Kategorie: Kurzmeldungen

  • Sachsen-Anhalt atmet auf – Nichtraucherschutz und Prävention verstärken

    Im Jahr 2017 fasste der Landtag von Sachsen-Anhalt den Beschluss, dass die Landesstelle für Suchtfragen gebeten sei, ein Konzept zum Nichtraucherschutz und zur Prävention zu entwickeln (Beschluss des Landtags 7/1239). Dieses Konzept wurde im Dezember 2020 durch das Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration dem Landtag vorgelegt.

    Im Rahmen der Umsetzung des Präventionsgesetzes sollte ein Anreiz-, Interventions- und Begleitsystem für Kinder und Jugendliche und insbesondere Mädchen und Frauen entwickelt werden. Vorhandene Strukturen und Unterstützungssysteme sollten im Rahmen des Konzeptes berücksichtigt werden.

    Aus den Recherche- und Analysearbeiten wurden 24 Handlungsempfehlungen für Sachsen-Anhalt abgeleitet. Diese wurden entlang des MPOWER-Konzeptes der WHO für effektive Maßnahmen der Tabakkontrolle strukturiert. Sie lassen sich folgenden sechs Bausteinen des MPOWER-Konzeptes zuordnen:

    • Monitoring: Systematische Erfassung vonvon Tabakkonsum & Präventionsmaßnahmen
    • Protection: Nichtraucherschutz
    • Offering help: Unterstützung beim Rauchstopp
    • Warning: Aufklärung zu Gesundheitsgefahren
    • Enforcing bans: Durchsetzung von Verboten für Tabakwerbung und -sponsoring
    • Raising Taxes: Steuererhöhungen

    Das Konzept ist in drei Teile und ein Zwischenfazit untergliedert:

    • Erster Teil: Auftrag und Vorgehen
    • Zweiter Teil: Ausgangslage – Strukturen – Vorarbeiten
    • Zwischenfazit
    • Dritter Teil: Konzept – Handlungsempfehlungen – Fazit

    Alle für Sachsen-Anhalt unterlegten Handlungsempfehlungen sollen unter einer Dachkampagne gebündelt werden. Die Kernaussagen des Konzeptes wurden in einer siebenseitigen Kurzversion zusammengefasst, die dem Gesamtkonzept vorausgeht. Ein tabellarischer Überblick der Handlungsempfehlungen findet sich auf Seite 7 der Kurzversion. Das Konzept inklusive Kurzversion steht auf der Website der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt zum Download bereit.

    Quelle: Website der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt, Fachinformation vom 8.1.2021

  • Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland

    Mehr als 35 Millionen erwachsene Frauen leben in Deutschland. Ihre Lebenslagen sind sehr unterschiedlich. Alter, Bildung, Berufstätigkeit, Einkommen, Familienform, kultureller Hintergrund und viele weitere Aspekte tragen dazu bei. All diese Faktoren haben auch Einfluss auf die Gesundheit. Und ebenso, wie die sozialen Lebenslagen sehr vielfältig sind, ist auch die gesundheitliche Lage der Frauen sehr unterschiedlich.

    Im Dezember 2020 ist der neue Frauengesundheitsbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) am Robert Koch-Institut „Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland“ erschienen. Der Bericht informiert in neun thematischen Kapiteln auf 400 Seiten umfassend über den Gesundheitszustand, das Gesundheitsverhalten und die Gesundheitsversorgung von Frauen in Deutschland. Auch auf Tabak- und Alkoholkonsum von Frauen (im Unterschied zu den Männern) geht der Bericht ausführlich ein (S. 106 – 120).

    Im Folgenden werden zu jedem der großen Themen-Kapitel die wichtigsten Ergebnisse wiedergegeben:

    Überblick über die Gesundheit der Frauen in Deutschland

    • Die Lebenserwartung von Frauen steigt seit vielen Jahrzehnten an, allein seit 1991 um 4,3 auf nunmehr 83,3 Jahre.
    • Nach der deutschen Wiedervereinigung war der Anstieg der Lebenserwartung in den neuen Ländern stärker als in den alten; dort liegt die Lebenserwartung von Frauen inzwischen geringfügig über der von Frauen in den alten Ländern.
    • Die häufigsten Todesursachen bei Frauen sind ischämische Herzkrankheiten, Demenz sowie zerebrovaskuläre Krankheiten.

    Mädchengesundheit

    • In der Kindheit sind Mädchen gesünder und medizinisch unauffälliger als Jungen, im Jugendalter kehrt sich das Verhältnis um.
    • Im Jugendalter sind Mädchen häufiger als Jungen von Schmerzen und psychischen Problemen betroffen.
    • Die subjektiv eingeschätzte Gesundheit ist im Jugendalter bei Mädchen schlechter als bei Jungen.
    • Die erste Menstruation haben Mädchen heute deutlich früher als ihre Mütter. Dagegen hat sich das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr nach hinten verschoben.
    • Mädchen (und Jungen) verhüten heute gewissenhafter als noch vor zehn Jahren. Beim Thema Aufklärung wächst die Bedeutung des Internets.

    Gesundheit von Frauen zwischen Erwerbs- und Familienarbeit

    • Viele Frauen im erwerbsfähigen Alter stehen vor der Aufgabe, Berufstätigkeit, Kindererziehung und/oder die Pflege von Angehörigen miteinander zu vereinbaren.
    • Nicht erwerbstätige Frauen schätzen ihren allgemeinen Gesundheitszustand häufig schlechter ein als erwerbstätige Frauen; dies gilt auch für Mütter mit minderjährigen Kindern.
    • Konflikte hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehen bei Müttern mit minderjährigen Kindern mit einer schlechteren Gesundheit einher.
    • Junge Mütter, alleinerziehende Mütter, arbeitslose Frauen sowie Frauen, die Angehörige pflegen, sind besonderen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt.
    • Eine nachhaltige Familien-, Sozial- und Arbeitspolitik kann dazu beitragen, eine Balance zwischen Erwerbs- und Familienarbeit zu schaffen, und so die Gesundheit von Frauen im mittleren Erwachsenenalter fördern.

