle Versagensängste, Schüchternheit und Unerfahrenheit an. Andere sprechen von Stressreaktionen auf sexuelle Wünsche der Partnerin, die sie überfordern.

    Immer wieder berichten Patienten von exzessivem Alkoholkonsum als Reaktion auf scheinbar nicht lösbare Konflikte in der Partnerschaft. Und davon, wie in der Folge die „gegenseitige Liebe und Wertschätzung gestorben“ seien. Am Ende sei man „mit der Flasche verheiratet“ gewesen. Der tiefe „Wunsch nach Liebe“ sei „ertränkt“ worden. Gegen das Alleinsein nach gescheiterter Beziehung und die damit verbundenen schmerzhaften und deprimierenden Gefühle habe „nur der Konsum von Alkohol und Drogen geholfen“ oder zumindest für Schmerzlinderung gesorgt.

    Triebabfuhr und Gewalt

    Wenn auch die Partnerin abhängigkeitskrank war, habe es kein Korrektiv mehr zum materiellen und gesundheitlichen Scheitern gegeben. Das Leben im Rausch sei zur alltäglichen Normalität geworden. Sexualität habe, wenn überhaupt, auch nur noch im Rausch stattgefunden. Meist eher mechanisch, als sexuelle Triebabfuhr, die aber nicht die gewünschte Befriedigung verschafft habe.

    Meist verbunden mit intensiven Schuld- und Schamgefühlen, bekennen nicht wenige der Schreiber, unter starkem Alkoholeinfluss auch gewalttätig gegenüber ihrer – inzwischen meist ehemaligen – Partnerin geworden zu sein. In einigen Fällen sei aber auch die ebenfalls Suchtmittel konsumierende Partnerin ihnen gegenüber gewalttätig geworden. Keiner der Patienten schreibt davon, dies in der derzeitigen Therapie thematisiert zu haben.

    Gefühle

    In den Patientenbeiträgen wird deutlich, wie schwer es vielen fällt, über ihre Gefühle zu schreiben. Verschiedenste Erfahrungen mit Sexualität werden – zum Teil ausführlich – geschildert. ‚Liebe‘ taucht meist nur als Sehnsucht auf.

    Einige Patienten bedauern das Fehlen von Mitpatientinnen in der Therapie. Vorteile einer Therapie in einer Männerklinik werden jedoch häufiger benannt. „Von Frauen unbeobachtet“, könne man sich unter Männern „echter“ und „authentischer“ verhalten. Dann ginge es auch „ehrlicher“ zu – nicht nur bei den patienteninternen Schilderungen von sexuellen Erfahrungen.

    Pornographie

    Viele Patienten schauen sich während der Zeit ihres Klinikaufenthaltes Pornographie an. Die häufige Erwähnung des Themas lässt auf einen recht hohen Stellenwert schließen. Doch für die meisten ist es offenbar nur eine Notlösung, die bloße Triebabfuhr ohne wirkliche Befriedigung ermöglicht. Durchgängig deutlich wird der dahinter liegende Partnerschaftswunsch vieler Patienten. Ähnlich verhält es sich wohl auch mit wiederholt geschilderten Bordellbesuchen während des Therapieaufenthaltes.

    Masturbation

    Der Konsum von Pornos dient den Patienten meist als sexuell stimulierende Vorlage zur geschlechtlichen Selbstbefriedigung. Das Thema Masturbation taucht in einer Vielzahl von Beiträgen auf. „Tut gut“, „erleichtert“, „Notbehelf“, „besser als nix“, „schales Gefühl danach“, „wie ein kurzer Sonnenschein, der kurz durch dunkle Wolken dringt“ und „ich schäme mich“ sind angeführte Bewertungen.

    Sexuelle Orientierung

    Mehrfach wird angesprochen, wie in der Vielbacher Männerklinik mit nicht-heterosexueller Orientierung umgegangen wird. Aus den Berichten homosexueller Patienten lässt sich schließen, dass diese hinsichtlich der Toleranz, die ihnen ihre heterosexuell orientierten Mitpatienten entgegenbringen, unsicher sind. Wiederholt werden Hemmungen angesprochen, sich während der Therapie zur eigenen Homosexualität zu bekennen. Die Angst davor, nach dem ‚Outen‘ von der eigenen Bezugsgruppe ausgegrenzt zu werden, scheint groß zu sein.

    Für Suchtkranke ist es besonders wichtig, selbstbewusst zu ihrer Sexualität wie auch zu ihrer sexuellen Orientierung stehen zu können. Ein selbstbestimmtes Leben mit sozialer Teilhabe, frei von Sucht, ist nicht vereinbar mit permanenter sexueller Selbstverleugnung. Ein wichtiges Thema für entsprechende neu zu konzipierende Schulungs- und Therapieangebote.

    Die beschriebenen Patientenaussagen machten dem Klinikteam – ergänzend zu den zuvor schon gewonnenen Erkenntnissen – deutlich, wie wichtig eine Einbeziehung der Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft in den Therapieprozess für eine gelingende und nachhaltige Rehabilitation der Patienten ist.

    ‚Normale‘ Wünsche, ‚unnormale‘ Verwirklichungschancen – Die Befragungswelle 2016

    Im Frühjahr 2016 startete die Klinik eine neue Befragungsrunde. An dieser zweiten Befragung nahmen 69 Patienten teil. Zusammen mit den 63 Teilnehmern der ersten Befragung wurde so eine Gesamtteilnehmerzahl von 132 erreicht.

    Der Fragebogen umfasste 64 Fragen. Zwei Psychologie-Studentinnen nahmen anschließend die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials vor. Die Ergebnisse beeindrucken in ihrer Deutlichkeit, auch hinsichtlich der Patientenwünsche und -ängste für die Zeit während und nach der Rehabilitation. Partnerschaft und Sexualität sind für viele Patienten ähnlich wichtig wie Abstinenz. Patienten wollen ‚Teilhabe‘ – auch in sozialen Beziehungen und in Bezug auf Sexualität.

    Hervorzuheben ist die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit:

    • 80 % der Patienten leben nicht in einer Partnerschaft!
    • 82 % der Partnerlosen wünschen sich eine
    • 85 % der Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein Leben ohne Suchtmittel.
    • 92 % der Patienten ist Sexualität wichtig bis sehr wichtig.

    Weitere aus Kliniksicht interessanteste Ergebnisse sind:

    Sexualleben

    • 72 % der Patienten sind mit ihrem Sexualleben derzeit unzufrieden. 4,4 % sind manchmal zufrieden.
    • 75,8 % der Patienten masturbieren mehrmals in der Woche, 34,8 % täglich.
    • 51,5 % der Patienten haben schon einmal eine Prostituierte aufgesucht.
    • 47,1 % der Patienten haben während der Therapie schon einmal eine Prostituierte aufgesucht oder beabsichtigen dies.
    • 31,8 % der Patienten nutzen häufig bis immer erotische oder pornographische Produkte (Bilder, Filme). 40,9 % geben an, diese manchmal zu nutzen.
    • 25,5 % der Patienten geben an, eine „sexuelle Störung“ zu haben.
    • 62,1 % der Patienten möchten über gesundheitliche Störungen, die negative Auswirkungen auf die männliche Sexualität haben, und deren Behandlung informiert werden.

     Einsatz von Suchtmitteln

    • 47,7 % der Patienten fällt es schwer, ohne vorherigen Konsum von Suchtmitteln eine Frau bzw. einen Mann anzusprechen.
    • 59,6 % der Patienten haben Sex in den letzten Jahren meistens unter dem Einfluss von Suchtmitteln erlebt.
    • 54,8 % der Patienten haben schon einmal Drogen oder ähnliche psychoaktive Substanzen eingesetzt, um ihr erotisches Erleben anzuregen.

    Partnersuche im Internet

    • 53 % der Patienten haben schon einmal überlegt, im Internet auf Partnersuche zu gehen.
    • 36,8 % der Patienten haben mit Partnersuche im Internet schon Erfahrungen gemacht.
    • 65,2 % der Patienten möchten in der Therapie über Partnersuche im Internet (Verfahren, Kosten und Risiken) informiert werden.

    Beziehung zu Klinikmitarbeiter/innen

    • 78 % der Patienten haben schon einmal Gefühle von Verliebtheit in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Keiner von ihnen hat das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.
    • 40,7 % der Patienten haben schon einmal sexuelle Phantasien in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Lediglich 1,5 % von ihnen haben das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.

    Gewalterfahrungen und familiärer Hintergrund

    • 51,6 % der Patienten sind bis zum 18. Lebensjahr nicht durchgehend mit ihren leiblichen Eltern aufgewachsen.
    • 57,4 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene körperliche Gewalt angetan.
    • 28 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene sexuelle Gewalt angetan.

    Feed back

    • 86,4 % der Patienten bewerteten die Befragung als gute Idee.
    • 90 % der Patienten begrüßten es, nach ihren Erfahrungen und Bedürfnissen in Bezug auf Liebe und Sexualität gefragt zu werden. 

    Aus der Befragung geht hervor, dass sich die Patienten bei den Themen sexuelle Gesundheit, Partnersuche und Beziehungsanbahnung Beratung und Hilfe von Seiten der Klinik wünschen. Dem anonym geäußerten übergroßen Wunsch nach Partnerschaft und Sexualität scheint eine große Hilflosigkeit der Patienten hinsichtlich der Realisierung entgegenzustehen. Nicht nur in den therapiefreien Zeiten sind immer wieder Sprüche wie „Wahre Liebe gibt’s nur unter Männern“ und Frauen abwertende Äußerungen zu hören. Dem Umstand, dass ersehntes sexuelles und Liebesglück nicht oder nur schwer erreichbar scheinen, versuchen viele Patienten mittels Rationalisierung und Kompensation zu begegnen.

    Beeindruckend war, wie viele Patienten sich während und nach der Befragung für die Klinikinitiative bedankten. Deutlich wurde, dass die Patienten sich und ihre Interessen wahr- und ernstgenommen fühlen.

    Fachtagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“

    Um die Fachöffentlichkeit für Liebe und Sexualität als Thema in der Suchtbehandlung zu sensibilisieren und die eigenen Aktivitäten vorzustellen, veranstaltete das Fachkrankenhaus Vielbach im September 2016 die Tagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“. Fast 200 Fachkräfte der Suchthilfe aus ganz Deutschland, der Schweiz und Luxemburg diskutierten zusammen mit Experten darüber, wie wichtig gelingende Partnerschaft und erfüllende Sexualität für ein Leben frei von Sucht sind. Es ging u. a. um die Fragen: Wie wirkt es sich auf die Abstinenz aus, wenn sich keine Partnerin/kein Partner findet? Können in einer Suchtrehabilitation die Chancen auf Verwirklichung des Wunsches nach einer Partnerin/einem Partner und entsprechende Handlungsmöglichkeiten erweitert werden, und wenn ja, wie?

    Die Fachtagung stieß auf sehr großes Interesse. Aus den Diskussionen im Plenum und den Arbeitsgruppen gingen viele Impulse für die therapeutische Praxis hervor.

    „Nicht ohne uns über uns“ – Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung

    In Vielbach diskutieren Klinikleitung und therapeutisches Team über Ergänzungen des Behandlungskonzeptes, die einen sehr privaten Lebensbereich ihrer Rehabilitanden betreffen. Mit der umfangreichen Befragung der Betroffenen entspricht die Klinik dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „Nicht ohne uns über uns“. Gleichberechtigte soziale Teilhabe von sozial benachteiligten Abhängigkeitskranken setzt Partizipation und konsequente Personenzentrierung auch in der Rehabilitation voraus. Das fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) ganz aktuell von den Reha-Trägern. In die Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung, die den Bereich Liebe, Sexualität und Partnerschaft betreffen, werden die Patienten regelmäßig einbezogen.

    Entsprechende neue therapeutische Interventionen werden sukzessive vereinbart und in Therapieplanung und -struktur eingepasst. Die konkrete Umsetzung wird durch Mitarbeitende des therapeutischen Teams vorgenommen. Hier gilt es zu beachten, dass diese Mitarbeitenden eine von ganz persönlichen Lebensumständen und Erfahrungen geprägte Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität haben. Deshalb sollten für diese Aufgaben besonders geeignete Mitarbeitende ausgewählt werden. Themenspezifische Fort- und Weiterbildungen sind hilfreich. Insbesondere in der Anfangszeit dieser neuen Angebote sollten die Mitarbeitenden bei der Reflexion und Verbesserung ihres therapeutischen Handelns durch Supervision unterstützt werden.

    Angebote der Klinik

    Neue Angebote finden nun im Rahmen von Beratungen, medizinischen Untersuchungen und Behandlungen sowie Schulungen statt. Mit und ohne therapeutische Anleitung tauschen sich Patienten darüber aus, wie sie Liebe, Lust und Leidenschaft in ihrer ‚nassen‘ Zeit erlebt haben. Und sie reden über Freude, Neugier, Unsicherheit und Angst, die sie bei dem Gedanken empfinden, diese intensiven sexuellen Gefühle zukünftig mit klarem Kopf erleben zu wollen.

    Das MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“

    Alle Patienten nehmen jetzt während ihres Reha-Aufenthaltes an dem dreitägigen MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“ teil. An diesen fest im Therapieplan verankerten Tagen werden in verschiedenen Modulen ganz konkrete Themen zum Bereich „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“ bearbeitet, z. B. „Die Sache mit der Liebe“, „Frauen verstehen lernen“, „Was Frauen erwarten“, „Wie präsentiere ich mich?“, „Der erste Kontakt“, „Vorsicht beim Dating“, „Sex und Leistungsdruck“, „Pornos“, „ Fremdgehen“, „Was es für eine dauerhaft gelingende Partnerschaft braucht“ und „Was tun, wenn keine Partnerschaft zustande kommt?“.

