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  • Die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen – Chancen und Risiken für die Suchthilfe

    Die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen – Chancen und Risiken für die Suchthilfe

    Am 1. September 2020 ist ein neues Psychotherapeutengesetz in Kraft getreten. Seit dem Wintersemester 2020/21 ist es möglich, die Universität nach einem fünfjährigen Studium mit dem Masterabschluss „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ und mit Approbation zu verlassen. Daran kann sich eine Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in anschließen (KONTUREN berichtete).

    Ab 2024 werden mit steigender Anzahl approbierte Psychotherapeut:innen von den Universitäten abgehen und ihre Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in beginnen. Durch das neue Psychotherapeutengesetzt wird es ihnen u. a. möglich sein, die zweijährige stationäre Weiterbildungsphase komplett in der Suchtrehabilitation zu absolvieren. Wie wird sich die Veränderung in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut:innen auf die Einrichtungen der Suchthilfe auswirken? KONTUREN online hat Expert:innen aus der Praxis nach ihren Einschätzungen gefragt und die Antworten im Folgenden zusammengestellt. Die Leitfrage an alle Expert:innen lautete:

    Welche Chancen, Risiken und Herausforderungen sehen Sie in der neuen Weiterbildung der Psychotherapeut:innen und wie gehen Sie in der Praxis damit um?

     

    Dr. med. Elke H. Sylvester

    Dr. Elke H. Sylvester

    Chefärztin, Fachklinik Nettetal, CRT Caritas-Reha und Teilhabe GmbH, Wallenhorst

    Nachdem die Ausbildung der Psychotherapeut:innen auf neue gesetzliche Grundlagen gestellt wurde, ist es seit dem Wintersemester 2020/21 möglich, nach einem fünfjährigen Universitätsstudium und erfolgreicher Abschlussprüfung die Approbation als Psychotherapeut:in zu bekommen. Eine nach Landesrecht organisierte Weiterbildung (auf Basis der Muster-Weiterbildungsordnung von Seiten der Bundespsychotherapeutenkammer) soll in stationären und ambulanten Einrichtungen angeschlossen werden. Die Weiterbildung zur Fachpsychotherapeut:in erfolgt damit in Analogie zur ärztlichen Weiterbildung.

    Für den großen Bereich der Suchthilfe ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Beschäftigung der zukünftigen Psychotherapeut:innen sowohl in der ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation als auch in Übergangseinrichtungen. Damit besteht die Möglichkeit, fundierte Erfahrungen in der multiprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit zu sammeln.

    Die vergleichsweise langen Therapiezeiten bieten auch angehenden Fachpsychotherapeut:innen eine gute Möglichkeit, entsprechend umfassende Therapie- und Veränderungsprozesse kennenzulernen, im Weiteren selbst zu initiieren und unter Supervision zu gestalten. Der Wirkfaktor der therapeutischen Beziehung kann so umfassend gelernt und erfahren werden. Der hohe Anteil an gruppentherapeutischen Angeboten ergänzt den Weiterbildungsprozess in besonderer Weise. Der Blick über das „eigene“ Setting hinaus wird dabei durch die gute Vernetzung in der Suchthilfe gefördert. Die vorgesehenen Weiterbildungszeiten zum / zur Fachpsychotherapeut:in, die länger sind als die Praktika in der bisherigen Ausbildung, kommen diesem Prozess zugute.

    Die neue Psychotherapie-Ausbildung sieht die Möglichkeit einer Qualifizierung in der Sozialmedizin vor. Für die medizinische Rehabilitation ist diese Qualifikation erforderlich. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels auch im ärztlichen Bereich ergeben sich hier neue Möglichkeiten, den Anforderungen der Kosten- und Leistungsträger gerecht zu werden.

    Suchttherapie ist mehr als reine Psychotherapie – es wird für die Weiterbildungsanbietenden notwendig sein, dieses Wissen potenziellen Bewerber:innen zu vermitteln. Auch die in der medizinischen Rehabilitation erforderliche Orientierung nicht nur an Diagnoseklassifikationssystemen (ICD-10, DSM-V), sondern an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) mit der entsprechenden Auswirkung auf die Gestaltung von Therapieprozessen, sollte deutlich kommuniziert werden. Das Therapieziel ist nicht nur eine Symptomreduktion, sondern eine umfassende Verbesserung der Teilhabe.

    Eine Herausforderung besteht schon jetzt darin, therapeutisch Tätige mit unterschiedlicher Grundprofession und dementsprechend unterschiedlicher Therapieausbildung gut in ein Team zu integrieren und Grabenkämpfe insbesondere zwischen Suchttherapeut:innen und Psychotherapeut:innen zu vermeiden. Beide sind für eine gelungene Suchttherapie –natürlich neben den anderen notwendigen Berufsgruppen – unverzichtbar.

    Eine Substanzkonsumstörung ist eine bio-psycho-soziale Erkrankung. In der Praxis heißt das, dass im Therapieprozess alle Ebenen Berücksichtigung finden müssen. Die Komorbidität weiterer psychischer Störungen ist dabei eher die Regel, denn die Ausnahme. Dementsprechend kann der große Bereich der Suchthilfe eine fundierte Weiterbildung nicht nur hinsichtlich der Substanzkonsumstörung, sondern auch in Bezug auf weitere psychische Störungen wie affektive Störungen, psychotische Erkrankungen, Traumafolgestörungen, Angsterkrankungen, ADHS oder Persönlichkeitsstörungen garantieren.

    Je besser dabei das Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Professionen und den unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen, desto besser das Outcome. Eine vorbehaltlose und wertschätzende Zusammenarbeit im multiprofessionellen und interdisziplinären Team ist dafür eine grundlegende Voraussetzung.


    Marcus Breuer

    Marcus Breuer

    Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Klinikleitung und Therapeutische Leitung, Würmtalklinik Gräfelfing, Deutscher Orden – Ordenswerke

    Chancen:
    Durch die Revision der Psychotherapeuten-Approbationsordnung im Jahr 2020 ergibt es sich erstmalig, dass zukünftige Psychotherapeut:innen ihre therapeutische Zusatzausbildung nicht selbst werden bezahlen müssen. Dies ist berufspolitisch ein wesentlicher Fortschritt. Außerdem ist hiermit erstmals sichergestellt, dass auch während der psychotherapeutischen Weiterbildung (bzw. der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeuten:in) – analog zur Facharztausbildung bei den Ärzt:innen – angemessene Gehälter bezahlt werden. Schließlich verfügen die Betroffenen bereits über einen anerkannten Masterabschluss!

    Risiken:
    Was für die zukünftigen Master-Absolventen nach dem neuen Psychotherapeutengesetz eine Chance ist (s.o.), ist zugleich ein Risiko. Aktuell ist nämlich keinesfalls sichergestellt, dass ausreichend Plätze für die Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in (das Analogon zur bisherigen Psychotherapie-Zusatzausbildung) zur Verfügung stehen werden. Und anders als bisher kann man sich in die neue Weiterbildung auch nicht selbst „einkaufen“. Es besteht also die reale Gefahr, dass es (ggf. deutlich) mehr Bewerber:innen für die Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in geben wird, als überhaupt Weiterbildungsplätze bestehen. Das größte Problem ist die Frage, wie die Kliniken bzw. Leistungserbringer die einzelnen Weiterbildungsanteile (insbesondere Theorieteil, Supervision sowie Selbsterfahrung) refinanzieren.

    Herausforderungen:
    Die größten Herausforderungen betreffen zwei Aspekte: Erstens gilt es, die Kosten- und Leistungsträger mit ins Boot zu bekommen. Nur wenn es von dieser Seite zu einer realistischen Refinanzierung der zusätzlichen Lasten kommt, werden ausreichend viele Weiterbildungsplätze geschaffen werden. Dies wiederum wäre auch im Interesse der Kostenträger. Die zweite Herausforderung für die Leistungserbringer besteht in der Bewältigung der mit der neuen Weiterbildungsordnung (WBO) verbundenen Logistik und Bürokratie. Dies reicht von den Anträgen zur Anerkennung als Weiterbildungsstätte bei der jeweiligen Landespsychotherapeutenkammer über das Finden geeigneter Weiterbildungsbefugter bis hin zur konkreten Betreuung zukünftiger Kolleg:innen, die sich in der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeuten:in befinden. Diese müssen deutlich aufwendiger betreut werden als bisher. Auch hierfür werden (z. B. Personal-)Ressourcen benötigt. Schließlich ist auch die zeitliche Befristung der Tätigkeit im Rahmen der Weiterbildung  (maximal zwei Jahre stationäre Tätigkeit) ein Problem bzw. eine Herausforderung für die Kliniken als Leistungserbringer. Hier besteht die Gefahr einer häufigen Personalrotation, welche nicht im Interesse der Kliniken und auch nicht der Kostenträger sein kann.

    So gehen wir in der Praxis aktuell mit diesem Thema um:
    Als kleinere stationäre Suchtrehaklinik werden wir nicht in der Lage sein, die oben genannten Weiterbildungsanteile selbst anzubieten. Wir machen uns daher gerade auf die Suche nach Kooperationspartnern (z. B. bei den Weiterbildungsinstituten). Wir haben uns bisher auch noch nicht final entschieden, ob wir die Anerkennung als Weiterbildungsstätte überhaupt anstreben werden. Neben der Prüfung der für uns in Frage kommenden Optionen beobachten wir aktuell die Entwicklung am Arbeitsmarkt besonders genau.


    Christina Baumeister

    Christina Baumeister. Foto: Tim Hoppe

    Geschäftsführerin, Alida Schmidt-Stiftung, Hamburg

    Zunächst einmal können wir festhalten, dass mit dem neuen Psychotherapeutengesetz der Weg zum/zur „einsatzfähigen“ Psychotherapeuten bzw. Psychotherapeutin kürzer und einfacher wird: Nach dem Bachelor-Studium der Psychologie, dem Master-Studium der Klinischen Psychologie und Psychotherapie sowie der Approbationsprüfung stehen künftig approbierte Psychotherapeut:innen nach gut fünf Jahren für die psychotherapeutische Behandlung in unseren Suchtfachkliniken zur Verfügung. Die bisher für eine Approbation erforderliche Weiterbildung mit einer Dauer von weiteren fünf Jahren ist nicht mehr Voraussetzung für eine Tätigkeit in der medizinischen Rehabilitation.

    Falls wir uns als Praktikumsbetriebe engagieren, lernen wir die angehenden Psychotherapeut:innen bereits während ihres Studiums kennen. Das führt günstigstenfalls zu einer vorgezogenen Personalrekrutierung bzw. -bindung. Die erste Herausforderung wird sein, 17- bis 20-jährige Studierende sinnvoll in unseren Fachkliniken einzusetzen. Im Masterstudium sind sie mit vielleicht 21 bis 23 Jahren schon etwas reifer. Nach unseren bisherigen Erfahrungen sind neue Mitarbeiter:innen i.d.R. mit PT1- u. PT2-Erfahrungen deutlich sicherer im Patientenkontakt als noch Studierende und können insofern auch eher selbstständig mit Patient:innen arbeiten. Das bedeutet, dass künftige studentische Praktikant:innen stärker hilfs- oder begleitende Tätigkeiten ausüben werden. Für die Sinnhaftigkeit der Praktika wird es außerdem darauf ankommen, wie lange die Studierenden „am Stück“ in den Kliniken tätig sein werden. Das Fachkrankenhaus Hansenbarg der Alida Schmidt-Stiftung hat bereits eine Kooperation mit einer Hochschule für Praktika im Masterstudium vereinbart. Hierbei sollen die Studierenden die gesamte Praktikumszeit von dreieinhalb Monaten in unserer Fachklinik ableisten. In ländlicher Idylle gelegen, haben wir vorsorglich eine Wohnung im Nachbarort für eine potentielle Studierenden-WG angemietet und möbliert, damit das Praktikum nicht schon am täglichen Anfahrtsweg scheitert. Im Übrigen entstehen offenbar keine Kosten für den Praktikumsgeber. Der Aufwand beschränkt sich auf die Erstellung eines Einsatzkonzepts und die Betreuung der Praktikant:innen.

    Wir gehen davon aus, dass die Psychotherapeut:innen nach der neuen Systematik direkt nach der Approbation in unseren Reha-Kliniken der Suchthilfe eingesetzt und voll auf den Stellenplan angerechnet werden können. Diese Fachkräfte könnten für unser Arbeitsfeld langfristig gebunden werden, wenn sie sich mit der Ausbildung bestehend aus Studium und praktischen Einsätzen ausreichend qualifiziert fühlen und keine langjährige Fach-Weiterbildung anstreben.