    Gesundheit älterer Frauen

    • Fast die Hälfte der Frauen ab 65 Jahren bewertet ihre Gesundheit als gut oder sehr gut. Im Zeitverlauf zeichnet sich ein Trend hin zu besserer subjektiver Gesundheit ab.
    • Im Alter sind deutlich mehr Frauen als Männer alleinlebend, dennoch sind sie nicht häufiger
    • einsam als Männer.
    • Die im Alter am meisten verbreiteten psychischen Erkrankungen sind Demenz und Depression; sie betreffen jedoch meist erst Frauen im hohen Alter ab 85 Jahren.
    • Ab einem Alter von 75 Jahren ist bei älteren Frauen die Angst vor Stürzen weiter verbreitet als Sturzerfahrungen.
    • Rund die Hälfte der älteren Frauen ab 65 Jahren hat eine Patientenverfügung bzw. Vorsorgevollmacht, mehr als jede Dritte eine Betreuungsverfügung.

    Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund

    • Frauen mit Migrationshintergrund sind eine heterogene Gruppe; die Datenlage zur Gesundheit ist unzureichend.
    • Soziodemografische und migrationsspezifische Faktoren beeinflussen die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten von Frauen mit Migrationshintergrund.
    • Frauen mit Migrationshintergrund sind im Vergleich zu Frauen ohne Migrationshintergrund seltener von bestimmten chronischen körperlichen Erkrankungen betroffen, leiden aber häufiger an einer depressiven Symptomatik.
    • Frauen mit Migrationshintergrund konsumieren seltener Alkohol in riskanten Mengen; sie sind allerdings auch seltener sportlich aktiv.
    • Unterschiede in der Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems und der Qualität der Behandlung sind insbesondere auf sprachliche Barrieren zurückzuführen.

    Sexuelle und reproduktive Gesundheit

    • Sexualität findet meist in festen Beziehungen statt; im jungen und mittleren Lebensalter folgen häufig mehrere (monogame) Beziehungen aufeinander.
    • Zur Verhütung nutzen sexuell aktive erwachsene Frauen am häufigsten die Pille und das Kondom; dabei ist die Anwendung der Pille insbesondere bei jungen Frauen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.
    • Das reproduktive Verhalten in Deutschland ist durch ein niedriges Geburtenniveau, den Aufschub der ersten Geburt in ein höheres Alter und eine verbreitete Kinderlosigkeit gekennzeichnet; die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau beträgt 1,57.
    • Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist seit 2001 rückläufig; 2019 gab es 100.893 Schwangerschaftsabbrüche.
    • Im Jahr 2018 haben 775.916 Frauen Kinder geboren. 30,5 Prozent der Geburten 2017 waren Kaiserschnitte, rund 17.500 Geburten erfolgten nach künstlicher Befruchtung.

    Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen

    • 35 Prozent der Frauen ist seit dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt widerfahren; diese ging überwiegend von Partnern oder Ex-Partnern aus.
    • Die Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Deutschland liegt im europäischen Durchschnitt; sie scheint sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert zu haben.
    • Gewaltbetroffenheit bei Frauen ist unabhängig vom sozialen Status; besonders gefährdet sind Frauen in Trennungssituationen, Frauen mit früheren Gewalterfahrungen und Frauen, die in erhöhtem Maße gesellschaftliche Diskriminierungen erfahren.
    • Gewalt kann schwerwiegende Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit und die psychosoziale Situation von Frauen haben.
    • Viele betroffene Frauen kommen aus unterschiedlichen Gründen beim bestehenden Hilfesystem nicht an; medizinischem Personal kommt eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung der Gewaltbetroffenheit und der Vermittlung von Hilfsangeboten zu.

    Gesundheit von Frauen mit Behinderungen

    • Fünf Millionen Frauen und Mädchen (etwa zwölf Prozent der weiblichen Bevölkerung) haben eine amtlich anerkannte Behinderung, bei 3,8 Millionen liegt eine Schwerbehinderung vor.
    • Der Anteil der Frauen mit Behinderungen steigt mit dem Alter an; fast 60 Prozent der Frauen mit anerkannter Schwerbehinderung sind 65 Jahre alt oder älter.
    • Rund 19 Prozent der Frauen mit Beeinträchtigungen nehmen ihre Gesundheit als gut oder sehr gut wahr, im Gegensatz zu rund 75 Prozent der Frauen ohne Beeinträchtigungen.
    • Frauen mit Beeinträchtigungen haben eine höhere Inanspruchnahme der ambulanten und stationären Versorgung als Frauen ohne Beeinträchtigungen.
    • Frauen mit Behinderungen sind im Lebensverlauf deutlich häufiger von Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen.

    Frauengesundheit im europäischen Vergleich

    • Die mittlere Lebenserwartung von Frauen liegt in Deutschland mit 83,3 Jahren nahe am Durchschnitt der 28 EU-Mitgliedstaaten (83,6 Jahre).
    • Die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Krankheiten ist bei Frauen in den letzten 15 Jahren in allen 28 EU-Mitgliedstaaten zurückgegangen, Deutschland liegt mit 323 Todesfällen pro 100.000 Einwohnerinnen leicht über dem EU-Durchschnitt.
    • Knapp 44 Prozent der Frauen in den 28 EU-Mitgliedstaaten sind übergewichtig (inkl. Adipositas), in Deutschland liegt der Anteil bei rund 43 Prozent.
    • Beim Anteil der Frauen mit monatlichem Rauschtrinken steht Deutschland mit 19 Prozent an zweiter Stelle der 28 EU-Mitgliedstaaten.
    • Der Anteil der Frauen, die gesundheitsförderlich körperlich aktiv sind, ist in Deutschland mit 22 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt der 28 EU-Mitgliedstaaten.

    Der Bericht „Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland“ steht auf der Homepage des Robert Koch-Instituts zum Download zur Verfügung.