    Bevor die Klinik das Angebot „Fit fürs L(i)eben“ einführte, wurden die Inhalte vom therapeutischen Team geclustert. An diesem Prozess waren auch die Patienten beteiligt. Themenauswahl und Schwerpunktsetzung wurden nach der vorgesehenen Evaluierung im Hinblick auf Wirksamkeit und Teilnehmerakzeptanz optimiert. Zentrales Ziel, das die die Klinik mit dem MännerCamp anstrebt, ist die Erweiterung von Handlungsbefähigung und damit die Verbesserung von Verwirklichungschancen hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität für die Rehabilitanden.

    Rolle der Mitarbeiter/innen

    Eine große Zahl an Patienten gibt in der Befragung Gefühle von Liebe und sexuellem Begehren gegenüber Klinikmitarbeiter/innen an. In einer gemischtgeschlechtlichen Klinik wäre diese Zahl vermutlich deutlich geringer. Hier muss die therapeutische Leitung sehr aufmerksam – auch mit supervisorischer Unterstützung – dafür Sorge tragen, dass insbesondere die Bezugstherapeuten professionell mit dieser Thematik umgehen.

    Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von männlichen Therapeuten gilt es, zwischen einem konstruktiven Arbeitsbündnis und unangemessener Solidarität zu differenzieren. Vater-Sohn-Übertragungen, Vermischungen mit eigenen schmerzhaften Erfahrungen mit Frauen sowie eventuell die eigene belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität u. ä. müssen beachtet werden.

    Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von Therapeutinnen gilt es, darauf zu achten, nicht in mögliche Fallen zu geraten wie: die Mutter-Rolle zu übernehmen, Ersatz-Partnerin zu sein, in eine emotionale Abhängigkeit zu geraten, Beziehungsmuster des Klienten zu Frauen unhinterfragt zu wiederholen oder durch die eigene eventuell belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität beeinflusst zu werden.

    Ärztliche Untersuchung

    Bei der ärztlichen Untersuchung der Patienten wird in Vielbach jetzt darauf geachtet, Fragen nach sexuellen Störungen regelhaft durch einen Arzt, nicht eine Ärztin, zu stellen. Hier gilt es, sich früh zu entscheiden, für welche der festgestellten Störungen welche Therapie (somatisch oder/und psychotherapeutisch) angezeigt ist und welche Störungen während der stationären Rehabilitation oder vielleicht anschließend behandelt werden sollten. Entscheidend sind die Wünsche des von den Klinikmitarbeiter/innen – eventuell auch von Konsiliarärzten – fachlich gut beratenen Patienten.

    Liegt eine entsprechende medizinische Indikation (erektile Dysfunktion) vor, kann Patienten „Viagra“, „Cialis“ o. Ä. verordnet werden. Der Verordnung wird ein Beratungsgespräch zwischen Patient und Bezugstherapeut/in regelhaft vorgeschaltet.

    Psychotherapie

    Traumatisierende Ereignisse, die negativen Einfluss auf die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit eines Patienten genommen haben, sollen regelhaft im Rahmen der psychotherapeutischen Befunderhebung festgestellt und behandelt werden.

    Neun von zehn Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein suchtmittelfreies Leben. Nicht wenige Patienten machen die/den potenziellen Partner/in quasi für ihr Wohlergehen und damit ihre Abstinenz verantwortlich. Eine solche Einstellung in Gruppen- und Einzeltherapiegesprächen therapeutisch zu bearbeiten, ist lohnenswert. Dieser Prozess unterstützt die Patienten auf ihrem Weg in die Eigenverantwortlichkeit und stärkt ihre Abstinenzfähigkeit.

    Tiergestützter Behandlungsansatz

    Erfahrungen, die in Vielbach im Rahmen des tiergestützten Behandlungsansatzes gesammelt wurden, helfen ebenfalls bei der Umsetzung von therapeutischen Interventionen in diesem Themenbereich. Die Referentin Sonja Darius traf bei der Fachtagung Sucht & Sexualität zur Rolle von Tieren bei der Heilung von Bindungs- und Beziehungsstörungen die Feststellung: „Ohne das Knüpfen neuer, gelingender Beziehungen wird den meist alleinstehenden Patienten nach der Therapie ein Neustart in ein gutes, suchtfreies Leben nur schwer gelingen. Tiergestützte therapeutische Angebote wie im Fachkrankenhaus Vielbach können gute Voraussetzungen für neue, gelingende Beziehungsaufnahmen schaffen und stellen damit einen wertvollen Beitrag zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Suchtrehabilitation dar.“

    Auch die Erfahrungen externer Kolleginnen und Kollegen fließen in die Weiterentwicklung des Vielbacher Konzeptes ein. Im Rahmen verschiedener Suchtkongresse stellt die Klinik ihr Sucht & Sexualität-Projekt vor und diskutiert es mit den Teilnehmenden.

    (Zwischen-)Resümee

    Mit der offenen Thematisierung des privaten Lebensbereiches „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“, der auch in der Therapie angemessen Platz finden soll, hat das Fachkrankenhaus Vielbach unbeabsichtigt ‚Zauberlehrling‘ gespielt. Die Mitarbeiter/innen waren erst erschrocken, dann erstaunt über die vielfältigen klinikinternen wie externen Reaktionen.

    Die Patienten haben der Klinik mit ihren Beiträgen in der SuchtGlocke und ihren Antworten im Rahmen der Befragung einen ‚Schatz’ anvertraut. Sie haben den Mitarbeiter/innen mitgeteilt, was sie in einem sehr intimen Bereich ihres Lebens bewegt. Ihre Erfahrungen und Fragen, ihre Probleme und Ängste, ihre Wünsche und Träume. Leitung und Team der Klinik wollen auf möglichst viele Fragen Antworten geben, Ängste nehmen, Hoffnung stiften und zusammen mit ihnen realistische Zugänge zu gelingender Partnerschaft und Sexualität schaffen.

    Wie weit gehend? Das werden sie zusammen ausprobieren.

    Kontakt:

    Joachim J. Jösch
    Fachkrankenhaus Vielbach
    Nordhofener Str. 1
    56244 Vielbach
    Tel. 02626/9783-25
    joachim.joesch@fachkrankenhaus-vielbach.de

    Angaben zum Autor:

    Joachim J. Jösch leitet das Fachkrankenhaus Vielbach seit 2006. Zusammen mit der stationären Vorsorge „Neue Wege“ und der „Nachsorge Ambulante Integrationshilfe“ bildet das Fachkrankenhaus das Sucht-Hilfe-Zentrum Vielbach.

    Weiterführende Literatur:
    • Fachklinik Bad Tönisstein (Hrsg.) (1993): Bad Tönissteiner Blätter. Beiträge zur Suchtforschung und ‑therapie. Bd. 5, H. 2. Bad Tönisstein
    • Patienten des Fachkrankenhaus Vielbach (2017): Wann ist Mann eine Mann? In: Patientenzeitschrift SuchtGlocke, Jg. 32, H. 57, S. 14-23
    • Robert Koch Institut (Hrsg.) (2014): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Berlin
    • Stiftung Männergesundheit (Hrsg.) (2017): Sexualität von Männern. Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht. Gießen

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa

    In allen Nationen, Kulturen, Religionen sowie in allen sozialen Schichten und Hierarchieebenen finden sich Suchtkrankheiten. Störungen des Substanzmissbrauchs stellen mit einer Prävalenz von 16,6 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung (Jacobi et al. 2014) die größte Gruppe psychischer Störungen dar. Trotz der hohen Anzahl werden Suchtkranke häufig ausgegrenzt, diskriminiert und stigmatisiert. Der Stigmatisierungsprozess ist ein komplexes Phänomen von Wechselwirkungen zwischen den Betroffenen und der Gesellschaft. Dabei nehmen meist historisch entstandene und nicht hinterfragte Vorstellungen von Normalität und Normabweichung eine entscheidende Rolle ein.

    Auf die Wahrnehmung und Benennung einer Normabweichung erfolgt die Zuschreibung negativer Stereotype, die zu einer Abgrenzung gegenüber den Trägern des Stigmas führt und eine Diskriminierung bewirkt. Bei vielen Betroffenen löst die Diagnose Sucht durch das Bewusstsein der gesellschaftlichen ‚Ächtung‘ einen Selbstverurteilungsprozess aus. Interviews mit Suchtkranken machen deutlich, dass deren negative Gedanken über sich selbst wie z. B. „Ich tauge nichts“, „Ich kriege nichts auf die Reihe“, „Ich bin ja selbst schuld“ mit diskriminierenden Äußerungen von anderen Personen übereinstimmen. Diese negative Identitätsbildung führt zum Selbstwertverlust und wird als Teil der „zweiten Krankheit“ gesehen. Als „zweite Krankheit“ bezeichnet Finzen (2001) die sozialen Auswirkungen der Stigmatisierung, die als ebenso gravierend eingeordnet werden wie die Grunderkrankung an sich.

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung beginnt für viele Betroffene mit der Diagnose Sucht, die verheimlicht wird und zu sozialem Rückzug führt. Diese Normabweichung (Sucht und Rückzug wegen Sucht) bewirkt in der Gesellschaft eine Aktivierung negativer Stereotype – insbesondere von Schuldvorwürfen –, die der Betroffene sich schließlich selbst zuschreibt. Diese Selbstzuschreibung führt zu einer Verhaltensannahme. Infolgedessen geht die Diskriminierung mit einer Verstetigung des kritisierten Verhaltens einher, die wiederum eine Bestätigung der Diagnose bedeutet (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Ein Teufelskreis – die Diagnose als Teil des Stigmatisierungsprozesses (vgl. Bottlender & Möller, 2005, S. 15)

    Die Betroffenen sehen sich durch die Stigmatisierung einer bestimmten Rollenerwartung gegenüber, die sie in ihrem Handeln beeinflusst. Der Mechanismus der Anpassung erfolgt wie in jedem anderen Sozialisationsprozess. Durch die an den Menschen herangetragenen Erwartungen wird das Selbstkonzept entsprechend der self-fulfilling prophecy neu bestimmt. Paradoxerweise wird das deviante Verhalten durch den Konformitätsdruck verstärkt und der Wunsch des Betroffenen, sich in gleichgesinnten Gruppen aufzuhalten, gesteigert. Das süchtige Verhalten wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt verständlich, dass der Betroffene nicht mehr als vollwertiger Interaktionsteilnehmer anerkannt wird, sondern nur noch unter der Prämisse seines Stigmas bewertet wird. Nach Finzen entsteht beim Betroffenen ein gestörtes Grundvertrauen in die Berechenbarkeit sozialer Interaktionen. Studien zur Stigmatisierung von Suchterkrankungen zeigen als häufigstes Maß für die Ablehnung das Bedürfnis der Betroffenen nach sozialer Distanz. Die Ablehnung von Alkoholikern ist im Vergleich zu anderen psychischen oder somatischen Erkrankungen am höchsten (Schomerus et al. 2010).

    Auswirkungen von Stigmatisierung auf die Gesundheit

    Mitglieder stigmatisierter Gruppen weisen ein erhöhtes Risiko für körperliche Erkrankungen sowie für psychische Störungen auf und zeigen aufgrund der stressauslösenden Diskriminierung eine erhöhte Vulnerabilität. Darüber hinaus zeigen Studien einen erschwerten Zugang der Betroffenen zum Gesundheitssystem. Sie spüren eine ablehnende Haltung von Fachkräften einiger Gesundheitsberufe und reagieren darauf mit Vermeidung oder Abbruch der Behandlung. Teils erfolgen vom Pflegepersonal Schuldzuweisungen, dass die Betroffenen ihre Gesundheitsprobleme ja sozusagen „selbst verschuldet“ hätten (vgl. Vogt 2017).

    Strategien gegen Stigmatisierung

    Das Stigma-Memorandum

    Im Frühjahr 2017 wurde das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ veröffentlicht. Eine der Kernaussagen ist die Empfehlung, dass Befähigung und Wertschätzung im Zentrum des Umgangs mit Suchtkranken stehen müssen. Im Sinne des Empowerments sollen Betroffene und Angehörige unterstützt werden, sich gegen das Stigma zu wehren. Begleitend ist eine qualitative Verbesserung im Hilfesystem und der Prävention erforderlich. Die Suchtprävention muss auf stigmatisierende Effekte überprüft werden, und in Studium und Ausbildung von Gesundheitsberufen muss die Anti-Stigma-Kompetenz erhöht werden. Die Öffentlichkeitsarbeit soll durch einen Medienleitfaden zur stigmafreien Berichterstattung professionalisiert und eine Entkriminalisierung des Konsums soll rechtlich weiterentwickelt werden. Im Bereich der Forschung sind Förderungen zur Entwicklung von Strategien der Entstigmatisierung genauso anzustreben wie die Untersuchung von Stigmafolgen bzw. -ursachen, wobei die Einbeziehung Betroffener und Angehöriger notwendig ist.