    Ambivalent betrachten wir eine Beteiligung unserer Einrichtungen als Weiterbildungsstätte im Rahmen der Weiterbildung zum/zur Fachpsychotherapeuten bzw. Fachpsychotherapeutin. In der Bewertung fällt positiv ins Gewicht, dass für die Anerkennung als Weiterbildungsstätte bundesweit einheitliche Kriterien bestehen und die Anerkennung zwar nach Landesrecht durchgeführt wird, aber bundesweit gelten soll. Bisher leiden wir nämlich unter einem uneinheitlichen Vorgehen der Länder und sind mit unserer Fachklinik z. B. in Niedersachsen für die Weiterbildung zugelassen, nicht jedoch in Hamburg. Für eine Beteiligung an der Weiterbildung spricht auch, dass die Weiterbildung nicht nur in den Reha-Kliniken, sondern auch in unseren Einrichtungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Suchterkrankungen durchgeführt werden kann. So können die angehenden Fachpsychotherapeut:innen das gesamte Spektrum der Behandlung und Betreuung von Suchtpatient:innen kennenlernen. Und nicht zuletzt: Falls die PiW (Psychotherapeut:innen in Weiterbildung) während ihrer Weiterbildung von Anfang an auf den Stellenplan angerechnet werden können, entstehen auch hier keine zusätzlichen Personalkosten.

    Allerdings erscheinen die Anforderungen an die Weiterbildungsstätten auf den ersten Blick sehr anspruchsvoll zu sein. Hier braucht es innerhalb der Klinik eine verantwortliche Person als Weiterbildungsbefugte:n, die für die Antragstellung, die Kooperation mit den Weiterbildungsinstituten, die Qualifizierung der PiW, die Erstellung des Weiterbildungsplans, die Dokumentation, die Fallbesprechungen und die Qualitätssicherung zuständig ist. Dies quasi nebenbei den – ohnehin nicht in der Personalbemessung der DRV enthaltenen – therapeutischen Leitungen aufzubürden, erscheint schwierig. Fraglich ist auch, welche langfristige berufliche Tätigkeit die Fachpsychotherapeut:innen nach Abschluss ihrer Weiterbildung ausüben wollen. Wird eine Zulassung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung im System der gesetzlichen Krankenversicherung angestrebt, so werden diese Fachkräfte nach ihrer bei uns absolvierten Weiterbildungszeit von zwei bis drei Jahren wieder aus unseren Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe ausscheiden. Wir machen bereits jetzt die Erfahrung, dass die meisten PiAs (Psychotherapeut:innen in Ausbildung nach dem herkömmlichen System) nach Approbation in andere Tätigkeitsbereiche abwandern. Die ohnehin hohe personelle Fluktuation und die damit verbundenen organisatorischen Diskontinuitäten und Erfahrungsverluste werden sich damit weiter erhöhen.

    Möglicherweise schotten wir uns jedoch ungewollt von einem großen Personalpool ab, wenn wir den Aufwand für die Weiterbildung scheuen. Denn bisher ist nicht absehbar, wie viele Masterpsychotherapeut:innen in ihrer beruflichen Laufbahn auf die Fach-Weiterbildung verzichten werden.

    Gerne beteiligen wir uns weiterhin an einem Meinungs- und Erfahrungsaustausch im Rahmen des bus. e. V., um bei diesen Zukunftsfragen eine fundierte Entscheidung zu treffen.


    Mathias Schuch

    Mathias Schuch. Foto: Alex Habermehl

    Dipl.-Psych., ehem. Leiter der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“, Höchst-Hassenroth/Odw., seit 2000 als Psychologischer Psychotherapeut / Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis tätig (Psychotherapeutische Praxisgemeinschaft Buchhügel, Offenbach), seit 2020 Geschäftsführer der Main PVZ Offenbach gGmbH

     Als Geschäftsführer des Psychotherapeutischen Versorgungszentrums Offenbach ist Mathias Schuch selbst in der Psychotherapie-Ausbildung tätig. Das folgende Statement ist die Zusammenfassung eines Telefon-Interviews mit KONTUREN online.

    Mit der neuen universitären Ausbildung zum / zur Psychotherapeut:in, die mit der 1. Approbation abgeschlossen wird, werden die Absolvent:innen jünger und sie bringen mehr Praxiserfahrung aus dem Studium mit. Fraglich ist aber, wie die Universitäten diese Ausbildung werden leisten können. Das bisherige Lehrpersonal kann diese praktischen Kenntnisse kaum vermitteln. Auch werden gewisse Theorieinhalte des bisherigen Grundlagenstudiums außen vor bleiben. Gleichzeitig vergrößert sich der Gestaltungsspielraum der Universitäten im Sinne einer Art Monopolisierung. Sie können mehr Einfluss darauf nehmen, zu bestimmen, was Psychotherapie ist.

    Positiv an der neuen Ausbildung ist eine Vereinheitlichung des klinisch ausgerichteten Studiums, problematisch ist, dass sich die Studierenden direkt zu Beginn ihres Studiums, also im Alter von ca. 19 Jahren, für die Fachrichtung Psychotherapie entscheiden müssen.

    Die Verlagerung von mehr Praxisausbildung in die Studienzeit wird Auswirkungen auf die Ausbildungsinstitute haben. Davon gibt es momentan um die 200. Sie werden in Zukunft nur noch Angebote für die Weiterbildung durchführen können, nicht mehr für die Ausbildung. Da die approbierten Psychotherapeut:innen nach der neuen gesetzlichen Regelung für ihre Tätigkeit am Ausbildungsinstitut fest angestellt und voll bezahlt werden müssen, werden  kleinere Institute möglicherweise Probleme mit der Kostenstruktur bekommen oder sogar schließen müssen. Somit könnten sich die Anzahl und die Kapazitäten der Weiterbildungsinstitute als Flaschenhals entwickeln und zu einer geringeren Anzahl an Fachpsychotherpeut:innen führen.

    Sehr zu begrüßen ist, dass die approbierten Psychotherapeut:innen einen arbeits- und sozialrechtlich gesicherten Status haben, der dem von Assistenzärzt:innen bzw. von Fachärzten entspricht. Damit einher geht der Anspruch auf eine angemessene Vergütung einer Kliniktätigkeit. Allerdings ist eine entsprechende Finanzierung durch die Krankenkassen und Kostenträger bis zum heutigen Tage noch nicht gegeben.  Zu erwarten ist aber, dass dadurch weniger Psychotherapeutenstellen besetzt werden. Psychotherapeut:innen mit der 1. Approbation können zwar schon vielfältig in den Kliniken eingesetzt werden, es ist aber anzunehmen, dass die DRV für bestimmte Tätigkeiten wie die Erstellung von Behandlungsplänen und Gutachten Psychotherapeut:innen mit Fachkundenachweis, also mit der 2. Approbation, fordert.

    Fachpsychotherapeut:innen werden teuer, wenn sie in einer Suchtrehaklinik bleiben sollen. Im ambulanten Bereich können sie ihre Arbeitszeiten flexibler gestalten, haben ein breiteres Spektrum an zu behandelnden Diagnosen und verdienen sehr gut. Ein Vorteil der neuen Aus- und Weiterbildung für die Suchthilfe ist die Öffnung für Präventionsangebote.

    Eine positive Vision für die Zukunft ist die enge Kooperation – z. B. in Form von Joint Ventures – zwischen stationären Einrichtungen und den Weiterbildungsinstituten, die Verschränkung zwischen dem stationären und ambulanten Bereich. Eine Schlüsselrolle spielen hierbei die Weiterbildungsbefugten. Für die Kliniken ist es sinnvoll, schon die Praktika während der Studienzeit zu nutzen, um potenzielle Weiterbildungskandidat:innen mit der Einrichtung vertraut und diese als Weiterbildungsstätte attraktiv zu machen.

    Um für die Zukunft ihr psychotherapeutisches Fachpersonal zu sichern, müssen die Kliniken flexibel sein und sich für die Zusammenarbeit mit ambulanten Zentren und Praxen öffnen. Es geht nur im Netzwerk und mit Kooperation. Und: Raus aus der Glasglocke!


    Manuela Schulze

    Manuela Schulze

    Geschäftsführerin, Tannenhof Berlin-Brandenburg gGmbH

    Seitdem durch den Bundesverband Suchthilfe (bus.) ausführliche Informationen über die neue Weiterbildungsordnung und auch zu den damit verbundenen Möglichkeiten für Rehabilitationseinrichtungen weitergeben wurden, beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema und wollen die Voraussetzungen für die Durchführung der Weiterbildung in unseren Rehabilitationseinrichtungen schaffen.

    Aktuell sehen wir die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen als große Chance, zumindest in dieser Berufsgruppe frühzeitig Fachkräfte als Bezugstherapeuten für die Arbeit in der Rehabilitation und mit Abhängigkeitserkrankungen zu gewinnen. Wir können die Weiterbildung stärker mitgestalten. Durch die Anerkennung der Master-Absolventen mit Approbation haben wir diese als Bezugstherapeuten für mindestens zwei Jahre im Rahmen ihrer Weiterbildung auszubilden und auch im Rahmen des Sollstellenplans zu beschäftigen. Das wertet den Tätigkeitsbereich Rehabilitation sehr auf, und wir können langfristig junge Fachkräfte für dieses Arbeitsgebiet gewinnen. Darin sehen wir nicht nur eine Chance, sondern vielleicht sogar eine „Rettung“ für einige Rehabilitationseinrichtungen, die besonders unter dem Fachkräftemangel leiden.

    Auch dass wir uns fachlich mehr in die Weiterbildung einbringen können, ist gut, weil damit die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen mehr Gewicht in der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in bekommen könnte. Die Aufwertung der Psychotherapeut:innen, als Weiterbildungsbefugte benannt werden zu können, kann man sehr positiv sehen, weil sie auch die Rolle und Expertise der Psychotherapeuti:innen in der Rehabilitation stärkt.

    Risiken sehen wir aber gleichzeitig in der Grundstruktur und Umsetzung. Wir bekommen als Weiterbildungsstätte die Verantwortung für die Erfüllung aller Anforderungen der Weiterbildungsordnung, was nicht nur personelle, sondern auch inhaltliche und finanzielle Aspekte umfasst. Dazu gehören dann auch die Theorievermittlung, Selbsterfahrung und Supervision. Es ist aus unserer Sicht nicht ausreichend geklärt, wie dies neben einer entsprechenden Vergütung der Tätigkeit zusätzlich finanziert und organisiert werden soll. Darunter könnte die Qualität der Ausbildung leiden. Arbeitgeber könnten sich entscheiden, zunächst auf die bereits ausgebildeten Psychotherapeut:innen zurückzugreifen, weil sie mit den neuen Regelungen überfordert sein könnten.

    Aber auch hier besteht durch den Zusammenschluss von Rehabilitationseinrichtungen gemeinsam mit dem bus. eine Chance, die Umsetzung der Weiterbildung zu organisieren und damit wiederum eine gute Basis zu schaffen und sich noch mehr zu vernetzen.

    In allen unseren Rehabilitationseinrichtungen wollen wir die Vorbereitungen treffen, um uns als Weiterbildungsstätte anerkennen zu lassen. Wir werden Weiterbildungsbefugte benennen, um Psychotherapeut:innen in Weiterbildung anstellen zu können. Ebenso haben wir schon einen Kooperationsvertrag mit einer Universität geschlossen, wollen dies mit weiteren Hochschulen erweitern, um bereits während des Masterstudiums Praktika anzubieten und die angehenden Psychotherapeut:innen mit unserem Arbeitsbereich vertraut zu machen.


    Dr. phil. Clemens Veltrup

    Dr. Clemens Veltrup

    Dipl.-Psych., Leitender Therapeut der Fachklinik Freudenholm-Ruhleben, Schellhorn, Geschäftsbereichsleiter „Suchthilfe“ im Landesverein für Innere Mission in Schleswig-Holstein

    Chancen:
    Endlich! Durch das neue Psychotherapeutengesetzt wird es den approbierten Psychotherapeut:innen möglich sein, die komplette stationäre Weiterbildungsphase in der stationären medizinischen Rehabilitation für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen („Suchtrehabilitation“) zu absolvieren. Bei den Suchthilfeträgern, die auch über ambulante Einrichtungen (z. B. Suchtberatung,) verfügen, können die psychotherapeutischen Kolleg:innen zusätzlich weitere zwölf Monate für ihre Weiterbildung anrechnen lassen.