    Quelle: Neues von der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Newsletter vom 9.12.2020

  • Bildung der Eltern und Gesundheit der Kinder

    Die Bildung der Eltern hat nicht nur Einfluss auf Bildung, Beruf und Einkommen ihrer Kinder. Sie wirkt auch auf deren Gesundheit – und das bis ins hohe Alter, Jahrzehnte nachdem die Kinder das Elternhaus verlassen haben. Das zeigt eine neue Studie von zwei Forschenden der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), die im renommierten Fachjournal „European Sociological Review“ erschienen ist. Hierfür untersuchten sie die Angaben von mehr als 15.000 Westdeutschen im Alter von 18 bis 80 Jahren. Für die Forschenden unterstreicht dieser Befund den familiären Einfluss auf Bildungswege und die daraus resultierende gesundheitliche Ungleichheit in der Bevölkerung.

    Die Gesundheit eines Menschen ist von zentraler Bedeutung für dessen Werdegang: „Sie ist nicht nur ein guter Indikator dafür, wie lange ein Mensch lebt. Gesündere Menschen haben in der Regel auch bessere Berufschancen und einen höheren sozialen Status. Der Grundstein für ein gesundes Leben wird im Kindesalter gelegt“, sagt der Soziologe Prof. Dr. Oliver Arránz Becker von der MLU. Frühere Studien hätten bereits gezeigt, dass die Gesundheit von Kindern von sozioökonomischen Faktoren im Elternhaus abhängt, etwa dem Einkommen der Eltern und deren Bildung. Das könnte daran liegen, dass mit einer höheren Bildung ein größeres Wissen über eine gesunde Lebensweise und Krankheiten einhergeht, so der Forscher.

    In der neuen Studie gingen die Forschenden aus Halle diesem Zusammenhang weiter auf den Grund. „Wir wollten untersuchen, ob und wie sich diese Effekte langfristig auswirken“, sagt die Soziologin Katharina Loter, Ko-Autorin der Studie. Um dies genauer zu beleuchten, werteten die Forschenden die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für die Geburtenjahrgänge 1925 bis 1998 aus. Das SOEP ist die größte und am längsten laufende Panelstudie Deutschlands, bei der seit mehr als 30 Jahren über 12.000 Privathaushalte in regelmäßigen Abständen zu ihren Lebensumständen befragt werden. Die Daten des SOEP geben zum Beispiel Auskunft über Bildung, Gesundheit, Einkommen, Erwerbstätigkeit und Lebenszufriedenheit. Auch Angaben zur mentalen und körperlichen Gesundheit werden erfasst. Für die Erhebung werden jedes Jahr dieselben Personen befragt, wodurch sich auch langfristige Trends nachzeichnen lassen.

    Die neuen Analysen zeigen, dass es bis ins hohe Alter einen klaren Zusammenhang zwischen der Bildung der Eltern und der Gesundheit ihrer Kinder gibt. „Kinder höher gebildeter Eltern, die also mindestens über einen Abiturabschluss verfügen, bewerteten ihre körperliche Gesundheit in beinahe allen Altersgruppen deutlich besser als Kinder geringer gebildeter Eltern“, fasst Loter zusammen. Bis zu einem Alter von etwa 60 Jahren werden die Unterschiede noch einmal größer, danach nehmen sie etwas ab. In Bezug auf die psychische Gesundheit sind ebenfalls Unterschiede vorhanden, wenn auch nicht so deutlich. Interessant sei, dass die Ungleichheit hinsichtlich mentaler Gesundheit bei Söhnen etwas stärker ausgeprägt ist und früher einsetzt als bei Töchtern. „Wir vermuten, dass geringer gebildete Männer vermehrt in Berufen arbeiten, die nicht nur körperlich oder psychisch anstrengend sind, sondern auch geringe Arbeitssicherheit und niedrigere Löhne mit sich bringen und sie so zusätzlich dauerhaft mental belasten“, sagt Loter.

    Das Team hat auch die Bildung der nun erwachsenen Kinder als möglichen sozialen Wirkmechanismus berücksichtigt und untersucht, ob es die gefundenen gesundheitlichen Unterschiede auch dann gäbe, wenn die Bildung bei Kindern aus Akademiker- und Nicht-Akademikerhaushalten gleich wäre. „Dabei hat sich gezeigt, dass die Weitergabe der Bildung der Eltern an die Kinder innerhalb von Familien ein entscheidendes Moment darstellt. Gäbe es in Deutschland mehr bildungsbezogene Aufstiegschancen für Kinder geringer gebildeter Eltern, wären auch die gesundheitlichen Unterschiede wahrscheinlich geringer“, sagt Loter. Das sei ein gesamtgesellschaftliches Problem, weil das Bildungssystem in Deutschland nicht besonders durchlässig ist: Für ein Nicht-Akademikerkind ist es nach wie vor deutlich schwieriger, ein Studium zu absolvieren, als für ein Akademikerkind. „Die geringe soziale Mobilität in Deutschland zementiert sich nicht nur in stabilen Ungleichheiten in Bildung, Beruf und Einkommen, sondern eben auch in der Gesundheit – und diese Ungleichheiten werden offenbar bis ins hohe Alter fortgeschrieben“, ergänzt Arránz Becker.

    Originalpublikation:
    Arránz Becker O., Loter K. Socio-Economic Family Background and Adult Children’s Health in Germany: The Role of Intergenerational Transmission of Education. European Sociological Review (2020). doi: 10.1093/esr/jcaa063

    Pressestelle der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3.2.2021

  • Wie Anorexie das Körpergefühl verändert

    Menschen mit Magersucht, wissenschaftlich Anorexia nervosa, haben ein gestörtes Verhältnis zu den Ausmaßen ihres Körpers. Eine Studie des Teams der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum (RUB) hat gezeigt, dass neben dem bewussten Körperbild auch das so genannte Körperschema gestört ist: das unbewusste Körpergefühl. Normalerweise passt es sich den aktuellen Gegebenheiten an. Bei Patientinnen und Patienten mit Anorexie könnte es auf dem Stand vor dem Beginn der Erkrankung stehen bleiben.