    Psychologische Forschung

    Weitere Strategien lassen sich aus der psychologischen Forschung entnehmen. Als einheitliche Erkenntnis wird in der Social contact theory (Allport) wie auch in den Prinzipien nach Corrigan et al. (2001) und den Strategien nach Schomerus et al. (2011) der Kontakt, also die direkte Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Stigma, als Grundsatz für die Entstigmatisierung deutlich. Darüber hinaus wird der Protest gegen Diskriminierung durch Meinungsmacher und Fachkräfte sowie die Edukation zur Auflösung stereotyper Verurteilungen als zielführend von Schomerus et al. (2013) benannt. Durch die gesellschaftliche Edukation zum Abbau von Vorurteilen sollen Ansichten, die zur Selbststigmatisierung führen wie „Der Süchtige ist selbst schuld“, aufgelöst werden.

    Öffentlicher Diskurs

    Im öffentlichen Diskurs muss insbesondere auf Sachlichkeit gesetzt werden, Übertreibungen beinhalten häufig stigmatisierende Elemente. Dabei hilft eine akzeptanzorientierte professionelle Grundhaltung, die deutlich macht, dass Sucht nicht die gesamte Person erfasst bzw. ausmacht, also ein Süchtiger nicht nur auf seine Sucht reduziert wird. Das konsequente Auftreten gegen stigmatisierende Angriffe stellt ein wichtiges Element dar, ebenso wie das Arbeiten mit Ansätzen der motivierenden Gesprächsführung.

    Behandlung

    Als eine neue Strategie in der Behandlung wird die Förderung von Selbstmitgefühl gesehen,  Methoden dafür sind Achtsamkeit und Meditation. Unter Selbstmitgefühl wird eine Art Selbstfreundlichkeit verstanden, die mit dem „gemeinsamen Menschsein“ und dem „gelassenen Gewahrsein“ einhergeht. Dadurch kann es dem Betroffenen gelingen, die Selbstverurteilung abzubauen und die Isolation aufzulösen. Die Erkenntnis, dass Krankheit zum Leben dazugehört, also die Fähigkeit, die Erkrankung zu akzeptieren, um daran arbeiten zu können, sind wichtige Schritte in dieser Behandlungsstrategie. Brooks et al. (2012) konnten nachweisen, dass das Selbstmitgefühl bei Alkoholabhängigen weniger ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung und dass das Selbstmitgefühl positiv mit dem Selbstwert zusammenhängt. Aus diesem Grund ist diese Behandlungsmethode gerade im Kontext des Abbaus von Selbststigmatisierung sehr vielversprechend.

    Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention

    Entsprechend dem o. g. Memorandum wird empfohlen, dass Präventionsmaßnahmen routinemäßig auf mögliche stigmatisierende Effekte hin geprüft werden. Im Memorandum wird herausgestellt, dass Gesundheitsförderung und Prävention durch abschreckende und stereotypisierende Elemente stigmatisierend wirken und die Zielgruppen dadurch ausgegrenzt bzw. abgewertet werden können.

    Im Rahmen selektiver Prävention besteht die Gefahr, dass die Zielgruppe allein durch die erhöhte Risikoexposition und ohne Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, schon als Risikoträger identifiziert wird. Wicki et al. (Zürich 2000) ermittelten anhand einer Literaturrecherche bei 25 Prozent der sekundärpräventiven Programme eine Zunahme des Substanzkonsums der Jugendlichen. Die Forscher begründeten den negativen Effekt durch Etikettierung der Zielgruppe als Risikojugendliche und den vermehrten Kontakt mit anderen riskant konsumierenden Peers. Als Ursache für solche unerwünschten Programmergebnisse (Dishion 1999) wird der „deviant talk“ benannt, wodurch sich die Jugendlichen gegenseitig innerhalb der Gruppe in ihrem abweichenden Verhalten bestärken. Obwohl die Ressourcenorientierung in der Suchtprävention zunimmt, überwiegen Konzepte für Risikogruppen, die anhand von Risikofaktoren ermittelt werden. Diese Faktoren geben aber nur einen Hinweis auf potentielle Gefährdungen und können keine Kausalitäten darstellen. Sobald Präventionsfachkräfte im Rahmen der Risikobewertung Zusammenhänge konstruieren und Werturteile fällen, greifen soziale Stigmata und Gefährdungsannahmen unreflektiert ineinander.

    Die Stigma-Checkliste der Stadt Zürich

    Eine zeitgemäße stigmafreie Suchtprävention muss sich mit solchen Stigmatisierungseffekten auseinandersetzen. Hierfür hat die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich eine Stigma-Checkliste (Berger 2012) entwickelt. Inwieweit diese in der präventiven Praxis in Deutschland Anwendung findet, wurde im Rahmen von leitfadengestützten Expert/inneninterviews ermittelt (Kostrzewa 2017). Der Fokus wurde dabei auf Ressourcenorientierung, Partizipation und Empowerment gelegt, weg von einer defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer resilienzfördernden Prävention. Die Expert/innen waren 14 Fachkräfte der Suchtprävention und -arbeit mit einem durchschnittlichen Arbeitszeitumfang von 71 Prozent für Suchtprävention und 21,2 Berufsjahren im Durchschnitt. In den Interviews wurden sie nach einer Bewertung der in der Zürcher Stigma-Checkliste vorgestellten Strategien mit „sinnvoll“, „umsetzbar“ und „bekannt“ gefragt. Insgesamt gaben 85,7 Prozent der Befragten an, sich schon mal mit dem Thema Stigma bei Suchtkranken auseinandergesetzt zu haben, jedoch nur zwei Fachkräfte gaben an, die Checkliste aus Zürich zu kennen. Folgende Ergebnisse hat die Befragung im Einzelnen erzielt:

    Die Strategie der offenen Fehlerkultur, durch die negative stigmatisierende Auswirkungen von Suchtpräventionsmaßnahmen benannt werden, um aus ihnen zu lernen, wurde von den Expert/innen zu 100 Prozent als sinnvoll, zu 85,7 Prozent als umsetzbar und zu 42,8 Prozent als schon bekannt bewertet. Es gab dabei große Unterschiede in den Aussagen von „… Fehleranalyse ist ein ganz wichtiger Punkt, muss man auch klar ansprechen …“ bis „… alles, was unter dem Aspekt Nachbereitung läuft, das spielt eigentlich keine große Rolle, da ist keine Zeit für …“.

    Inwieweit standardisierte Reflexionsfragen zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention etwas beitragen können, blieb unklar: 57,1 Prozent bewerteten diese Strategie als sinnvoll und 50 Prozent als umsetzbar, während sie aber nur 14,2 Prozent der Expert/innen bekannt war.

    Eine klare Position der Expert/innen zeichnete sich bei der Strategie Ressourcenorientierung beim Adressaten ab, mit der Partizipation und Empowerment gestärkt werden sollen. Diese Strategie bewerteten 100 Prozent als sinnvoll und 85,7 Prozent als umsetzbar, für 50 Prozent war es bereits eine bekannte Strategie. Eindeutige Aussagen wie „… ressourcenorientiert, das ist der einzige mir sinnvoll erscheinende Weg, das Stigma überhaupt zu reduzieren“ können als richtungsweisend bezeichnet werden.

    Die Offenlegung von Zielen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Adressat/innen wurde von 92,9 Prozent als sinnvoll bewertet, von 78,6 Prozent als umsetzbar und von 57,1 Prozent als bekannt. Es wurde deutlich, dass bei diesem Punkt abhängig von der Zielgruppe auch sprachliche Schwierigkeiten auftreten können.

    Die Strategie der Resilienzförderung zur Entwicklungsbegleitung wurde zu 100 Prozent als sinnvoll und zu 85,7 Prozent als umsetzbar bewertet und damit eindeutig positiv eingeordnet, während sie aber nur 35,7 Prozent der Expert/innen als Strategie in der Suchtprävention bekannt war. Aussagen wie „Ja, aber ich glaube, das ist noch so in den Anfängen …“ machen dies gut deutlich.

    Auf die Frage nach eigenen Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention wurde der Kontakt, explizit das Reden mit den Betroffenen, als zentrales Element durch die Expert/innen bestätigt.

    Als Fazit der Expert/inneninterviews lässt sich herausstellen, dass eine Modernisierung der Suchtprävention in Richtung einer Verstärkung der Ressourcenorientierung und Resilienzförderung als vielversprechend für die Entstigmatisierung gesehen wird: „… es würde der Suchtprävention sicherlich gut tun, den Fokus auf Resilienzförderung zu verschieben.“

    Partizipative Theaterarbeit

    Eine weitere Methode zur Entstigmatisierung ist in der partizipativen Theaterarbeit zu sehen. Diese interaktive Theaterform ermöglicht im Spiel die Teilhabe und Interaktion von Betroffenen in der Gesellschaft (Abbildung 2). Durch die Aufnahme der Strategien des Protests, der Edukation und des Kontaktes lässt sich der stigmatisierende Alltag dekonstruieren. Integration und Offenheit im Alltag werden ermöglicht, um am Abbau des Vorurteils „Der Süchtige ist selbst schuld“ mitzuwirken und so den Teufelskreis von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung zu durchbrechen bzw. aufzulösen.

    Abbildung 2: Entstigmatisierung durch partizipative Theaterarbeit
    Kontakt:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa
    Gesundheitsakademie Nord e.V.
    Holstenstraße 68a
    24103 Kiel
    regina.kostrzewa@gesundheitsakademie-nord.de
    www.gesundheitsakademie-nord.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa, Dipl.-Pädagogin, ist 1. Vorsitzende der Gesundheitsakademie Nord e.V. in Kiel. Seit Oktober 2015 ist sie als Professorin für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik an der Medical School Hamburg tätig. Dort ist sie auch Studiengangsleiterin des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. Zuvor war sie 25 Jahre in der Suchtarbeit in Schleswig-Holstein tätig und entwickelte eine Reihe innovativer suchtpräventiver Maßnahmen und Projekte, die auch über die Landesgrenzen hinaus im Bundesgebiet zum Einsatz kamen.

    Literatur:
    • Berger, C. (2017): Stigmatisierung trotz guter Absicht – Zum Umgang mit einem konstitutiven Dilemma in der Suchtprävention. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 49. Jg., Heft 2, Tübingen, 335 – 345.
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    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im ersten Teil des Artikels (vom 11. Juli 2017) wurden die Schwachstellen des Versorgungssystems im Hinblick auf die Reintegration in Arbeit von abhängigkeitskranken Langzeitarbeitslosen als Hintergrund für die Entstehung des Projektes Su+Ber beschrieben. Im zweiten Teil wird nun das Projekt selbst vorgestellt. Im Rahmen des Projekts Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) haben Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitserkrankung in Baden-Württemberg seit Anfang 2016 die Möglichkeit, sich im Rahmen einer Arbeitsfördermaßnahme ohne Abstinenzverpflichtung mit dem eigenen Suchtverhalten auseinanderzusetzen, soweit dieses eine berufliche Reintegration und eine soziale Teilhabe konkret beeinträchtigt oder gefährdet. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF).

    Zentrale Entwicklungsziele des ESF-Projekts Su+Ber

    Karl Lesehr

    Anstelle eines weiteren Abmühens an bestehenden sozialleistungsrechtlichen Abgrenzungen und an Schnittstellen, die den institutionellen Eigenlogiken entsprechen, wird in Su+Ber eine neuartige und konsequent nutzerorientierte Vernetzung von Jobcenter, Arbeitshilfeträger und Suchtberatung entwickelt. Dabei ist die Beratungsstelle als anerkannter Leistungserbringer der ambulanten Suchtrehabilitation an einer zeitlichen, örtlichen, personellen und fachlichen Vernetzung zweier teilhabeorientierter Sozialleistungen (Suchtreha und Arbeitsförderung) im Lebensalltag der langzeitarbeitslosen Menschen beteiligt. Durch diese Leistungsvernetzung wird für die Projektteilnehmer eine auch über den Zeitpunkt einer Arbeitsaufnahme hinausreichende Betreuungskontinuität ermöglicht. Durch projektspezifische Instrumente und durch standardisierte Bausteine der Zusammenarbeit soll erreicht werden, dass die beiden Leistungsträger jeweils ihre volle Leistungsverantwortung beibehalten, sich aber auch wie die beiden Leistungserbringer als Partner einer gemeinsamen Entwicklungsförderung verstehen und sich ungeachtet aller eigenen abgegrenzten Leistungszuständigkeiten auf eine gemeinsame Suche nach der im Einzelfall wirksamsten Förderungsoption einlassen.

    Kooperation kann nur dann funktionieren, wenn für alle Beteiligten auch Erfolge erkennbar werden: Das Projekt Su+Ber konzentriert sich deshalb ganz bewusst auf Langzeitarbeitslose, für die schon nach einer relativ kurzen und durch suchtrehabilitative Leistungen gestützten Arbeitsfördermaßnahme eine realistische Chance auf die Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz vermutet und dann realisiert werden kann. Als mögliche Zielgruppen wurden daher definiert:

    • Langzeitarbeitslose, die hinreichend stabil substituiert und an einer vollwertigen beruflichen Reintegration nachweislich interessiert sind,
    • Langzeitarbeitslose, die aufgrund gescheiterter Rehaerfahrungen oder auch persönlicher Entscheidung aktuell nicht zu einer abstinenzgebundenen Suchtrehamaßnahme fähig oder bereit sind (v. a. Alkohol), bei denen aber begründete Aussicht besteht, dass sie mit einem strukturierten Suchtmittelkonsum hinreichend arbeitsfähig und in der Lage sind, ihren Lebensalltag nachhaltig ohne suchtbedingte Krisen in den Griff zu bekommen,
    • langzeitarbeitslose Rehabilitanden aus einer (teil)stationären Suchtrehamaßnahme, die sich bereits für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben und für die eine Rückkehr in die vertraute soziale Umgebung wünschenswert ist, die aber nach ihrer regulären Entlassung noch nahtlos eine gezielte alltagsnahe Weiterbehandlung und Förderung für eine wirksame berufliche Reintegration brauchen,
    • langzeitarbeitslose Teilnehmer aus ambulanter Suchtreha, die sich zwar für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben, die aber im Rehaverlauf wiederholt Probleme bei der Aufrechterhaltung einer umfassenden Abstinenz hatten und die aktuell auch nicht für eine stationäre Suchtrehamaßnahme gewonnen werden können; diese Teilnehmer können dann in die arbeitsorientierte ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber übernommen werden, wenn trotz der Suchtmittelrückfälle während der ambulanten Reha eine erfolgreiche Weiterführung der Suchtrehabilitation im Rahmen des Projekts Su+Ber zu vermuten ist.