    Die Rentenversicherungsträger werden die „neuen“ Psychotherapeut:innen in vollem Umfang für die psychotherapeutische Arbeit in den Rehabilitationskliniken anerkennen, so dass die Finanzierung der Personalstellen grundlegend gesichert ist. Die neuen Kolleg:innen können u. a. durch ihr aktuelles Fachwissen zur Verbesserung der psychotherapeutischen Arbeit in der Suchthilfe beitragen.

    Damit kann es gelingen, dem zunehmenden Fachkräftemangel im psychotherapeutischen Bereich in den nächsten Jahren erfolgreich zu begegnen. Die bisher mit Psychotherapeut:innen in Ausbildung besetzten Stellen werden ja nur unter Auflagen von den Rentenversicherungsträgern anerkannt, die Approbation als Psychotherapeut:innen ist bisher für die stationäre und ambulante Suchtrehabilitation zwingend. Die Psychotherapeut:innen in Weiterbildung (PtW) können helfen, das Angebot der ambulanten Suchtrehabilitation aufrechtzuerhalten bzw. auszubauen.

    Auch in der Eingliederungshilfe können die PtW im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit zu einer „wirksameren“ Hilfe für die Klient:innen beitragen.

    Risiken:
    In den nächsten Jahren ist damit zu rechnen, dass es mehr Bewerber:innen als Weiterbildungsstellen gibt. Vor dem Hintergrund des erkennbaren zunehmenden Mangels an Suchttherapeut:innen besteht dann die Gefahr, dass die bewährte interdisziplinäre Zusammenarbeit sich verändert und Suchttherapeut:innenstellen mit Psychotherapeut:innen besetzt werden. Damit würde ein tragendes Element einer erfolgreichen Suchtrehabilitation geschwächt werden.

    Somit gilt es, engagierte Sozialabeiter:innen/ Sozialpädagog:innen zu finden, die die Weiterbildung zum / zur Suchttherapeut:in beginnen. Auch hier müssen die Rentenversicherungsträger die bisherigen Auflagen für die Anerkennung kritisch überdenken und „bedarfsgerecht“ modifizieren.

    Auch die Möglichkeiten von Ärzt:innen in Weiterbildung in der Suchtrehabilitation sollten deutlich verbessert werden. Es ist zu prüfen, ob nicht auch hier (mindestens) zwei Jahre Weiterbildungszeit für verschiedene Fachärzt:innengruppen anerkannt werden könnten (z. B. Fachärzt:in für Innere Medizin, Fachärzt:in für Allgemeinmedizin, Fachärzt:in für Psychiatrie und Psychotherapie).

    Herausforderungen:
    Die Vermittlung von Theorie, Selbsterfahrung und die kontinuierliche Supervision müssen in den Kliniken neu organisiert werden. Es bietet sich aber die Möglichkeit und Chance an, dies z. B. über den bus. bundesweit zu organisieren.

    Es gilt, Weiterbildungsbefugte für die PtW zu finden und ihre Tätigkeit entsprechend zu vergüten. Erfahrene approbierte Psychotherapeut:innen können diese Aufgabe grundsätzlich übernehmen.

    Die Organisation der Weiterbildung für Psychotherapeut:innen bringt es mit sich, dass diese entweder nach Beendigung der Weiterbildungsphase die Klinik verlassen oder (nach Erhalt der Fachpsychotherapeut:innen-Qualifikation) eine Niederlassung in eigener Praxis anstreben. Diese Personalfluktuation muss im Rahmen der Personalplanung der Klinik angemessen berücksichtigt werden. Es gilt auch, angemessene Positionen für Fachpsychotherapeut:innen zu schaffen, z. B. als Leitende Psychotherapeut:innen für Abteilungen in der Klinik oder als Mitglied der Klinikleitung. Die neue Bereichsweiterbildung für „Sozialmedizin“ eröffnet den Fachpsychotherapeut:innen erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten in der medizinischen Rehabilitation.

    Vorgehen:
    So bald wie möglich werden wir die Anerkennung als Weiterbildungsstätte beantragen. Erfahrene Kolleg:innen werden wir motivieren, sich als Weiterbildungsbefugte bei der Psychotherapeutenkammer akkreditieren zu lassen. Und schon kann es losgehen!

  • Weiterbildung Suchttherapie im digitalen Format!?

    Weiterbildung Suchttherapie im digitalen Format!?

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
    Corinna Mäder-Linke

    Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass im Rahmen der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in erstmals digitale Formate zur Wissensvermittlung eingesetzt wurden. Über die Erfahrungen damit berichtet Corinna Mäder-Linke in Teil I dieses Artikels.  Gleichzeitig hat die pandemiebedingte Notwendigkeit, Treffen in physischer Präsenz zu vermeiden, einen hohen Bedarf an Weiterbildung im Umgang mit digitalen Medien (technisch wie juristisch) offengelegt. Mit diesem Aspekt beschäftigt sich Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel in Teil II. 

    TEIL I

    Einleitende Worte: das Tor zum postpandemischen Leben

    Nach über einem Jahr ist die Corona-Pandemie nicht mehr nur ein Einschnitt, sondern ein echter Lebensabschnitt geworden: Menschen haben existenzielle Bedrohungen erlebt, sind in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen gegangen, sind gealtert, gewachsen, gereift, je nachdem. Die notwendig gewordenen Einschränkungen nehmen eine Zeitspanne ein, in der aus regelmäßigen Handlungen Gewohnheiten werden können, und da Anpassung eine Kernkompetenz ist, haben wir die Regeln zu Abstand, Hygiene und Alltagsmaske verinnerlicht und in unseren Alltag integriert. Genauso entgeistert, wie wir am Anfang die leeren Autobahnen und Innenstädte betrachteten, sehen wir nun auf volle Cafés. Und trifft man Freunde, stellt sich insgeheim oder auch laut die Frage nach der Art der Begrüßung – umarmen oder lieber nicht.

    Doch neben der Anpassung und der Gewohnheit gibt es noch eine echte kritische Distanz gegenüber der „alten Normalität“. So lohnt es sich, sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich Überlegungen anzustellen, welche der in der Corona-Zeit gemachten positiven Erfahrungen wir in der Zukunft beibehalten möchten. Der folgende erste Teil beleuchtet diese Frage im Hinblick auf die Weiterbildungen im Kontext der Suchttherapie.

    Die Geschichte der Weiterbildung Suchttherapie 

    Lange Zeit galt Sucht moralisch als Laster und Fehlverhalten, das die Betroffenen mit einer Willensentscheidung ändern könnten. Erst das Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom Juni 1968 erkannte eine Abhängigkeit als Krankheit an. Auch wenn die in den Konzepten der Einrichtungen beschriebenen Therapiemethoden in den 1970er Jahren den Eindruck erweckten, sie verfolgten eher eine Strafe, als dass sie sich an theoretischem Wissen über eine Erkrankung orientierten, entstand durch die höchstrichterliche Entscheidung ein Recht auf eine vom Sozialversicherungssystem finanzierte Behandlung der Suchtkrankheit. Damit einhergehend wurde das Dilemma deutlich, dass für suchtkranke Menschen ein medizinisches Versorgungssystem nachgefragt wurde, zum damaligen Zeitpunkt aber keine speziellen Behandlungskonzepte für Suchtkranke vorlagen und es an suchtspezifisch ausgebildetem Fachpersonal mangelte. Wichtige Impulse für die Betrachtung der Sucht als Krankheit und die Behandlung abhängigkeitskranker Menschen gingen von der von Bund und Ländern 1975 veröffentlichten Psychiatrie-Enquête aus, forderte sie doch unter Berücksichtigung der multikonditionalen Entstehung des Alkoholismus ein komplexes therapeutisches Programm, das nur durch Zusammenarbeit mehrerer Therapeut*innen verschiedener Fachrichtungen ermöglicht werden kann (vgl. Deutscher Bundestag, 1975).

    Den Bedarf nach einer spezifischen Qualifizierung für hauptamtlich in der Suchthilfe Tätige aufgreifend, konzipierten Suchtfachverbände oder Institute Curricula für die „Weiterbildung zur / zum Sozialtherapeut*in – Sucht“, die aus einem verhaltenstherapeutischen oder tiefenpsychologischen Krankheitsmodell ableitbar sind. In 15 Seminarwochen, verteilt über einen Zeitraum von drei Jahren, wurden – vor dem Hintergrund des jeweiligen Verfahrens – theoretische Erklärungsansätze zur Suchtentstehung sowie Kenntnisse über Diagnosen und darauf aufbauend die Planung von Interventionstechniken vermittelt. Ein weiterer Baustein war die Selbsterfahrung. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses der eigenen Biografie sollten die Weiterbildungsteilnehmer*innen sich einen emotionalen Zugang zu ihren eigenen Wünschen, Idealen, Illusionen und Ängsten erarbeiten können. Somit sollten sie in der Lage sein, in der zukünftigen therapeutischen Arbeit zwischen sich und der/dem Klient*in unterscheiden zu können und zu verhindern, sie/ihn unbewusst zur Projektionsfläche der eigenen Bedürfnisse und Ängste zu machen. Die dritte Komponente der Weiterbildung stellten die Seminare zum Erlernen praktischer Kompetenzen dar, in denen die Anwendung des erlernten Wissens in der therapeutischen Arbeit der Weiterbildungsteilnehmer*innen mit abhängigkeitskranken Menschen supervisorisch betrachtet wurde.

    Mit der im Jahre 1978 von den Rentenversicherungsträgern und den Gesetzlichen Krankenversicherungen verabschiedeten Empfehlungsvereinbarung Sucht für den stationären Bereich der medizinischen Rehabilitation (und 1981 für das ambulante Setting) lagen nun erstmals Qualitätsstandards vor, die die Behandlung suchtkranker Menschen überprüfbar machten und nach außen transparent auf einem professionellen Niveau festschrieben (vgl. VDR, 1978).

    In den Jahren nach Inkrafttreten dieser Vereinbarung hatte sich ein ausufernder und kaum noch überschaubarer Markt an Zusatzausbildungen für Mitarbeitende der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen entwickelt mit einem breiten und sehr heterogenen Weiterbildungsangebot bei fehlenden Mindeststandards. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) beauftragte im Jahre 1991 eine Projektgruppe, die unter der Beteiligung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) formale und inhaltliche Beurteilungskriterien für die Weiterbildungscurricula im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker erarbeitete. Des Weiteren formulierte man Zugangsvoraussetzungen zur Teilnahme an der Weiterbildung hinsichtlich der Qualifikation und des Arbeitsplatzes. Nach Abstimmung dieser Kriterien mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen wurden sie 1992 mit der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Deutsche Rentenversicherung“ bindend (vgl. VDR, 1992).

    Im Jahre 2011 überarbeiteten Renten- und Krankenversicherung gemeinsam die Beurteilungskriterien und veröffentlichten sie als „Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen für Gruppen- und Einzeltherapeuten im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gemäß den Anlagen 1 und 2 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 4. Mai 2001 in der Fassung vom 23. September 2011“ (vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund, 2013). Vor allem Lehrinhalte der sozialmedizinischen Kategorien bzw. die Übertragung verhaltenstherapeutischer oder psychoanalytischer Diagnostik, Therapieplanung und Prognose in die Kriterien der Leistungsträger vor dem Hintergrund der Nomenklatur des ICF (International Classification of Functioning) und der Sozialgesetzbücher SGB VI oder SGB V galt es aufzunehmen.

    Digitale Strategien der Weiterbildung Suchttherapie

    Derzeit bieten in Deutschland acht Institute, darunter sowohl Hochschulen als auch Suchtfachverbände oder andere gemeinnützige Gesellschaften, insgesamt neun von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anerkannte Curricula für die Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in an. Staatliche anerkannte Sozialarbeiter*innen / Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen mit Diplom oder Master sowie Ärzt*innen, die in einer Einrichtung der medizinischen Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen tätig sind, werden zur Weiterbildung zugelassen und können dabei zwischen den Curricula der Richtlinienverfahren – psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch und zukünftig systemisch – wählen (vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund, 2021).