    Die Forscherinnen und Forscher um Prof. Dr. Martin Diers empfehlen eine Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie und dem Einsatz virtueller Realität, um das gestörte Körperschema zu korrigieren. Sie berichten im „International Journal of Eating Disorder“ vom 20. Dezember 2020.

    Dem Unbewussten auf die Spur kommen

    Die gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers ist eines der kennzeichnenden Symptome von Anorexie. Schon länger ist bekannt, dass Patientinnen und Patienten die Ausmaße ihres Körpers überschätzen. „Diese Diskrepanz bezieht sich auf den bewussten Teil der Körperwahrnehmung, das Körperbild“, erklärt Martin Diers. Daneben gibt es das Körperschema, das unbewusste Körpergefühl, das uns zum Beispiel sagt, wo wir uns im Raum befinden. Es ist normalerweise flexibel und passt sich an aktuelle Ausmaße an. Deswegen stößt man normalerweise auch dann nirgendwo an, wenn man einen Hut oder einen Rucksack trägt.

    Um diesem unbewussten Teil der Körperwahrnehmung auf die Spur zu kommen, entwickelte das Team der Klinik einen Versuch, an dem 23 Personen mit Anorexie und 23 gesunde Vergleichspersonen teilnahmen. Um die Ergebnisse nicht zu verfälschen, erfanden die Forscherinnen und Forscher zur Begründung für die Probanden eine Geschichte, die mit dem eigentlichen Zweck des Versuchs nichts zu tun hatte. Das Experiment bestand darin, die Versuchspersonen durch Türrahmen unterschiedlicher Breite gehen zu lassen. „Die Öffnung war dabei an die Schulterbreite der Probandinnen und Probanden angepasst und variierte zwischen dem 0,9-fachen und dem 1,45-fachen dieser Breite“, so Diers. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachteten nun, ab welcher Türbreite sich die Teilnehmenden seitlich wegdrehten, bevor sie die Tür passierten.

    Es zeigte sich, dass Patientinnen und Patienten ihre Schultern schon bei deutlich breiteren Türen zur Seite wegdrehen als gesunde Kontrollpersonen. „Das zeigt uns, dass sie auch unbewusst ihre Ausmaße größer einschätzen als sie wirklich sind“, folgert Erstautorin Nina Beckmann. Die Tendenz zum frühen Wegdrehen ging auch einher mit einer negativen Einschätzung des eigenen Körpers, die die Forscherinnen und Forscher in verschiedenen Fragebögen erhoben. Um die gestörte unbewusste Körperwahrnehmung positiv zu beeinflussen und das eventuell veraltete Körperschema wieder den aktuellen körperlichen Ausmaßen anzupassen, empfiehlt das Forschungsteam neben der kognitiven Verhaltenstherapie auch den Einsatz virtueller Realität. Damit ist es möglich, virtuell für eine gewisse Zeit in den Körper einer oder eines anderen zu schlüpfen und damit die Repräsentation des Körpers zu beeinflussen.

    Originalpublikation:
    Nina Beckmann, Patricia Baumann, Stephan Herpertz, Jörg Trojan, Martin Diers: How the unconscious mind controls body movements: body schema distortion in Anorexia nervosa, in: International Journal of Eating Disorder, 2020. DOI: 10.1002/eat.23451

    Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 12.1.2021

  • Medikamente, Alkohol, Tabak

    200 Menschen sterben täglich durch Alkoholmissbrauch. Durch Rauchen sind es jährlich mehr Todesfälle als durch AIDS, Alkohol, illegale Drogen, Verkehrsunfälle, Morde und Suizide zusammengenommen. Von schädlichem und abhängigem Medikamentenkonsum sind knapp drei Millionen Menschen pro Jahr betroffen. Alkohol-, Tabak- und Medikamentenabhängigkeiten sind die schwerwiegendsten Suchterkrankungen in Deutschland. Durch Corona sind ersten Schätzungen zu Folge die Zahlen weiter gestiegen. Drei neue S3-Suchtleitlinien kommen da zur rechten Zeit. Sie bieten neuestes evidenzbasiertes Wissen und beste Empfehlungen für frühe Interventionen, erprobte Behandlungsstandards und zielgerichtete Suchtrehabilitation.

    Anlässlich der Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) am 20.1.2021 zur Veröffentlichung der neuen Leitlinien erklärt DGPPN-Präsident Prof. Thomas Pollmächer:

    „Alkohol und Tabak gelten bei vielen Menschen hierzulande immer noch als Genussmittel. Die Einnahme von Medikamenten zur emotionalen Stärkung und zur Leistungssteigerung ist verbreitet. Der Missbrauch ist in allen drei Fällen mit großen Gesundheitsrisiken und mit einer signifikant verminderten Lebenserwartung verbunden. Studien zeigen, dass der erste Lockdown überdies zu einem Anstieg des Alkohol- und Tabakkonsums geführt hat.
    Die grundsätzliche Tolerierung des Konsums durch die Gesellschaft und die Angst der Betroffenen vor Stigmatisierung tragen dazu bei, dass die zahlreichen Therapie- und Präventionsangebote, die das Gesundheits- und Hilfesystem in Deutschland noch vor der Pandemie bereithielt, viel zu wenig in Anspruch genommen wurden. Corona hat die Situation außerdem verschärft. Es fehlt zudem in vielerlei Hinsicht an Aufklärung, an Vernetzung und an ausreichend Wissen darüber, was moderne Suchttherapien und Rehabilitation leisten können.
    Als größte medizinische Fachgesellschaft im Bereich der psychischen Gesundheit setzen wir uns deshalb verstärkt für die frühzeitige Prävention von Suchterkrankungen und den Schutz der psychischen Gesundheit ein. Die heute vorgestellten S3-Leitlinien sind ein wichtiger Meilenstein. Sie geben nicht nur den in der Krankenversorgung tätigen Experten gezielt Unterstützung und Orientierung, sie sollen auch die Gefahren, die vom Alkohol-, Tabak- und Medikamentenkonsum ausgehen können, in der Gesellschaft bekannter machen und für eine frühe Diagnostik, frühes Screening und rechtzeitige Interventionen werben. Wir freuen uns, bei diesem Anliegen die Drogenbeauftragte an unserer Seite zu wissen.“

    Die Pressekonferenz zur Vorstellung der drei S3-Leitlinien wurde begleitet von einem Grußwort der Drogenbeauftragten der Bundesregierung. Die Leitlinien entstanden in gemeinsamer Federführung von DGPPN und DG-Sucht sowie unter Beteiligung vieler weiterer Fachgesellschaften.