    Das Projekt Su+Ber geht davon aus, dass sich für eine derartige konkrete Arbeitsplatzperspektive vor allem Klienten gewinnen lassen, die bereits seit langem wiederholt oder kontinuierlich Betreuungsleistungen der Beratungsstelle nutzen oder die durch abstinenzgebundene Suchtrehamaßnahmen nicht wirksam im Erwerbsalltag stabilisiert werden konnten. Entscheidende Voraussetzung für das Projekt Su+Ber ist deshalb ein Konzept suchtrehabilitativer Leistungen, das sich konsequent an einer konstruktiven Bewältigung von Arbeitsrealität orientiert und bei dem eine Suchtmittelabstinenz nur eine mögliche (und oft auch wünschenswerte) Option im Umgang mit Suchtmitteln darstellt. Ziel der suchtrehabilitativen Arbeit im Projekt Su+Ber ist demnach die Entwicklung einer beschäftigungssichernden eigenen Problemwahrnehmung und Risikokompetenz, also einer der aktuellen Lebenslage entsprechenden Selbststeuerungskompetenz und -bereitschaft.

    Konzeptionelle Umsetzung des ESF-Projekts Su+Ber

    Für diese Projektideen konnte im Förderaufruf NaWiSu im Herbst 2015 die Unterstützung der Landespolitik, aber auch der Regionaldirektion für Arbeit und der DRV Baden-Württemberg gewonnen werden. Mit sechs Standorten konnte das Projekt Su+Ber zum Jahresbeginn 2016 starten. Beteiligt sind sechs Jobcenter (davon drei von Optionskommunen), sechs federführende Suchtberatungsstellen (die sich im Vorfeld mit anderen Suchtberatungsstellen im regionalen Einzugsgebiet auf eine gemeinsame Nutzung dieses Projekts verständigt hatten) und sechs an diesem Projekt interessierte Arbeitshilfeträger. Projektträger ist die Werkstatt Parität Stuttgart. Die zunächst aus haushaltstechnischen Gründen auf zwei Jahre begrenzte Projektlaufzeit wird nach aktuellem Stand wohl bis Ende 2018 auf dann drei Jahre verlängert werden, um so auch sinnvolle erste Entwicklungsdaten gewinnen zu können.

    Im Projekt werden aus Landesmitteln nur die Suchtberatungsstellen (Aufwand für 0,8 Vollzeitkräfte) und der Projektträger gefördert; für die Arbeitsfördermaßnahmen wurden im Projektaufruf vergleichsweise günstige Personalschlüssel definiert, die eine intensive Kooperation ermöglichen sollen und von den beteiligten Jobcentern voll finanziert werden. Die DRV Baden-Württemberg fördert die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch das Institut für Therapieforschung München (IFT). Die Entwicklung der notwendigen Rahmenkonzeption für eine projektspezifische ambulante Suchtreha sowie die Einbindung der projektbezogenen Evaluation in die Systematik der Deutschen Suchthilfestatistik wurden ergänzend einmalig vom Suchtreferat des Sozialministeriums gefördert.

    Das Projekt sieht für die Teilnehmer drei Projektphasen vor:

    • In der Phase A (Clearing) bemühen sich die beteiligten Einrichtungen um die Gewinnung und Motivierung von Projektteilnehmern (Grobclearing, Erarbeitung einer persönlichen Entwicklungsperspektive). Dies erfolgt zunächst in den jeweils eigenen Handlungsfeldern und mündet im gemeinsamen prognostischen Verfahren eines Grobclearings, bei dem alle mit dem potentiellen Projektteilnehmer persönlich befassten Kontaktpersonen eine Einschätzung abgeben sollen (also Jobcenter, Beratungsstelle, Arbeitshilfeträger, Substitutionsarzt, Bewährungshelfer o. ä.). Das Grobclearing dient der für jede Sozialleistung erforderlichen prognostischen Einschätzung der aktuell nutzbaren Fähigkeiten und Ressourcen. Es muss zwingend ergänzt werden um eine Klärung der persönlichen Entwicklungsperspektiven und der Teilhabebereitschaft. Die Ergebnisse dieses umfassenden Grobclearings bilden die Grundlage einer gemeinsam abgestimmten Behandlungs- und Maßnahmenempfehlung gegenüber der DRV Baden-Württemberg bzw. dem Jobcenter. Um schon in dieser Phase der Teilnehmergewinnung die Erfahrungen an einem konkreten Arbeitsplatz motivationsklärend nutzen zu können, wurde im Projektverlauf die Möglichkeit geschaffen, dass potentielle Projektteilnehmer quasi auf Probe dem Arbeitshilfeträger für eine Arbeitsfördermaßnahme zugewiesen werden und dass dann in diesem Setting alle weiteren Clearingaktivitäten erfolgen.
    • Die Phase B (Training, Entwicklung) besteht aus der Integration einer sechs- bis achtmonatigen Maßnahme der Arbeitsförderung und einer Maßnahme der projektspezifischen ambulanten Suchtreha. Die Teilnahme ist nur möglich, wenn die Teilnehmer sich freiwillig für diese Leistungsvernetzung entscheiden und mit dem Projektkonzept einverstanden sind. Im Projekt Su+Ber wird zudem eine personelle Verflechtung zwischen der Suchtberatung und dem Sozialdienst des Arbeitshilfeträgers angeregt, die Arbeitsfördermaßnahme sollte regelmäßig auch vor Ort suchtkompetent begleitet und beobachtet werden (sechs bis acht Wochenstunden). Die Leistungen der ambulanten Suchtreha sollen dabei bestmöglich in die Arbeitsplatzstruktur und in den Lebensalltag der Teilnehmer eingebunden sein und hier v. a. einen konfrontierend-stützenden Charakter haben: Ziel ist es, die Kompetenz der Teilnehmer, ihre arbeitsplatzrelevanten Risiken und Schwächen zu erkennen, zu fördern und die Teilnehmer dann gezielt bei konstruktiven Verhaltensmustern zu unterstützen.Nach den ersten acht Wochen in Phase B wird das Grobclearing wiederholt; dabei sollen sowohl das aktuelle Reintegrationsziel als auch der dafür gewählte Weg über das Projekt Su+Ber überprüft und bei Bedarf zusammen mit dem Teilnehmer Entscheidungen zur Veränderung der individuellen Entwicklungsplanung getroffen werden. Bis zum Ende der sechs- bis achtmonatigen Arbeitsfördermaßnahme soll eine Vermittlung an einen sozialversicherungspflichtigen eigenen Arbeitsplatz intensiv versucht und über Betriebspraktika unterstützt werden.Bei einer vorzeitigen Beendigung der Projektteilnahme nach dem zweiten Grobclearing oder auch bei einer Beendigung ohne erfolgreiche Vermittlung an einen eigenen Arbeitsplatz findet eine abschließende Auswertung statt, in der der Teilnehmer von allen Beteiligten eine differenzierte Bewertung der mit ihm gemachten Erfahrungen erhält. Gemeinsam wird dann nach anderen, möglicherweise wirksameren, Fördermöglichkeiten und Behandlungsformen oder nach anderen aktuell vorrangigen Interventionsformen gesucht; entsprechende Maßnahmen werden möglichst unmittelbar im Kontext der Leistungsvernetzung eingeleitet. Grundhaltung bei all diesen Bemühungen ist, dass eine Maßnahme zwar vielleicht nicht zum gewünschten Ergebnis geführt und der Teilnehmer möglicherweise bislang unbekannte Entwicklungsbedarfe entdeckt hat, dass aber eine vorzeitige Beendigung oder eine Beendigung ohne Arbeitsplatzvermittlung nicht automatisch schon als Versagen oder Scheitern des Teilnehmers wahrgenommen wird.
    • In der Phase C (nachhaltige Stabilisierung der Arbeitsreintegration) hat der Teilnehmer im Regelfall einen eigenen Arbeitsplatz und kann dann für weitere zwölf Monate eine intensive suchtrehabilitative Begleitung und Stabilisierung seiner alltäglichen Arbeits- und Lebenssituation nutzen, auch direkt am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld. In diese Weiterbetreuung können im Interesse von Beziehungskontinuitäten auch Fachkräfte des Arbeitshilfeträgers integriert werden.

    Erfahrungen und Ergebnisse aus dem ersten Projektjahr 2016

    An allen Projektstandorten wurden zwischen den beteiligten Akteuren verbindliche und regelmäßige (teilweise monatlich) fallbezogene Arbeitsformen aufgebaut, die von den Beteiligten durchweg als lohnend und hilfreich erlebt werden: In der fallbezogenen Vernetzung geht es nicht mehr nur um Informationsaustausch, sondern zunehmend darum, wie nächste Schritte für einen konkreten Menschen gemeinsam wirksam gestaltet werden können. Vor allem die für das Projekt an mehreren Standorten definierten ‚Scharnierverantwortlichen‘ in den Jobcentern werten diese Netzwerkstrukturen als sehr hilfreich und trotz hoher Sitzungsdichte erstaunlich effizient. Während sich die beteiligten Jobcenter meist relativ leicht über die Beauftragung solcher institutioneller Bezugspersonen für das Projekt Su+Ber verständigen konnten, erwies sich eine vergleichbare Verankerung in den beteiligten Suchtberatungsstellen und v. a. auch in kooperierenden anderen Suchtberatungsstellen teilweise als strukturell mühsam und sogar konflikthaft.

    An einzelnen Standorten gab es durch das Projekt Su+Ber erstmals mehr als nur punktuelle Gesprächskontakte zwischen Suchtberatung und Arbeitshilfeträgern. Das Eintauchen in die Denkvorstellungen und in die Handlungswirklichkeiten der jeweils anderen Seite bedeutet natürlich auch Verunsicherung, wird aber vielerorts als Neuland erlebt, in dem auch bislang unbekannte Entwicklungsmöglichkeiten für die eigenen Klienten/Kunden gestaltet werden können. Allein schon die eigenen Suchtklienten außerhalb des Beratungszimmers in einer vergleichsweise normalen Alltagssituation mit all ihren Implikationen erleben zu können, kann Horizonte öffnen.

    Mit dem relativ einfachen Instrument des Grobclearings wurde eine effiziente Form gefunden, in der sich die verschiedensten Akteure trotz aller fachlichen und menschlichen Unterschiede in eine gemeinsame Entwicklungsplanung einbringen und gleichzeitig von den Einschätzungen anderer profitieren können. Nicht zuletzt ist die gemeinsame Bearbeitung dieses Grobclearings für die Teilnehmer selbst eine sehr differenzierte und letztlich stärkende Beziehungserfahrung – sie können im Idealfall ein entwicklungsorientiertes persönliches Beziehungsnetz erleben.

    Gleichzeitig wird über das Projekt Su+Ber auch deutlich, wie ‚behandlungsfixiert‘ in den beteiligten Suchtberatungsstellen teilweise noch gearbeitet wird. Aus den ersten Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung ging hervor, wie wenig die Frage einer konkreten Reintegration in Arbeit beispielsweise bei der Rehagesamtplanung und Rehavermittlung bislang schon berücksichtigt wird oder auch wie selten solche Rehaplanungen nicht nur das Ergebnis eines individualisierten Beratungsprozesses sind, sondern auch die differenzierte Expertise eines ganzen Teams einbeziehen.

    Ähnliches gilt für die Fachkräfte der Arbeitshilfeträger, die ja auch in vielen sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen mit Menschen mit Abhängigkeitsstörungen konfrontiert sind und deshalb notgedrungen oft sehr pragmatisch-kurzfristige Problemlösungen im Umgang mit diesen Menschen entwickelt haben. Jetzt in der Auseinandersetzung mit suchtkompetenten Kollegen zu entdecken, dass deren zentrales Handwerkszeug eine reflektierte und methodisch geschulte Beziehungsarbeit ist, hilft diesen Fachkräften, einen umfassenderen Blick auf die Lebenslage und damit auf die Entwicklungsoptionen und Förderungsbedarfe des einzelnen Teilnehmers zu finden.

    Zu Projektbeginn hat sich die Projektgruppe intensiv mit dem Institut für Therapieforschung München (IFT) über Möglichkeiten und Details einer wissenschaftlichen Evaluation verständigt. Ziel war es, für alle standardisierten Evaluationsdaten die EDV-gestützte Datenerhebung für die Deutsche Suchthilfestatistik zu nutzen und deshalb alle weiteren für das Projekt notwendigen teilnehmerbezogenen Daten auch darüber zu erheben. Nachdem der Verfasser dieses Artikels als Mitglied des Fachausschusses Statistik der DHS damals unmittelbar in die Überarbeitung des Kerndatensatzes Sucht eingebunden war und zudem in Baden-Württemberg vom Sozialministerium mit der Erweiterung des KDS 3.0 um einen landesspezifischen Datensatz und dessen Implementierung in die Dokusoftware beauftragt war, waren hier zahlreiche Synergieeffekte möglich.