    Bei der Überprüfung der Curricula in den Jahren 2011 bis 2016 wurde von DRV und GKV viel Wert darauf gelegt, die geforderten 600 Unterrichtseinheiten der Weiterbildung in Gänze in Präsenz umzusetzen, so dass den Weiterbildungsträgern weder die Möglichkeit eingeräumt wurde noch die Notwendigkeit bestand, im Rahmen ihrer Angebote auch auf digitale Formate zurückzugreifen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die mit der Pandemie ab März 2020 einhergehenden Kontakt- und Reisebeschränkungen die Weiterbildung Suchttherapie unvorbereitet trafen. Da abzusehen war, dass SARS-CoV-2 für einen nicht unbeträchtlichen Zeitraum Einfluss auf das private und berufliche Leben und hier eben auch auf die Durchführung von Veranstaltungen in Präsenz nehmen würde, taten tragfähige Lösungen Not. Nachdem Seminare im März abgesagt werden mussten, gelang es in kürzester Zeit, die Curricula auf ein online-Format umzustellen, so dass alle Teilnehmer*innen der aktuellen Kurse ihre Weiterbildung ab Juni 2020 per Videokonferenzen fortsetzen konnten. Dass dabei die DRV und GKV als kooperative Partner zur Verfügung standen, um gemeinsam flexible, der Situation angepasste, pragmatische Lösungen zu finden, erleichterte die Umstellung sehr.

    Nunmehr blicken wir auf ein Jahr digitalen Unterrichts zurück – mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, sowohl für Weiterbildungsträger als auch für die Teilnehmer*innen. Der Reiz des Neuen und die Erleichterung, eine Möglichkeit gefunden zu haben, die Weiterbildung nicht unterbrechen zu müssen, motivierte zu Beginn alle Beteiligten, sich schnell in die Handhabung von Zoom, MS Teams und GoToMeeting einzuarbeiten. Man genoss die Vorteile der eingesparten Reisezeit und der Übernachtungskosten, die eine oder der andere auch das Arbeiten von zu Hause.

    Im Laufe der Zeit kristallisierte sich dann eine differenzierte Bewertung bezogen auf die Lehrinhalte heraus. Ließen sich theoretische Inhalte effektiv und effizient, mit einer hohen Konzentration auf die zu behandelnden Themen digital unterrichten, stellte die Vermittlung therapeutischer Fähigkeiten in Form von Selbsterfahrung und Supervision eine immer größer werdende Herausforderung dar. Der Lernprozess, dessen es bedarf, um dem abhängigkeitskranken Menschen mit seinem zerstörerischen Umgang mit sich und der Umwelt als Therapeut*in professionell begegnen zu können, ist in einem Setting ohne physische Kontakte schwer zu initiieren und zu steuern.  Wahrzunehmen, wie es sich anfühlt, mit Akzeptanz des aktuellen So-Seins, mit Respekt vor dem eigenen Entwicklungsschicksal und in Wahrnehmung aller verbalen und nonverbalen Äußerungen von den anderen Weiterbildungsteilnehmer*innen verstanden zu werden, ist für zukünftige Therapeut*innen elementar. Diese Erfahrung stellt die Voraussetzung dafür dar, Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung in der Therapie als hilfreiche/r Partner*in zur Verfügung zu stehen. Wenn der Raum ein virtueller ist, man sich nicht gegenseitig in die Augen sehen und sich nicht mit allen Sinnen erleben kann, wird es auf Dauer schwierig, diese Art, sich und dem Gegenüber zu begegnen, zu verinnerlichen.

    An dieser Stelle, so die Erfahrung in der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in, zeigen sich die Grenzen der Digitalisierung der Lehre. Unabhängig davon bleibt unbenommen, dass für die Vermittlung theoretischer Kenntnisse, für Arbeitsgruppentreffen und Absprachen online-Formate gewinnbringend, zeit-, energie- und finanzsparend sind. Wenn man eine Vision der zukünftigen Gestaltung der Weiterbildung zeichnen dürfte, dann wäre das idealerweise eine Kombination aus einerseits digitaler Wissensvermittlung theoretischer Inhalte und andererseits der Befähigung der Person der / des Therapeut*in in physischer Präsenz.

    Genauso, wie wir digitale Angebote in den beruflichen Alltag nachhaltig zu integrieren haben, werden wir in den kommenden Monaten Beziehung wieder neu lernen müssen. Vermutlich wird es nicht jeder und jedem leichtfallen, das auf sich bezogene Leben im Homeoffice, aber auch in der Freizeit, wieder für andere zu öffnen, und es wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, das postpandemische Miteinander in den verschiedenen Kontexten zu gestalten.

    Weiterbildung als Zukunftsaufgabe

    Die Erfahrungen aus der Weiterbildung Suchttherapie ähneln dem allgemeinen Trend. Die Corona-Krise beschleunigte die Digitalisierung des Fort- und Weiterbildungsmarktes in vorher nie gekanntem Ausmaß, beeinflusste tradierte Handlungs- und Denkmuster und setzte so neue Impulse für die Qualifizierung. Eine aktuelle Umfrage unter deutschen Unternehmen zeigt, dass vor Beginn der Pandemie nur 35 Prozent aller Qualifizierungsmaßnahmen digital angeboten wurden, während es inzwischen bereits 54 Prozent sind (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021).

    Gleichzeitig mussten die Unternehmen in der Corona-Krise (und darüber hinaus) den Spagat zwischen Sparzwang und steigendem Qualifizierungsbedarf schaffen. Sie waren und sind großem finanziellen Druck ausgesetzt und es liegt nahe, am Qualifizierungsbudget zu sparen. Diese Vermutung wird durch eine Umfrage belegt, die zeigt, dass bei 21 Prozent der befragten Unternehmen das entsprechende Budget im Zuge der Corona-Pandemie gesunken ist. Zugleich gaben 84 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sich Fort- und Weiterbildung als Thema auf der Vorstandsagenda befindet. Dabei besteht der Wunsch nach innovativen Lernformaten, nach systematischer Evaluation von Lernerfolgen, einem klaren Business Case für Qualifizierung und dem Aufbau adäquater IT-Infrastruktur, die dezentrales Lernen unterstützt (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021).

    Es wird also auch eine Aufgabe der Politik sein, die Unternehmen zu befähigen, ihren Mitarbeitenden Weiterbildungen zu ermöglichen und diese in einem angemessenen Format, bestehend aus analogen und digitalen Komponenten, durchführen zu können. Erste diesbezügliche Schritte sind getan. Mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie gibt es seit 2019 ein abgestimmtes Vorgehen in Deutschland, das von Bund, Ländern, Wirtschaft, Gewerkschaften und der Bundesagentur für Arbeit festgelegt wurde. Weiterbildungen sollen danach als fester Bestandteil beruflicher und unternehmerischer Entwicklung etabliert und eine gemeinsame Weiterbildungskultur in Deutschland geschaffen werden (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Geschäftsstelle Nationale Weiterbildungsstrategie). Mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz hat das Bundesarbeitsministerium einige zentrale Vereinbarungen aus der Strategie umgesetzt (vgl. Bundesgesetzblatt, 28.05.2020). Ähnlich wie das Arbeit-von-morgen-Gesetz, zielt auch das Qualifizierungschancengesetz auf eine Ausweitung der Weiterbildungsförderung ab. Es richtet sich vor allem an beschäftigte Arbeitnehmer*innen. Konkret an jene, (a) deren berufliche Aufgaben von Technologien ersetzt werden können, (b) die anderweitig von Strukturwandel betroffen sind oder (c) in einem Beruf tätig sind, in dem Fachkräftemangel herrscht („Engpassberuf“) (vgl. Bundesgesetzblatt, 21.12.2018).

    Im Hinblick auf den demografischen Wandel der Mitarbeitenden in den ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe ist es dringend notwendig, staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen oder Ärzt*innen zur / zum Suchttherapeut*in weiterzubilden. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass es gelingt, Weiterbildungsangebote den Erfordernissen, die eine Krise mit sich bringt, flexibel anzupassen und Mitarbeitende kontinuierlich auf hohem Niveau zu qualifizieren. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen müssen wir für die Zukunft nutzen, um weiter dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

    TEIL II

    Pandemie verschärft bekannte Probleme 

    Ohne einen positivistischen Eindruck erwecken zu wollen, lässt sich aufgrund der während der Corona-Pandemie gemachten Erfahrungen der vergangenen eineinhalb Jahre doch feststellen, dass das Infektionsgeschehen und die daraus abgeleiteten politischen Maßnahmen viele Probleme verschärft und intensiver ins Bewusstsein vieler Menschen gebracht haben, auf die u. a. Suchtfachverbände, Träger und Fachkräfte bereits seit langem hingewiesen haben: Expert*innen oder Berichte in der Tagespresse (vgl. Möhrle 2020; Starzmann 2021) machten wiederholt auf eine Zunahme von Substanzgebrauchsstörungen (nicht nur) während der Pandemie aufmerksam, die Finanzierungsstrukturen insbesondere der ambulanten Suchthilfe basieren vielerorts auf tradierten Modellen (vgl. Bossong & Renzel 2019), die häufig wenig flexibel und ungeeignet sind, angemessen auf Veränderungen zu reagieren, und die Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte für die Arbeit im Suchtbereich erweist sich schon lange als problematisch (vgl. fdr+ 2019). Dies sind nur einige Themen, die bereits während der letzten Jahre vor Ausbruch der Pandemie Gegenstand einer Reihe von Arbeitstreffen und Veranstaltungen waren – zu grundsätzlichen Änderungen geschweige denn messbaren Verbesserungen haben diese häufig nicht geführt.

    Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Kreative Lösungen und innovative Projekte wurden von verschiedenen Trägern der Suchthilfe in den letzten Jahren immer wieder vorangetrieben und ausprobiert. Und auch Bund und Länder haben sich mit der Förderung von Modellprojekten immer wieder an einzelnen Aktivitäten beteiligt und diese zum Teil auch erst ermöglicht. Schon seit 20 Jahren wird das Internet zur Vermittlung von Präventions- und Informationsangeboten genutzt (vgl. Delphi 2019), die auch schon vor der Pandemie kontinuierlich ausgebaut und erweitert wurden. Aber zu keinem Zeitpunkt ist die Diskrepanz zwischen den grundsätzlichen Möglichkeiten der Nutzung digitaler Medien und den Lücken in der Umsetzung so deutlich geworden wie beim Ausbruch der Pandemie. Die vorübergehende Schließung zahlreicher Hilfsangebote im Frühjahr 2020 illustriert die Hilflosigkeit, mit der auch viele Suchtfachkräfte konfrontiert waren, und die Lücken in der systematischen Implementierung von Angeboten, die nicht ausschließlich darauf ausgerichtet waren, Klient*innen und Patient*innen face-to-face mit Fachkräften in Kontakt zu bringen, waren nicht mehr zu übersehen. Um es deutlich zu sagen: Dies war und ist kein Spezifikum der Suchthilfe, sondern war und ist auch in vielen anderen Bereichen der Fall. Aber auch unser Fachgebiet ist „kalt erwischt“ worden.

    Und plötzlich alles digital? – Neue Anforderungen an Fachkräfte und Klient*innen 

    Jenseits der globalen Probleme, die für alle Bürger*innen mit der Pandemie einhergingen und -gehen, ist ein Teil der oben erwähnten Hilflosigkeit auch auf fehlendes Wissen zurückzuführen. Damit sind hier nicht der Mangel an Kenntnissen über ätiologische Konzepte substanzbezogener Störungen gemeint oder grundsätzliche Fragen zum Umgang mit unseren häufig multimorbid erkrankten Klient*innen und Patient*innen. Aber sicher kann jede Facheinrichtung von Fragen berichten, mit denen sie sich auseinandersetzen musste und die schwer zu beantworten waren bzw. sind, z. B. wie Beratung und Behandlung unter Nutzung digitaler Medien mit dem besonderen Datenschutz bei der Verarbeitung von gesundheitsrelevanten Daten umzusetzen sind, welche Medien am besten geeignet sind, um unsere Klient*innen und Patient*innen zu erreichen, oder schlicht, wie man diese benutzt. Wer erteilt Genehmigungen für die Nutzung bestimmter Programme und wie überzeuge ich meinen Leistungsträger davon, dass unter Nutzung digitaler Medien erbrachte Leistungen hinsichtlich ihrer therapeutischen Qualität ebenso gut sind wie im face-to-face-Kontakt?

    Erwähnung finden muss an dieser Stelle, dass die Erbringung digitaler therapeutischer oder anderer Hilfsangebote weit über technische, gesetzliche und andere regulatorische Aspekte hinaus auch in der inhaltlichen und konzeptuellen Umsetzung neue Anforderungen an Fachkräfte und Klient*innen oder Patient*innen stellt; darauf wurde oben schon hingewiesen. Die Nutzung digitaler Medien in unserem Gebiet erfordert mehr und anderes Wissen als die reine Schaffung technischer Voraussetzungen auf dem Computer – aber ohne Letzteres geht es eben auch nicht.