    Die drei S3-Leitlinien stehen auf der Website der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. – AWMF zum Download zur Verfügung:

    S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen
    AWMF-Register Nr. 076-001

    S3-Leitlinie Rauchen und Tabakabhängigkeit: Screening, Diagnostik und Behandlung
    AWMF-Register Nr. 076-006

    S3-Leitlinie Medikamentenbezogene Störungen
    AWMF-Register-Nr.: 038-025

    Quelle: Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), 20.01.2021

  • RehaInnovativen – Impulse für die Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation

    Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat im Januar 2021 den Werkstattbericht „RehaInnovativen – Impulse für die Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation“ vorgelegt, der Ideen und Vorschläge für eine zukunftsorientierte Ausgestaltung der medizinischen Reha aufzeigt.

    Das System der medizinischen Rehabilitation ist an die geänderten Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen, damit es auch künftig leistungsfähig sein kann. Hierfür hat das BMAS in Kooperation mit der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) im Juni 2015 die Initiative „RehaInnovativen“ ins Leben gerufen. Während des mehrjährigen Prozesses wurden Problemlagen und Lösungsansätze unter Beteiligung von Leistungsträgern, Leistungserbringern, Fachverbänden und Betroffenenverbänden diskutiert und abschließend in einem Werkstattbericht „RehaInnovativen – Impulse für die Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation“ zusammengefasst.

    Mit einer Vielzahl von Ideen und Vorschlägen spiegelt der Bericht die unterschiedlichen Sichtweisen der am Prozess beteiligten Akteure wider. Er erhebt nicht den Anspruch, eine gemeinsame Haltung zu formulieren, versteht sich aber als Grundlage für Anregungen zur zukunftsorientierten Ausgestaltung der medizinischen Rehabilitation.

    Suchtreha

    Gegliedert ist der Bericht in die drei Teile „Übergänge“ „Individualisierung“, „Regional zusammenarbeiten“, die jeweils Probleme/Herausforderungen aufzeigen sowie Handlungsempfehlungen/Umsetzungsmaßnahmen vorstellen.

    Auch bezogen auf die Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen werden spezifische Probleme identifiziert und Lösungsvorschläge gemacht. Die Probleme bestehen vor allem beim Zugang zu einer Entwöhnungsbehandlung und an den Schnittstellen. So fordern die Autor*innen eine „Kultur des Hinschauens in der niedergelassenen ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung sowie beim Krankenhauspersonal“ und einen häufigeren Einsatz von Screening-Verfahren, um mehr Behandlungsbedürftige zu erreichen und in Reha-Maßnahmen zu vermitteln (S. 12 f.). Weitere Vorschläge der Autor*innen zur Verbesserung der rehabilitativen Versorgung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen sind:

    • Überprüfen und Vereinfachen der Verfahrenswege zur Einleitung/Verordnung von Reha-Leistungen
    • Entwicklung von Nahtlos-Verfahren aus dem qualifizierten Entzug in die Entwöhnungsbehandlung und darüber hinaus zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
    • Schaffung ausreichender Reha-Kapazitäten sowie ambulanter Nachsorge
    • Fallmanagement und Fallbegleitung zur Förderung der Zugänge in die Rehabilitation und Verbesserung der Übergänge (S. 22 f.)

    Mehr Informationen zum Projekt und den Werkstattbericht als Download finden Sie hier: http://www.rehainnovativen.de/infos-und-mterialien/downloads-zum-projekt.html

    Quelle: Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, https://www.reha-recht.de, 13.1.2021. Ergänzungen zur Suchtreha: Redaktion KONTUREN online

  • Verlorene Zeit der Corona-Jugend?

    Die Erfahrungen der Corona-Pandemie machen jungen Menschen Angst vor der Zukunft. Vor allem junge Erwachsene, die die Schule abgeschlossen haben und nun an der Schwelle zur Berufsausbildung oder zum Studium stehen, sorgen sich um die langfristigen, auch ökonomischen Folgen der Pandemie.

    Nahezu die Hälfte aller Jugendlichen äußert dies im Rahmen der am 10. Dezember 2020 veröffentlichten, zweiten bundesweiten Online-Befragung „JuCo2“: Mehr als 7.000 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 30 Jahren gaben Auskunft darüber, welche Konsequenzen die Pandemie für ihren Alltag hat und mit welchen Sorgen sie auf ihr persönliches Leben und die gesellschaftliche Entwicklung blicken. Durchgeführt wurde die Umfrage von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Forschungsverbunds „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ der Goethe-Universität Frankfurt und der Stiftung Universität Hildesheim.

    Anders als bei der ersten Online-Befragung im Frühjahr 2020 beteiligten sich an der Befragung mehr junge Menschen in einer biografischen Übergangssituation: Etwa zwei Drittel der Befragten besuchten zum Zeitpunkt der Befragung nicht die Schule, befanden sich in Ausbildung oder im Studium. Rund zehn Prozent der Befragten waren in Freiwilligendiensten aktiv. Ein Drittel der jungen Menschen gibt an, sich in der Pandemie einsam und belastet zu fühlen; rund 80 Prozent betonen, wie sehr ihnen der Ausgleich zum Lernen durch soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten fehle. Auch sprechen sie ihre Ängste vor einer Zukunft ohne Nebenjobs und finanzielle Unterstützung im Studium an.