    Im bisherigen Projektverlauf mussten die Initiatoren lernen, dass zahlreiche Klienten (v. a. Substituierte), die nach Einschätzung der betreuenden Beratungsstelle durchaus für eine Projektteilnahme geeignet und daran auch interessiert wären, viel stärker in ihrem aktuellen (eben auch arbeitslosen) Lebensstil verankert sind, als sie sich bislang wohl selbst eingestanden hätten. Es wird verstärkt deutlich, dass vielerorts das Behandlungskonzept der Drogensubstitution immer weniger mit der Perspektive einer Verbesserung beruflicher Teilhabe verbunden ist: Für viele Mitarbeiter in der Suchthilfe und angrenzenden Gebieten impliziert das Bemühen um die Aufnahme einer Arbeit den Ausstieg aus der Substitutionsbehandlung (was auch die Premos-Studie – aber als eher problematisch – skizziert, vgl. Wittchen et al., 2011). Gleichzeitig wurde deutlich, dass für eine wirksame Motivierung für eine berufliche Reintegration eben nicht nur der einzelne Patient/Klient, sondern eben auch verstärkt die subjektiven Realitäten des familiären und sozialen Umfelds einbezogen werden müssen.

    Für den Verfasser als fachlichen Begleiter des Projekts Su+Ber war und ist die schönste Erfahrung, dass immer wieder Projektmitarbeiter in der Suchtberatung begeistert entdecken, welche Gestaltungsfreiräume sich für sie in ihrer Arbeit mit dem Projekt auftun. Natürlich ist dieses Projekt mit einem erheblichen Mehraufwand an Arbeit verbunden, und natürlich stellen sich in einem solchen Vernetzungsprojekt zahlreiche Fachfragen und auch datenschutzrechtliche Unsicherheiten. Gemeinsam wurden aber bislang für alle diese Fragen konstruktive und alltagstaugliche Lösungen gefunden. Dennoch muss allen Beteiligten klar bleiben, dass niemand für alle Situationen und alle individuellen Bedarfe von Hilfe Suchenden eine passende Problemlösung bereitstellen kann – schon gar nicht im Rahmen eines Modellprojekts, das die Ergebnisse ganz spezifischer Lösungswege sauber evaluieren will.

    Konzeption für eine ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber

    Zentrales Arbeitsergebnis aus dem ersten Projektjahr ist die intensive Erarbeitung einer Rehakonzeption für das Su+Ber-Projekt, die zum Jahresende 2016 auch von der DRV Baden-Württemberg anerkannt wurde. Mit dieser Konzeption gewährt die DRV Baden-Württemberg für das Projekt Su+Ber zahlreiche Entwicklungsfreiräume. Dafür ist die Projektgruppe dankbar und sie ist stolz zugleich, denn es war auch in der Projektgruppe Mut notwendig, um in diesem Maß über bewährte Formen hinaus zu denken und dennoch die gewohnte Leistungsqualität ambulanter Suchtreha nicht aus dem Blick zu verlieren. Viele dieser Entwicklungsfreiräume gilt es nun im weiteren Projektverlauf teilnehmerorientiert und kreativ zu nutzen und zu gestalten – immer mit Blick auf eine wirksame und nachhaltige Reintegration in Arbeit und die darauf orientierte Evaluation der Projektarbeit. Im Folgenden werden wesentliche Innovationen dieser Rehakonzeption dargestellt:

    • Für die ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber wurden die möglichen Zielgruppen (Indikationskriterien) erweitert, es besteht keine Abstinenzvoraussetzung und auch keine zwingende Abstinenzperspektive – zentrales suchtrehabilitatives Kriterium ist vielmehr eine stabile berufliche Reintegration bei dafür notwendiger Reduktion bzw. Auflösung suchtassoziierter Risiken.
    • Die DRV Baden-Württemberg ist bereit, die Ergebnisse des leistungsträgerübergreifenden und interdisziplinären Grobclearings als wesentlichen Baustein der für eine Leistungszusage notwendigen Erfolgsprognose zu nutzen. Analog dazu werden auch projektbezogene Entscheidungen zur vorzeitigen Beendigung einer Projektteilnahme von der DRV für die bewilligte Suchtrehamaßnahme übernommen (im Regelfall endet mit der Projektteilnahme also auch die ambulante Suchtreha, sofern nicht gemeinsam mit dem Rehabilitanden die Weiterführung in einer anderen Suchtrehaform vereinbart wurde).
    • Im Projekt Su+Ber sollen geeignete Verfahren zur Erarbeitung teilhaberelevanter persönlicher Entwicklungsziele und -bereitschaften entwickelt werden, auf deren Grundlage die Nutzung unterschiedlicher Rehaformen wirksamer gesteuert werden könnte.
    • Für die auf eine unmittelbare Arbeitsintegration orientierte ambulante Suchtreha wurden vorläufig sieben suchtrehabilitative Entwicklungsdimensionen formuliert, die für die Fachkräfte sowie für den einzelnen Teilnehmer eine verständliche Grundlage für die jeweiligen in einer Rehagesamtplanung zu vereinbarenden suchtrehabilitativen Leistungen sein sollen. Die Verfasser der Konzeption erhoffen sich von einer konsequenten Zuordnung aller suchtrehabilitativen Leistungen zu diesen sieben Dimensionen, dass darüber auch eine qualitative Professionalisierung der entsprechenden suchtrehabilitativen Kompetenzen der Fachkräfte in der Suchtberatung/ambulanten Suchtrehabilitation erleichtert werden kann.
    • Die ersten Erfahrungen mit den Projektteilnehmern haben rasch gezeigt, dass die vertrauten Arbeitsformen ambulanter Suchtreha bei ihnen auf wenig Gegenliebe und teilweise sogar auf offene Ablehnung stoßen. Manche Teilnehmer wären z. B. mit den üblichen Gruppensitzungen weitgehend überfordert. Sehr positiv ist deshalb, dass sich die DRV Baden-Württemberg darauf eingelassen hat, für die Arbeit im Projekt Su+Ber statt der sonst verbindlichen Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) projektspezifische Leistungskategorisierungen zuzulassen und zu erproben. Der von der Projektgruppe entwickelte Katalog suchtrehabilitativer Leistungen im Projekt Su+Ber gliedert sich auf der ersten Ebene in sieben Inhaltsdimensionen und ordnet diesen dann auf einer zweiten Ebene Leistungsarten zu (jeweils etwa zehn Maßnahmen mit dem einzelnen Teilnehmer bzw. mit einer Gruppe oder im sonstigen sozialen Kontext). Diesen damit inhaltlich und formal definierten Maßnahmen werden dann Zeiteinheiten in 10-Minuten-Schritten zugeordnet. Mit dieser Variabilität von Zeit und der Unabhängigkeit der Leistungsarten von Therapieschulen sollen auch kleinteilige Interventionsformen ermöglicht werden, die im Setting der Arbeitsfördermaßnahme oder im Alltag von den Teilnehmern gut umgesetzt werden können. Für eine Leistungsabrechnung werden solche kleinteiligen Zeiteinheiten dann zu den für die ambulante Suchtreha geltenden Abrechnungseinheiten zusammengefasst.
    • Während sich in den letzten Jahren v. a. in der stationären Suchtrehabilitation das Spektrum arbeitsbezogener Suchtrehaleistungen deutlich ausdifferenziert hat, geht das Projekt Su+Ber bei seiner Leistungsvernetzung davon aus, dass alle unmittelbar auf die Arbeitsintegration bezogenen Förderleistungen in der vorrangigen Leistungszuständigkeit des SGB II bleiben. Für Leistungen wie z. B. das Bewerbungstraining wird die Suchtreha deshalb im Regelfall nur supportiv einbezogen, um dabei die spezifischen Probleme und Risiken, die aufgrund einer Abhängigkeitsstörung bestehen, zu thematisieren.
    • Für das Projekt Su+Ber besteht von Seiten der DRV Baden-Württemberg sowohl die Bereitschaft zu den im Projektverlauf notwendig kurzfristigen Leistungsentscheidungen als auch zu einer Langfristigkeit für die im Projektverlauf konzipierte Gesamtbetreuungszeit (inklusive einer gegebenenfalls für die Absicherung der vollen Projektlaufzeit noch erforderlichen Suchtrehanachsorge). Gleichzeitig besteht die Bereitschaft, einen Übergang in das Projekt Su+Ber aus anderen (abstinenzorientierten) Rehaformen bei fachlicher Begründung und einer Mitwirkungsbereitschaft des Rehabilitanden zeitnah zu ermöglichen.

    Nach den erwartbaren anfänglichen Schwierigkeiten nicht nur bei der Teilnehmergewinnung, sondern auch bei der konkreten Umsetzung des Projekts im ersten Projektjahr sind die Initiatoren wirklich neugierig darauf, welche differenzierten ersten Ergebnisse und Bewertungen der Projektarbeit sie vom IFT in den nächsten Wochen und Monaten als externes Feedback erwarten dürfen.

    Literatur beim Verfasser. Alle im Text erwähnten projektbezogenen Unterlagen sind als Datei über den Verfasser erhältlich.

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Das Projekt „Chancen und Wege“

    Das Projekt „Chancen und Wege“

    Clarissa Abromeit
    Monika Schnellhammer

    Hinter Langzeitarbeitslosigkeit verbirgt sich oft auch eine Suchtproblematik. Diese Erkenntnis brachte das Jobcenter und den Caritasverband in Osnabrück zusammen an einen Tisch. Heraus kam das erfolgreiche Kooperationsprojekt „Chancen und Wege“, das mittlerweile seit fünf Jahren läuft. Die Teilnehmer/ innen des Programmes sind Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. „Chancen und Wege“ unterstützt sie mittels Arbeitsmöglichkeiten und sozialpädagogischer Betreuung dabei, sich Schritt für Schritt auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten und Vermittlungshemmnisse abzubauen.

    Der problematische Konsum von Suchtmitteln, verhaltensbezogene Störungen, Komorbiditäten und psychische Erkrankungen sind Hemmnisse, die die (Wieder-)Eingliederung in den Erwerbsbezug verhindern können. Für Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen findet zu wenig adäquate Förderung statt, um Vermittlungsergebnisse und eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation zu erzielen. Zu dieser Erkenntnis gelangte auch das Jobcenter Osnabrück im Zuge der Umsetzung des SGB II. Die persönlichen Ansprechpartner/innen des Jobcenters sowie die Fallmanager/innen vermitteln zwar erfolgreich in Arbeit, jedoch ist es ihnen aufgrund ihrer hohen Fallzahlen nicht möglich, ihre Kunden so intensiv wie in einer Maßnahme zu begleiten. Außerdem wurde eine Suchtproblematik als wichtiges Thema vieler Arbeitsuchender erkannt.

    Gemeinsames Ziel: Stabilität schaffen durch Struktur

    Aus diesen Gründen schrieb das Jobcenter über das Regionale Einkaufszentrum Nord eine Maßnahme aus, welche folgende Inhalte aufweisen sollte: Die Maßnahme sollte tagesstrukturierend sein, auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, zielgruppenspezifische Angebote umfassen und eine intensive Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse ermöglichen. Mitarbeiter der Suchtberatung des Caritasverbandes in Osnabrück erarbeiteten daraufhin ein Konzept, das explizit diese Zielgruppe mit den entsprechenden Vermittlungshemmnissen erreichen sollte. Durch die suchtspezifische Fachlichkeit, die Nähe zur Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation, aber auch zu anderen Fachbereichen und Kooperationspartnern, sollte der Zugang erleichtert werden, und Schwellenängste der Teilnehmenden sollten verringert werden. Nicht allein die Preiskalkulation, sondern die Qualität der Maßnahme stand dabei im Vordergrund. Der Caritasverband Osnabrück bekam den Zuschlag zunächst für ein Jahr. Inzwischen läuft die Maßnahme im fünften Jahr nach der dritten Ausschreibung, diesmal voraussichtlich bis 2019.

    Das so zustande gekommene Projekt „Chancen und Wege“ (CuW) ist eine Maßnahme zur Aktivierung und Stabilisierung von erwerbsfähigen Erwachsenen nach § 16 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Die Teilnehmenden im Alter von über 25 Jahren weisen zahlreiche Vermittlungshemmnisse auf. Ziele der Maßnahme sind die Feststellung, Verringerung oder Beseitigung der Vermittlungshemmnisse und die Heranführung der Teilnehmenden an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Im besten Fall gelingt nach der Aktivierung und Stabilisierung die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die weiterbegleitet und nachbetreut werden kann.

    An der Maßnahme „Chancen und Wege“ haben seit 2012 247 Personen teilgenommen. Davon konnten 227 Teilnehmende aktiviert werden. Das heißt, je nach Vermittlungshemmnis wurden gemeinsam individuelle Zielvereinbarungen erstellt, und die Teilnehmenden wurden zu weiterführenden Fachstellen begleitet. Hierbei kann es sich um Schuldnerberatung, Wohnungscoaching, Ambulant betreutes Wohnen, Integrationsfachdienst, Rechtliche Betreuung, Ambulante Assistenz oder fachärztliche Behandlungen handeln.