    Insgesamt haben wir es also mindestens mit drei Anforderungen an Fachkräfte zu tun, die bislang nicht oder nur unzureichend Gegenstand von Aus- und Weiterbildung sind: Wir brauchen a) mehr technisches Wissen über die grundsätzlichen Möglichkeiten, die digitale Medien bieten, b) mehr Sicherheit über die regulatorischen Rahmenbedingungen, von Datenschutz bis zur Anerkennung digital vermittelter therapeutischer Leistungen, und c) Kenntnisse über die Anpassung unserer Angebote an neue Medien und deren Auswirkungen auf Beratungs- und Behandlungstätigkeiten.

    Digitalisierung als Querschnittsthema in Bildungsangeboten

    Auch wenn diese Liste nur holzschnittartig ist, weist sie unmittelbar auf bestehende Lücken in den Curricula der Aus- und Weiterbildung der in den unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe tätigen Fachkräfte hin. Die Forderung, sich mit Digitalisierung und Hybridstrukturen auseinanderzusetzen und die entsprechenden Qualifikationen von Fachkräften zu stärken, ist nicht neu (vgl. Klein 2021). Die Pandemie hat uns aber eindringlich mit der Notwendigkeit konfrontiert, diese Anforderungen nicht als isoliertes „weiteres Element“ der Aus- und Weiterbildung zu betrachten, das an geeigneter Stelle an bestehende Seminare und Kurse „angeflanscht“ wird. Es wird notwendig sein, Digitalisierung unter verschiedenen Gesichtspunkten als das große Querschnittsthema in unsere Bildungsangebote zu integrieren. Dazu müssen wir weiterhin Berührungsängste abbauen, Vorurteile bekämpfen und uns mit Neuem auseinandersetzen. Wenn in den letzten Monaten bei manchen der Eindruck entstanden ist, dass dies dazu führt, dass wir mehr Ressourcen gebraucht haben, um letzten Endes weniger gute Angebote zu schaffen, als wir es kannten, dann ist dies zum einen sicher der Tatsache geschuldet, dass (technische) Rahmenbedingungen vielerorts aus der Zeit gefallen waren und ein erheblicher Innovationsstau bestand. Zum anderen ist die oben erwähnte Integration der Digitalisierung in unsere Arbeitsprozesse noch lange nicht erfolgt und wird nur allzu oft als mehr oder minder lästige Zusatzbelastung betrachtet.

    Aus- und Weiterbildung hat hier eine große Aufgabe in den nächsten Jahren zu bewältigen, damit Bewährtes nicht verloren geht und Neues sinnvoll integriert werden kann. Nur mit Hilfe starker Bildungsstrukturen wird es uns gelingen, auch zukünftig die Qualität der Suchthilfe – unabhängig von den Versorgungssektoren – auf einem Niveau zu halten, das angemessen auf Veränderungen reagieren und diesen selbstbewusst begegnen kann. Dieser Appell richtet sich an Lehrende und Lernende gleichermaßen. Moderne Aus- und Weiterbildung im Suchtbereich muss mehr sein als das Teilen von Folien unter Nutzung eines digitalen Tools oder die häufig beobachtete Passivität der Zuhörer*innen beim Blick auf den Bildschirm.

    Aber auch hier besteht Anlass für Optimismus. Viele Dozent*innen und Seminarteilnehmer*innen haben in den letzten Monaten intensiv gearbeitet und hervorragende Beispiele geliefert, wie sich Wissensvermittlung und die Anwendung digitaler Medien kombinieren lassen. Dass eine Tätigkeit im Suchtbereich als interessante, anspruchsvolle und moderne Form der Berufsausübung wahrgenommen wird, wird bei der Suche nach zukünftigen Fachkräften eine erhebliche Rolle spielen.

    Kontakt:

    Corinna Mäder-Linke
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273, 34131 Kassel
    cml@suchthilfe.de

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
    IFT Institut für Therapieforschung München
    Leopoldstraße 175, 80804 München
    Pfeiffer-Gerschel@ift.de

    Angaben zu den Autor*innen:

    Corinna Mäder-Linke, Diplom-Sozialpädagogin, Master of Arts (Arbeits- und Organisationspsychologie), Sozialtherapeutin-Sucht (GVS), Supervisorin (DGSv), ist Geschäftsführerin des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss). Vorher war sie als Geschäftsführerin des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland tätig und verantwortete dort sechs Jahre den Bereich Fort- und Weiterbildung, inklusive der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in. Sie ist Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Weiterbildung Suchttherapie.
    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut (VT) und Supervisor, ist Geschäftsführer des IFT Institut für Therapieforschung München und der IFT-Gesundheitsförderung. Außerdem ist er als Psychotherapeut in eigener Praxis tätig.

    Literatur:

    TEIL I

    • Bundesgesetzblatt Jahrgang 2018, Teil I Nr. 48: Gesetz zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und für mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung, Seite 2651 – 2656, Bundesanzeiger Verlag, 21.12.2018.
    • Bundesgesetzblatt Jahrgang 2020, Teil I Nr. 24: Gesetz zur Förderung der der beruflichen Weiterbildung im Strukturwandel und zur Weiterbildung und Ausbildungsförderung, Seite 1044 – 1055, Bundesanzeiger Verlag, 28.05.2020.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Geschäftsstelle Nationale Weiterbildungsstrategie: Umsetzungsbericht Nationale Weiterbildungsstrategie, Berlin, 2021.
    • Deutscher Bundestag: Psychiatrie-Enquete; Heger Verlag, 1975.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund: Vereinbarungen im Suchtbereich, Seite 79 – 832; Auflage 08 / 2013.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund: Von der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung geprüfte Weiterbildungscurricula nach den Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen für Gruppen- und Einzeltherapeuten im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gemäß den Anlagen 1 und 2 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001 in der Fassung vom 23. September 2011, 2021. Internetabruf am 02.08.2021: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Experten/Infos-fuer-Aerzte/Fort-Weiterbildung-Aerzte/weiterbildung_therapeuten_sucht.html
    • Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V.: Die Zukunft der Qualifizierung in Unternehmen nach Corona, Essen, 2021.
    • Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Krankenversicherungsträger und der Rentenversicherungsträger bei der Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Suchtvereinbarung, 1978.
    • Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Deutsche Rentenversicherung 7-8/1992, Seite 468 – 479, 1992.

    TEIL II

  • Ermutigung tut not!

    Ermutigung tut not!

    Dr. Wibke Voigt. Foto©Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel
    Dr. Wibke Voigt. Foto©Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel

    Um gleich mit den wichtigsten Fragen zu beginnen: Ist eine Weiterbildungsermächtigung empfehlenswert und sinnvoll? Ist eine Weiterbildungsermächtigung heutzutage notwendig? Die Antwort lautet zweimal: Ja! Und zwar deshalb, weil die Möglichkeit der Weiterbildung in einer Klinik ein wichtiges Argument ist, um qualifiziertes, gut ausgebildetes und junges Fachpersonal gewinnen zu können: Assistenzärztinnen und Assistenzärzte in Weiterbildung sowie Psychologinnen und Psychologen in Ausbildung.

    Dass eine Weiterbildungsermächtigung der Chefärztin/des Chefarztes vorhanden sein muss, um Assistenzärztinnen und Assistenzärzten eine fachärztliche Weiterbildung bieten zu können, ist offensichtlich. Dies gilt aber auch für die „praktische Zeit“ der Psychologinnen und Psychologen, der sog. PIA’s. Laut § 2 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung der Bundespsychotherapeutenkammer ist eine Weiterbildungsermächtigung der ärztlichen Leitung im Fach „Psychiatrie und Psychotherapie“ oder „Psychosomatische Medizin“ für zwölf Monate Voraussetzung, damit die geforderten 1.200 Stunden im klinischen Bereich von der jeweiligen Psychotherapeutenkammer anerkannt werden. Dieses klinische Jahr ist eine Voraussetzung für die Erlangung der Approbation als Psychologische Psychotherapeutin bzw. als Psychologischer Psychotherapeut.

    Aufgrund dieser Tatsache ist im Deutschen Bundesverband der Chefärztinnen und Chefärzte der Fachkliniken für Suchtkranke e. V. (DBCS) die Idee entstanden, durch eine Umfrage den Stand der Weiterbildungsermächtigungen in Suchtfachkliniken zu erheben. Die Fragebögen wurden 2013 verschickt, und 2014 wurde die Auswertung auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) vorgestellt.

    Die Stichprobe

    Es wurden 273 Fragebögen verschickt, davon vom buss 152 Fragebögen an die chefärztliche Leitung, und vom Fachverband Sucht 121 Fragebögen an ärztliche und therapeutische Leitungen. Der Rücklauf betrug 105 vollständig beantwortete Fragebögen, was einer Rücklaufquote von 38,46 Prozent entspricht. Das ist eine mäßig gute Quote. Warum haben nicht mehr Chefärztinnen und Chefärzte geantwortet?

    Gründe dafür, dass das Thema Weiterbildungsermächtigung in den Kliniken auf einen geringen Widerhall stieß, könnten sein, dass die Chancen für einen erfolgreichen Antrag (irrtümlicherweise) als gering eingeschätzt werden wegen evtl. fehlender Voraussetzungen oder dass der Nutzen einer Weiterbildungsermächtigung nicht bekannt ist. Dem soll dieser Themenschwerpunkt von KONTUREN online entgegenwirken. Er soll zur Informationsvermittlung, zur Ermutigung und als Entscheidungshilfe dienen.

    74 Chefärztinnen und Chefärzte gaben an, in ihrer aktuellen Position einen Antrag auf die Erteilung einer Weiterbildungsermächtigung gestellt zu haben, 50 Chefärztinnen und Chefärzte hatten keinen Antrag gestellt. Von den 74 Anträgen waren 60 bewilligt worden, was einer Bewilligungsquote von 81 Prozent entspricht. Vier Anträge wurden von der jeweiligen Ärztekammer noch bearbeitet, zehn Anträge (14 Prozent) waren abgelehnt worden.

    Schwierigkeiten bei der Beantragung

    Bei der Beantragung der Weiterbildungsermächtigung gab es bei vielen Kliniken (21 Kliniken = 38,18 Prozent) Schwierigkeiten, 13 Kliniken (23,64 Prozent) hatten teilweise Schwierigkeiten. Nur 20 Kliniken (36,36 Prozent) hatten die Weiterbildungsermächtigung problemlos erhalten (vgl. Abbildung 1). An Schwierigkeiten wurde am häufigsten genannt, dass die bewilligte Weiterbildungszeit geringer war als beantragt (18 Kliniken = 46,15 Prozent), 16 Kliniken mussten zusätzliche Nachweise erbringen (41 Prozent), jeweils eine Klinik beklagte eine lange Bearbeitungszeit oder keine Beantwortung des Antrages, drei Kliniken benannten andere Schwierigkeiten.

    Als Ablehnungsgründe seitens der Ärztekammer wurde Folgendes benannt:

    • Suchtmedizin sei ein zu enges Indikationsgebiet (drei Kliniken).
    • Zwei Kliniken fehle die 100-Prozent-Tätigkeit des Weiterbilders.
    • Eine Klinik habe eine zu geringe ärztliche Stellenbesetzung.
    • Ein Antrag wurde abgelehnt, da die Diagnosen inadäquat für die psychosomatische Medizin seien.
    • Drei Kliniken machten keine Angaben.
    Abb. 1: Schwierigkeiten bei der Beantragung
    Abb. 1: Schwierigkeiten bei der Beantragung

    Suchtmedizin ein „zu enges Indikationsgebiet“?

    Auch wenn eine Suchtfachklinik alleine keine volle Weiterbildungsermächtigung erreichen kann, ist das Argument eines zu engen Indikationsgebietes falsch. Internationale Studie zeigen, dass es „bemerkenswert hohe Lebenszeitprävalenzen von weiteren psychischen oder substanzbedingten Störungen bei Personen mit der Lebenszeitdiagnose eines Alkoholmissbrauchs oder einer Alkoholabhängigkeit“ gibt (Moggi 2007). Drei Viertel der Betroffenen mit einer Alkoholabhängigkeit (Männer: 78 Prozent, Frauen: 86 Prozent) berichten über mindestens eine weitere komorbide psychiatrische Störung, über 30 Prozent (Männer: 34 Prozent, Frauen: 47 Prozent) weisen in der Regel mehr als drei psychiatrische Störungen auf (Kessler et al. 1994).