    In 1.400 Kommentaren nehmen die Jugendlichen die Gelegenheit wahr, sich mitzuteilen: Manche empfinden das Jahr 2020 als Zeitverschwendung, als ein Jahr im Wartezustand; andere schreiben vom Lernen allein zu Hause, das ihnen „unglaublich schwer gefallen“ sei; von belastenden psychischen Problemen in der Familie; wie „emotional ermüdend“ es sei, sich in der Schule ohne ausreichend Abstand unter Vielen bewegen und dabei konzentriert für die nächste Klassenarbeit lernen zu müssen; wie einsam sie ohne ihre Freunde seien und „ohne alles, was Spaß macht“. „Unter diesen Bedingungen den Schulabschluss zu machen, war echt unfassbar hart für mich.“

    Die Studie macht deutlich: Die geäußerten Ängste führen dennoch keineswegs dazu, dass die Jugendlichen die Maßnahmen zum Infektionsschutz mehrheitlich ablehnen und nicht bereit sind, sich daran zu halten. Im Gegenteil: Nur zehn Prozent der jungen Menschen äußern Zweifel an den Einschränkungen, mehr als zwei Drittel halten sie für sinnvoll und folgen ihnen. Allerdings wünschen sich die jungen Erwachsenen, dass von ihnen nicht nur erwartet wird, sich zu qualifizieren. Sie fordern auch, dass ihre Bedürfnisse bei politischen Maßnahmen gesehen werden und sie bei der Gestaltung mit einbezogen werden. Fast 65 Prozent der Jugendlichen haben eher nicht oder gar nicht den Eindruck, dass die Sorgen junger Menschen in der Politik gehört werden.

    Die Jugendlichen haben nämlich – auch das zeigt die Befragung – nicht nur ihre eigene Lebenssituation im Blick: Sie machen sich ebenso Gedanken über die globalen Folgen der Pandemie für die Gesellschaft. Einige berichten aber auch davon, mehr sozialen Zusammenhalt zu erleben und sich bewusst zu werden, wie wichtig Zuwendung für ihre soziale und emotionale Entwicklung sowie ihr Wohlbefinden sei.

    „Für manche Jugendliche ist das Verwiesen-Sein auf die Familie und den häuslichen Raum ein Geschenk“, sagt Prof. Dr. Sabine Andresen, Familienforscherin an der Goethe-Universität. „Für andere kann die Situation aber sehr belastend sein, vor allem wenn auch für die Eltern das soziale Umfeld wegfällt und Unterstützungsnetzwerke nicht mehr wie bisher funktionieren“.

    Die Rede von der „Corona-Jugend“, für die die Pandemie zu einer „prägenden Erfahrung für die ganze junge Generation“ werden könnte, lehnen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Studie jedoch vehement ab. „Wir halten diese Einschätzung für verfrüht, wenn nicht für politisch fatal. Denn noch haben wir es jugendpolitisch in der Hand, ob junge Menschen die Zeit der Corona-Pandemie als verlorene Zeit ansehen werden und ob sie sich als verlorene Jugendzeit in ihre generationale Erfahrung einschreiben wird.“

    Dem Team des Forschungsverbunds „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ gehören Prof. Dr. Sabine Andresen und Johanna Wilmes vom Institut für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität an sowie Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Dr. Tanja Rusack, Dr. Severine Thomas, Anna Lips und Lea Heyer vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim.

    Der Fragebogen wurde diesmal auch in einfacher Sprache angeboten – diese Variante wurde in der „JuCo 2“-Studie von knapp zehn Prozent der Befragten genutzt.

    Originalpublikation: https://dx.doi.org/10.18442/163 

    Pressestelle der Goethe-Universität Frankfurt a. M., 10.12.2020

  • Die Situation von LGBTIQ*-Menschen in der Schweiz

    Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten erfahren in der Schweiz nach wie vor strukturelle Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und körperliche Gewalt. Dies zeigen Sozialpsychologinnen der Universitäten Zürich und Lausanne in einer Befragung von 1.400 LGBTIQ*-Menschen. So ist ihnen etwa die Ehe im Moment noch verwehrt, obwohl sich dies mehr als die Hälfte von ihnen wünschen würde. Besonders ausgeprägt sind die Ungleichheiten bei Angehörigen geschlechtlicher Minderheiten.

    2020 war ein entscheidendes Jahr für die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans-, intergeschlechtlichen und queeren (LGBTIQ*) Personen in der Schweiz: Die Bevölkerung stimmte für die Erweiterung des Antidiskriminierungsgesetzes, Stände- und Nationalrat sprachen sich für die Ehe für alle aus. Einblicke in die Situation von LGBTIQ*-Personen während dieser Zeit ermöglicht die diesjährige Befragung des Schweizer LGBTIQ*-Panels. Für die Studie unter der Leitung der Sozialpsychologinnen Tabea Hässler (Universität Zürich, UZH) und Léila Eisner (Universität Lausanne) wurden 2020 über 1.400 LGBTIQ*-Personen zu aktuellen politischen Debatten, bestehender Diskriminierung, Unterstützung und die Rolle der Schule befragt.

    Verbreiteter Wunsch nach Ehe und Kindern

    Während etwa die Ehe bei heterosexuellen Personen immer weniger beliebt ist, würde eine Mehrheit (55 Prozent) der lesbischen, schwulen oder bisexuellen Personen gerne heiraten, wenn dies in der Schweiz legal wäre. Damit einher geht oft der Wunsch nach Kindern: Über ein Drittel der Angehörigen sexueller Minderheiten möchte gerne Kinder haben. Bei den Angehörigen geschlechtlicher Minderheiten, also trans, non-binäre oder intergeschlechtliche Personen, äußert über ein Fünftel diesen Wunsch.