    Seit Juli 2014 wird die Maßnahme gemeinsam in Bietergemeinschaft mit der Dekra Akademie GmbH an einem gemeinsamen Standort durchgeführt. Sowohl die Möglichkeiten der praktischen Erprobung als auch die Netzwerke innerhalb der Dekra Akademie bieten den Teilnehmenden mehr Optionen für ihre beruflichen Perspektiven.

    Voraussetzungen für die Bewerbung und Durchführung sind die Trägerzertifizierung und die Maßnahmezulassung nach AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung). Das AZAV-Zulassungsverfahren für Träger und Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung soll die Qualität der Dienstleistungen nachhaltig verbessern sowie Vergleichbarkeit und Transparenz unter den Dienstleistern herstellen. Die Maßnahme wird jährlich extern auditiert.

    Aufbau des Programms

    „Chancen und Wege“ verfügt über 44 Teilnehmerplätze. Das Jobcenter schließt mit den Teilnehmenden eine Eingliederungsvereinbarung über die Teilnahme bei CuW und vereinbart eine gegenseitige Schweigepflichtsentbindung. Am Ende der Zuweisungsdauer erstellt die zuständige Sozialpädagogin einen Abschlussbericht über den Maßnameverlauf. Dies ist für den Fallmanager im Jobcenter hilfreich, damit weitere Handlungsschritte geplant werden können.

    Die Teilnehmenden werden in drei Gruppen aufgeteilt und erhalten zu Beginn der Maßnahme einen Wochenplan (s. Abb. 2). Jede Gruppe erscheint an drei Tagen pro Woche für insgesamt mindestens 15 Stunden. Davon finden an zwei Tagen Lernmodule zum Training sozialer Kompetenzen, Gesundheitsförderung und Bewerbungscoaching statt. Zudem begeben sich die Teilnehmenden selbstständig auf Stellensuche und aktualisieren ihre Bewerbungsunterlagen. Einmal pro Woche bereiten sie gemeinsam ein gesundes Frühstück zu. Am Praxistag werden vier Gewerke (Holz, Metall, Lagerlogistik und Handel) angeboten. Die Teilnehmenden werden dazu angeregt, gemeinsam als Gruppe Projekte zu planen und umzusetzen. So stellen sie kleine Möbel und Gegenstände für den Gemeinschaftsbereich sowie nützliche Utensilien für den Eigengebrauch her. Weitere Arbeitserprobungen erfolgen bei begleiteten Praktika in externen Betrieben. Die Qualifizierungsmodule im EDV-Bereich festigen bestehendes Wissen und vertiefen es, ein Zertifikat wird nach erfolgreicher Teilnahme ausgestellt.

    Abb. 2: Beispiel für einen Wochenplan

    Kooperation zwischen „Chancen und Wege“ und Fachambulanz

    Die Teilnehmenden werden individuell über Angebote der Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation des Caritasverbandes Osnabrück informiert. Die Vermittlung und Begleitung erfolgt über die zuständige Sozialpädagogin. So werden Berührungsängste verringert und Erstkontakte hergestellt. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen CuW und Fachambulanz gelingt oftmals ein erfolgversprechender Prozess für die Teilnehmenden. Viele werden im Verlauf der Maßnahme der Beratungsstelle zugeführt. Langfristig konnten Beratungs- und therapeutische Settings in der Fachambulanz bei gut einem Viertel der Teilnehmenden etabliert werden.

    Auch nach einer erfolgreich beendeten Rehabilitation hat sich die Kooperation zwischen Fachambulanz und CuW als effektiv erwiesen. Das bedeutet, auch Personen in der Adaption, der ambulanten Behandlung oder Nachsorge können an CuW teilnehmen, um die in der Rehabilitation erlernten Schritte im Alltag umzusetzen. Gerade hier sind Strukturen und berufliche Perspektiven wichtig, um langfristig konsumfrei zu leben. Die Grundlagen für eine dauerhafte Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft können über diesen Weg geschaffen werden. Abbildung 3 stellt die Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“ dar.

    Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“

    Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung

    Neben den persönlichen Einzelgesprächen und dem Jobcoaching ist die Teilnahme am SKOLL-Training möglich. Dies wird in regelmäßigen Abständen angeboten. Die Ergebnisse der Maßnahme lassen die Überzeugung zu, dass die Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung bei der Wiedereingliederung in den Erwerbsbezug zu erheblichen Verbesserungen führen kann. Mit SKOLL im Settingansatz kann hier ein effektiver Beitrag geleistet werden.

    Das SKOLL Training beinhaltet zehn Trainingseinheiten, in denen es um den verantwortungsbewussten Umgang mit dem Suchtmittel bei riskantem Konsumverhalten geht. Im Mittelpunkt der Arbeit steht weniger die Abstinenz als die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Ziel des Trainings ist es, den Konsum zu stabilisieren, zu reduzieren oder ganz einzustellen. Der Umgang mit Suchtdruck und sozialem Druck wird geübt, Stressbewältigung gelernt und ein Krisenplan erarbeitet. So werden Veränderungsprozesse bei riskant konsumierenden Menschen eingeleitet, und die Arbeitsfähigkeit wird wiederhergestellt.

    Diese vielfältigen Ansätze und Angebote werden gerne genutzt, die Teilnehmenden fühlen sich in der Regel durch die Maßnahme gut begleitet. Dies wird in regelmäßigen Abfragen zur Kundenzufriedenheit und durch den monatlichen Austausch mit den „Maßnahmepatinnen“ des Jobcenters deutlich.

    Die sozialpädagogische Begleitung

    Die sozialpädagogische Begleitung ist  das Herzstück der Maßnahme. Es finden regelmäßig Einzelgespräche statt, um die individuellen Vermittlungshemmnisse zu thematisieren und sie mithilfe von Zielvereinbarungen und durch Unterstützung zu verändern. In einem Aktivierungs- und Fortschrittsplan werden der Gesprächsverlauf und die Zielsetzungen für den Teilnehmer dokumentiert.

    Die Förderung der sozialintegrativen Aktivitäten nimmt einen hohen Stellenwert ein. Persönliche Kompetenzen wie Selbsteinschätzung und die Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit wie auch lebenspraktische Fertigkeiten wie Verlässlichkeit, Selbstorganisation und äußeres Erscheinungsbild sind wichtige Faktoren bei der Arbeitsplatzsuche. Die Teilnehmenden lernen, dem Tag wieder eine Struktur zu geben, sich für eine Sache oder ein Projekt zu begeistern. Soziale Kompetenzen, wie z. B. im Team zielorientiert zusammenzuarbeiten, Konflikte konstruktiv zu lösen und die Meinung des anderen zu respektieren, können entwickelt und vertieft werden. Teilnehmende bringen ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen und beruflichen Kenntnisse für ihr Team ein. Eine besondere Aktivierung und Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung wird über die „Kompetenzbilanz“, ein ressourcenaktivierendes Coachingverfahren, erzielt.

    Häufig werden bei Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblematik neben den substanz- und verhaltensbezogenen Auffälligkeiten weitere Vermittlungshemmnisse festgestellt wie geringe Sozialkompetenz, mangelhafte oder fehlende fachliche Qualifizierungen, fehlende Schulabschlüsse und Ausbildungen, wenig ausgebildete Grundfertigkeiten sowie eine fehlende Tagesstruktur. Weitere gesundheitliche Probleme wie Hepatitis oder Herz- und Kreislauferkrankungen, verbunden mit fehlender Krankheits- und Problemeinsicht, gehen häufig mit stark beeinträchtigtem Selbstwertgefühl und mangelnder Motivation einher. Aber auch eingeschränkte Mobilität durch den Verlust oder das Fehlen eines Führerscheins oder finanzielle Schwierigkeiten stellen für viele Personen der Zielgruppe große Hemmnisse dar.

    Weitere Eingliederungshemmnisse dieser Zielgruppe können auch eine unkontrollierte Substitutionsbehandlung und die Nichteinhaltung von Auflagen sein, Probleme in und mit der Familie wie frühe Elternschaft, Trennung und/oder Scheidung, Tod eines Familienangehörigen oder Partners, Gewalt in der Familie und Erziehungsschwierigkeiten. Kaum erlebte (positive) Erfahrungswerte auf dem ersten Arbeitsmarkt, verbunden mit mangelnder Kenntnis von Arbeitstugenden und Perspektivlosigkeit, kennzeichnen die Zielgruppe.

    Abbau von Hemmnissen erhöht Jobchancen

    Im Durchschnitt wurden im letzten Maßnahmejahr zehn Vermittlungshemmnisse bei den Teilnehmenden festgestellt. Die zügig in den ersten Arbeitsmarkt vermittelten Personen wiesen demgegenüber durchschnittlich nur 7,5 Hemmnisse auf. Aufgrund der Fallzahlen kann nicht von einer statistischen Signifikanz ausgegangen werden. Aber die Ergebnisse können als Hinweis interpretiert werden, dass der Abbau von Hemmnissen die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich erhöht.

    Eine erfolgreiche Vermittlung wurde durch die regelmäßige Ansprache von Arbeitgebern durch die Jobcoaches der DEKRA Akademie GmbH initiiert. Dabei werden die Vermittlungsprozesse selbst häufig durch vorausgehende Arbeitserprobungen eingeleitet. Mit den Teilnehmern, die in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, kann eine Nachbetreuungsvereinbarung geschlossen werden. Sie umfasst regelmäßige Gespräche über die Entwicklung am Arbeitsplatz sowie die persönliche Situation.

    Die enge Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Osnabrück, insbesondere den „Maßnahmepatinnen“ im Fallmanagement, mit den persönlichen Ansprechpartnern und den Mitarbeitenden im Arbeitgeberservice hat sich sehr bewährt. Die vielfältigen Kooperationen tragen zu einem guten Ergebnis zugunsten der Förderung der Teilnehmenden in der Maßnahme „Chancen und Wege“ stark bei.

    Fallbeispiel Herr Z

    Herr Z ist Teilnehmer der Maßnahme „Chancen und Wege“. In seiner Biographie spielte das Thema Alkohol schon seit der Kindheit eine Rolle. Er hat den Hauptschulabschluss gerade eben noch geschafft. Die Arbeitsbiographie ist geprägt von diversen Helfertätigkeiten und Gelegenheitsjobs. Zwischendurch kam es immer wieder zu Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgrund fehlender Motivation und einer Alkoholabhängigkeit. Neben den geringen beruflichen Kenntnissen bestehen aufgrund des langjährigen Alkoholkonsums gesundheitliche Beschwerden (kognitive Einschränkungen, Sensibilitätsstörungen im rechten Arm) und hohe Schulden. Weiterhin besteht die Gefahr einer sozialen Exklusion. Nach eigenen Angaben fällt es ihm schwer, außerhalb der Szene Kontakte zu knüpfen. Er ist mittleren Alters und möchte seine Rentenansprüche aufbessern. Es geht hier exemplarisch also um folgende Vermittlungshemmnisse:

    • Gesundheitliche Einschränkungen aufgrund einer Suchterkrankung
    • Hohe Schulden
    • Geringe berufliche Kenntnisse

    Herr Z ist motiviert und nimmt pünktlich und zuverlässig an der Maßnahme teil. Seine kognitiven Fähigkeiten sind ausbaufähig. Seine Konzentrations- und Merkfähigkeiten sind schwach ausgeprägt, und er wirkt schnell überfordert. Es ist schon längere Zeit her, dass er konzentriert Aufgaben bearbeiten sollte. Durch Gedächtnistraining, Lesen in der Gruppe und selbstständige Bearbeitung von Arbeitsblättern wird er angeregt, diese Fähigkeiten zu trainieren.

    Im Verlauf der nächsten Wochen wird mit Herrn Z der Aktivierungs- und Integrationsfortschrittsplan erstellt. Hier werden die verschiedenen Lebensbereiche wie Gesundheit, soziales Netzwerk, Arbeit und Ausbildung, Finanzen und Wohnung besprochen. Auch ist es wichtig zu erfassen, ob bereits Unterstützung und Netzwerke an anderer Stelle bestehen (Kontakt zur Suchtberatung, Selbsthilfegruppe, ambulante Assistenz etc.). Gemeinsam verschaffen sich die Sozialpädagogin und Herr Z einen Überblick zu Unterstützungsbedarf und vorhandenen Kompetenzen.

    Mit Herrn Z werden Förderschritte und Ziele vereinbart und schriftlich in seinem Aktivierungs- und Integrationsfortschrittplan festgehalten. Diese müssen für ihn erreichbar, konkret und transparent sein. Außerdem wird verabredet, welche Handlungsschritte vorrangig sind. Es geht also um:

    • Abklärung somatischer Beschwerden
    • Gesundheitliche Stabilisierung
    • Förderung kognitiver Fähigkeiten
    • Sortieren und Vorbereiten seiner Unterlagen für einen Termin bei der Schuldnerberatung
    • Emotionale Entlastung
    • Klärung beruflicher Perspektiven
    • Durchführung einer Arbeitserprobung
    • Steigerung der Leistungsfähigkeit
    • Sinnvolle Freizeitgestaltung
    • Aufbau eines stabilen Netzwerkes

    In den kommenden Wochen geht es um die Erweiterung seiner Kompetenzen und die Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse.