    Studien bzgl. der Komorbidität zwischen einer Major Depression und einer substanzbezogenen Störung zeigen Werte zwischen zwölf und 80 Prozent, abhängig von verschiedenen Studienbedingungen (Compton et al. 2007; Conner et al. 2008a; Torrens et al. 2011a). Depressive Suchtpatienten weisen hDie Prävalenz depressiver Störungen bei Alkoholabhängigkeit ist ähnlich hoch. Depressive alkoholabhängige Menschen haben zudem häufigere stationäre Behandlungen, längere und schlechtere Verläufe, mehr Eheprobleme, mehr Beschäftigungslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit sowie mehr vollendete Suizide auf. Das Lebenszeit-Suizidrisiko für depressive Alkoholabhängige ist erschreckend hoch: 60- bis 120-fach höher als in der Normalbevölkerung. 25 Prozent aller Suizide werden von dieser Gruppe verübt. Die Kriterien einer Major Depression erfüllten in einer Studie 68 Prozent von 50 suizidierten Alkoholikern (Murphy & Wetzel 1990). Cornelius, Salloum et al. (1996) beschäftigten sich mit dem suizidalen Verhalten von Alkoholabhängigen mit einer Major Depression, die in eine psychiatrische Klinik aufgenommen worden waren: 40 Prozent hatten in der Woche vor der Aufnahme einen Suizidversuch unternommen, 70 Prozent hatten schon mindestens einmal versucht sich umzubringen.

    Die Komorbiditätsraten von bipolaren affektiven Störungen und Alkoholabhängigkeit liegen zwischen sechs und 69 Prozent, meistens bei 30 Prozent und mehr. Bei Patienten mit einer substanzbezogenen Störung können bei 34 bis 73 Prozent komorbide Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden (Verheul 2011). Am häufigsten sind es Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen, vor allem die Borderline-PS (Walter et al. 2009). Umgekehrt weisen Borderline-Patienten zur Hälfte eine substanzbezogene Störung auf (McGlashan et al. 2000).

    Die Lebenszeitprävalenz für eine Posttraumatische Belastungsstörung bei Suchtpatienten im klinischen Setting beträgt bis zu 50 Prozent (26 bis 52 Prozent) und für eine aktuelle PTSD 15 bis 41 Prozent (Schäfer & Najavits 2007). Dabei leiden Frauen deutlich häufiger unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, nämlich ca. doppelt so viele wie Männer (Dom et al. 2007; Driessen et al. 2008). In der Regel leiden drogenabhängige Menschen unter mehr komorbiden Störungen als Personen mit einer Alkoholabhängigkeit.

    Eine Studie von Miller (1993) ergibt, dass 44 Prozent der alkoholabhängigen Frauen sexuell missbraucht wurden versus 27 Prozent der psychiatrisch behandelten Frauen versus neun Prozent der Frauen in der Normalbevölkerung. Nach dem Review von Simpson und Miller (2002) hatten bei Alkoholabhängigkeit 50 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer mindestens eine Form früher (körperlicher oder sexueller) Gewalt erlitten, bei Drogenabhängigkeit waren es 80 Prozent der Frauen sowie 50 Prozent der Männer (Simpson und Miller 2002, Auswertung von 53 Studien [32 Studien mit nur Frauen, 16 Studien mit Frauen und Männern, fünf Studien mit nur Männern]: 27 Prozent bis 67 Prozent der abhängigen Frauen wurden sexuell missbraucht, 33 Prozent körperlich misshandelt, neun bis 29 Prozent der abhängigen Männer wurden sexuell missbraucht, 24 bis 53 Prozent körperlich misshandelt).

    Die genannten Studien können gerne als Argumentationshilfe gegen das „zu enge Indikationsgebiet“ verwendet werden. Empfehlenswert ist auch das neu herausgekommene Buch von Dom und Moggi: „Co-occurring Addictive and Psychiatric Disorders“, Springer 2015. Studienergebnisse entheben die Antragstellerin/den Antragsteller aber nicht der Notwendigkeit, in ihrer/seiner Institution zwölf Monate vor dem Antrag auf Weiterbildungsermächtigung alle Diagnosen zu erheben, also die vorhandenen komorbiden psychiatrischen Störungen zu diagnostizieren, zu verschlüsseln und dann prozentual auszuwerten, um die ganze psychiatrische Bandbreite in der Suchtfachklinik aufzuzeigen – und um damit eine möglichst lange Weiterbildungszeit zu erlangen. (Die Verfasserin unterzieht sich diesem Verfahren gerade in ihrer neuen Klinik. In der Suchtfachklinik, in der sie vorher lange als Chefärztin tätig war, wurden von der Ärztekammer Niedersachsen problemlos 18 Monate Weiterbildungszeit anerkannt aufgrund der hohen Anzahl an komorbiden psychiatrischen Störungen.) Daneben gibt es auch immer die Möglichkeit, an einem Weiterbildungsverbund teilzunehmen (vgl. den Artikel „Weiterbildungsermächtigungen in Fachkliniken in Westfalen-Lippe“ von Dr. Markus Wenning auf KONTUREN online).

    Gebiete der vorliegenden Weiterbildungsermächtigungen

    Nach den Ergebnissen der Umfrage wurden in folgenden Fächern/Gebieten Weiterbildungsermächtigungen erteilt (vgl. Abbildung 2):

    • 35 in Psychiatrie und Psychotherapie (58,33 Prozent)
    • neun in Sozialmedizin (15 Prozent)
    • fünf in Psychosomatische Medizin (8,33 Prozent)
    • fünf in Innere Medizin (8,33 Prozent)
    • drei in Rehabilitationswesen (fünf Prozent)
    • jeweils eine in Allgemeinmedizin, Psychoanalyse sowie Psychotherapie (jeweils 1,67 Prozent)

    Drei Weiterbildungsermächtigungen mussten nicht beantragt werden, da sie durch die Klinikstruktur bereits in vollem Umfang vorhanden waren (jeweils eine für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin sowie Neurologie). Insgesamt ergab die Umfrage also 63 gültige Weiterbildungsermächtigungen.

    Abb. 2: Vorliegende Weiterbildungsermächtigungen
    Abb. 2: Vorliegende Weiterbildungsermächtigungen

    Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen

    Wie oben erwähnt, ist ein Zeitraum von zwölf Monaten für die Weiterbildungsermächtigung notwendig, um attraktiv sowohl für die ärztlichen als auch für die psychologischen Weiterbildungskandidaten zu sein. Für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie ergab sich in der Umfrage in Bezug auf die Zeiträume folgendes Bild (vgl. Abbildung 3):

    • Vier Suchtfachkliniken erhielten einen Zeitraum von sechs Monaten.
    • 14 Kliniken waren zwölf Monate zuerkannt worden.
    • Neun Kliniken konnten 18 Monate Weiterbildungszeitraum erreichen.
    • Vier Kliniken bekamen 24 Monate
    • Bei vier Kliniken war entweder durch die Kombination mit einer benachbarten Psychiatrie oder durch die bereits vorhandene Klinikstruktur die volle Weiterbildungszeit von 48 Monaten gegeben.
    • Ein Bogen war für den Zeitraum der Weiterbildungsberechtigung nicht auswertbar.
    Abb. 3: Bewilligter Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie
    Abb. 3: Bewilligter Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie

    Für den Bereich Sozialmedizin ergaben sich folgende Zeiträume der Weiterbildungsberechtigung:

    • Zwei Kliniken erhielten sechs Monate.
    • Vier Kliniken erhielten zwölf Monate.
    • Eine Klinik erhielt 48 Monate.

    In der Psychosomatischen Medizin erhielten

    • zwei Fachkliniken 24 Monate,
    • drei Fachkliniken 36 Monate,
    • und eine Klinik hatte durch die Klinikstruktur eine bereits vorliegende 48-monatige Weiterbildungsberechtigung.

    Im Fach Innere Medizin erhielten

    • zwei Kliniken sechs Monate,
    • eine Klinik zwölf Monate und
    • eine Klinik 18 Monate.

    Im Gebiet Rehabilitationswesen erhielt

    • eine Fachklinik sechs Monate und
    • eine Klinik zwölf Monate.

    In Psychoanalyse sowie Psychotherapie wurden jeweils einer Klinik 48 Monate Weiterbildungszeitraum bewilligt. In Allgemeinmedizin erhielt eine Klinik zwölf Monate.

    Fazit

    Der DBCS ist mit dieser Situation nicht zufrieden. Aus diesem Grund ist für 2016 geplant, Wege zu finden, die Kolleginnen und Kollegen zu informieren und zur Antragstellung zu ermutigen. Die Verfasserin unterstützt diese Haltung ausdrücklich, da die Suchtmedizin und die Suchtbehandlung einen wichtigen Teil der medizinischen und therapeutischen Behandlungslandschaft darstellen. Um dies sichtbar zu machen, wäre es begrüßenswert, wenn mehr Anträge gestellt würden. Im Workshop der buss-Managementtagung 2014 wurde deutlich, dass es wichtig ist, sich bei Schwierigkeiten nicht entmutigen zu lassen! Im Zweifelsfall ist es hilfreich, den Justiziar der jeweiligen Ärztekammer einzuschalten oder sich an andere übergeordnete Abteilungen oder politische Institutionen zu wenden.

    Kontakt:

    Dr. Wibke Voigt
    Fachklinik Kamillushaus
    Heidhauser Straße 273
    45359 Essen
    w.voigt@kkrh.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. Wibke Voigt ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und zertifizierte Traumatherapeutin. Sie ist seit 2006 als Chefärztin tätig, seit Oktober 2015 an der Fachklinik Kamillushaus, Essen. Dr. Wibke Voigt ist Vorstandsmitglied des DBCS und Vorsitzende des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss).

    Literatur:
    • Chen KW, Banducci AN et al. (2011): Drug Alcohol Depend.
    • Compton WM, Thomas YF, Stinsons FS, Grant BF (2007): Prevalence, correlates, disability and comorbidity of DSM-IV drug abuse and dependence in the United States: results from the national epidemiologic survey on alcohol and related conditions. Arch Gen Psychiatry 64(4): 566-576.
    • Conner KR, Pinquart M, Duberstein PR (2008a): Meta-analysis of depression and substance abuse and impairment among intravenous drug users (IUDs). Addiction 103(4): 524-534.
    • Cornelius JR, Salloum IM, Day NL, Thase ME, Mann JJ (1996): Patterns of suicidality and alcohol use in alcoholics with major depression. Alcohol Clin Exp Res 20(8): 1451-1455.
    • Dom G, De Wilde B, Hulstjin W, Sabbe B (2007): Traumatic experiences and posttraumatic stress disorders: differences between treatment seeking early- and late onset alcoholic patients. Compr psychiatry 48(2): 178-185.
    • Dom G, Moggi F (Hg.) (2015): Co-occurring Addictive and Psychiatric Disorders. A Practice-Based Handbook from a European Perspective, Springer, Berlin.
    • Driessen M, Schulte S, Lüdecke C (2008): Trauma and PTSD in patients with alcohol, drug or dual dependence: A multi-center study. Alcohol Clin Exp Res 2008, 32(3): 481-488.
    • Kessler KS, McGonagle KA, Zhao S, Nelson CB, Hughes M, Eshleman S, Wittchen HU, Kendler KS (1994): Lifetime and 12-month prevalence of DSM-III-R psychiatric disorders in the United States: Results from the National Comorbidity Survey. Archives of General Psychiatry 51, 8-19.
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  • Vom Aussterben der Sozialmediziner und der Bedeutung von Weiterbildung

    Vom Aussterben der Sozialmediziner und der Bedeutung von Weiterbildung

    Dr. Ursula Fennen
    Dr. Ursula Fennen

    Die Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation erlegen den Leistungserbringern hohe Anforderungen an Struktur, Konzept und fachlicher Kompetenz auf. Deren Implementierung ist belegungs- und vergütungsrelevant und wird durch etablierte Qualitätssicherungsprogramme regelmäßig überprüft. Zu Recht, ist doch die qualitativ hochwertige Rehabilitation spätestens volkswirtschaftlich von immenser Bedeutung! Zu diesen Anforderungen von Seiten der Leistungsträger gehört, dass der leitende Arzt/die leitende Ärztin über eine Gebietsbezeichnung und bestenfalls und wünschenswerterweise über die Zusatzbezeichnung Rehabilitationswesen oder Sozialmedizin verfüge, da die Aufgabe fundierte medizinische und rehabilitative Kenntnisse sowie die umfassende Berücksichtigung aller Reha-relevanten Erkrankungen erfordere.