    Engagement und Sorge rund um das Antidiskriminierungsgesetz

    Viele LGBTIQ*-Personen haben sich 2020 aktiv für die Kampagne zur Erweiterung des Antidiskriminierungsgesetzes eingesetzt. Sie haben beispielsweise Gespräche mit heterosexuellen Personen geführt (80 Prozent), Beiträge in sozialen Netzwerken verfasst (57 Prozent) und Regenbogenfahnen aufgehängt (48 Prozent). „Während das Ergebnis der Abstimmung – die Erweiterung des Antidiskriminierungsgesetzes um die sexuelle Orientierung – begrüßt wurde, zeigten sich Befragte enttäuscht über abwertende Kommentare und teilweise offene Hassreden vor der Abstimmung“, sagt UZH-Postdoktorandin Tabea Hässler. „Einige Teilnehmende waren zudem betrübt darüber, dass die Geschlechtsidentität nicht ebenfalls berücksichtigt wurde.“

    Ausgrenzung auf körperlicher, struktureller und sozialer Ebene

    Als alarmierend stufen die Studienautorinnen die Diskriminierungsraten ein, die aus ihrer Befragung hervorgingen: So wurden im vergangenen Jahr 40 Prozent der Studienteilnehmenden von Männern sexuell belästigt. Angehörige geschlechtlicher Minderheiten waren insgesamt doppelt so häufig Opfer von Diskriminierung wie Angehörige sexueller Minderheiten, wobei sich die Diskriminierung auf körperliche Gewalt (16 Prozent vs. 8 Prozent), soziale Ausgrenzung (55 Prozent vs. 33 Prozent) und strukturelle Benachteiligung (78 Prozent vs. 40 Prozent) beziehen konnte. Letztere schließt zum Beispiel fehlende Rechte wie das Recht auf Ehe und Adoption, die fehlende Möglichkeit, sich in offiziellen Dokumenten als „divers“ oder „intergeschlechtlich“ einzutragen, oder auch fehlende Unisex-Toiletten mit ein. Eine Erklärung für die großen Unterschiede könnte gemäß den Studienautorinnen darin liegen, dass Angehörige geschlechtlicher Minderheiten kaum öffentlich sichtbar sind und geschlechtliche Vielfalt insgesamt gesellschaftlich wenig thematisiert wird.

    Mangelnde Sensibilisierung in der Schule

    Diese Tendenz zeigt sich unter anderem in den Schulen: Bei den Studienteilnehmer*innen unter 21 Jahren gab die Hälfte der Befragten an, dass die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität in der Schule überhaupt nicht zur Sprache kam. „Dies steht in starkem Kontrast zu den Bedürfnissen schulpflichtiger LGBTIQ*-Personen“, wie Léïla Eisner von der Universität Lausanne festhält. Denn obwohl diese besonders gefährdet sind, Opfer von Mobbing und Diskriminierung zu werden, wissen sie oft nicht, an wen sie sich wenden können. „Eine stärkere Sichtbarkeit und Unterstützung durch Lehrer*innen und Mitschüler*innen wäre hier eine große Hilfe“, so Eisner.

    Längsschnittstudie zeigt Veränderungen über die Zeit

    Aus der aktuellen Befragung geht hervor, dass Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten in der Schweiz nach wie vor Diskriminierung erfahren und sich gesellschaftlich nicht vollständig akzeptiert fühlen. Wie die Studienautorinnen unterstreichen, ist die Tendenz bei Angehörigen geschlechtlicher Minderheiten besonders ausgeprägt, was sie innerhalb der LGBTIQ+ Community zu einer gefährdeten Gruppe macht.

    Um die Entwicklung weiterzuverfolgen und nachzuvollziehen, wie Veränderungen im sozialen und politischen Kontext die Situation von LGBTIQ*-Personen beeinflussen, wird das LGBTIQ*-Panel fortgesetzt: Neben Fragen zu Diskriminierung, Problemen, aber auch zu erfahrener Unterstützung kommen dabei auch aktuelle Themen zur Sprache. Die nächste Befragung findet bereits im Januar 2021 statt.

    Originalpublikation:
    Hässler, T., & Eisner, L. (2020). Swiss LGBTIQ+ Panel – 2020 Summary Report. https://doi.org/10.31234/osf.io/kdrh4

    Pressestelle der Universität Zürich, 14.12.2020

  • Deutlich mehr Medienzeit im Coronajahr 2020

    Das Jahr 2020 hat den Alltag von Jugendlichen auf den Kopf gestellt: Die meisten Freizeitbeschäftigungen waren nicht möglich, Schulen waren über Wochen und Monate geschlossen und es wurde teilweise im Fernunterricht gelernt. Dies ließ entsprechend auch Änderungen im Medienverhalten von Jugendlichen erwarten. Die JIM-Studie 2020 (Jugend, Information, Medien) hat die wichtigsten Kennzahlen zu Mediennutzung, Medienbesitz, Medienumgang und Nutzungsdauer untersucht. Auch der Medieneinsatz in der Schule bzw. für die Schule unter den Voraussetzungen der Pandemie ist Teil der aktuellen JIM-Studie. Für die repräsentative Studie wurden vom 8. Juni bis 20. Juli 2020 1.200 Jugendliche im Alter von zwölf bis 19 Jahren in Deutschland telefonisch oder online befragt.

    Im Jahr 2020 erfuhren die Jugendlichen einen deutlichen Schub in der Ausstattung mit Mediengeräten. Der persönliche Besitz eines Computers oder Laptops stieg von 65 auf 72 Prozent, der eines eigenen Tablets von 25 auf 38 Prozent. Jeder dritte Jugendliche hat inzwischen einen Fernseher mit Internetzugang.

    Die spezielle Situation des Jahres 2020 resultierte auch in deutlich höheren Mediennutzungszeiten. Die tägliche Internetnutzungsdauer ist nach Einschätzung der Jugendlichen von 205 Minuten im Jahr 2019 auf 258 Minuten in 2020 deutlich gestiegen. Dabei entfällt mit einem Drittel der größte Anteil der Onlinenutzung auf den Bereich der Unterhaltung. Fast gleichauf liegen die Bereiche Kommunikation (27 Prozent) und Spiele (28 Prozent). Der geringste Anteil der Onlinezeit entfällt mit elf Prozent auf die Informationssuche. Die höhere Nutzungszeit für unterhaltende Inhalte im Netz spiegelt sich auch in der Nutzung von Streamingdiensten wider. 2020 sehen 87 Prozent regelmäßig Videos auf Streaming-Plattformen (mindestens mehrmals pro Woche), im Vorjahr lag dieser Anteil noch bei 74 Prozent. Bei der Nutzung von Sendungen, Serien und Filmen im Internet stehen bei den Zwölf- bis 19-Jährigen Netflix und YouTube an erster Stelle.