    Herr Z berichtet, dass für ihn die hohen Schulden eine große Belastung darstellen. Ständig erhält er Post von Inkassounternehmen und Rechtsanwälten. Dies führt zu Stress, den er mit Alkohol kompensiert, um seine Probleme zu verdrängen. Da es unter Alkoholeinfluss bereits zu peinlichen Situationen in der Öffentlichkeit kam, hat er sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen. Mittlerweile hat er nur noch zwei Bekannte, die ebenfalls suchterkrankt sind. Außerdem berichtet er, dass sein letzter Arztbesuch einige Jahre her ist, da er befürchtet, dass sich seine Leberwerte verschlechtert haben. Hinzu kommen häufige Magenbeschwerden.

    Im Rahmen der Einzelgespräche werden nun folgende Handlungsschritte erarbeitet:

    1) Herr Z wird umfassend über die Angebote der Fachambulanz des Caritasverbandes aufgeklärt. Nach mehreren Gesprächen mit der Sozialpädagogin lässt er sich darauf ein, in der Suchtberatung einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren, um über sein Konsummuster zu sprechen und weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu klären. Herrn Z ist dieser Schritt sehr unangenehm, da er bereits im Suchthilfesystem bekannt ist. Er schämt sich für die Rückfälligkeit und dafür, dass er in der Beratung erneut Hilfe suchen muss.

    2) Gelegentlich kommt es innerhalb der Maßnahme zu Fehlzeiten. Herr Z meldet sich öfter wegen Magenbeschwerden ab. Auch dies wird in den Einzelgesprächen thematisiert. Herr Z war schon seit Jahren nicht beim Hausarzt. Er hat die Befürchtung, dass etwas mit seinem Magen nicht in Ordnung ist und sich seine Leberwerte weiter verschlechtert haben. Diese Ängste werden ausführlich mit der Sozialpädagogin besprochen. Nach mehreren Gesprächen sieht Herr Z ein, dass mit den jetzigen Magenbeschwerden und den daraus resultierenden Fehlzeiten keine beruflichen Perspektiven entwickelt werden können.

    Es wird vereinbart, dass Herr Z in Begleitung der Sozialpädagogin seinen Hausarzt aufsucht. Es stellt sich heraus, dass Herr Z ein Magengeschwür hat, das gut behandelt werden kann. Seine Leberwerte sind erhöht, jedoch noch nicht besorgniserregend. Der Hausarzt empfiehlt ebenfalls eine Kontaktaufnahme zur Suchtberatung und eine abstinente Lebensweise. Außerdem sollte Herr Z alle sechs Monate einen Gesundheitscheck machen, um Veränderungen frühzeitig festzustellen.

    Nach einer mehrwöchigen Medikamenteneinnahme gegen das Magengeschwür fühlt sich Herr Z viel besser. Auch ist er viel gelöster und freudiger, da sich seine Befürchtungen nicht bestätigten. Er fühlte sich entgegen seinen Erwartungen bei dem Arzt gut aufgehoben und ernstgenommen, sodass er sich nun regelmäßige Arztbesuche vorstellen kann.

    Die Suchterkrankung bzw. Leberwerte bleiben weiterhin ein Thema,  Herr Z kann sich mittlerweile auf das Angebot der Suchtberatung einlassen.

    3) Die Schuldenproblematik besteht schon seit Jahren. Herr Z hat den Überblick verloren. Es wird eine Schufaauskunft beantragt. Außerdem bringt Herr Z alle Unterlagen mit, die er finden konnte. An zwei Nachmittagen werden seine Papiere nach Gläubigern und Datum sortiert. Bereits jetzt wirkt Herr Z erleichtert, da er mit den Unterlagen nicht mehr alleine dasteht. Herr Z wird über verschiedene Möglichkeiten wie Vergleichszahlungen und das Verbraucherinsolvenzverfahren informiert. Um fachliche Unterstützung zu erhalten, wird ein Termin in der Schuldnerberatung vereinbart. Herr Z fühlt sich durch die Vorsortierung seiner Unterlagen gut vorbereitet und nimmt den Gesprächstermin alleine wahr.

    4) Herr Z hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. In den Einzelgesprächen mit dem Jobcoach werden Fähigkeiten, Stärken und berufliche Kenntnisse erfragt. Herr Z gibt an, dass er Erfahrungen als Helfer in den Bereichen Garten und Landschaftsbau, in der Produktion und im Lagerbereich hat.

    Parallel tauscht sich der Jobcoach mit dem praktischen Anleiter aus, um auch über die Entwicklungen aus den hausinternen Praxisprojekten informiert zu sein. Aufgrund kognitiver Einschränkungen ist es wichtig, dass nach beruflichen Perspektiven geschaut wird, in denen es um einfache und sich wiederholende Abläufe geht. Weiterhin ist die Sensibilitätsstörung im rechten Arm zu berücksichtigen. Er kann diesen nicht schwer belasten und hat gelegentlich Taubheitsgefühle.

    Am Praxistag der Maßnahme ist Herr Z im Holzbereich tätig. Hier wird darauf geachtet, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen keine schweren Maschinen bedient. Er hat sich für ein Gemeinschaftsprojekt mit einem anderen Teilnehmer entschieden. Sie bauen eine Garderobe für den Gruppenraum. Herr Z übernimmt die Planung (Form, Farbe) und welches Material benötigt wird. Außerdem übernimmt er leichte Schleifarbeiten, die er mit großer Sorgfalt ausführt. Der andere Teilnehmer ist für die Umsetzung (Sägen, Leimen, Schrauben, etc.) zuständig. Hier zeigt sich, dass Herr Z besonders gut im Team arbeiten kann. Er hält sich an Absprachen und ist kompromissbereit.

    Im Verlauf der Maßnahme macht Herr Z eine positive Entwicklung durch. Nachdem er sich gesundheitlich stabilisieren konnte (regelmäßige Arztbesuche) nimmt er weiterhin Gespräche in der Suchtberatung wahr. Parallel geht er wöchentlich zur Orientierungsgruppe Alkohol. Diese wird ebenfalls von der Suchtberatung angeboten. Außerdem hat er sich über das Angebot verschiedener Selbsthilfegruppen informiert. Diese thematisieren nicht nur die Suchtproblematik sondern auch das Freizeitverhalten. Nach der Kontaktaufnahme zur Schuldnerberatung werden weitere Schritte für das Verbraucherinsolvenzverfahren eingeleitet. Die Selbstorganisation seiner Unterlagen behält Herr Z bei. Der Jobcoach arbeitet mit Herrn Z an seiner beruflichen Perspektive. Zunächst wird er ein weiteres Praktikum absolvieren, um positive Referenzen für seine Bewerbungsunterlagen zu sammeln. Auch gab es Gespräche mit dem zuständigen Fallmanager vom Jobcenter Osnabrück, um Fördermöglichkeiten abzuklären.

    Kontakt und Angaben zu den Autorinnen:

    Monika Schnellhammer
    Geschäftsführerin des Caritasverbandes für die Stadt und den Landkreis Osnabrück
    MoSchnellhammer@caritas-os.de

    Clarissa Abromeit
    Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., Koordinatorin der Maßnahme „Chancen und Wege“
    CAbromeit@caritas-os.de

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Karl Lesehr

    Psychosoziale Stabilisierung durch Arbeit

    Dass ein drohender Arbeitsplatzverlust für viele Menschen mit Suchtproblemen eine erstmals ernsthaft aufrüttelnde Bedeutung haben kann, kennt wohl jede Fachkraft in der Suchthilfe. Gleichzeitig gilt für die Arbeit mit Suchtkranken aber auch die Erfahrung, dass geregelte Arbeit und Beschäftigung ganz wesentlich zur Stabilisierung von Lebenslagen beitragen können, die durch eine Suchtproblematik in unterschiedlichster Art und Weise beeinträchtigt sind. 1968 wurde Sucht vor Gericht als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt, was von einigen Akteuren schnell als vermeintlich vorrangige Leistungszuständigkeit der Krankenversicherung verstanden wurde. In der schließlich 1978 – wieder auf gerichtlichen Druck hin – zustande gekommenen Suchtvereinbarung wurde dann eine gemeinsame Leistungszuständigkeit von Kranken- und Rentenversicherung für die damals bekannten Behandlungsangebote bei Abhängigkeitsstörungen geregelt. Diese Entwicklung war keineswegs zufällig: In der aus den ersten Heilstätten entstandenen stationären Suchtrehabilitation war die berufliche Reintegration – anders als in der Rehabilitation bei sonstigen psychiatrischen Erkrankungen – bereits ein zentrales Ziel des Behandlungssystems. Diese durch die Suchtvereinbarung bestätigte medizinische Suchtrehabilitation hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter fachlich ausdifferenziert, um bei suchtassoziierten Teilhabebeeinträchtigungen für ganz unterschiedliche Patientengruppen jeweils qualifizierte und passgenaue Entwicklungsanstöße geben zu können.

    Gerade weil dieses teilhabeorientierte Behandlungsangebot sich insgesamt unstrittig bewährt hat und weltweit als Erfolgsmodell gilt, ist es aber auch notwendig, seine ‚Schwachstellen‘ in den Blick zu nehmen. Dabei interessieren in diesem Beitrag weniger die zahlreichen behandlungs- und teilhaberelevanten ‚Schnittstellen‘, um deren Verbesserung sich die Suchtreha seit langem bemüht. Für das Projekt Su+Ber impulsgebend ist stattdessen die These, dass mit strukturell neuartigen Förder- und Behandlungsformen für langzeitarbeitslose Menschen mit Abhängigkeitsstörungen wesentliche Verbesserungen ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe erreicht werden könnten (teilhaberelevante Versorgungsschwachstellen).

    Schon in den 90er Jahren hat Günther Wienberg (1992) mit dem einprägsamen Begriff der „vergessenen Mehrheit“ darauf aufmerksam gemacht, dass ein großer Teil der diagnostizierten Abhängigkeitskranken faktisch keinen Zugang zu spezialisierten suchtrehabilitativen Hilfen hat bzw. sie nicht in Anspruch nimmt. In dieser Versorgungsanalyse hat Wienberg verdeutlicht, dass dafür methodische und strukturelle Aspekte des Versorgungssystems mitverantwortlich sind und eben nicht nur eine unzureichende oder fehlende Krankheitseinsicht dieser Menschen, wie es das alte Jellinek-Modell mit seiner „Tiefpunkt-Theorie“ vermeintlich nahelegte.

    Teilhaberelevante Schwachstellen des Suchtbehandlungssystems

    • In der überwiegend wohnort- und alltagsfernen stationären Suchtreha hat sich die Reintegrationsperspektive bei langzeitarbeitslosen Patienten fast zwangsläufig auf die Perspektive einer ‚Teilhabebefähigung‘ verkürzt. Im Wesentlichen gelingt nur in der Drogenrehabilitation, bei der häufig auch ein Wohnortwechsel der Patienten eingeplant wird und längere Behandlungszeiten nutzbar sind, die unmittelbare Verknüpfung von Suchtbehandlung und Arbeitsintegration in nennenswertem Umfang. Die ARA-Studie (Dieter Henkel et al. 2005) hat schon vor Jahren verdeutlicht, wie gering auch nach einer formal erfolgreichen Alkoholrehabilitationsmaßnahme für langzeitarbeitslose Rehabilitanden die Chancen auf eine nachhaltig erfolgreiche berufliche Reintegration und damit auch auf einen Erhalt der erreichten Suchtmittelabstinenz sind. Auch die neu entwickelten Instrumente einer arbeitsorientierten Rehanachsorge bleiben noch zu oft im Beratungssetting und damit auf einer reflektierenden Metaebene stehen und haben dann viel Distanz zum komplexen realen Lebensalltag des Rehabilitanden.
    • Die Regelung des § 16a SGB II wird auch über zehn Jahre nach ihrer Einführung ganz überwiegend nur dafür genutzt, dass Jobcenter Kunden mit vermuteten oder diagnostizierten Abhängigkeitsstörungen an die Suchtberatung verweisen und so möglichst auch in weiterführende Suchtbehandlungen vermitteln. Eine unmittelbare Einbeziehung der Fach- und Steuerungskompetenz der Suchtberatungsstellen in die wohnortnahen Bemühungen um eine konkrete berufliche Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker ist dagegen nur an wenigen Standorten Realität geworden. Dementsprechend sind in den Suchtberatungsstellen das Interesse, aber auch die Handlungskompetenzen für eine direkte suchtkompetente Unterstützung der Klienten bei ihrer nachhaltigen beruflichen Integration in diesem Jahrzehnt kaum gewachsen.
    • Mit der Drogensubstitutionsbehandlung, die sich längst von einer Überbrückungshilfe zu einem grundständigen Behandlungsangebot für Drogenabhängige entwickelt hat, wurde das bislang für die Suchtrehabilitation grundlegende Paradigma einer (zumindest aktuell angestrebten) Suchtmittelabstinenz als Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Reintegration auch aus einer medizinischen Perspektive in Frage gestellt. Gleichzeitig entfallen aber für diese durch die Krankenversicherung finanzierte und als ambulante Behandlung im Lebensalltag konzipierte Behandlungsoption aufgrund der für die Suchtrehabilitation bislang geltenden abstinenzorientierten Behandlungskonzepte weitgehend alle in der Suchtvereinbarung seinerzeit für unverzichtbar gehaltenen suchtrehabilitativen Leistungsmöglichkeiten. Langzeitarbeitslose Substituierte (wie im Übrigen auch andere nicht abstinenzwillige oder -fähige Abhängigkeitskranke) sind deswegen für eine berufliche Reintegration fast ausschließlich auf das Leistungsportfolio des SGB II angewiesen. In diesem wurden in den letzten Jahren aber viele Beschäftigungsangebote radikal abgebaut, die angesichts der oft vielfältigen Teilhabebeeinträchtigungen eine wenigstens schrittweise Arbeitsintegration ermöglichen sollen. Außerdem finden im SGB II generell die spezifischen Dynamiken abhängigkeitskranker ‚Kunden‘ nur höchst unzureichend und wenig systematisch Berücksichtigung. So können z. B. aufgrund der leistungsrechtlichen Vorgaben des SGB II die für die suchtkranken Menschen dringend notwendigen Unterstützungsleistungen nach einer Wiedereingliederung an einem Arbeitsplatz im Rahmen einer Arbeitsförderung kaum ermöglicht werden. Aber auch die für alle Fördermaßnahmen im SGB II maßgebliche leistungsrechtliche Definition der „Langzeitarbeitslosigkeit“ mit ihrem Konstrukt der „schädlichen Unterbrechungen“ wirkt gerade bei Menschen mit Abhängigkeitsstörungen allzu oft als Leistungsbarriere: Bei guter Arbeitsmarktkonjunktur findet nämlich mancher von ihnen relativ leicht einen Arbeitsplatz, scheitert dann aber nach kurzer Zeit aufgrund seines Suchtverhaltens. Diese Krisenerfahrung kann dann aber wegen dieser Regelung oft nicht zeitnah und motivationsfördernd für die Einleitung geeigneter Fördermaßnahmen genutzt werden.