    Nach Ansicht der Leistungsträger stellen Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation ein wertvolles Potential für die ärztliche Weiterbildung dar, weil hier Kenntnisse über Prävention und die Vermittlung von Strategien zum langfristigen Erhalt erreichter Lebensstiländerungen sowie Kenntnisse in der sektorübergreifenden Versorgung und sozialmedizinischen Behandlung und Begutachtung erworben werden. Die Weiterbildung in einer Klinik ermöglicht in kollegialer Lernatmosphäre den umfassenden Blick auf die erwerbs- und arbeitsplatzrelevanten Fähigkeiten des Patienten unter Verknüpfung akutmedizinischer und rehabilitationsbezogener Belange.

    Seit einigen Jahren scheiden nun zunehmend klinische Sozialmediziner – im Sinne einer besseren Lesbarkeit des Textes wird durchgängig die männliche Form verwendet, wobei stets beide Geschlechter gemeint sind – ohne Nachfolger aus dem Berufsleben aus. Vom leitenden Arzt einer Fachklinik zur Rehabilitation Abhängigkeitskranker erwartet der Leistungsträger neben der Gebietsbezeichnung heute (deswegen?) nur noch, dass er die sozialmedizinischen Blockseminare an einem Weiterbildungsinstitut besucht hat. An deren formalem Besuch wird nun die belegungs- und vergütungsrelevante Qualität einer Reha-Einrichtung gemessen. Die aktuelle Beschränkung der Leistungsträger auf den schieren Besuch der Kurse scheint also vernünftig und pragmatisch, birgt aber Gefahren für die dauerhafte Belegung einer Klinik, verhindert für den leitenden Arzt Rechtssicherheit und vernachlässigt das Potential der Reha-Einrichtungen als hoch differenzierte Weiterbildungsstätten. Darüber hinaus ist bundesweit die Weiterbildungsordnung zum Erwerb des Zusatztitels Sozialmedizin inhomogen und die Handhabung zur Erteilung der Weiterbildungsermächtigung in einigen Ländern sehr starr. Weiterbildungsordnung, Bedarf der Leistungsträger und Interesse der Ärzte (und Rehabilitanden?) sind nicht harmonisiert. Aus der kammerseitig restriktiven Handhabung der Erteilung von Weiterbildungsermächtigungen resultiert u. a. der heute fehlende sozialmedizinische Nachwuchs.

    In einigen Bundesländern ist das Curriculum der Blockseminare inhaltlich auf die Erwartungen der Leistungsträger an die im eigenen Haus tätigen Ärzte eingeengt. Diese Ärzte besuchen die Seminare und hospitieren bei unterschiedlichen Sozialversicherungsträgern. Danach werden sie höher eingruppiert, führen aber keinen Zusatztitel. Der Besuch dieser Seminare ist die Grundlage, um dann in der Geschäftsstelle sozialmedizinisch vor allem gutachterlich im weitesten Sinne tätig zu sein. Klinisch tätige Ärzte absolvieren diese Seminare ebenso, da sie Bestandteil der Weiterbildung sind, brauchen aber, sofern sie den Zusatztitel erlangen wollen, wie in jeder Weiterbildung praktische Anleitung und Supervision im klinischen Alltag bei einem zur Weiterbildung ermächtigten Arzt. Sie lernen, Reha-Diagnosen zu stellen, ihre gesamte Behandlungsstrategie sozialmedizinisch auszurichten und das Behandlungsergebnis in gutachterliche Stellungnahme und Empfehlung zu gießen. Jedoch ist es schwierig, die Weiterbildungsermächtigung zu erlangen, da die Kammer, wie oben genannt, auch vom klinisch tätigen Arzt ein eher verwaltungsbezogenes Curriculum sowie das ständige Beisammensein von Weiterbilder und Assistent im Unterstellungsverhältnis erwartet.

    Die Autorin erwarb im Jahr 2000 u. a. den Zusatztitel Sozialmedizin im Bundesland Sachsen nach einjähriger Weiterbildungszeit bei einem zur Weiterbildung ermächtigten Arzt in einer Fachklinik. Als sie für sich 2010 die Weiterbildungsermächtigung im Bundesland Baden-Württemberg beantragen wollte, war sie Ärztliche Direktorin von fünf Fachkliniken. Die Weiterbildungsermächtigung wurde nach langem Briefwechsel mit der Kammer letztendlich nicht erteilt, da die Ärztliche Direktorin weder fünf Tage in der Woche acht Stunden am Tag mit dem Weiterbildungsassistenten verbringen noch für ihren Urlaub eine qualifizierte Vertretung bereitstellen konnte (weil sie im gesamten Klinikverbund die einzige Ärztin mit Zusatztitel war). Dagegen klagte sie.

    Nun sind Weiterbildungsassistenten im Fach Sozialmedizin zumeist bereits leitende Ärzte mit einer Gebietsbezeichnung und langjähriger Erfahrung in der Rehabilitation. Sie leiten Fachkliniken, betreiben sozialmedizinische Diagnostik, Behandlung und Begutachtung, haben die Seminare besucht, sollen aber dennoch, so die Erwartung zur Erfüllung der Weiterbildungsordnung, ständig vom Weiterbilder soufflierend umgeben sein.

    In einigen Bundesländern gibt es realitätsbezogenere Regelungen: Zum Beispiel lässt sich dort der Zusatztitel Sozialmedizin zwar nicht in einem Jahr, wie in Baden-Württemberg vorgeschrieben, sondern innerhalb von drei Jahren erwerben, und Weiterbilder und Assistent sind nicht zwangsläufig jeden Tag zusammen an einem Ort, jedoch erfolgt regelmäßig eine nachgewiesene Besprechung und Supervision mit und durch den Weiterbilder. Und gerade das macht ja Weiterbildung aus und unterscheidet diese von theoretischer Wissensvermittlung: die Überführung der beruflichen Erfahrung von Weiterbilder und Assistent in sozialmedizinische Erkenntnisse und Sprache, die Ausbildung einer eigenen inneren Haltung durch die dialogische Qualität der Weiterbildung, die Reibung im kollegialen Diskurs sowie die gemeinsam erlebten und befundeten klinischen Zwangsläufigkeiten, Absonderlichkeiten, Möglichkeiten und Erfahrungen. Wenn die sozialmedizinische Legitimation zur Leitung einer Rehaklinik auf den Besuch der theoretischen Seminare und die Hospitation bei Sozialversicherungsträgern beschränkt würde, dann ließe sie die gesamte berufliche Erfahrung eines klinisch tätigen Arztes außer Acht.

    Nach Ablehnung des Antrags auf Weiterbildungsermächtigung scheiterte der Versuch der Autorin, die Leistungsträger, die sozialmedizinisch qualifizierte Ärzte in den Kliniken brauchen und wünschen, und die Kammer, die die Weiterbildungsordnung verantwortet, zusammenzubringen und über eine praktikable und verantwortungsvolle Regelung der Weiterbildung im Sinne der klinisch tätigen Ärzte zu diskutieren.

    Aktuell ist die Lage also so, dass Ärzte ohne Zusatztitel vom Leistungsträger in ihrer Funktion geduldet sind, die Deutungshoheit über das, was sie tun, obliegt somit aber auch dem Leistungsträger. Wie frei ist dann ein solcher Arzt? Wenn ein Arzt zu Diagnosen kommt, Behandlung plant und durchführt und den Nutzen dieser Behandlung am Ende durch den Entlassungsbericht überprüft und Empfehlungen abgibt, dann tut er das auf der Grundlage seiner Erfahrung, nach vielfältigem kollegialen Austausch und nach intensivem Befassen mit dem Patienten. Er leistet seine Unterschrift in der vollständigen und ernst gemeinten Verantwortung für das Behandlungsergebnis, verbindlich und zuverlässig für den Patienten, aber auch genauso justiziabel. Und das ist in den vielen Kliniken, in denen die leitenden Ärzte nicht den Zusatztitel Sozialmedizin erwerben können, die sich auf das Wort des Leistungsträgers verlassen, dass der Besuch der Seminare reiche, nicht mehr der Fall.

    Die Autorin hatte 2010 für sich erfolglos die Weiterbildungsermächtigung für die Zusatzbezeichnung Sozialmedizin beantragt, um die leitenden Ärzte der genannten fünf Kliniken zu Sozialmedizinern ausbilden zu können. Letztendlich hat sie mit einer Klage beim Verwaltungsgericht in Mannheim in zweiter Instanz im Juni 2014 erstritten, dass die Weiterbildungsbefugnis zu erteilen sei, wenn ein Kammermitglied fachlich und persönlich geeignet und an einer zugelassenen oder zulassungsfähigen Weiterbildungseinrichtung tätig sei. Die Entscheidung über die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis sei, so das Urteil, keine Ermessensentscheidung der Landesärztekammer. Ausschlaggebend sei die fachliche und persönliche Eignung des Weiterbilders, die nicht in den Ermessensspielraum der Ärztekammer falle, sondern durch Kriterien wie z. B. umfassende Sachkunde, Erfahrung und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Weiterbildung belegt werde. An dieser fachlichen und persönlichen Eignung der Autorin sowie an der Zulassungsfähigkeit der Weiterbildungseinrichtung hatte die Ärztekammer zu keinem Zeitpunkt Zweifel. Das Gericht urteilte ferner, dass weder die zeitliche Komponente (ganztägige Durchführung unter persönlicher Leitung) zur persönlichen Eignung gehöre, noch seien an die Eignung unverhältnismäßig hohe Anforderungen betreffend Einweisung und Überwachung des Weiterbildungsassistenten zu stellen.

    Mit diesem Urteil ist die Bedeutsamkeit der Weiterbildung für die Qualität und den Bestand von Reha-Einrichtungen, für ganzheitliche sozialmedizinische Behandlung und Rehabilitation und für die Heranbildung ärztlicher Kollegen in der Sozialmedizin gewürdigt. Es stützt die notwendige Unabhängigkeit im ärztlichen Handeln. Die Weiterbildung basiert auf der qualifizierten Weitergabe von sozialmedizinischem Wissen und Denken, gewährleistet die Belegbarkeit einer Klinik und damit deren Existenz, sichert den sozialmedizinisch behandelnden und begutachtenden Arzt juristisch ab und steigert die Behandlungsqualität für die Patienten.

    Der Autorin wurde nach dem Urteil von der Kammer in Aussicht gestellt, dass bei erneuter Beantragung die Weiterbildungsermächtigung selbstverständlich erteilt werde.

    Kontakt:

    über die Redaktion: redaktion@konturen.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. med. Ursula Fennen, MBA
    Fachärztin für Psychiatrie
    -Psychotherapie/Sozialmedizin/Rehabilitationswesen-
    Suchtmedizinische Grundversorgung
    Verkehrsmedizinische Qualifikation

    Dr. Ursula Fennen ist ab 1. März 2016 als Chefärztin in der Fachklinik Hirtenstein, Bolsterlang, tätig.

  • Weiterbildungsermächtigungen in Fachkliniken in Westfalen-Lippe

    Weiterbildungsermächtigungen in Fachkliniken in Westfalen-Lippe

    Dr. Markus Wenning
    Dr. Markus Wenning

    Der Artikel lehnt sich an einen Vortrag an, den der Autor im September 2014 auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) in Kassel gehalten hat.

    Weiterbildungsbefugnisse – oder Ermächtigungen, wie sie in einigen Ärztekammern heißen – machen einen großen Teil der Attraktivität von Kliniken für junge Ärztinnen und Ärzte aus. Eine Klinik oder Abteilung ohne Weiterbildungsbefugnis ist für Ärzte ohne Facharztkompetenz uninteressant. Dieser Artikel zeigt auf, welche Bedingungen für die Erteilung einer Befugnis gelten und welche Besonderheiten in Fachkliniken zu berücksichtigen sind.

    Weiterbildung ist der geregelte Erwerb festgelegter Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten, um nach Abschluss des Medizinstudiums besondere ärztliche Kompetenzen zu erlangen (§1 (Muster-)Weiterbildungsordnung). Eine geregelte Weiterbildung soll junge Ärztinnen und Ärzte an eine zunehmend selbständigere Tätigkeit in ihrem Fachgebiet heranführen.

    Voraussetzungen für die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis

    Führen der Facharztbezeichnung und Berufserfahrung als Facharzt

    Die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis durch die Ärztekammern stellt eine Akkreditierung dar, die an besondere Voraussetzungen gebunden ist. Einige Bedingungen leuchten unmittelbar ein. Beispielsweise kann eine Befugnis zur Weiterbildung im Gebiet „Psychiatrie und Psychotherapie“ nur erteilt werden, wenn

    • die Ärztin/der Arzt selbst die Bezeichnung „Psychiatrie und Psychotherapie“ führt (§5 (2) (Muster-)Weiterbildungsordnung) und
    • eine mehrjährige Tätigkeit nach Abschluss der Weiterbildung nachweisen kann (§5 (2) (Muster-)Weiterbildungsordnung).