    Neben der Unterhaltung im Internet erfuhr das Fernsehen bei den Jugendlichen einen Zuwachs: In der Selbsteinschätzung der Zwölf- bis 19-Jährigen stieg die durchschnittliche werktägliche Fernsehdauer 2020 erstmals wieder auf mehr als zwei Stunden an. Betrachtet man die verschiedenen Ausspielwege für Fernsehinhalte zeigt sich, dass 45 Prozent der Jugendlichen regelmäßig (mindestens mehrmals pro Woche) das klassische lineare Fernsehen nutzen – also Fernsehinhalte zum Zeitpunkt ihrer Ausstrahlung am Fernsehgerät. Jeder Fünfte sieht sich regelmäßig die Inhalte in Mediatheken der Fernsehsender an. 14 Prozent nutzen regelmäßig aufgezeichnete Fernsehsendungen und 13 Prozent sehen Sendungen per Live-Stream über das Internet an.

    Auch die durchschnittliche Nutzungsdauer von digitalen Spielen ist 2020 um 40 Minuten auf 121 Minuten gestiegen. Hier zeigen sich noch deutlicher als bisher Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Jungen spielen mit 159 Minuten fast doppelt so lange wie Mädchen (81 Minuten).

    Was die Kommunikation unter Jugendlichen betrifft, bleibt WhatsApp weiterhin der bedeutendste Online-Dienst. 94 Prozent der Jugendlichen nutzen WhatsApp mindestens mehrmals in der Woche, um sich mit anderen auszutauschen. 87 Prozent der Schüler*innen haben eine WhatsApp-Gruppe mit ihrer Klasse. Instagram wird von 72 Prozent der Jugendlichen mindestens mehrmals in der Woche genutzt – mit steigender Tendenz. Auch bei Snapchat, Pinterest und Twitter lassen sich gegenüber dem Vorjahr Steigerungen feststellen. Zu den größten Gewinnern zählt aber die chinesische Plattform TikTok – hier hat sich die regelmäßige Nutzung um 19 Prozentpunkte erhöht. Aktuell kommuniziert jeder vierte Junge und zwei Fünftel der Mädchen regelmäßig über TikTok. Jeder Zehnte zählt TikTok inzwischen zu einem seiner Lieblingsangebote im Netz.

    Die Studienreihe JIM (Jugend, Information, Medien) wird vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs) seit 1998 jährlich in Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk (SWR) durchgeführt. Die repräsentative Studie bildet das Medienverhalten der Jugendlichen in Deutschland ab. Alle Ausgaben der JIM-Studie von 1998 bis 2020 sind als PDF auf www.mpfs.de abrufbar.

    Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest ist eine Kooperation der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) und der Medienanstalt Rheinland-Pfalz (LMK).

    Pressemitteilung des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest, 4.12.2020

  • Exzessive Mediennutzung im Jugendalter nimmt zu

    Die problematische Computerspiel- und Internetnutzung ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen seit 2015 gestiegen. Dies zeigen die Ergebnisse der Drogenaffinitätsstudie 2019 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Die Repräsentativbefragung wurde zwischen April und Juni 2019 unter 7.000 jungen Menschen im Alter von 12 bis 25 Jahren erhoben. Die Situation während der Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020 war nicht Teil des Erhebungszeitraums dieser Studie und ist darin nicht abgebildet.

    Die Studiendaten bestätigen, dass für Jugendliche und junge Erwachsene bei der Internetnutzung nach wie vor Kommunikation und Unterhaltung im Vordergrund stehen. 12- bis 17-Jährige nutzen Computerspiele und das Internet durchschnittlich 22,8 Stunden pro Woche und 18- bis 25-Jährige durchschnittlich 23,6 Stunden pro Woche privat – also nicht für Schule, Studium oder Arbeit.

    Im Zeitraum von 2015 bis 2019 ist der Anteil der 12- bis 17-Jährigen und 18- bis 25-Jährigen mit einer problematischen Internetnutzung nochmals gestiegen. Er hat sich bei den Jugendlichen von 21,7 Prozent im Jahr 2015 auf 30,4 Prozent im Jahr 2019 und bei den jungen Erwachsenen von 15,2 Prozent in 2015 auf 23,0 Prozent in 2019 erhöht.

    Internetbezogene Störungen treten im Jahr 2019 bei 7,6 Prozent der 12- bis 17-Jährigen auf. Im Jahr 2015 lag dieser Wert bei 5,7 Prozent. Sie treten aktuell bei 4,1 Prozent der 18- bis 25-Jährigen auf und lagen im Jahr 2015 bei dieser Altersgruppe bei 2,6 Prozent.

    Unter den 12- bis 17-jährigen weiblichen Jugendlichen und den 18- bis 25-jährigen jungen Frauen ist die internetbezogene Störung beziehungsweise die problematische Nutzung im Jahr 2019 etwas weiter verbreitet als unter männlichen Jugendlichen und jungen Männern entsprechenden Alters.

    Die BZgA-Studie „Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2019 – Teilband Computerspiele und Internet“ steht zum Download bereit unter: www.bzga.de/forschung/studien/abgeschlossene-studien/studien-ab-1997/suchtpraevention/

    Die BZgA hat zur Prävention der exzessiven Mediennutzung im Jugendalter ihre Kampagne „Ins Netz gehen“ um weitere Angebote ergänzt. So berichten beispielsweise Bloggerinnen und Blogger über ihre persönlichen Erfahrungen mit der Mediennutzung. Auch für Eltern, Lehrkräfte sowie Fachkräfte für Suchtprävention bietet die BZgA hilfreiche Informationen und eine individuelle E-Mail-Beratung.

    Weitere Informationen:

    Quelle: Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 15.12.2020