    Systembedingt unzureichende Reintegrationsperspektiven

    Die o. g. Schwachstellen in der aktuellen Versorgungsstruktur haben Auswirkungen für die betroffenen Menschen und für die fachlichen Akteure in den Versorgungsstrukturen:

    • Es gibt bis heute trotz der AOK-Studie (Henkel & Schröder, 2015, 2016) nahezu keine versorgungspolitisch sinnvoll nutzbaren Zahlen über den Anteil der Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen.
    • Aber auch in keiner der an der Suchtbehandlung oder der Arbeitsförderung beteiligten Institutionen wird das maßnahmen- oder förderungsrelevante Ausmaß suchtassoziierter Probleme festgestellt, ebenso wenig wie die aktuelle teilhaberelevante Mitwirkungsfähigkeit und -bereitschaft. Gerade bei den oft länger dauernden psychosozialen Betreuungen Substituierter gibt auch der im KDS dokumentierte soziodemografische Eingangsstatus dafür zu wenig aktuelle Informationen.
    • Die vielerorts genutzte Strategie zur Qualifizierung von Jobcenter-Mitarbeitenden für eine sachgerechtere Problemidentifizierung und Problemansprache bei Kunden mit möglichen Suchtproblemen kann zwar die Zuweisung von Kunden nach § 16a SGB II an die Suchtberatung erhöhen und verbessern, löst dort aber keineswegs die für die Zielgruppe (angesichts nur begrenzter Rehaperspektive, v. a. aufgrund der Abstinenzgebundenheit) bestehenden Motivierungs- und Reintegrationsprobleme.
    • Das Konzept ‚erfolgreiche Suchtbehandlung und Abstinenz als notwendige Voraussetzung für eine berufliche Reintegration‘ ist in seiner Ausschließlichkeit hochselektiv. Es nutzt auch zu wenig die differenzierten Erkenntnisse der Motivationsforschung und vor allem nicht die realen Entwicklungsperspektiven betroffener Menschen: Einerseits sind in der Lebensrealität zahlreiche Menschen mit Abhängigkeitsstörungen auch längerfristig relativ unauffällig in Arbeit, andererseits haben aber viele Langzeitarbeitslose aufgrund ihrer Biografie und aktuellen Lebenslage selber kaum mehr ernsthaft Interesse an einer beruflichen Reintegration.
    • Die Ausgrenzung von Betroffenengruppen aus dem suchtrehabilitativen Angebot verstärkt aber auch eine generalisierte Misserfolgserwartung für diese Menschen im Gesamtversorgungssystem. Die Ausgrenzung reduziert das gesellschaftliche Interesse an konstruktiven Fördermaßnahmen und führt mit dazu, dass Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitsstörungen zu den Jobcenterkunden mit den geringsten Chancen auf eine nachhaltige Vermittlung in Arbeit zählen, also auch die schlechteste gesundheitliche Erfolgserwartung haben.
    • Diese ‚Misserfolgserwartung‘ trägt implizit weiter dazu bei, dass sich tradierte Strukturen einer individualisierten Rehavermittlung ohne umfassende Rehagesamtplanung in vielen Suchtberatungsstellen bis heute erhalten können und dass regionale, einrichtungsübergreifende und fallbezogene Kooperationen zwischen Suchtberatungsstellen und Jobcentern zur Verbesserung der Chancen einer beruflichen Reintegration eher Seltenheitswert haben.
    • Der sozialleistungsrechtlich in der Regel nicht abgesicherte Status der Suchtberatungsstellen erschwert vor allem im Bereich der Drogensubstitution eine teilhabeorientierte Behandlungskooperation (im Sinne der alten Suchtvereinbarung) auf Augenhöhe. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass viele Kommunen, die die Suchtberatung (mit)finanzieren, trotz mancher gut gemeinter Steuerungsbemühungen selten nachhaltig teilhabeorientierte Steuerungsimpulse mit ihrer Finanzierung verbinden und dafür dann auch ihre eigene Mitwirkungsbereitschaft einbringen.

    Strukturelle Herausforderungen an das Suchthilfesystem

    Die Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg hat sich in den letzten Jahren wiederholt mit den o. g. Problemzusammenhängen befasst und dafür auch intensiv das Gespräch mit dem Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Landespolitik gesucht. Als Institution der Suchthilfe hat sich die Landesstelle im Gegensatz zu Wienberg zunächst auf das eigene Handlungsfeld und damit auch auf die dort mögliche Kooperation mit den Jobcentern beschränkt.

    Fachlicher Hintergrund für die Gespräche waren zum einen die schon seit über einem Jahrzehnt gesammelten Erfahrungen aus dem Projekt Q-Train der AG Drogen Pforzheim, in dem sich überwiegend substituierte Drogenabhängige in einer Arbeitsfördermaßnahme im konkreten Arbeitsalltag mit den Beeinträchtigungen durch ihren Suchtmittelkonsum und ihr suchtassoziiertes Sozialverhalten auseinandersetzen können und müssen. Nach Möglichkeit werden sie dann an einen festen Arbeitsplatz vermittelt, wo sie nach Bedarf noch weiter betreut werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation zu diesem Projekt machen deutlich, dass sich durch den unmittelbaren suchttherapeutischen Fokus auf Arbeitsprozess und Arbeitsleistung bei den auf einen geeigneten Arbeitsplatz vermittelten Teilnehmern vergleichbare Stabilisierungs- und sogar Abstinenzeffekte erreichen lassen wie über eine traditionelle Drogenrehabilitationsmaßnahme.

    Einen weiteren wichtigen Hintergrundaspekt bildeten zum anderen die Ergebnisse der bereits erwähnten ARA-Studie und die darauf aufbauenden intensiven Bemühungen der AHG-Fachklinik Wilhelmsheim, durch den Aufbau und die Verbesserung einer möglichst nahtlosen Kooperation mit den zuweisenden Suchtberatungsstellen und den Jobcentern die Reintegrationschancen für ihre langzeitarbeitslosen Rehabilitanden spürbar zu erhöhen.

    Und schließlich haben die gegenüber der ambulanten Suchthilfe teilweise durchaus vorwurfsvollen Äußerungen der DRV zum Rückgang der Suchtreha-Antragszahlen und die darauf aufbauenden Strukturdiskussionen mit der DRV Baden-Württemberg mit dazu beigetragen, dass eine Arbeitsgruppe der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg im November 2013 eine Rahmenkonzeption zur beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den ersten Arbeitsmarkt vorgelegt hat. Nach geduldiger und auch hartnäckiger Weiterverfolgung dieser konzeptionellen Ansätze veröffentlichte das Land schließlich im August 2015 den Förderaufruf zur Einreichung von Projektanträgen zur „Förderung der nachhaltigen Wiedereingliederung langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den Arbeitsmarkt nach der Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg (NaWiSu)“. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und richtet sich im Gegensatz zu den meisten anderen ESF-Projekten zur Arbeitsmarktintegration überwiegend an die zu einer Leistungsvernetzung eingeladenen Suchtberatungsstellen. Dieser Förderaufruf bildet den Rahmen für das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht), das im Folgenden vorgestellt wird.

    Ziele des ESF-Förderaufrufs NaWiSu

    Ausgangspunkte für den Förderaufruf waren, wie auch schon für die Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen, folgende Einschätzungen:

    • In der Gruppe der ‚dauerhaft‘ Langzeitarbeitslosen gibt es – übrigens neben gut einem Drittel abstinent lebender Menschen (!) – eine offenbar wachsende Teilgruppe von Menschen, bei denen eine Abhängigkeitsstörung oder ein suchtassoziierter Lebensstil als wesentliches Integrationshindernis festgestellt oder vermutet werden kann. Diese Teilgruppe der Langzeitarbeitslosen ist nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern vor allem sozialpolitisch ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem.
    • Es scheint unstrittig, dass Jobcenter und Arbeitshilfeträger mit ihren aktuellen Leistungsmöglichkeiten weniger in ihrer Qualifikation als vielmehr strukturell bzw. leistungsrechtlich überfordert sind, wenn es um eine nachhaltige berufliche Reintegration von Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen geht. Unabhängig von allen angestrebten Verbesserungen der Arbeitsmarktinstrumente im SGB II können Bemühungen der Jobcenter deshalb nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, störungsspezifische Fachkompetenzen und Interventionsmöglichkeiten besser und unmittelbar in zielgruppenspezifische Reintegrationsmaßnahmen einzubinden.
    • Die Bemühungen, mit Hilfe des § 16a SGB II die Suchtberatungsstellen stärker in Aktivitäten für eine berufliche Reintegration einzubinden, waren bislang bestenfalls insoweit erfolgreich, als es dabei um die verstärkte Vermittlung in klassische Suchtrehamaßnahmen ging. Darüber hinaus ist die Suchtberatung aber angesichts ihrer Finanzierungsstruktur (freiwillige Leistung der öffentlichen Daseinsvorsorge) und der dadurch sehr begrenzten Ressourcen und Leistungsmöglichkeiten bislang kaum in der Lage, aus eigenen Kräften einen ausreichenden, störungsbezogenen Beitrag für eine nachhaltige berufliche Reintegration suchtkranker Menschen zu leisten.

    Damit strukturelle Verbesserungen der beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Menschen mit Abhängigkeitsstörungen gelingen können, werden daher im Förderaufruf NaWiSu folgende fünf Veränderungen angestrebt:

    • Um wirksame fallbezogene Kooperationen zu ermöglichen, müssen in Ergänzung zu den tradierten stationären und damit in aller Regel wohnort- und v. a. alltagsfernen Behandlungsmodellen wohnortnahe ambulante Behandlungsansätze und Fördermaßnahmen verstärkt werden.
    • Für die Teilnehmer müssen integrierte und zeitlich überschaubare Fördermaßnahmen mit einer klaren Zielperspektive entwickelt werden. Dabei sollte die berufliche Reintegration maßnahmenleitend sein, und auch die suchtbezogene Behandlung sollte vorrangig auf dieses Ziel orientiert sein: Die Behandlung muss für die Teilnehmer einen erkennbaren Gewinn für ihre aktuellen persönlichen Entwicklungsperspektiven haben.
    • Die Suchtberatungsstellen werden für solche integrierten Behandlungs- und Reintegrationsmaßnahmen nur dann einen nennenswerten und stabilen Beitrag leisten können, wenn solche Leistungen wenigstens teilweise als suchtrehabilitative Leistungen eigenständig finanziert werden und die Suchtberatung dem Jobcenter damit auch als gleichwertiger Leistungspartner gegenübertreten kann.
    • Angesichts der seit langem eher stagnierenden Entwicklung der ambulanten Suchtrehabilitation hat die stärkere Einbindung einer wohnortnahen beruflichen Reintegration aber nur dann eine Erfolgsperspektive, wenn die bisher für die Suchtreha verbindlichen Behandlungsgrundsätze zugunsten einer unmittelbaren Orientierung auf eine nachhaltige Arbeitsintegration gelockert und dafür auch neuartige Arbeits- und Interventionsformen ermöglicht werden.
    • Gleichzeitig muss die ambulante Suchtreha die in den letzten Jahren aufgebauten spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen der stationären Suchtreha stärker auch für ihren Arbeitsbereich nutzen. Für die Einrichtungen und Fachkräfte der ambulanten Suchthilfe gilt es zudem, neben den natürlich weiterhin sinnvollen und notwendigen Angeboten der traditionellen stationären oder ambulanten Suchtreha im Bewusstsein der Mitarbeitenden und in den Arbeitsstrukturen ein neues Handlungskonzept aufzubauen und zu implementieren und dann auch klientenorientierte Brücken zwischen den unterschiedlichen Optionen einer nachhaltigen Teilhabeförderung zu nutzen. Diese strukturelle Entwicklung v. a. der Suchtberatungsstellen soll im Aufruf NaWiSu modellhaft gefördert werden.

    Im Rahmen des Förderaufrufs wird seit Jahresbeginn 2016 das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) durchgeführt. Welche Entwicklungsziele und konkrete Maßnahmen es beinhaltet, wird im zweiten Teil des Artikels vorgestellt. Dieser erscheint in Kürze im Rahmen von Teil 2 des Titelthemas „Wege in Arbeit“.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).