    Die geforderte mehrjährige Tätigkeit nach Abschluss der Weiterbildung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Kompetenz eines Facharztes mit Abschluss der Weiterbildung nicht stagniert, sondern durch die berufliche Tätigkeit („Erfahrung“) und Fortbildung erweitert wird. In Westfalen-Lippe sind mindestens zwei Jahre berufliche Tätigkeit nach Abschluss der Weiterbildung erforderlich, um eine Weiterbildungsbefugnis zu bekommen.

    Persönliche Eignung

    Ferner müssen die Weiterbilderin oder der Weiterbilder „persönlich geeignet“ (§ 5 (2) (Muster-)Weiterbildungsordnung) sein. Die „persönliche Eignung“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der im Einzelfall ausgefüllt werden muss. Dazu zählen didaktische ebenso wie organisatorische Fähigkeiten. An einer persönlichen Eignung fehlt es z. B., wenn nicht wahrheitsgemäße Zeugnisse erstellt werden oder falsche Angaben zur eigenen Leistungsstatistik in Anträgen auf eine Weiterbildungsbefugnis (mit dem Ziel einer möglichst hohen Befugnis) gemacht werden.

    Ein zentrales Element der Qualitätssicherung in der Weiterbildung in einem Peer-Review-System ist die Glaubwürdigkeit der Weiterbilder. Ärztekammern, künftige Patienten und Kollegen müssen sich darauf verlassen können, dass Weiterbildungszeugnisse wahrheitsgetreu sind. Anders als in Arbeitszeugnissen sind nicht nur positive Formulierungen möglich, es muss im Gegenteil ein realistisches Bild der Kompetenzen dargelegt werden. Dies schließt ein, auch Defizite oder noch fehlende Weiterbildungsinhalte klar zu benennen. Das Ausstellen fehlerhafter oder bewusst falscher Zeugnisse sowie falsche Angaben zur eigenen Leistungsstatistik in Weiterbildungsanträgen lassen mindestens Zweifel an der Sorgfalt des Antragstellers aufkommen, schlimmstenfalls erfüllen sie den Straftatbestand der mittelbaren Falschbeurkundung (§ 271 StGB – mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bewehrt).

    Gegliedertes Programm für den Weiterbildungsgang

    Jedem Antrag auf Weiterbildungsbefugnis ist ein Curriculum („gegliedertes Programm“; § 5 (5) (Muster-)Weiterbildungsordnung) beizufügen. In diesem Programm soll erläutert werden, wie in der Abteilung/Klinik Weiterbildung vermittelt wird.

    Beurteilung in einem Peer-Review-Verfahren

    Jeder Antrag auf Erteilung oder Erhöhung einer Weiterbildungsbefugnis, jedes Curriculum wird in Westfalen-Lippe von mindestens zwei erfahrenen Weiterbildern beurteilt.

    Befristung von Weiterbildungsbefugnissen

    Weiterbildungsbefugnisse sollen befristet sein. Die medizinische Versorgung in Deutschland unterliegt einer großen Dynamik. Medizinischer Fortschritt und ökonomische Rahmenbedingungen verändern die Bedingungen, unter denen ärztliche Tätigkeit ausgeübt und damit auch erlernt werden kann. Dies erfordert eine regelmäßige Anpassung der Weiterbildungsbefugnisse. In Westfalen-Lippe werden die Befugnisse für alle Gebiete routinemäßig alle sieben bis acht Jahre angepasst und entsprechend befristet.

    Umfang der Weiterbildungsbefugnis

    Für die Erteilung einer so genannten „vollen“ Weiterbildungsbefugnis über die gesamte Weiterbildungszeit ist es erforderlich, das gesamte, in der Weiterbildungsordnung abgebildete Spektrum eines Gebietes in qualitativer und in quantitativer Hinsicht abzudecken. Dabei spielt in Westfalen-Lippe auch die Zahl der Weiterbildungsärzte eine Rolle: Erst aus dem Verhältnis von Leistungsstatistik zu Ärzten in Weiterbildung ergibt sich, ob eine ausreichende Weiterbildung vermittelt werden kann. Abteilungen, die quantitativ oder qualitativ nicht das gesamte Spektrum eines Gebietes abdecken, wie dies bei Fachkliniken der Fall ist, können nur eine eingeschränkte Weiterbildungsbefugnis erhalten. Eine Möglichkeit, die volle Weiterbildung zu vermitteln, besteht dann im Zusammenschluss mit anderen Kliniken zu einem Weiterbildungsverbund.

    Weiterbildung nur an einer Weiterbildungsstätte

    Ein Weiterbildungsarzt soll bei seiner Arbeit jederzeit und unverzüglich einen erfahrenen Facharzt hinzuziehen können. In der Weiterbildungsordnung spiegelt sich dies in dem Umstand wider, dass grundsätzlich kein Arzt eine Weiterbildungsbefugnis erhalten kann, der an mehr als einer Weiterbildungsstelle tätig ist (§ 5 (3) (Muster-)Weiterbildungsordnung). Da zunehmend Chefärztinnen und Chefärzte an mehreren Betriebsstätten tätig sind, ist die Ärztekammer Westfalen-Lippe bei der Vergabe von Befugnissen restriktiv. Ohne fachärztliche Supervision kann keine Weiterbildung erfolgen. Wenn eine Chefärztin/ein Chefarzt an mehreren Betriebsstätten tätig ist, ist die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis in Westfalen-Lippe nur bei folgenden Konstellationen möglich:

    • Nicht der (organisatorische) Leiter der Gesamtabteilung, sondern an den jeweiligen Betriebsstätten tätige Fachärzte beantragen die Weiterbildungsbefugnis.
    • Zusammen mit der Chefärztin/dem Chefarzt beantragen weitere Fachärzte gemeinsam eine so genannte Verbund-Befugnis.

    Evaluation der Weiterbildung

    Standardisierte Befragungen von Ärztinnen und Ärzten zur Qualität ihrer Weiterbildung werden international verwendet, so in Großbritannien (Roff et al., 2005), in Dänemark (Kodal et al., 2012), Japan (Shimizu et al., 2013) und Deutschland (Korzilius, 2011). Für die Ärztekammern in Deutschland ist die Evaluation der Weiterbildung, wie sie in den Jahren 2009, 2011 (jeweils bundesweit) und 2014 (Baden-Württemberg, Nordrhein, Mecklenburg-Vorpommern, Westfalen-Lippe) durchgeführt wurde, ein wichtiger Bestandteil der Qualitätssicherung der Weiterbildung.

    Neben Aussagen über die Qualität der Weiterbildung im Kammergebiet insgesamt oder in verschiedenen Fachgebieten werden für einzelne Abteilungen Berichte erstellt, die Rückschlüsse auf die Qualität der Weiterbildung zulassen (sofern die Befragten einer derartigen Erstellung zustimmen bzw. sich hinreichend viele Ärzte in Weiterbildung beteiligen, so dass ihre Anonymität bei den Antworten gesichert ist). Die Ergebnisse gehen dem Weiterbildungsbefugten zu und ermöglichen die Identifikation von Stärken sowie Schwachstellen und das Aufdecken von Verbesserungspotentialen.

    Bereits der Dialog über die Weiterbildung an einer Klinik setzt Verbesserungsprozesse in Gang. Aber ähnlich wie Befragungen zur Patientenzufriedenheit nur sehr indirekt Aussagen über die Qualität der medizinischen Leistungen zulassen, sind die abteilungsbezogenen Evaluationsberichte keine abschließende Beurteilung über die Qualität der Weiterbildung. Sie sind aber Anlass für einen Einstieg in einen strukturierten Dialog mit der Ärztekammer, der Verbesserungsprozesse fördern soll. Dieser strukturierte Dialog erstreckt sich von Einzelgesprächen mit Weiterbildungsbefugten bis hin zu Visitationen, bei denen die Klinik besucht wird und Gespräche mit allen Beteiligten, insbesondere den Ärzten in Weiterbildung, geführt werden.

    Auf der Homepage der Ärztekammer Westfalen-Lippe werden die Evaluationsberichte der Kliniken und Praxen veröffentlicht (http://www.aekwl.de/index.php?id=5428, abgerufen am 04.10.2015). Die Weiterbildungsstätten können ihre Evaluationsergebnisse kommentieren und außerdem ihr Curriculum einstellen. Die von den Ärztekammern zur Weiterbildung befugten Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, an Evaluationen und Qualitätssicherungsmaßnahmen zur ärztlichen Weiterbildung teilzunehmen (§ 5 (6) (Muster-)Weiterbildungsordnung).

    Visitationen

    International sind Visitationen ein anerkanntes Instrument der Qualitätssicherung der Weiterbildung (ACGME). Die „Union Européenne des Médecins Spécialistes“ und die „Permanent Working Group of European Junior Hospital Doctors“ empfehlen Vistationen (UEMS, 1997; PWG). Anlassbezogene Visitationen finden in Großbritannien statt (GMC). Auch die Ärztekammer Westfalen-Lippe nimmt solche anlassbezogenen Visitationen vor. Neben den Ergebnissen der Evaluation können auch konkrete Beschwerden Anlass für einen strukturierten Dialog und in der Folge dann Visitationen sein. Bei den Visitationen wird geprüft, ob das der Ärztekammer vorgelegte Weiterbildungscurriculum tatsächlich gelebt wird und ob die Angaben im Antrag auf Weiterbildungsbefugnis zutreffen. In teils getrennten, teils gemeinsamen Gesprächen mit Weiterbildungsärzten und Weiterbildern wird ein authentisches Bild der Weiterbildungssituation an einer Weiterbildungsstätte erkennbar und ggf. gemeinsam mit den Betroffenen eine Lösungsstrategie erarbeitet.

    In bislang ca. 50 Fällen wurden derartige Visitationen in Weiterbildungsstätten in Westfalen-Lippe durchgeführt. In einigen wenigen Fällen wurden Auflagen zur Weiterbildung erteilt, Befugnisse zeitlich eingeschränkt und in einem Fall sogar ganz entzogen. Von den jungen Ärztinnen und Ärzten wurden diese Visitationen positiv aufgenommen, im Nachgang wird von Verbesserungen bei der Weiterbildung berichtet. Eine systematische Analyse wird mit den Ergebnissen der Evaluation 2014 möglich sein.

    Wechsel einer Chefärztin/eines Chefarztes

    In Westfalen-Lippe erhält eine neue Chefärztin/ein neuer Chefarzt grundsätzlich zunächst eine auf zwölf Monate befristete Befugnis in der Höhe der Weiterbildungsbefugnis der Vorgängerin/des Vorgängers. Nach Ablauf von zwölf Monaten muss dann ein erneuter Antrag mit den eigenen Leistungszahlen des zurückliegenden Jahres gestellt werden.

    Gründung einer neuen Abteilung

    Ärztinnen und Ärzte, die neu gegründete Abteilungen leiten, erhalten frühestens nach einem Jahr eine Befugnis zur Weiterbildung, auch wird die Abteilung erst nach dieser Zeit als Weiterbildungsstätte zugelassen. Für Weiterbildungsärzte, die in dieser Zeit in der Klinik tätig sind und Wissen erwerben, kann eine individuelle Prüfung der Anrechenbarkeit von Zeiten und Leistungen erfolgen. Die Weiterbildungsärzte sollen keine Nachteile aus der fehlenden Weiterbildungsbefugnis erdulden müssen.

    Besondere Situation an Fachkliniken

    Fachkliniken haben ein enges Indikationsspektrum, umfassende Befugnisse für die „großen“ Gebiete kommen daher in der Regel nicht in Frage. Hier sollte an die Möglichkeit von Verbundweiterbildungen gedacht werden. In Fachkliniken für Suchttherapie bietet sich eine Verbundweiterbildung mit den Gebieten „Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“ sowie mit dem Gebiet „Psychiatrie und Psychotherapie“ an. Die „Suchtmedizinische Grundversorgung einschließlich der Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigkeit“ ist integraler Bestandteil der Weiterbildung dieser Gebiete, nicht alle Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ‑psychotherapie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie können diese Inhalte vermitteln. Für derartige Kliniken ist eine Verbundweiterbildung mit einer Fachklinik für Suchttherapie interessant.

    Kontakt:

    Dr. med. Markus Wenning
    Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Westfalen-Lippe
    wenning@aekwl.de
    www.aekwl.de

    Literatur: